Der Kurfürstendamm Geschichte des Berliner Boulevards

Dass der Ku’damm seine Glanzzeiten hinter sich hat, wusste die Autorin, als das Buch 2021 erschien, und hofft: „Die Mitte der City-West könnte wieder ein Zentrum des Berliner Lebens werden—anders vielleicht als einst, aber doch aufregend und liebenswert. Der Kurfürstendamm hätte es verdient.“

Davor geht es auf über 200 reichbebilderten Seiten um die Glanzzeiten, beginnend mit der Entstehung vor 150 Jahren. „Vom Knüppelpfad zum Prachtboulevard“, zum Treffpunkt der Berliner Bohème, und nach dem Abbau im Nationalsozialismus wieder zum Schaufenster des Westens.

Dazu gibt es viele Gemälde, zeitgenössische Postkarten, aber auch Fotos, etwa mit von Bismarck hoch zu Pferde: Er hatte sich brieflich an den König gewandt, er möge die Verbindung vom Schloss nach Potsdam verbessern, vielleicht auch, weil ihn seine täglichen Ausritte dahin führten.

Das Buch ist umfassend recherchiert mit Quellenangaben, flott geschrieben, immer wieder mit balinahten Einschüben. Neben den Abbildungen erfreuen auch die Zitate der Zeitgenossen: Mit den Gründerjahren kommen die „Geldsackgesinnung“ wie Fontane schreibt: “Die Stadt wächst und wächst, die Millionäre verzehnfachen sich…“

Damals war Paris das Vorbild, der Kurfürstendamm sollte die Pracht der Champs-Elysées bekommen, aber das Kaiserreich war nicht in der Lage, sich finanziell zu beteiligen, es reichte nur für die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die dann 1895 mit Pomp und Gloria eröffnet wurde. Fortan ließ man sich dort trauen, bis zu sechs Trauungen pro Tag gab es. Die Häuser wurden von den Geldsäcken gebaut, jedes nach dem Geschmack des jeweiligen Bauherrn.

Im zwanzigsten Jahrhundert entwickelten sich die Stätten der Künste: Die Maler der Sezession hatten ihre Treffpunkte, die Künstler Bohème ihre Cafés: das Café des Westens, das Café Größenwahn und später das Romanische Café. Dazu empfehle ich das Büchlein von Geza von Cziffra, Das Romanische Café.

Nicht jeder Künstler der Bohème konnte sich die Cafébesuche leisten, vielen wurden von Sponsoren unterstützt, oft waren es jüdische Geschäftsleute. „Unser Hintern fährt dritte Klasse, unser Haupt ragt über die Wolken“ sagt einer von ihnen.

Die westlichen Teile des Kudamms, auch als „Neuer Westen“ bezeichnet, zogen andere Menschen an als der vom wilhelminischen Staat geprägte Boulevard Unter den Linden.

Mit dem Aufkommen der „Kultur als Massenwaren“ wurden die großen Lichtspielhäuser um die Gedächtniskirche herum gebaut. Die prominenten Schauspieler/innen kamen und konnten vom Publikum gesehen werden, auch Zarah Leander und Astrid Nielsen. Ein anderer Zweig blühte ebenfalls: die Kabaretts und kleine Bühnen.

Nach der russischen Revolution kamen ab 1919 über zwei Millionen Emigrant/innen nach Deutschland, davon 300 000 nach Berlin, man sprach von Charlottengrad, manche träumten weiter vom Zarentum, in andere Richtungen gingen die Pläne der Künstler.

Die träumten eher von New York, vor allem Brecht und Grosz. Dieser suchte dort sein Künstlerglück und ging schon 1932, also vor dem Nationalsozialismus. (Das steht zwar nicht im Buch!)

Bis zur Olympiade 1936, wurde der Berliner Westen geduldet, auch weil viele Diplomaten und ausländische Journalisten dort lebten, die alle namentlich aufgeführt werden. Danach kam dann der Totalitarismus, die Trefforte der Szene wurden geschlossen.

Als gebürtige Westberlinerin habe ich den Kudamm der Nachkriegszeit als „Schaufenster des Westens“ kennengelernt, die Kaffeehäuser waren nun gut bürgerlich, die Mode elegant und mondän, zwei Theater und jedes Jahr die Filmfestspiele. In den Sechzigern dann Studentenproteste mit Wasserschlachten.

Jetzt lese ich bei Frau Stürikow, dass es in den achtziger  Jahren eine Kommission unter Volker Hassemer gegeben hatte, die die verblassende Strahlkraft erhöhen sollte. Einen Höhepunkt gab es dann noch: 1989 beim Mauerfall, wo die Bürger aus der DDR sich die Konsumtempel angucken wollten. Zum Kaufen reichte das Begrüßungsgeld dann aber nicht. Inzwischen, nach Corona, noch mehr Leerstand, nur Ketten können bestehen. Und 2023 will der Senat die weihnachtliche Beleuchtung nicht mehr unterstützen…

Vieles Bekanntes liest man gerne noch einmal und auch Neues, nun weiß ich, warum ein Teil in Budapester umbenannt wurde. Und die Lebensgeschichte von Jeanne Mammen, von der auch zwei große Gemälde abgebildet sind.


Genre: Berlin Geschichte, Der Kurfürstendamm Geschichte des Berliner Boulevards, Unterhaltungskultur
Illustrated by Elsengold

Nero Corleone. Eine Katzengeschichte

Nero Corleone. “Es ist wie bei mir“, dachte er, “wir sind gescheite, prächtige Männer von Welt, aber jeder schleppt eben sein Mädchen hinter sich her“, denkt sich der schwarze Kater Nero Corleone und teilt sein Essen mit seiner Rosa. Der von der Schriftstellerin Elke Heidenreich erfundene und von Quint Buchholz liebevoll illustrierte Mäuseschreck ist zwar in Italien geboren, macht aber bald eine große Reise zum Kölner Dom.

Nero Corleone aus Carlozzo in Köln

Die Verpflegung war gut, die Zuneigung groß, und vielleicht gab es in Köln am Rhein auch Heu, in dem man schlafen konnte“, träumt Nero und schließt sich den Urlaubern Robert und Isolde gleich mit seiner Rosa an. Denn da wo sie sind, ist es schön, “weil sie da sind“. Die lange Autofahrt gefällt zwar weder Nero noch Rosa, nur, Nero lässt es sich nicht anmerken, schließlich ist er der Kater und somit gebiert er sich als kleiner Macho, der keine Angst vor gar nichts hat. Im Haus seiner beiden neuen Besitzer gibt es viele schöne weiche Teppiche und auch geheimnisvolle Schlupfwinkel in denen man sich notfalls gut verstecken konnte, sollte man es doch einmal mit der Angst zu tun bekommen. Aber bald darf er ohnehin schon in den Garten, denn das allzulange Nachdenken liegt ihm ohnehin nicht so. Er ist ja kein Esel, der die Probleme dieser Welt durch blosses Nachdenken zu lösen versucht. In seiner Nachbarschaft ist er ohnehin bald der Mittelpunkt, der König der Vorstadtstraße. Aber dann geschieht etwas, das auch ein großer Kater wie er nicht ohne weiteres verschmerzen kann und er beginnt sich zurück nach seiner Heimat zu sehnen: Carlozzo.

