Blutorangen – Eine Reise zu den Zitrusfrüchten Italiens

Blutorangen. Der Gastrosoph Peter Peter glänzte schon durch eine prämierte Kulturgeschichte der italienischen Küche sowie Literaturguides zu Sizilien und Neapel. In seinem neuen Werk, Blutorangen, widmet er sich ganz der wichtigsten Frucht des Südens: der Zitrone.

Kulturgeschichte der Blutorangen und Zitronen

Schon Goethe assoziierte mit Italien “das Land in dem die Zitronen blühen”. Aber es war nicht nur die Zitrone, sondern eine Vielzahl an Zitrusfrüchten, die ihm damals begegneten: Zitronen, Mandarinen, Blutorangen, Bergamotten, Pomeranzen, Zitronatzitronen. Kurz auch als “Agrumen” bezeichnet, vom lateinischen “acer” für „scharf, herb, sauer“, dabei sind Zitrusfrüchte alles andere als nur das. Peter Peter zeigt uns in seiner kulinarischen Kulturgeschichte, dass das Wort für Orange aus dem Sanskrit Naranga stammt und selbst Apfelsine sich auf den Orient bezieht. Der “Apfel aus China“, die Apfelsine, stammt vermutlich aus dem Himalaya, Burma oder dem südchinesischen Yunnan und vielleicht hat wirklich Marco Polo sie von dort mitgebracht. Aber schon in Pompejis Wandfresken waren Zitrusfrüchte abgebildet, somit kannten sie auch schon die alten Römer. Interessant für Züchter ist die Tatsache, dass Zitrusbäume Selbstbestäuber sind und “nicht unbedingt auf die Hilfe von Bienen angewiesen sind“, so Peter. Die ersten Zitronen der italienischen Halbinsel dürften im 10. Jahrhundert in Amalfi geerntet worden sein, die Seerepublik hatte eben privilegierte Orientbeziehungen, also noch lange vor Marco Polo über Zitronen verfügt. Da Zitronen aufgrund ihres Vitamin C Gehalts gut gegen Skorbut sind, verzeichnete die Frucht einen grandiosen Aufstieg im Europa der Seefahrt in den kommenden Jahrhunderten. Aber auch für arme Leute war die Zitrone nichts weniger als das Versprechen auf das Paradies: “Qui tocca anche a noi poveri la nostra parte di ricchezza. Ed è l’odore dei limoni“, wie es in einem zitierten Gedicht von Eugenio Montale heißt. Wer dabei an Limoncello denkt liegt auch nicht ganz falsch.

Allheilmittel Zitrone

Wenn Lucio Battisti seiner Geliebten verspricht, dass in seiner Brust eine Zitrone schlägt (“batte in me un limone giallo, basta spremerlo“) und damit unweigerlich die Aufforderung es auszupressen (spremerlo) verbunden wird oder Paolo Conto in seinem Chanson “gelato al limon” verspricht, dass Liebe keine Sache des Geldbeutels sei, wird auch den etwas weiter nördlich Geborenen unweigerlich klar, dass die Zitrone mehr ist als nur eine Frucht. Schon in Zeiten der Pest wurden ihr heilsame Fähigkeiten zugesprochen, weswegen die Dottori mit der langen Nase der Commedia dell’Arte stets getrocknete Exemplare darin aufbewahrten. Auch in unserem Jahrhundert wuchs der Verkauf der Zitrone ums Doppelte, da viele glaubten, die Zitrone helfe auch gegen Corona. Aber genug der Theorie, die Gelateria Mario Campanella im apulischen Badestädtchen Polignano a Mare kredenzt einen Caffè Speciale, den man sich nicht entgehen lassen sollte: er enthält Zesten (sehr feine Streifen der Schale einer Zitrusfrucht) von Zitronen und gilt als Hinweis, wie vielseitig verwendbar die Zitrusfrüchte doch sind. Das zeigen auch 12 Rezepte, die Peter Peter feinsinngerweise zusammengestellt hat und hier sogar mit Fotos präsentiert.

Zum Nachkochen dringend empfohlen! (Auch das Rezept für einen zünftigen Limoncello ist dabei.) Natürlich erfährt der Leser auch woher die besten Zitronen kommen und was ihre Unterschiede sind. Ob Gardasee oder Kalabrien, jede Region hat ihre eigenen Vorzüge und Zitronen, darauf spielt auch die Beuyssche Capri-Batterie an.

Peter Peter
Blutorangen
Eine Reise zu den Zitrusfrüchten Italiens
2024, SALTO [285], 144 Seiten, rotes Leinen, fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1384-9
Wagenbach Verlag
22,– €


Genre: Kulturgeschichte

Wie ein Himmel in uns. Meine Nacht allein im Louvre.

 „Na? Wie würdest du die Mona Lisa stehlen?“ Eine Frage, die Vincenzo Peruggia, der Kunstdieb des Gemäldes, während seines Gefängnisaufenthalts 1913 einen Mitinsassen mit einem nicht minder verschmitzten Lächeln hätte stellen können. Wie wahrscheinlich wäre es außerdem, eine ‚Leihgabe‘ des Gemäldes genehmigt zu bekommen, wie im Falle des reichen Entrepreneurs Miles Bron im Film Glass Onion? Realistischer war da schon 2019 die Chance, im Rahmen eines Gewinnspiels mit Airbnb eine Nacht im Louvre zu verbringen. Eine Aktion, die sicherlich auch von Beyonces und Jay-Zs Video zu „Apeshit“ inspiriert wurde.