Nero: Schwarzer Kater, rotes Herz

Elke Heidenreich erzählt die Geschichte des schwarzen kleinen Katers Nero Corleone mit der einen weißen Vorderpfote liebe- und lehrvoll. So weiß sie etwa, dass sein Nachname von cuore di leone herrührt, “Löwenherz” und dass Deutsche und Italiener mehr verbindet als nur die Brennerautobahn. Die gemeinsame Liebe zu den kleinen pelzigen Gefährten macht auch aus den erwachsenen Menschen Freunde und aus Nero bald einen Herzensbrecher. Denn um seiner neuen Liebe in Italien, Grigiolina, zu huldigen, kann er nicht mehr in das Auto von Robert und Isolde einsteigen. Aber wie soll er ihnen das nur erklären? Quint Buchholz hat diese Katzengeschichte mit wunderbaren farbigen Bildern versehen und eine Fortsetzung wartet auch schon beim Hanser Verlag sowie viele weitere Bücher der umtriebigen Autorin: Männer in Kamelhaarmänteln (Kurze Geschichten über Kleider und Leute, 2020) und zuletzt Ihr glücklichen Augen (Kurze Geschichten zu weiten Reisen, 2022). Im Kinder- und Jugendbuch veröffentlichte sie u.a. Nero Corleone kehrt zurück (mit Quint Buchholz, 2011)…

Elke Heidenreich
Nero Corleone. Eine Katzengeschichte
1995, Fester Einband, 88 Seiten, illustriert von Quint Buchholz, empfohlen ab 8 Jahren
ISBN 978-3-446-18344-5
Hanser Verlag
Deutschland: 20,00 €
Österreich: 20,60 €


Genre: Deutschland, Illustration, Italien, Katzen, Kinderbuch
Illustrated by Hanser

Boulevard der Helden

Boulevard der Helden. 30 biografische Geschichten von Erfolgsautor Michael Köhlmeier, die zuvor in einem Magazin der zugehörigen Verlagsmutter erschienen, sind hier in einem Buch versammelt. Sowohl berühmte Männer und Frauen stellt der Schriftsteller im Porträt vor und zeigt, was sie so außergewöhnlich macht(e). Mit dabei: Wilma Rudolph, Ignaz Semmelweis, Houdini, Mata Hari oder Marilyn Monroe und viele andere mehr.

Helden des Alltags/Albtraums

Die “Mutter Courage des Tabubruchs”, Beate Uhse, war eine der ersten Fliegerpilotinnen der Welt und flog sogar Einsätze für ein Regime, das Gottseidank ein schnelles Ende fand. Dennoch schaffte sie es, sich nach dem Krieg komplett neu zu erfinden indem sie eine Sexartikelshopkette eröffnete. Das verklemmte fast puritanische Nachkriegsdeutschland lernte durch Beate Uhse etwa den Coitus interruptus oder andere Verhütungsmethoden. Auch solche die wirklich funktionierten. In ihrer “Schrift X”, die man in ihren Shops für 50 Pfennig bekam, wurden Herr und Frau Bundesbürger aufgeklärt. Vielleicht bekam sie Jahrzehnte später dafür das Bundesverdienstkreuz? Köhlmeier erzählt pointiert und ohne viel Schnörkel die Geschichte der erfolgreichsten deutschen Unternehmerin und macht Lust auf noch mehr seiner Kurzbiographien, etwa “den Helden schlechthin”. Na, wer könnte da anderes gemeint sein als Humphrey Bogart himself? Köhlmeier beschreibt Bogey als King of Cool, als “Inbegriff der Coolness”, noch bevor es das Wort überhaupt gab. Er stellt ihn auf die Seite von Achill, dem wahren, ungebrochenen Helden, und nicht auf die Seite von Odysseus, dem verschlagenen, listigen Kerl. Das Lied “Don’t Bogart that Joint my Friend” bezieht sich – laut Köhlmeier – übrigens tatsächlich auf Humph. Er hätte sein Zigaretten schon nach ein paar Zügen ausgedrückt, was bei einem Joint doch schade gewesen wäre, so der Liedtext. Laureen Bacall, seine spätere Frau, hätte jedenfalls ordentlich gepfiffen.

Starke Männer und Frauen

Eine kleine Verbeugung vor einem alten Freund ist auch das Porträt über Bilgeri, das Köhlmeier hier vorlegt. Dieser hätte Bärenkräfte entwickelt, als sich in jungen Jahren ein Musikkollege (die beiden spielten damals in einer Band) unter einen Lastwagen legte, der Flügel bekam und abstürzte. Reinhold hätte mit seinen Pranken reingefasst und so ein Leben gerettet. Was wieder beweist, dass wir Menschen zu unglaublichen Taten fähig sind, wenn wir nur wollen. Übermenschliche Kräfte erforderte es wohl auch, als Rudi Dutschke seinen Attentäter in seiner Zelle besuchte. Die Kampagne die die Bildzeitung damals gegen den Studentenführer führte, hatte zu einem Schussattentat geführt, dem Rudi neun Jahre später erlag. Aber er konnte seinem Mörder noch verzeihen. Auch das wohl eine Heldentat im Maßstab Bilgeris. Aber auch unter Diskriminierung mussten viele Helden leiden, wie das Doppelporträt von Ella Fitzgerald und Norman Granz überdeutlich macht. Obwohl die Sängerin Begeisterungsstürme im Orpheum Theatre in New York ausgelöst hatte, durfte sie dort dennoch nicht auf die Toilette. Diese war – wie der ganze Konzertsaal im übrigen – den Weißen vorbehalten. In den USA herrschte damals noch Segregation. Und so wurde für Ella Fitzgerald extra ein Abort auf Rädern organisiert, der hinten im Hof abgestellt wurde.

Boulevard der Helden: 30 moderne Legenden

Michael Köhlmeier erzählt von Stil-Ikonen aus Kunst und Kultur sowie Legenden aus Musik, Sport, Wissenschaft und was sie ausmachte. Eines zeichnete aber wohl alle – ob Sportgrößen, Musiklegenden, Schach-Giganten und Glamour-Stars – aus: sie ertrugen demütig ihr Schicksal. Großes Lesevergnügen eines der besten Erzählerhelden unserer Zeit, Michael Köhlmeier bietet Hintertüren und -treppen zu seinen Ikonen, aber auch Trojanische Pferde. Ein Lesegenuss für Jung und Alt.

Michael Köhlmeier
Boulevard der Helden
2023, 224 Seiten / 120 mm x 200 mm
Benevento Verlag
€ 22.-


Genre: Biographie, Kurzgeschichten, Porträt
Illustrated by Benevento Verlag

Die spürst Du nicht

Der leidige Fluch des Erfolges. Der österreichische Autor Daniel Glattauer landete 2006 einen Megahit. Mit seinem Roman „Gut gegen Nordwind“ stürmte er die Bestsellerlisten und wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. Theateraufführung und Verfilmung waren unausweichlich. Das prägnante Merkmal dieses Überflieger-Romans war, dass die beiden Protagonisten die Story dadurch entwickelten, dass die Konversation einzig und allein über E-Mails erfolgte. Eine grandiose Idee. Literarisch perfekt umgesetzt.

In „Die spürst Du nicht“ spüren zwar die Romanfiguren manches nicht, die Leser dieses Buches spüren jedoch ganz deutlich, dass Glattauer wieder experimentiert. Vielleicht steckt in dem Österreicher ein bisserl was von seinem Landsmann Wolf Haas, der neben seiner erfolgreichen Brenner-Krimi-Reihe gerne einmal innovative Wege geht, indem er beispielsweise dem Leser in seinem Buch „Verteidigung der Missionarsstellung“ die Chance zum Querlesen gibt, indem er Zeilen wirklich quer über das Papier laufen lässt. Aber nein, das sonstige Schaffensrepertoire von Glattauer spricht gegen diese Annahme. Also drängt sich der Verdacht auf, dass mit „Die spürst Du nicht“ der schon etwas verzweifelte Versuch eines Autors vorliegt, mit neuen, aber irgendwie doch wiederum vergleichbaren Stilmitteln einen Follow-up-Roman zu konstruieren.

Herausgekommen ist eine stilistische Mixtur aus Fließtexten, Dialogen, Interviews, Presseveröffentlichungen, Social Media-Postings inklusive Kommentaren der Internetgemeinde und Fotografie-Shots, wobei Glattauer bzw. seinem Lektorat ein kleiner technischer Fehler unterläuft, indem die Foto-Beschreibungen keine Standbilder, sondern bewegte Szenen beinhalten. Unbedeutendes Detail am Rande.

Was den Inhalt anbelangt ist es wie mit den Stilmitteln – fleißig bemüht, aber zu viel gewollt.

Zwei wohlhabende österreichische Familien nehmen gegen den anfänglichen Widerstand der afrikanischen Eltern die Tochter einer somalischen Migrantenfamilie mit in den Toskana-Urlaub. Das unscheinbare und ruhige Mädchen ertrinkt im Pool. In einem  – wegen der politischen Prominenz einer der beiden Mütter sehr öffentlichkeitswirksamen Prozess werden Schuldfrage und Trauerschmerzensgeld wegen Schockschaden verhandelt.

In diesen Rahmen presst der Autor Themen wie Politikethos, Ehekrisen, Fremdgehen, das unmerkliche Abgleiten einer Tochter in die Drogensucht durch eine Internet-Bekanntschaft und natürlich dem Zeitgeist folgend die Darstellung eines erschütternden Migrantenschicksals. Glattauer springt auf alle Trends der Zeit auf, gibt aber keinem Thema den Raum und die Tiefe, die jedes einzelne verdient hätte, indem er fortlaufend Komplexitätsreduktion betreibt. Dadurch sind viele Handlungsstränge eher naive Malerei, welche unserer diffizilen Realität nicht gerecht wird. Daran ändern auch die Stil-Collage nichts. Hinzu kommt, dass man überall seinen erhobenen Zeigefinger zu spüren scheint. Aber leider bleibt es bei der oberflächlich-moralisierenden Geste im Sinne eines Virtue Signalling, womit Glattauer wiederum voll im Trend liegt.

Daniel Glattauer ist ein Profi, an dessen handwerklich fundiertem Können nichts auszusetzen ist. Er kann Menschen abholen, allerdings geschieht dies in „Die spürst Du nicht“ inhaltlich und stilistisch recht effekthascherisch. Man wünscht sich, dass er zurückkehrt zu einer Schaffenskraft, die zum Beispiel „Ewig Dein“ hervorgebracht hat. Davon bitte mehr.


Genre: Belletristik, Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by Zsolnay Wien

50 JAHRE KISS

50 Jahre KISS. Der kanadische Journalist und Autor ist in Metalkreisen kein Unbekannter. Er veröffentlichte unter anderem Bücher zu Led Zeppelin, Deep Purple, Black Sabbath und Rainbow, aber auch regelmäßig Artikel für den Record Collector, Goldmine und den Metal Hammer. Mit 50 Jahre KISS wird sein Bekanntheitsgrad unweigerlich nach oben schnellen, gehört sie doch zu einer der beliebtesten Hardrock/Metal-Bands der Welt.

Illustrierte Biographie mit ausklappbarer Chronik

Über 300 Fotos und Abbildungen sowie Fotos und Abbildungen von Memorabilia durch die Jahrzehnte und alle Karrierestationen hindurch zeigt Martin Popoff in vorliegender großformatiger Coffee-Table-Edition, der ersten illustrierte Biografie der Band in Deutschland, so der Verlag. Die Zeitreise “50 JAHRE KISS” erscheint rechtzeitig zur angekündigten letzten Deutschland-Tournee der 1973 in New York gegründeten Superband. Natürlich kommen damit auch die fans der Band auf ihre Kosten, die sog. “Kiss-Army”, die schon mal auch kräftig beim Merchandise zulangt: Kiss Bikinis, Kiss-Kondome und Kiss-Särge. Aber das ist noch lange nicht alles! Paul Stanley, Gene Simmons (beide 73), Tommy Thayer (62) und Eric Singer (65) heizten bei ihrem Abschiedskonzert den Fans in der Arena ordentlich ein. Ein Event an das sich viele noch ein weiteres halbes Jahrhundert lang erinnern werden. Dass das letzte Konzert der US-amerikanischen Band ausgerechnet in Deutschland stattfand hat aber auch persönliche Gründe, die in vorliegender Biografie ebenso enthüllt werden, wie viele andere Geheimnisse. Warum zeigt Gene Simmons seine Zunge? Wie lang ist sie wirklich? Hat Paul Stanley deutsche Vorfahren? Diese und viele andere bedeutenden Fragen, werden von Martin Popoff mit links beantwortet. Das wirklich letzte Konzert der Band soll übrigens im Dezember in New York stattfinden. Dort, wo alles anfing. The End of The Road betitelte Tournee endet dort nach 3 Jahren Tournleben.

Abschiedstournee in derzeitiger Besetzung

Wie keine andere Band in der Musikgeschichte dürfen sich Kiss auch über Spitznamen freuen, die von ihrer Maskierung herrühren. So firmiert Paul Stanley schlicht als The Starchild, Gene Simmons schon wesentlich bedrohlicher als The Demon und die anderen Mitglieder als The Spaceman (Ace Frehley und später Tommy Thayer), The Catman (Peter Criss und später Eric Singer) und schließlich noch The Fox (Eric Carr) sowie The Ankh Warrior (Vinnie Vincent). Die diversen Umbesetzungen ließen das Gespann Stanley/Simmons aber stets unberührt und so sorgte das Gespann Starchild und Demon für Kontinuität. Eine vollständige Discocraphie der Band sowie eine ausklappbare Chronik der 50 Meilensteine sorgen zudem für Aufsehen in dieser umwerfenden Würdigung einer der kapitalsten Bands der amerikanischen Musikgeschichte. Mehr als 100 Millionen verkaufte Scheiben können nicht irren. Aber von wegen “End of the Road”: vielleicht kommt es ja doch noch zu einer Wiedervereinigung der Originalmitglieder der Band? Die Abschiedstournee bezog sich ja schließlich nur auf die derzeitige (oben genannte) Besetzung der Band. Schließlich ist man auch mit über 70 noch lange nicht zu alt für Rock’n’roll wie Mick Jagger & Co eben gerade bewiesen haben.

Martin Popoff
50 JAHRE KISS
Die illustrierte Biografie
Übersetzung: Matthias Breusch
Hardcover mit Schutzumschlag, 27 x 23,5 cm
2023, 192 Seiten, mit 6 Seiten ausklappbarem Mittelteil
Durchgehend farbig bebildert
ISBN 978-3-85445-767-1
Hannibal Verlag
€ (D) 35,00 / € (A) 35,00


Genre: Biographie, Rockmusik
Illustrated by Hannibal

Das Stefan Zweig Album

Das Stefan Zweig Album. “Stefan Zweig hat mich zu seinem dauernden Oberhaserl ernannt. Mehr will ich nicht, möge er sich ab und zu eines Unterhaserls erfreuen. Ich gönn ihm die Andere und ihn der anderen. Wenn ich nur immer sein Oberhaserl bin.“, vertraute Friederike von Winternitz ihrem Tagebuch im November 1916 an. Wegen ihm hatte sie sich scheiden lassen, schließlich war Stefan Zweig damals schon ein berühmter Schriftsteller dessen Texte auch international erschienen und übersetzt wurden. Und das Haus am Kapuzinerberg in Salzburg in dem sie mit ihm wohnte war auch nicht ohne.

Sternstunden eines Schriftstellers

Der Kurator und mehrfache Buchautor Oliver Matuschek zeigt in seinem “Familienalbum Stefan Zweig” sowohl private als auch professionelle Seiten des Schriftstellers. 1919 erschien etwa sein Drama “Jeremias”, das zeigte, dass “derjenige, der als der Schwache, der Ängstliche in der Zeit der Begeisterung verachtet wird, in der Stunde der Niederlage sich meist als der einzige erweist, der sie nicht nur erträgt, sondern sie bemeistert” (O-Ton Zweig). “Sternstunden der Menschheit”, 1927 erstmals erschienen, wurde ein weiteres Highlight seiner Karriere und das zu seiner Lebenszeit meistverkaufte Buch. Ein Faksimile zeigt eine Original-Schreibmaschinenseite eines Manuskripts sowie Buchumschläge aus verschiedenen Editionen. 1939 war er laut einer Statistik des Völkerbundes bereits der meistübersetzte Autor der Welt. Allein zwischen 1932 und 1939 erschienen 126 Bände seiner Werke in Übersetzungen, weiß der Matuschek und besonders in Südamerika er zum Star, was mithin ein Grund gewesen sein mag, warum er später dorthin auswanderte oder besser gesagt exilierte. Matuschek erklärt an Beispielen auch die Arbeitsweise des Schriftstellers Zweig und untermauert dies mit einer Vielzahl von Originaldokumenten und Fotos.