In „Wie ein Himmel in uns. Meine Nacht allein im Louvre“ von Jakuta Alikavazovic, einer in Paris aufgewachsenen Autorin mit jugoslawischen Wurzeln, ist die Frage nach einem potenziellen Raub der Mona Lisa eine viel komplexere, als Popkultur und Verschwörungstheorien vermuten lassen.

Kunst als Heimatverlust

Die (gestohlene) Mona Lisa wird bei Alikavazovic zum Sinnbild des Heimatverlusts. Nicht zufällig erwähnt die namenlose Ich-Erzählerin, dass Peruggia in seinem Bemühen, das Gemälde dem ‚rechtmäßigen‘ Land seiner Zugehörigkeit zurückzubringen, bis heute als italienischer Nationalheld gefeiert wird. Eine Art Restitution also?

Das Gefühl der verlorenen Heimat wird sowohl direkt durch die Ich-Erzählerin als auch indirekt durch deren Vorgeneration, ihren Vater, empfunden. Dieser spukt in Form von Erinnerungen und Mythen wie ein Phantasma durch das Narrativ der Tochter, während sie – unter dem Vorwand der Recherche für ein Buch – eine Nacht allein im Louvre verbringt. Nach der Flucht vor dem Jugoslawienkrieg nach Frankreich wird der Louvre hauptsächlich für den Vater nicht nur zum Ort der Erkenntnis, dass sich die Erinnerung an die Heimat – Titos kommunistische Utopie vom jugoslawischen ‚Einheitsstaat‘, ähnlich wie Stalins Sowjetunion – als künstliches Konstrukt entpuppt. Genauso verhält es sich mit den zahlreichen Besuchern am ‚Tatort‘ im Louvre, in deren Erinnerung die Mona Lisa während ihrer Abwesenheit 1911-1913 originellere Züge annimmt als in ihrer Anwesenheit. Die Erinnerung an etwas, das es nicht (mehr) gibt.

Kunst als ‚wahre‘ Heimat

Gleichzeitig kann der Vater seine Identität gerade im Louvre jenseits der gesprochenen Sprache mit seiner Affinität zu Kunst(geschichte) ‚neu‘ erfinden. Wenn er seine Tochter also immer wieder fragt „Na? Wie würdest du die Mona Lisa stehlen?“, dann interessieren ihn auch die Möglichkeiten und Grenzen ihrer eigenen Neuerfindung.

Ironischerweise hat auch der ehemalige französische Präsident François Mitterrand den Louvre 1989 ‚renoviert‘, weniger revolutioniert. Der Eindruck von einem ursprünglich aus dem 19. Jhdt. stammenden Adelspalast sollte unter anderem durch den Bau einer Glaspyramide, von der sich der chinesisch-amerikanische Architekt Ieoh Ming Pei absolute Transparenz erhoffte, getrübt werden. Auch wenn Mitterrand mit dieser zur spöttischen „Grabkammer der Sozialisten“ deklarierten Pyramide eine demokratische Geste für ein modernes Frankreich tätigen wollte, wurde der moderne Zusatz vom Volk lediglich geduldet. Selbst wenn die Pyramide mittlerweile bekannter ist als das eigentliche Museum.

Jenseits von Trauma und Exilliteratur. Die Untrennbarkeit von Ästhetik und Politik

In „Wie ein Himmel in uns“ untersucht Alikavazovic mit Fingerspitzengefühl, inwiefern der Akt der ‚Neuerfindung‘, sei es in Bezug auf Kunst, Geschichte oder persönliche Identität, auch mit Scham behaftet sowie eine spielerische Verleugnung der Vergangenheit und des Selbst sein kann. Auch, wie sich das auf Liebe in zwischenmenschlichen Beziehungen auswirkt. Damit knüpft sie teilweise an die Vorgängerromane Corps Volatils, Le Londres-Louxor oder Das Fortschreiten der Nacht an.

In der Manier des Magischen Realismus mit metafiktionalen Elementen lässt sie die Wahrnehmung, Erinnerungen und Erlebnisse der Ich-Erzählerin, des Vaters und anderer Bekannter ineinanderfließen. So gekonnt, dass man Vater und Tochter tatsächlich zutrauen könnte, einen Raubversuch im Louvre zu wagen. Autofiktion und Autobiographie, Ästhetik und Politik gehen somit nahtlos ineinander über.

Alikavazovic lässt sich literarischen Größen wie Vladimir Nabokov (Der Museumsbesuch), David Markson (Wittgensteins Mätresse) oder Annie Ernaux (Die Scham) zuordnen. Nicht nur, aber auch deswegen gebührt der Autorin, die auch David Foster Wallace ins Französische überträgt und von der gerade einmal zwei Romane ins Deutsche übersetzt wurden, mehr Aufmerksamkeit.

Jakuta Alikavazovic: Wie ein Himmel in uns. Meine Nacht allein im Louvre.

Übersetzt aus dem Französischen von Stephanie Singh.

Erschienen bei Hanser.


Genre: Autobiografie, Autofiktion, Kulturgeschichte, Kunst, Roman
Illustrated by Hanser

GESCHICHTE DER ZÄRTLICHKEIT Die Erfindung des einvernehmlichen Sex und ihr zwiespältiges Erbe bei Rousseau, Kant, Hegel und Freud

Let’s talk about sex, sang die Band Salt n Pepa im Jahre 1990. Ein Appell an die Offenheit, sich über die individuellen Wünsche und körperlichen Bedürfnisse auszutauschen, diese zu berücksichtigen, ohne sie dem Gegenüber aufzudrängen. Kurz: Sex in Absprache und Übereinstimmung miteinander, aus freier Wahl.

Was für uns heute selbstverständlich klingt, nahm in Europa seine offiziellen Anfänge mit Napoleon Bonapartes Einführung des Code Civil Anfang des 19. Jahrhunderts. Sex sollte nicht mehr als Rechtspflicht in der bürgerlichen Ehe betrachtet werden – mit Betonung auf bürgerlich! Eine Frau konnte beispielsweise bei der Verweigerung von Sex nicht mehr schuldig gesprochen werden.

Aber wurden die sexuellen Machtstrukturen des Patriarchats dadurch tatsächlich gelockert oder einfach verschoben? Über welche Instanz, wenn nicht mehr über das Gesetz oder die Kirche, wurden diese geregelt? Inwiefern zerbrachen sich die Philosophen Rousseau, Kant, Hegel und Freud darüber den Kopf? Fragen, denen sich der deutsche Literaturwissenschaftler Johannes Kleinbeck in seinem neuen Sachbuch widmet.

Gemeinsamer Nenner Zärtlichkeit

Kleinbecks Hauptargument besagt, dass der Gedanke, Zärtlichkeit solle an die Stelle der Rechtspflicht des Ehevollzugs treten, zuerst von den oben genannten Philosophen formuliert wurde. Da wäre Rousseau, demzufolge sich Zärtlichkeit durch die Prägung der rohen körperlichen Triebe steuern ließe – die ‚Gebrauchsanleitung‘ dazu ist kein geringerer Roman als sein Emile. Immanuel Kant wiederum schwört – paradoxerweise in junggesellenhafter Gesinnung – während der Besatzung Königsbergs durch die Truppen der Zarin Elisabeth I. auf schöngeistig-höfische Galanterie und eine ästhetische Verfeinerung der Sinne.

Hegels Vorstellung fällt da weniger romantisch aus. Der Verlust der sinnlichen Begierde in der Ehe ist nicht beklagenswert, sondern eine Bereicherung in Sachen Zärtlichkeit. Das wusste Hegel als Verfechter der Nationalökonomie Adam Smiths auch aus eigener Erfahrung zu schätzen, seine um knapp 20 Jahre jüngere Frau Marie weniger. Freud wiederum hatte es mit der Zärtlichkeit wie mit dem Koks. Wenn seine Verlobte Martha Bernays beides zu häufig und zu schnell mit anderen teilte, verlor es den Reiz des Speziellen, des Außergewöhnlichen.

Ein Elefant im Raum

Kleinbeck gelingt es, die unterschiedlichen Lesarten der Zärtlichkeit und deren Widersprüchlichkeiten in ihren jeweiligen historischen Kontexten auszuloten und zu zeigen, dass Zärtlichkeit nicht gleich sexuelle Freiheit in der Ehe bedeutet. Die Analyse von Freuds Briefaustausch mit seiner Verlobten hätte vielleicht zugunsten einer intensiveren Beschäftigung mit Napoleons Rezeption der Schriften Kants vor der Erlassung des Code Civil ein wenig bescheidener ausfallen können. Immerhin hatte Napoleon den französischen Offizier Charles de Villers mit der Übersetzung von Kants Schriften beauftragt.

Die gegen Ende der Abhandlung geäußerten Thesen gehen dann schon expliziter in Richtung Kapitalismuskritik und feministische Kritik. Seit den 1960ern und 1970ern, wo sich gleichzeitig mit der sexuellen Revolution die Institution Ehe aufzulösen begann, sei es zunehmend schwieriger geworden, Zärtlichkeit unabhängig von kapitalistischen Bedürfnissen zu praktizieren. Dass diese fragmentierende Trennung von (außerehelicher) Sinnlichkeit als Warencharakter und (ehelicher) Zärtlichkeit von Männern ersehnt sei, verlinkt Kleinbeck wiederum mit feministischen Ansätzen wie Virginie Despentes King Kong Theorie. Diese Argumente fallen, gerade weil sie im Schlussteil der Arbeit platziert sind, knapp aus. Dabei sprechen sie genau die wunden Punkte an, die näher zu erörtern es sich in dieser Abhandlung noch ausgezahlt hätte.

Letztlich wird die Frage „Ist Zärtlichkeit heute – unabhängig von der sexuellen Neigungmit alternativen Beziehungsmodellen als der von politischen Aktivist*innen gefürchteten Monogamie bzw. monogamen Ehe langfristig praktizierbar?“ zum Elefanten im Raum.