Ungeduld des Herzens

Sein erster echter Roman, Marie Antoinette, wurde sogar von Hollywood verfilmt und kam 1938 dort in die Kinos. Ein Foto zeigt den Andrang vor dem Astor Kino. Aber schon im selben Jahr musste Zweig und seine Familie fliehen, den Besitz veräußern und auf eine sichere Ausreise hoffen. Der Großteil des Besitzes ging allerdings verloren und gilt seither als verschollen. Sein letzter Roman in “Österreich” erschein am 30. April 1938: “Ungeduld des Herzens”. Zu diesem Zeitpunkt war Zweigs Heimat, Österreich, als Ostmark bereits Teil des Deutschen Reichs und seine Bücher wurden von den Nazis verbrannt. Am Grab von Sigmund Freud in London soll Zweig im September 1939 die Trauerrede gehalten haben, bevor er sich schließlich in seiner letzten Heimat, Brasilien, mit seiner zweiten Frau, Lotte, für den Freitod entschied. Hätte er nur noch zwei, drei Jahre Geduld gehabt… Ein Familienalbum mit vielen privaten Fotos, Manuskripten und Briefen bis hin zu Erstausgaben aus aller Welt, die aus einer Vielzahl von privaten und öffentlichen Sammlungen stammen, ein sehr vielfältiges, erstmals zugängliches Bildmaterial. 2008 war Matuschek Kurator der Ausstellung “Die drei Leben des Stefan Zweig” im Deutschen Historischen Museum in Berlin. “Drei Leben – Eine Biographie” erschien 2006. Matuschek arbeitete auch beim Projekt stefanzweig.digital am Literaturarchiv Salzburg mit.

Oliver Matuschek
Das Stefan Zweig Album – Stefan Zweig ins Bild gesetzt
240 Seiten
ISBN-13 9783710901546
30,- EUR


Genre: Bildband, Biographie, Fotobuch, Literatur

Venezia 500. Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei

Kaum ein anderer Ort auf der Welt vereint auf so bewegende Weise schöpferische Kraft, Erfindungsgeist und die Sehnsucht nach Unvergänglichkeit“, bringt es Giovanni Liverani in seinem Grußwort auf den Punkt. Die Rede ist natürlich von Venedig, der Serenissima, die im 15./16. Jahrhundert im Bereich der Malerei eine unvergleichliche Blüte erreicht hatte.

Arkadische Sehnsucht

Das Venedig der Renaissance zeitigte Meister wie Bellini, Giorgione, Palma Vecchio und Tizian, die allesamt das Wesen von Mensch und Natur sowie deren Verhältnis zueinander mit nie dagewesener Intensität leuchtender Farben und Schatten darstellten und aufzeichneten. Anhand bedeutender Porträt- und Landschaftsdarstellungen zeigt der vorliegende Band die bahnbrechenden Neuerungen der venezianischen Malerei, die bis weit in die Moderne wirkten. Mit der Losung “Tintoretto war der Pollock des 16. Jahrhunderts” bringt uns Bernhard Maaz im Vorwort die bahnbrechenden und revolutionären Verdienste der venezianischen Malerei näher. Obwohl alle Gemälde dieses Ausstellungskataloges der Pinakothek venezianischen Ursprungs sind, steht doch nie die Lagnunenstadt im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Porträt- und Landschaftsmalerei. So schweifen die Blicke über grüne Hügellandschaften und zu den Gipfeln der Südalpen, aber niemals über die kunstvoll erbaute Stadt im Wasser. Arkadische Hirtenphantasien oder die belle donne, die von der Liebeslyrik Petrarcas und der zeitgenössischen Traktatliteratur zu weiblichen Schönheit inspiriert sind, erhoben die Schöpfer dieser Bildnisse zur Sehnsucht nach göttlicher Schönheit und Erkenntnis, die weit über das irische, schmerzlich-unerfüllte Verlangen nach Liebe hinausgeht, so Andreas Schumacher. “Arkadische Sehnsüchte” nennt Chriscinda Hinda als mögliche Motivation für die opulenten Bildwerke, aber auch magnificentia und liberalitas, humanistische Tugenden.

Venezia 500: Eros und Vaghezza

Mit “Hy pin ich ein her, doheim ein schmarotzer” brüstete sich Albrecht Dürer, Teil eines venezianischen Kreises von Gelehrten, Musikern, Kunstkennern und Künstlern zu sein. Denn kein Geringerer als Gabriele Vendramin besaß zahlreiche Drucke Dürers. Im sog. ridotto versammelte Dieser Gabriele Vendramin im Venedig des 16. Jahrhunderts um sich. Der Begriff wurde schon im Cinquecento für musikalische und häusliche Treffen verwendet. Dabei seien aber nicht nur gebildete Herren, sondern auch Kurtisanen, Dichterinnen und Sängerinnen beteiligt gewesen. Anders als die auf den Darstellungen abgebildeten “belle” dürften jene real existierende Frauen gewesen sein. Die Frauen auf den Gemälden vielmehr Kompositbilder, die aus den Merkmalen idealer Schönheit und Poesie zusammengesetzt, die Erschaffung möglichst idealer Abbilder begehrenswerter Frauen zu kreieren, gleichsam als Paragone zwischen Malerei und Poesie, vermutet Theresa Gatarski in ihrem lesenswerten Beitrag “Eros und Vaghezza”. Aber auch Kurtisanen standen Modell, etwa Angela del Moro in Tiziano berühmter “La Bella”. Weitere behandelte Künstler sind Giovanni Bellini | Paris Bordone | Giovanni Cariani | Cima da Conegliano | Giorgione | Bernardino Licino | Lorenzo Lotto | Sebastiano del Piombo | Tintoretto | Tizian | Palma Vecchio u. a.

Hg. Andreas Schumacher
Venezia 500. Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei
Mit Beiträgen von T. Gatarski, J. Grave, C. Henry, H. Kaap, A. Kranz, A. Mazzotta, J. Pawis, A. Schumacher, C. Whistler
2023, 256 Seiten, 166 Abbildungen in Farbe, 21,5 x 26,5 cm, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-7774-4176-4
Hirmer Verlag


Genre: Kunstgeschichte, Malerei, Venedig
Illustrated by Hirmer

Wir können auch anders Aufbruch in die Welt von morgen

Es geht um die anstehenden Veränderungen unseres Umgangs mit dem, was wir Umwelt nennen; die Autorin bevorzugt, Mitwelt zu sagen. Sie ermuntert dazu, sich zu beteiligen, selbst dann, wenn die Rahmenbedingungen dazu beschränkt sind. Jeder Satz, jede Geste zählt, sie ist dann ein „Wir“.

Die Leitfragen des Buches sind: Wie, wo, wer. Zum Wer fragt sie: „Die Politik? Die Wirtschaft? Die sogenannten Eliten? Wer ist mit diesem Wir gemeint?“

Die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin ist seit Jahrzehnten Transformationsforscherin und kennt die (oft gescheiterten) Versuche, die Klimakrise zu verhindern, seitdem der Club of Rome schon 1972 forderte: Nie wieder Probleme isoliert betrachten!

Zu oft führen unerwartete Nebenwirkungen zum Scheitern. Dazu gibt es viele internationale Beispiele, ich greife die derzeit gehegte Hoffnung heraus, das Austauschen von Verbrenner Motoren gegen E-autos würde die Umwelt verbessern. Wie wird die Elektrizität erzeugt? Was machen neue schnelle Straßen mit der Landschaft, mit den Städten? Würden weniger Stehzeuge (der realistischere Name für Fahrzeuge) die Straßen verengen, oder, (das steht nicht im Buch!) in Grünheide bei Berlin eine große Fabrik im Trinkwasserschutzgebiet gebaut wird?