Genre: Kulturgeschichte, Sachbuch
Illustrated by Matthes & Seitz

Das Politikverbot in der Schlaraffia

Der Künstlerbund Schlaraffia hatte sich mit seiner Gründung anno 1859 ein Politikverbot auferlegt. Mitglieder sollten sich Freundschaft, Kunst und Humor widmen können, ohne von profanen Themen wie Politik und Religion auseinandergebracht zu werden. Doch das bedeutet nicht, dass die Schlaraffia tatsächlich stets unpolitisch war. Eher das Gegenteil ist der Fall wie eine Arbeit des Schlaraffen Christian Säfken akribisch nachweist. Weiterlesen


Genre: Kulturgeschichte, Sachbuch
Illustrated by Selbstverlag

Das Gleichgewicht der Welt

Auch wenn das Buch von Rohinton Mistry, einem kanadischen Autor indischer Herkunft, irgendwann zwischen 1966 und 1984 angesiedelt ist, hat seine Szenerie mit Sicherheit bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Es handelt von Zeiten, in denen Indira Gandhi (die nicht mit Mahatma Gandhi verwandt war) in Indien zwei längere Perioden als Premierministerin amtierte. Zeiten, in denen diese versuchte, dem fortwährenden politischen und humanitären Chaos des Subkontinents Herr/Frau zu werden.

In dieser Kulisse erschafft Mistry vier Protagonisten, deren teilweise schockierende Einzelschicksale sie für eine kurze, aber glückliche Zeit zusammenführen, bevor ökonomische, politische und menschliche Zwänge dazu führen, dass sich ihre Wege zum Teil wieder trennen.

Das Buch ist kein Werk für Liebhaber von Happy Ends, von rosaroten Brillen oder des „Eigentlich ist doch alles gar nicht so schlimm“-Slogans. Will man das alltägliche Leben in Indien beschreiben, ist dafür auch kein Platz. Die Realität ist Existenzkampf pur, der tägliche Kampf ums nackte Überleben. Ab Geburt das permanente Bestreben, nicht in die gnadenlose Maschinerie der politischen Willkür oder der Kasten-Fehden zu geraten. Jeder für sich unter 1,4 Milliarden anderen Indern.

Seine vier exemplarischen Lebensläufe baut Mistry gut auf und aus. Das gesellschaftliche Stimmungsbild ist hervorragend koloriert. Allerdings leidet der Gesamteindruck sehr stark unter seiner Liebe zu schier nicht enden wollenden Dialog-Passagen. Das ermüdet und lässt das Panoptikum an emotionalen Bildern gelegentlich verblassen.

Eine Frage begleitet den Leser durch das monumentale Werk. Bei all dem Elend, bei all den Schicksalsschlägen, bei all den menschlichen Katastrophen – wo ist denn nun das Gleichgewicht bei seinen Figuren oder gar auf dieser Welt?

Dazu muss man wissen, dass Rohinton Mistry der ethnischen Gruppe der Parsen angehört, die Anhänger der Lehre des Zoroastrismus sind. Der religiöse Glaube des Zoroastrismus bewertet die Schöpfung des Gottes Ahura Mazda prinzipiell erst einmal als gut. In dieser Welt ringt das Gutsein aber beständig zwischen den guten und den bösen Mächten, versucht also zwischen beidem ein Gleichgewicht zu erreichen. Beides und auch der permanente, alltägliche Kampf sind Inhalt des Lebens, das ob seines göttlichen Ursprungs genau so zu akzeptieren ist.

Neben der ein oder anderen Anspielung auf den Buchtitel im Text, legt Rohinton Mistry nur an einer Stelle einem Protagonisten eine schon eher erklärende Analogie in den Mund:“ … es sei alles Teil des Lebens, dass das Geheimnis des Überlebens darin bestehe, ein Gleichgewicht zwischen Hoffnung und Verzweiflung zu finden, sich auf Veränderungen einzulassen.“

Ein monumentales Werk, dass einen ein Stück weit in einer Stimmung der Erschütterung, der Hilflosigkeit und der Ausweglosigkeit zurücklässt. Oder kann die eine oder andere Figur im Roman Mistry’s mit ihrer existentialistischen Reduktion auf das Lebensminimum im Vergleich zu einer westlichen Gesellschaft mit ihrer permanenten Sinn- und Singularitätssuche auch Vorbildfunktion haben oder zumindest als relativierender Weckruf verstanden werden?


Genre: Belletristik, Erzählung, Kulturgeschichte, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Ich bin dann mal im Keller

Ich bin dann mal im Keller

Ich bin dann mal im Keller. „This, you must know, is the growlery. When I am out of humour, I come and growl here.“ (Charles Dickens, Bleak House, 1852). Wohin kann „der Mann“ der weiblichen Ästhetik der Wohnräume noch entkommen? Wo ist der Raum, in dem er noch (fast) alles selbst bestimmen kann? Sie haben es bereits erraten: der Keller.

Keller oder Synonym

Aber der Keller muss nicht immer ein Keller sein. Es kann auch ein Schuppen oder eine Garage sein. Ein Woodshed. Oder ein growlery. Ein Pub. Eine Teestube. Oder auch The Man Cave. Ein Fass (Diogenes). Ein Bootshaus (Dylan Thomas). Ein Naust. Ein Rorbu. Ein Smorebu (norwegische Schmier- und Wachsbude für Ski). Für alle diese Räume gilt: „Im Keller sind wir sicher, im Keller ist es schön. Da ist der Ruf der Möglichkeiten zu hören.“ Und im Nachsatz fügt Gabrielsen noch ironisch hinzu: „vielleicht riecht es nicht besonders gut da unten, aber über diesen Ort haben wir die Kontrolle“. Natürlich ist der vorliegende Ratgeber nicht wirklich in den Siebzigern hängengeblieben, auch wenn der Autor ein 67er Jahrgang ist. Die Rollenaufteilung Mann/Frau ist heute (2021) nicht mehr so streng aufzufassen wie im Jahrzehnt des Wirtschaftswunders und auch die geschlechtlichen Zuschreibungen sind allenfalls stereotyp, aber sicherlich nicht ganz ernst gemeint. Wichtig ist jedenfalls, den Keller so zu organisieren, dass alle finden, was sie brauchen. Auch Frau. Oder Mann will, dass nur er etwas findet, dann hat der Keller als „letztes Refugium des Mannes“ eine andere Systematik. Seine. Nicht zuletzt haben Männer ja Hobbies, um die Zeit nicht mit ihren Frauen und Kindern zu verbringen, meinte einmal der Komiker Louis C. K. Für den Keller gibt es also auch ein anderes Wort: Freiheit.

Keller als Metapher für Freiheit

Bjørn Gabrielsen gibt Tipps wie man auf dem doch zumeist sehr engen Raum des Kellers Platz sparen kann. Etwa mit an die Decke hochgezogenen Lattenrosten oder an die Decke geschraubte Marmeladengläserdeckel. Letztere sind aus Glas und damit durchsichtig und transparent und so weiß man auch gleich, was sich darin befindet. Ein Blick an die Decke genügt. Neben vielen Fotos und Tipps enthält die vorliegende Lektüre aber auch eine Art Kulturgeschichte des Kellers. Denn während er früher zur Aufbewahrung der Bevorratung von zumeist selbst gemachten Produkten diente, liegt die Fläche heute zumeist brach. Beim Keller hat(te) die Globalisierung halt gemacht. Findige Ehemänner haben das neue Territorium also gleich für sich okkupiert, um den über ihm stattfindenden Familienfesten mit Kinder und Verwandtschaft zu entfliehen. „Ich bin dann mal im Keller“ (Da går jeg inn i kjelleren) wurde so zum geflügelten Wort. Nicht nur in Norwegen. Im Keller lassen sich nämlich nicht nur Arbeitsgeräte, sondern auch Erinnerungen aufbewahren. „Er steckt immer voller und Erinnerungen und Träumen von zukünftigen Projekten.“ Wer noch keinen Keller hat, dem gibt der Autor auch eine Anleitung zum Erbauen eines Schuppens: zu beachten gilt: drei, vier, fünf. Und das mal zwei.

Ein weiterer Vorteil: viele Frauen leiden unter Pitheonophobie. So bleibt man auch für längere Zeit ungestört. Aber nur im Keller.

 

Bjørn Gabrielsen

Ich bin dann mal im Keller

Vom letzten Refugium des Mannes

Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg. Mit zahlreichen Abbildungen

2016, Fester Einband mit Schutzumschlag, 176 Seiten

Originaltitel: Jeg skal bare ut i boden en tur (Kagge Forlag AS)

ISBN: 978-3-458-17690-9

Insel Verlag, 2. Auflage

18,00 € (D), 18,50 € (A), 25,90 Fr. (CH)


Genre: Bastelanleitung, Kulturgeschichte, Ratgeber

Melancholie

Melancholie. „Nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae (Kein großes Genie ohne eine Mischung von Irrsinn)“, wie schon der griechische Philosoph Aristoteles wusste. Ein wohl ebenso gewaltiges wie „irrsinniges“ Werk hat der 1952 in Debrecen (Ungarn) geborene Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler und Essayist in den Achtzigern des 20. Jahrhunderts zur Melancholie vorgelegt.

Kulturgeschichte einer “Krankheit”

Das als Kulturgeschichte der Melancholie angelegte Werk aus dem Jahre 1984 (Original „Melankólia“) resp. 1988 bei Matthes & Seitz strotzt vor brillanten Ideen und Formulierungen sowie literarischen, ästhetischen und historischen Einsichten zur „Gemütskrankheit“ Melancholie. Denn Földényi beschreibt die Melancholie auch als Energie­ und Kreativitätsquelle, die trotz ihre schlechten Rufs auch in der Lage ist, uns in Bewegung zu setzen, wenn wir es nur zuließen. Schon in seinem Vorwort lässt der Autor klar erkennen, worin die eigentliche Melancholie besteht und dass sie uns alle betrifft: „Die Wörter, sie sagen weniger als wir durch sie auszudrücken wünschen- sie leiten uns fehl, entführen unsere Gedanken ihrem eigentlichen Ziel (…)“. Unsere Wörter drücken eben nicht nur das aus, was wir mitzuteilen wünschen und das allein genügte schon, einen denkenden und sensiblen als den wir uns wohl alle betrachten möchten, in die entsprechende Gemütslage zu bringen. Aber je stärker die Angst und der Wahnsinn beim Melancholiker überhandnehmen, umso mehr würden sich bei ihm auch Klarsicht und Urteilsvermögen verstärken. Der Melancholiker ist also auch ein: …Seher!