In einer Studie wurde in Dänemark gefunden, dass jeder mit einem Auto gefahrene km den Staat 27 Cent kostet, für Straßeninstandsetzung, Unfälle, Lärm und Luftverschmutzung, jeder geradelte km spart dem Staat 30 Cent. Bei der Transformation wären autofreie Zonen nicht nur schöner anzusehen, auch besser für Kinder und andere Fußgänger.

Im Buch werden Begriffe der Transformationsforschung erklärt und angewandt: Kipp-Punkte, „wie kommen Firmen vom big disconnect zum big reconnect? Was sind Key Performance Indicators?“ sind nur einige.

Es ist aufgebaut in drei Abschnitten:1.) Unser Betriebssystem, 2.) Wie wir den Betrieb ändern und 3.) Wer ist eigentlich wir? wird die Entwicklung der ökonomischen Lehren dargestellt und Schritte für deren notwendige Veränderungen angedacht. So wird am Beispiel von Keynes, aufgezeigt, dass Fortschritt nicht verbesserte Gesellschaften bedeutet. Vor neunzig Jahren mutmaßte er, aufgrund der Entwicklung neuer Technologien in der Zukunft, also in unserem Heute könnte die Gesellschaft „weise, angenehm und gut leben“. Auch der Glaube, nur wirtschaftliches Wachstum sei die Grundlage besseren Lebens wird hinterfragt, neben das BIP sollte ein Indikator stehen, der das Wohlleben (well-being) berücksichtigt.

Am Ende jedes Kapitels steht eine Zusammenfassung, die auch Anregungen gibt, wie das Gesagte verarbeitet oder weitergetragen werden kann. Das schätzte ich schon in ihrem Buch „Unsere Welt neu denken,“ das ich hier auch rezensiert habe Rezension: Unsere Welt neu denken: Eine Einladung von Maja Göpel Hier ein Beispiel: „Wichtig ist in diesen Zeiten, klare Prioritäten zu setzen und neue Geschichten zu erfinden, die uns Orientierung für das Wünschenswerte und Mögliche geben, Sinn verleihen und ansteckend sind. Richten wir den Rückspiegel nach vorn, ist das Loslassen nicht mehr so schwer. Merke: in Jedem Vergehen steckt ein Entstehen.“

Die weitere Entwicklung könne auch im Kapitalismus geschehen, hier gibt es das Beispiel vom Bielefelder Produzenten von Insektiziden, Hans Reckhaus, der über Jahrzehnte das Konzept, möglichst viel zu verkaufen, umwandelte in Aktivitäten, die dem Insektensterben Einhalt gebieten: Aufschriften auf den Giften, aber auch Insektenschutzräume auf dem Dach seines Betriebes.

Dazu müssen Spielregeln geändert werden: Eine meiner Lieblingsstellen war die Entwicklung von Monopoly, entwickelt von einer Sekretärin mit dem Ziel auf die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft hinzuweisen: „In kurzer Zeit, ich hoffe, in sehr kurzer Zeit, werden Männer und Frauen entdecken, dass sie arm sind, weil Carnegie und Rockefeller mehr haben, als sie ausgeben können. Das Spiel hieß The Landlord’s Game. Später entwickelte sie auch eine single tax, mit der Grundstücke besteuert wurden, wovon öffentliche Parks und Schulen errichtet wurden. Sie verkaufte die Rechte. Danach, in der Krise Ende der Zwanziger Jahre wurde es Monopoly genannt und die Regel so geändert, dass der/die Spieler/in lernt: Wer hat, dem wird gegeben. Und er/sie lernt, wenn ich nichts habe, muss ich verarmen und untergehen.

Neu war für mich die wundersame Geldvermehrung der Milliardäre in den USA. Wer dort spendet, spart Steuern.

Mir war schon vor Jahren aufgefallen, dass Bill Gates Impfungen in Entwicklungsländern förderte, und damit die Staaten zwang, Prioritäten dort zu setzen, wo vielleicht anderes nötiger wäre: Trinkwasser, Frauenbildung, Abwasserbeseitigung. Die dann eingesparten Steuern konnte er wieder investieren in: Impfstoffherstellende Firmen.

Eine weitere Stärke des Buches sind ihre Erfahrungen als Rednerin, wie sie die Zuhörer/innen motiviert, das Gehörte weiter zu tragen. Und sie fragt sich, warum die Fachleute der Firmen nicht selbst ihr Wissen in die Debatten einbringen, wie ein Betrieb „grüner“ wird. Keiner möchte die Hiobsbotschaften überbringen, was alles geändert werden muss. Dafür bucht man lieber eine Transformationsforscherin, die nur einmal einen Vortrag hält…

Das Buch wird dann mit über fünfzig Seiten mit Quellenangaben abgerundet.

 


Genre: Entwicklung ökonomischer Theorien, Klimakrise, Transformationsforschung
Illustrated by Ullstein

Blutbuch

Merkwürdig fand ich den Autor, als er sich bei der Verleihung des deutschen Buchpreises 2022 als Zeichen der Solidarität mit den iranischen Frauen seine kinnlangen Haare kürzte—wie empfanden das wohl die iranischen Frauen?

Die Neugier überwog, als alte weiße Frau wollte ich mehr von jungen Menschen hören, die sich ihr Geschlecht selbst aussuchen. Und war von Anfang an gefesselt: hier wird geschrieben, immer neugierig, immer originell, wie gedacht wird, (und er denkt über Vieles nach!) mit englischen Einschüben, mal auch Französisch. Von seinen Beobachtungen, Gedanken und Gefühlen in Kindheit, Jugend, und jetzt, als junger Erwachsener.

Wir verstehen nach und nach, dass er seine Familiengeschichte aus weiblicher Sicht aufarbeitet, vom Vater lesen wir gleich im zweiten Absatz des Prologs, dass er „die Schwere“, wenn er von der Arbeit heimkam, ins Haus schleppte, „wie einen immensen, nassen, vermodernden toten Hirsch.“

Die Familiengeschichte geht aus von der Blutbuche, die vom Urgroßvater gepflanzt, im Hofe steht. Als Kind sieht er eine verzauberte Natur, denkt sich Märchen aus, als Erwachsener will er recherchieren, wie die im Hof stehende Blutbuche, die der Großvater sehr schätzte, beschaffen ist. Auch bei seinen tagelangen Studien sieht er, dass es „alles boys“ waren, die die Natur vor Allem kategorisierten. Und dann zeigt die Großmutter ihm den Stammbaum der Familie, er merkt, dass es ja nur die männlichen Vorfahren sind, die aufgeschrieben wurden.

Er widmet das Buch „Für meine Meere“, das ist Mutter in Berndeutsch, noch von der Zeit, als die Schweiz von Napoleon besetzt worden war. Meine Frage an alle, die Berndeutsch verstehen: Ist das Plural und er meint auch die Grossmeer?

Der Anlass zum Schreiben ist die zunehmende Vergesslichkeit der Oma, und er versucht, sich an die vielen Begegnungen zu erinnern. „Liebe Großmutter, ich möchte dir noch schreiben, bevor du ganz aus deinem Körper verschwunden bist oder keinen Zugriff auf deine Erinnerungen mehr hast.“

Es geht um das „Es“, die vielen Dinge, die nie ausgesprochen wurden, die er aber erinnert, und weil sie ihm als Kind merkwürdig schienen, merkte er sie sich und sucht und findet nun Zusammenhänge und Begründungen. Von der Grossmeer erinnert er alles, und versteht sie immer besser, er wirft ihr nichts vor, auch nicht, dass sie sich nicht gut mit seiner Mutter verstand. Von ihr wissen wir erst nur, dass sie die Matur auf dem zweiten Bildungsweg abbrach, als sie mit ihm schwanger war und auch mal eine Geliebte hatte. Spannend wird es dann, als er entdeckt, dass seine Mutter, die ja wegen seiner Geburt keinen akademischen Schulabschluss hat, die Geschichte der Frauen um viele Jahrhunderte erforscht hat und aufgeschrieben hat.

Dazwischen schiebt er immer Details seiner erotischen Eroberungen ein, auch wie er sich selbst gerne ficken lässt, mit einer Inbrunst, auf die Michel Houellebecq neidisch werden könnte.  Eine Zeit lang war er schwul, jetzt non-binär, ständig auf der Suche nach Sexualpartnern ist er immer noch. Und er ordnet „seine frühen Zwanziger kurz kulturhistorisch ein.“

Dann reflektiert er seine Haltung gegenüber heterosexuellen Machos: “Ihre Penisverlängerung war die Pferdestärke ihres Wagens. Meine Ego-Aufspritzung waren die Meter an Foucault, Bourdieu und Butler, die ich in meinem Bücherregal präsentierte. Wir spuckten auf das ökonomische Kapital, aber leckten das kulturelle Kapital immer gieriger auf“.

Nicht nur der Wortwitz gefällt mir, auch die gleichzeitige Distanz und Akzeptanz zu sich selbst. Als Kinderärztin erleichtert mich besonders: er braucht keine operativen Eingriffe, um sich als nicht-binärer Mensch wohlzufühlen sein Leben und seine Sexualität zu lieben. Achtzig Franken im Monat für „Pharmaka“ und immense Ausgaben für Körperpflege und Kosmetik sind es ihm wert.

Die Frauen im Iran werden sicherlich nie von seinem Buch erfahren. Aber der in Deutschland lebende Navid Kermani hat sein neues Buch so geschrieben, als wäre er eine Frau.

 


Genre: Leben und Lieben als non—binärer Mensch im Patriarchat, Roman
Illustrated by DuMont

Flussgeister

Pantha rei – alles fließt, ist stets in Bewegung und nie in Stein gemeißelt. Das ist der philosophische Grundsatz des Vorsokratikers und Naturphilosophen Heraklit, dem sich die österreichische Autorin Patricia Brooks in ihrem Roman „Flussgeister“ öffnet. In ihm kreuzen sich die Wege zweier Protagonisten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, aber an einem Punkt in ihrem Leben angelangt sind, an dem die Gegenwart des einen zum Anker für die Gegenwart des anderen wird.

(K)ein Roman über Midlife-Crisis

Der 47-jährige Anwalt Adam, der mit einer erfolgreichen Karriere und einer attraktiven Freundin gesegnet ist, beschließt aus heiterem Himmel sein Leben umzukrempeln: Seine bisherigen Errungenschaften bedeuten ihm nichts mehr. Von einem alten Fischer kauft er eine Hütte an den Donau-Auen, in die er sich entschlossen zurückzieht. Sein Gemüt lässt sich jedoch nicht als ennui, Überdruss oder Midlife-Crisis bagatellisieren – auch wenn dies naheliegend scheinen mag. Viel mehr kann man es als Wink oder Zeichen deuten, die eigentlichen Potenziale nicht rechtzeitig anerkannt und somit nicht gebührend ausgeschöpft zu haben.

Lolita und Pygmalion als Inspiration für Patricia Brooks „Flussgeister“?

Wäre da nicht Lola, eine von harten Schicksalsschlägen gezeichnete, verrufene sowie unzähmbare Einzelgängerin, deren Handlungen unberechenbarer sind als die Mäander der Donau-Auen. Gerade Lolas – wenn auch nur vermeintliche – Freiheit ist es, die in Adam sein vernachlässigtes Talent – die Bildhauerei – wieder aufkeimen und ihn sein eigenes Atelier eröffnen lässt.

Dabei kann sich der Leser nicht des Eindrucks erwehren, dass Patricia Brooks Vladimir Nabokovs “Lolita” als Negativfolie für Flussgeister herangezogen hat. (Ferner lägen da vielleicht Frank Wedekinds Lulu-Dramen „Erdgeist“ oder „Büchse der Pandora“). Im Gegensatz zu Humbert Humbert, der Lolitas psychische und körperliche Entwicklung formt und sie wie einen Schmetterling gefangen hält, ist Adam von Lola nicht im erotisch-ästhetischen Sinne samt moralischer Transgression angetan. Wenngleich diese durch ein Kindheitstrauma – die Verführung des Geschäftspartners ihres Vaters als Mutprobe samt dessen Ungnade – den Schutzmantel des Kindlichen nie ganz abgeworfen hat.

Krude Körperlichkeit vs. Künstlerische Plastizität

Die krude Körperlichkeit, die sich die an Eierstockkrebs erkrankte Lola von ihren Freiern und zunächst auch von Adam erhofft, weicht der Plastizität der Flussgeister, die auch die spirituelle Metamorphose der beiden Protagonisten widerspiegelt. Es handelt sich um zwei Skulpturen, die Adam schafft und die ihn und Lola verkörpern –dabei aber gerade die Grenzen des Gegenständlichen transzendieren und beide bis über den Tod hinaus vereint. Eine radikale Umschreibung des profanen Pygmalion-Mythos also, aber auch der biblischen Urszene.

In diesem Sinne lässt sich auch Adams Entschluss nachvollziehen, sein Boot „St. Lola“ zu taufen. Ironischerweise ist diese spirituelle Vereinigung durch Kunst im Falle von Adams Freundin Natalie, die in der Filmbranche berufstätig ist, weniger bis gar nicht gegeben. Es ist denn auch hauptsächlich die körperliche Intimität mit derselbigen, die Adam noch eher in seiner Hütte vermisst und welche Natalie trotz neuer Bekanntschaft noch in Kauf zu nehmen gewillt ist. Zu guter Letzt sieht Adam durch die kindliche Lola auch seine Fehler ein, die ihm bei der Erziehung seines Sohnes Julian unterlaufen sind.

„Flussgeister“ von Patricia Brooks sprengt Genregrenzen

Der Roman „Flussgeister“ von Patricia Brooks sprengt Genregrenzen, indem er Elemente des Entwicklungs- und Künstlerromans mit leicht esoterischen Tönen übermalt, ohne dabei in das Sentimentale abzugleiten oder sich in poetischen Gefilden zu verlieren. Und das trotz der Fülle zahlreicher aquatischer Metaphern, naturromantischer Landschaftsbeschreibungen oder kurzer Dialoge, die an die ionische Naturphilosophie gemahnen. Patricia Brooks zeichnet sehr menschliche Figuren, blickt tief in deren psychische Abgründe, pathologisiert sie aber nicht.


Genre: Erfahrungen, Kunst, Roman
Illustrated by Septime Verlag Wien

Unendlicher Spass

Dieses Werk ist der Ironman der Literatur. Wer dieses Buch wirklich bis zur letzten Zeile durchgehalten hat, sollte vom Rowohlt-Verlag ein Finisher-T-Shirt zugeschickt bekommen. Mit 1551 Seiten oder 3.486 KB setzt David Foster Wallace alles daran, in Marcel Proust’s Fussstapfen zu treten. Die ganz persönliche Lesezeit betrug ein Jahr. War es eine verlorene Zeit? Machen wir uns auf die Suche. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by Rowohlt Taschenbuchverlag Reinbek bei Hamburg

Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch

 

EINE ETWAS ANDERE REZENSION

Cover der Lizenzausgabe für Bertelsmann, Reinhard Mohn OHG, 1972

Da lag es nun auf meinem Schreibtisch auf einem Stapel anderer Bücher. Wir hatten uns wieder einmal aufgerafft und versucht, unsere Bibliothek zu verschlanken. Viele Bücher konnten schon gar nicht mehr in die Regale eingeordnet werden und lagen, sofern es der Platz zuließ, oben quer über den anderen. Immer wieder nahmen wir uns ein, zwei Fächer vor, entnahmen die Bücher, auch aus der zweiten Reihe, saugten den Staub ab und sonderten die Exemplare aus, von denen wir meinten, sie entbehren zu können. Beim Buchstaben S angelangt hatten wir die früher noch nicht aussortierten Werke von Solschenizyn in der Hand. Der Archipel Gulag musste schon beim letzten Mal weichen und dieses Mal der Rest. So lag das dünne Büchlein „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ oben auf. Weiterlesen


Genre: Romane
Illustrated by Bertelsmann Bielefeld

No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit

No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit

No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit. “Die Neunziger enden am 11. September 2001. An ihrem Beginn fällt die Berliner Mauer, an ihrem Ende fallen zwei Türme in New York City.” Das Jahrzehnt, das so verheißungsvoll begonnen hatte (“Wind of Change”) endet mit einem Vatermord. Denn der Vater Osama Bin Ladens war genau der Bauunternehmer, der in Saudi-Arabien die Architektur Minoru Yamasakis umsetzte. Und in New York die Twin Towers.