Das Wissen der Ausgestoßenen

Schon Hippokrates habe von den Melancholikern als aus sich selbst Heraustretende und sich in Ekstase Befindlichen gesprochen. Die Nähe zum Wahrsager und Wahnsinnigen im Griechischen weist Földényi auch etymologisch nach: „Der Wahrsager (μάντης) ist nicht nur etymologisch, sondern auch schicksalsmäßig ein Verwandter des Wahnsinngen (μανιακός), der wiederum ein Zwilling des Melancholikers (μελαγχολία) ist.“ Schon ,  Hölderlin fluchte in seinem Empedokles, dass gerade die Melancholiker ob ihres Wissens „von der Welt der Übrigen“ ausgeschlossen seien: „Oh ewiges Geheimnis! Was wir sind und suchen, können wir nicht finden; was wir finden, sind wir nicht.“ Sie seien einfach nicht fähig, zu leben wie die anderen, aber ihre Einsamkeit sei keineswegs die eines Romantikers, so Földényi. Ausgerechnet die Melancholiker seien jahrtausendelang zu Wahrsagern gemacht worden, eben weil sie über ein höheres Wissen verfügten, da sie isoliert und einsam lebten. Vor diesen Eingeweihten würde Leben und Tod nicht aufeinander folgen, sondern sich im Augenblick vereinen. (Bei Empedokles sind die zwei wichtigsten Triebfedern des Seins die Liebe und der Streit, also Vereinigung und Trennung.) Eben deswegen erzeuge das Wissen der Wahrsager, Wahnsinnigen und Philosophen Melancholie, weil es den Menschen an den Punkt “des letztendlichen Unwissens, der ihm entzogenen Geheimnisse” führe. Die unter dem Saturn (Melancholiker) geborenen könnten auch in der Nacht sehen und diese verlöre so ihren Schrecken. Die antike Nacht strahlte eben heller, während die christliche vor Dunkelheit starrte.

Melancholie: Mann der Extreme

Rotwein, Rufus von Ephesos, die vier Temperamente, Kierkegaards Verdauungsproblem des Melancholikers sind nur ein paar Tags, die sich hier hinzufügen ließen. Mehr aber noch die außerordentlich handlichen Zitate: “Der Melancholiker möchte sich selbst genügen, er möchte durch sich selbst die Vollkommenheit erreichen.” Oder: “Melancholie…das Vorrecht des Hofnarren.” Aber auch: “Der Melancholiker ist ein Mann der Extreme und wird aus allen Richtungen von Gefahren bedroht. Seine Fähigkeiten reichen bis zu den Grenzen es menschlichen Seins und wie der Planet Saturnus kann auch der Melancholiker verkünden: Nach mir folgt entweder des Nichts oder Gott.”

László F. Földényi zählt nicht nur zu den bedeutendsten ungarischen Intellektuellen und leitet als Professor den Lehrstuhl für Kunsttheorie an der Akademie für Theater und Film, Budapest. Zudem ist er Herausgeber der gesammelten Werke von Heinrich von Kleist in ungarischer Sprache und u.a. Friedrich-Gundolf-Preisträger. Seit 2009 ist er auch Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Für sein Werk „Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften“ wurde er 2020 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.

László F. Földényi

Melancholie

Übersetzung: Nora Tahy, Gerd Bergfleth

2020, 438 Seiten, Broschur

ISBN: 978-3-95757-926-3

Preis: 15,00 €

Matthes & Seitz Berlin


Genre: Abendland, Antike, Kulturgeschichte, Moderne, Philosophie

Notes on a Dirty Old Man. Charles Bukowski von A bis Z

Ein überraschend vielschichtiger Blick auf den Dirty Old Man

 

Pünktlich zum 100. Geburtstag, den Charles Bukowski am 16. August 2020 gefeiert hätte, veröffentlicht der Verlag Zweitausendeins das Buch „Notes on a Dirty Old Man. Charles Bukowski von A bis Z“. Der Verlag kündigt es als ein „unlexikografisches Lexikon“, eine „persönliche Bukowskipedia“ an. Diese forsche Einordnung, die von Understatement und Übertreibung zugleich geprägt ist, hätte Bukowski sicherlich gefallen. Immerhin kann sich Zweitausendeins auf die Fahnen schreiben, im Dreigespann mit dem Augsburger Maro-Verlag und dem 2012 verstorbenen Übersetzer Carl Weissner Bukowski Ende der 1970er Jahre in Deutschland bekannt gemacht zu haben. Erst diese Aufmerksamkeit sorgte für eine weiter geschärfte Wahrnehmung in seiner Heimat Amerika.

Die Schattenseite des American Dream

Charles Bukowski, dessen Romane, Gedichte und Short Stories sich vornehmlich um Verlierer, Säufer, Außenseiter, Machos, Prostituierte, Schmuddelsex und Entmenschlichung drehen – also die Schattenseite des American Dream -, war für Zweitausendeins schon immer eine Herzensangelegenheit. Für das Buchprojekt konnte man Frank Schäfer gewinnen, seines Zeichens Schriftsteller, Popkulturexperte, Heavy Metal-Freak und Bukowski-Enthusiast.

„Charles Bukowski von A bis Z“ suggeriert etwas Umfassendes, Kompendienhaftes. Der Untertitel erinnert beispielsweise an die bei Metzler/Springer erschienenen „Personen-Handbücher Literatur“, etwa zu Robert Walser, Thomas Mann oder Franz Kafka. Genau ein solches Nachschlagewerk ist „Notes on a Dirty Old Man“ jedoch nicht. Und dennoch schafft es Frank Schäfer, einen überraschend vielschichtigen Blick auf Leben, Werk und Wirkung Charles Bukowskis zu werfen.

47 Stichwörter und profundes Wissen

Unter insgesamt 47 Stichwörtern, von „Ablehnungsbescheid“ bis „Weissner“, hat Schäfer jeweils ein- bis sechsseitige Essays verfasst und in zwei Fällen Interviews geliefert, die mit profundem Wissen zu Bukowski aufwarten. Dabei zeigt sich Schäfer nicht nur auf der Höhe des jeweiligen Forschungsstandes, sondern es gelingt ihm auch, eine Fülle an Details in einer kurzweiligen Form und einem gut lesbaren, bisweilen ironisch-saloppen Schreibstil zu vermitteln.

Schäfer bestätigt zwar so manches Bukowski-Klischee, etwa den für die literarische Produktion nötigen Dauersuff (erst 1988 lebt er nach einer Therapie gegen Hautkrebs für sechs Monate abstinent). Doch zeichnet er das ebenso differenzierte Bild eines sensiblen, zu scharfen Beobachtungen fähigen Dichters, der schon in jungen Jahren aufgrund seiner schweren Akne-Erkrankung zum Außenseiter („Gesicht“) wurde. Zugleich machten ihn die fortwährenden Misshandlungen durch seinen gewalttätigen Vater zum desillusionierten Fatalisten („Vater“). Bukowski sprang nicht gerade zimperlich mit Zeitgenossen in seinem Umfeld um („Open City“), war erklärtermaßen apolitisch („Politik“) und hasste Dichterlesungen (und hielt sie doch des Geldes wegen, „Dichterlesungen“). Zudem hatte er ein merkwürdig ambivalentes Verhältnis zu den umfangreichen Textüberarbeitungen durch seinen Verleger John Martin („Verschlimmbesserungen“).

Reizthemen

Auch Kontroverses wird nicht eingeebnet: Bukowski war mitunter rassistisch, frauenfeindlich, homophob. Dennoch pflegte er eine Freundschaft zu dem schwulen Dichter Harold Norse („Homos“) oder arbeitete durchaus respektvoll mit vielen schwarzen Kollegen während seiner diversen Aushilfsjobs zusammen („Rassismus“). Gerade diese offensichtliche Beliebigkeit von Standpunkten und der nicht zu leugnende Opportunismus Bukowskis liefern seinen Kritikern bis heute genug Reizthemen für die Geringschätzung seines Werks. Doch nicht zuletzt in den unideologischen Abbildungen der Realität finden Bukowski-Fans dagegen ebenso viele Qualitätsaspekte. Die Polarisierung, die Bukowski nach wie vor erzeugt, hat unter anderem hier ihre Wurzeln.

Da es zu X, Y und Z keine Stichwörter gibt, präsentiert Schäfer unter „XYZ“ eine stichwortartige Biografie Bukowskis, die, nach Jahren geordnet, die wichtigsten Stationen in Leben und Werk nachzeichnet. Abgerundet wir der Band mit einem aufs Wesentliche beschränkte Literaturverzeichnis und mit einem Fototeil. Dieser bietet 20 Schwarzweißbilder, die der deutsche Fotograf Michael Montfort 1978 hauptsächlich während Bukowskis Lesereise nach Deutschland geschossen hatte. Diese Reise wurde seinerzeit von Zweitausendeins organisiert – so schließt sich der Kreis.

Für Kenner und Einsteiger

„Notes on a Dirty Old Man” eignet sich für Bukowski-Kenner wie für -einsteiger gleichermaßen. Man kann die Essays chronologisch lesen oder sich auch bestimmte, ausgewählte Stichwörter vornehmen. Jeder Essay ist wie ein Teil eines sich nach und nach zu einem Gesamtbild fügenden Puzzles.

Nach der Lektüre hat man den Eindruck, dem kontroversen Autor und seinem Werk nicht nur ein Stück näher gekommen zu sein, sondern auch ein differenziertes Bild fernab einseitiger Lobhudelei erlangt zu haben. Das ist eine Leistung, die eine ausführliche Bukowski-Biografie (von denen es einige gibt), nicht besser machen könnte. Insofern ist das Buch ein durchaus gelungenes und würdiges Geburtstagsgeschenk zu Charles Bukowskis Hundertstem. Der gute, alte Buk stößt sicherlich darauf an – im Himmel, in der Hölle oder irgendwo dazwischen.