Jahrzehnt der Widersprüche

Wem das jetzt schon zu konspirativ klingt, der hat die Neunziger nicht erlebt. Denn tatsächlich war es ein Jahrzehnt der Widersprüche. Nicht nur politisch, sondern auch kulturell-musikalisch. So steht 1993 gleichzeitig für “the year that grunge broke out”, andererseits auch für den weltweiten Durchbruch von Tekkno. Elektronische Musik war plötzlich gefragt, Raves wurden zum Treffpunkt der neuen Jugendkultur und die “Love Parade” in Berlin zählte bald mehr als 1,5 Millionen Besucher:innen. Das Jahrzehnt in dem jeder anders sein wollte und möglichst individualistisch daherkam, verkam zur Uniformierung und Kommerzialisierung der Jugendkultur, wie es bisher noch nie dagesessen war. Denn bald stiegen auch gewisse Sportmarken auf den neuen Jugendtrend des Abtanzens ein. Während Hakim Bei von “temporären autonomen Zonen” schwärmte, entstanden im Osten Deutschlands sog. national befreite Zonen, also das genaue Gegenteil von dem, was auf Tekknopartys (“Unity”) beschworen wurde. Dabei übertraf die Zahl der Aussiedler bei Weitem jene der Asylbewerber, wie Balzer betont. Selbst das deutsche Nachrichtenmagazin SPIEGEL unterlag der neuen Diskurshegemonie und titelte am 9.9.1991 “Flüchtlinge-Aussiedler-Asylanten: Ansturm der Armen”. Wenige Tage später ereigneten sich Hoyerswerda und Rostock, zwei Städte, die so gar nicht in das Bild der neuen Offenheit passten.

Airbag Generation und Two Socks

Aber Lichtermeere gegen Rechts gehörten ebenso zu den Neunzigern, wie die Piercings und Tätowierungen der “Modern Primitives”, die ihr Überleben in kleinen, selbstbezogenen Gemeinschaften erprobten. Selbstreferentialiät und Modifikation des eigenen Körpers führten zu solchen Auswüchsen wie dem vielzitierten Arschgeweih, das in den USA als Tramp Stamp den Feminismus in die Steinzeit zurückbombten. Dazu trugen auch Fernsehserien wie Baywatch bei, auch wenn diese stets unter der Prämisse der Selbstbestimmung der Frau liefen. Der letzte Sieg des Patriarchats? Dieser wurde auch in diversen Talkshows zelebriert, denn obwohl in den Neunzigern jeder ein Außenseiter und etwas Besonderes sein wollte, glichen sich die Drehbücher und wurden mit Laiendarstellern getastet. Nicht zuletzt gingen die Neunziger aber auch als Jahrzehnt des Big Brother und Matrix ein. Denn “1984” wurde mit der Erfindung der mobilen Kommunikation tatsächlich Realität: die Handys machten spätestens Ende des Jahrzehnts als kleine Sendeeinheiten Furore und der gläserne Mensch wurde alsbald so durchsichtig, dass im Grunde genommen jeder von uns als Klon nachproduzierbar wäre. Denn so viele Daten wie noch nie wurden über einen einzelnen Bürger:in im WWW gesammelt. Dabei hatte es mit Two Socks – der Katze Bill Clintons – so harmlos angefangen…

Ob-la-di ob-la-da

Wenn die Siebziger im Zeichen der Innovation standen, die Achtziger im Zeichen der Angst und Apokalypse, dann sind die Neunziger wohl die Aufhebung der beiden. Der Griff ins Archiv wird zum innovativen Kick, Hypertext über alles. Selbst der religiöse Fundamentalismus ist nur ein Widergänger der alten anti-westlichen, anti-aufklärerischen politischen Bewegungen des Nationalsozialismus und Faschismus: Klerikalfaschismus, so Walter Laqueur. Tristesse Royale ist dabei noch ein harmloser Titel. Die Globalisierung hat eben auch diesen Aspekt: “aus einer immer stärker vernetzten und hybrider werdenden Welt verschwindet jenes Eigene, in dem sich Sicherheit und Identität finden”. Darauf gibt es eben unterschiedliche Reaktionen, aber es ist wohl beides legitim, da real. Ob-la-di ob-la-da. Und vielleicht war das Jahrzehnt gerade wegen seiner Widersprüche das freieste, bisher…

No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit

Jens Balzer, geboren 1969, ist Autor und Kolumnist, u.a. für die «Zeit», «Rolling Stone», den Deutschlandfunk und radioeins. Er war stellvertretender Feuilletonchef der «Berliner Zeitung» und kuratiert den Popsalon am Deutschen Theater. 2016 erschien sein vielgelobtes Buch «Pop», 2019 «Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er», über das der «Tagesspiegel» schrieb: «So lehrreich wie unterhaltsam … Am Ende ist man um nie geahnte Erkenntnisse reicher – und wünscht sich, dass sich der Autor bald das nächste Jahrzehnt vornehmen möge.»

Jens Balzer
No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit
2023, Hardcover, 384 Seiten,
ISBN: 978-3-7371-0173-8
Rowohlt Verlag


Genre: Chronologie, Geschichte, Kultur, Musik, Politik, Popkultur
Illustrated by Rowohlt

Batman – One Bad Day – Ra’s Al Ghul

One Bad Day

Batman – One Bad Day – Ra’s Al Ghul. Zeichner Ivan Reis und Autor Tom Taylor legen sich in “One Bad Day – Ra’s Al Ghul” ordentlich ins Zeug, denn zweifellos ist
Ra’s Al Ghul – der Schwiegervater Batmans – ein besonders spannender Charakter in Zeiten von Klimaverschiebung und Erderwärmung.

Familienbande – Bande einer Familie

Der unsterbliche Ra’s al Ghul ist nämlich so etwas wie ein “Klimaterrorist”. Er will all jene zur Rechenschaft ziehen, die aufgrund ihres unglaublichen Energieverbrauchs die Zukunft aller Lebewesen auf der Erde auf dem Gewissen haben. Dabei versucht er seinen Schwiegersohn zu einem unfreiwilligen Verbündeten zu machen, denn schließlich gibt es auch einen Enkel, Damian, den Sohn von Ghuls Tochter Talia und Batman. Damian arbeitet allerdings längst auf der anderen Seite, unter den Flügeln der Fledermaus nämlich. Er unterstützt Batman als Robin im Kampf gegen das Böse und somit auch gegen seinen Großvater, Ra’s Al Ghul. Seit 1971 feiern Talia und Ra’s regelmäßig Wiederauferstehung in ihren Lazarusgruben und was diesen recht ist, ist auch anderen billig. Denn tatsächlich stirbt Batman in vorliegender Adaptation des Mythos, um sogleich wieder in genannten Gruben wieder auf zu erstehen. Schließlich ist Robin alias Damian schlau genug, seinen Vater in diese Lazarusgruben zu befördern, aber wer diese kennt, weiß gleichzeitig, dass immer auch etwas mehr an Wut und Verzweiflung dabei herauskommt als hineinging. Also Achtung vor Batman, denn ein wieder auferstandener ist wohl ebenso mächtig wie jener “Detektiv” mit dem sich Ra’s Al Ghul ein spannendes Säbelduell liefert, das von
Zeichner Ivan Reis sogar in übergroßen seitenübergreifenden Panels dokumentiert wird. Da staunt selbst die League of Assassins nicht schlecht die Ra’s Al Ghul bei seinem Umweltkampf assistieren. Denn so einen Kampf haben selbst sie noch nie gesehen: beide Kontrahenten zeigen Brust.

Der Zweck heiligt die Mittel?

Ra’s Al Ghul, der Batman immer mit “Detektiv” anspricht, hat durchaus Respekt vor seinem Gegner. Aber nicht weil es sein Schwiegersohn ist, sondern weil sie sich beide so sehr gleichen. Beiden ist das Leben heilig. Sie kämpfen beide für eine bessere Welt, nur dass Ra’s Al Ghul dabei alle Mittel recht sind, nach dem Motto “Der Zweck heiligt die Mittel”. Aber Batman weiß, dass gerade die Mittel des Kampfes auch die Wege der Zukunft beschreiben. Vielleicht könnte man da die Russische Oktoberrevolution zitieren, die ebenso wie Ra’s Al Ghul die richtigen Ziele, aber die falschen Wege dorthin beschritt. Die Natur muss beschützt werden. Ra’s Al Ghul will die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, Batman will jedes menschliche Leben schützen. Auch das der Industriebosse, die gerade dieses Leben zunehmend verunmöglichen. Ein Batman-Comic ganz im Zeichen des 1988 Klassikers Killing Joke von Batman-Neuerer Alan Moore. Weitere “One Bad Day”-Geschichten zu anderen Superschurken sind bereits erschienen. Die Reihe wird fortgesetzt, u.a. mit Mr. Freeze, Double-Face, Clayface,…

Tom Taylor
Batman – One Bad Day – Ra’s Al Ghul
Original Storys: Batman: One Bad Day: Ra’s al Ghul
2023, Hardcover, 76 Seiten
ISBN: 9783741635120
Panini
18,00 €


Genre: Comics
Illustrated by Panini Comics

Peter Joseph Lenné: Eine Biographie

Das Buch wirkt klein und schlank und ist doch mehr als eine Biografie. Schon der Untertitel verrät: “Mit einer kurzen Geschichte des Landschaftsgartens von seinen englischen Vorbildern bis zum Volkspark.“ Und wir lernen nicht nur über Landschaftsgärten, wir sehen auch Lennés Rolle darin: „Durch ihn wird die Gartenrevolution zur Gartenevolution. Bei ihm beginnt der Übergang in die Moderne mit allen ihren Licht- und Schattenseiten.“ Die Entwicklungsepochen der Landschaftsplanungen werden mit denen der Literatur verglichen, da wird Lenné zum romantischen Gartenpoet, ist mal der Spätromantiker, meist einfach der Landschaftspoet.

Ohff berichtet von der Kindheit als Sohn des Hofgärtners von Brühl, seinen Ausbildungsstätten, etwa in München, der Arbeit in Wien und Paris, die Reisen. Von Hardenberg gelingt es 1816, den jungen Gärtnergesellen an den Preußischen Hof zu rufen.

Als Neuling muss er neben den Altvorderen bestehen, die barocke Schlossgärten für gottgegeben hielten, und da wollte ein Jüngling gerundete statt grader Wege planen, sogar Bäume fällen, wegen der besseren Aussicht! (Dit ham wa ja noch nie jemacht! Höre ich in Erinnerung eigener Tätigkeiten im Öffentlichen Dienst.)

Ohff glänzt nicht nur mit seinem Wissen über Garten- und Landschaftsplanung, er beschreibt Lennés Tricks im Umgang mit seinen Königen und auch mit seinen Kollegen. Lenné muss sich, über die Jahrzehnte, mehrmals auf neue Regenten einstellen. Er hat klare „Verschönerungspläne“ und will deren Umsetzung erreichen.

Er gestaltet die Landschaft, wissend, dass sie auf das menschliche Gemüt eine große Wirkung ausübt. Angestellt ist er als Beamter der preußischen Könige, aber er beginnt früh, über die Grenzen deren Schlossgärten hinaus, die Folgen der Verstädterung gerade für die nicht-adligen Menschen zu sehen, und er versucht, dem gegenzuwirken: Schon 1840 legt er seine „Projectirten Schmuck- und Grenzzüge von Berlin und seiner Umgebung“ vor. Tiergarten, Zoo, Humboldthain werden nach und nach, teils nach seinem Tode von seinen Schülern, umgesetzt. In Magdeburg, Köln und Dresden, um nur einige zu nennen, entstehen öffentlich zugängliche Gärten. Ein Kapitel des Buches heißt: Der Volkspark. Die Idee des Volksparks kommt aus England, später auch die Ballspiele, für die in den Parks Plätze geschaffen wurden.

Bei besonderen Gartenvorhaben kennt Ohff jedes Detail, als Beispiel mag das Projekt von Schloss und Park Babelsberg dienen, wo die übliche Rivalität zu Pückler auch mal zu dessen Obsiegen führte (was ich beim Besuch der Ausstellung vor einigen Jahren nicht verstanden hatte). Augusta, die Gattin des Hausherrn hatte viele, oft wechselnde Vorstellungen, mit denen Pückler, als „Homme de femme par exellence“ besser umgehen konnte als Lenné. Pückler, der selbstbewusste Aristokrat, machte sich zeitlebens gern über Lenné lustig. Schon der Name! Er kommt eigentlich, wie dessen Vorfahren, aus dem französisch sprachigen Belgien: Le nain, (der Zwerg) daraus macht Pückler „laine“ (Wolle).

Zwischendurch wird er als Mensch beschrieben, seine Treue zu „Fritzchen,“ seiner Ehefrau, zu seinen Gefährten, von denen einige zu Duzfreunden werden. Außerdem war er „Frühaufsteher, Weintrinker, mit einer Vorliebe zu Mosel und Rhein, Hundeliebhaber“ insgesamt ein geselliger Mensch, der dazu auch noch gerne sang. Und er unterstützte Arbeitervereinigungen, manche der späteren Tätigkeiten in Berlin, wo er „Buddelpeter“ genannt wurde, werden von Ohff als Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschrieben.

Nachdem der Prinzregent Wilhelm 1861 zum König gekrönt wurde, spielten Lennés Verschönerungspläne für die Entwicklung Berlin keine Rolle mehr, Berlin wurde immer mehr zur Steinwüste. Nach seinem Tod wurde Lenné auf dem Bornstedter Friedhof im Bereich des privaten Sello-Friedhofs mit anderen Gärtnern des preußischen Hofes begraben.

Für Lenné begannen die Ehrungen: Ehrendoktor in Breslau und viele andere. Und doch stecken in vielen seiner Werke noch seine „Verschönerungspläne“. „Als Schwärmer ein Praktikus und als Praktikus ein Schwärmer, vollendet er den klassischen Landschaftsgarten, zumindest auf dem Kontinent, und verwandelt ihn gleichzeitig zur Grün-Oase für den luft- und baumhungrigen Menschen der großen Städte.“ Das Buch endet mit einem Gedicht eines ehemaligen Gartendirektors, das Michael Seiler gewidmet ist. Hier die letzten Strophen:

„Laut Stadtplan läuft die Friedrich-Ebert-Straße

Exakt in Flucht der alten Hauptallee;

(hier stand vielleicht einmal die Marmorvase).

Auf Luftaufnahmen kurz nach dem ersten Schnee,

beziehungsweise in der Wachstumsphase,

erkennt man noch die Wege von Lenné.“

Abgerundet wird das Büchlein durch eine Auflistung der Jahreszahlen zur Entwicklung von Landschaftsgärten, denen seiner Biografie, einer Literaturliste und einem Personenregister.

 


Genre: Biographie, Gartenplanung in Berlin/Brandenburg, Volksparks
Illustrated by Jaron Verlag