 

Frank Schäfer: Notes on a Dirty Old Man. Charles Bukowski von A bis Z.
Leipzig: Zweitausendeins, 2020.
272 Seiten, 17,90 Euro.
ISBN: 978-3963180675

Zweitausendeins


Genre: Amerikanische Literatur, Amerikanistik, Biographien, Kulturgeschichte, Lyrik, Roman, Sachbuch
Illustrated by Zweitausendeins Leipzig

Die Geheimnisse Italiens. Roman einer Nation

Die Geheimnisse Italiens

Die Geheimnisse Italiens

Die Geheimnisse Italiens, der Roman einer Nation: Wenn man Frankreich Paris wegnähme oder Großbritannien London bliebe nicht allzu viel übrig. „Wenn man Italien dagegen Rom wegnimmt, bleibt noch ziemlich voll“, schreibt Augias in seinem Vorwort über den Unterschied seines Heimatlandes zu dem anderer. Kein zweites Volk habe sich in solchen Extremen bewegt und das sei auch das eigentliche Geheimnis, das alle übrigen Geheimnisse einschließe. Provokante Ansagen macht Corrado Augias aber nicht nur in seinem Vorwort, denn er will sein (Lese-)Publikum ganz in seine Erzählung Italiens einbeziehen, auch wenn es eben nur ein weiteres Narrativ von vielen ist.

Norden gegen Süden

Eine der brennendsten Fragen ist natürlich die Spaltung zwischen dem entwickelten Norden und dem unterentwickelten Süden des Landes. Der sog. „Mezzogiorno“ entwickelte sich aus dem Königreich beider Sizilien heraus und wurde erst durch das Risorgimento 1861 in den italienischen Nationalstaat eingegliedert. Laut den sog. Sudisti hätten damals die Piemonteser den Mezzogiorno kolonisiert und damit zur Unterentwicklung verdammt und außerdem den Staatsschatz geraubt und in den Norden verbracht, so zitiert Augias ein hartnäckiges Gerücht. Mit dem „Handschlag von Teano“ zwischen König Vittor Emanuele II. und Giuseppe Garibaldi am 26. Oktober 1860 sie die Annektion besiegelt worden und damit auch das Schicksal des Südens. Farini, ein Politiker, der damals dabei war, schrieb über damals über den Süden: „Was für eine Barbarei! Das ist nicht Italien! Das ist Afrika: Im Vergleich zu diesen Primitivlingen sind die Beduinen die Blüte der zivilisatorischen Jugend“. Tatsächlich war „Italienisch“ damals nur bei acht Tausendstel der Bevölkerung der Halbinsel übel, erst der Nationalstaat schuf eine einheitliche Staatssprache für Nord und Süd.

Die Parthenopäische Republik

Corrado Augias erzählt wie der Vatikan Unternehmungen finanzierte, um die Einheitsbewegung zu schwächen und auf subersive Aktionen setzte, womit er sogar die Briganten unterstützte. Aber auch die wichtigsten Schriftsteller und Städte Italiens werden von ihm auf ihre Geheimnisse hin untersucht und Zeile für Zeile erschlossen. So zum Beispiel Neapel, deren Lazzaroni auf die Jakobiner der Parthenopäischen Republik mit folgenden Worten reagierte: „La libertà ve la tenite pe’vvuie! Sai addo’ l’avit’a mettere? Dinto allo mazzo de màmmeta!“ Eine Übersetzung dieser Worte findet sich bei Augias im Kapitel VI. Der White Trash Neapels hätte eben am liebsten Partei für die Rückkehr der bourbonischen Monarchie ergriffen. Aber auch Ruhmreiches gibt es von den Parthenopäern zu berichten: während der Besetzung Neapels durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg gelang es den dortigen Aufständischen, sich selbst davon zu befreien. Weitere Kapitel beschäftigen sich u.a. mit: das venezianische Ghetto und La Serenissima, das Jüngste Gericht, Mailand, Rom, Franziskus, la duchessa di Parma, de Amicis’ „Cuore“, Palermo und D’Annunzio’s „Lust“.

Ursache der Rückständigkeit: „Amoreler Familiarismus“

Der Autor der Geheimnisse Italiens, Corrado Augias, versucht sich auf vielfältige Weise dem Phänomen seines Landes anzunähern. So zitiert er etwa auch den Soziologen Edward C. Banfield, der Italien 1958 einen „amoral familism“ attestierte. Die Maximierung der materiellen und unmittelbaren Vorteile der eigenen Familie stehen im Mittelpunkt der Italiener, ganz egal welcher Klasse, Schichte oder welchem Milieu sie angehören. Und genau das ist es auch, was den Fortschritt des Landes bisher verhindert hat: die Familie. Denn die Loyalität gilt in Italien nicht einem Staat oder einer Gesellschaft, die nie etwas für einen getan hat, sondern der Familie und damit ist jetzt nicht ausschließlich die Mafia gemeint. „Das gesamte Verhalten ist zu Lasten der Gemeinschaftsinteressen auf die Intereesen und den Vorteil der eigenen Familie ausgerichtet.“

Corrado Augias
Die Geheimnisse Italiens
Roman einer Nation
C.H. Beck
ISBN: 978-3-406-65898-3
272 S.
Gebunden


Genre: Biographien, Dokumentation, Kulturgeschichte, Sachbuch
Illustrated by C.H. Beck München

Banksy in New York

banksyBanksy wurde unter den Graffiti Artists vor allem durch einen unverwechselbaren Blick auf ein gutes placement seiner urbanen Interventionen bekannt, aber natürlich auch durch die brisant politischen Inhalte und Bemerkungen zum aktuellen Zeitgeschehen, das zeigt auch “Banksy in New York“. Allerdings hat Banksy auch den Kunstmarkt durcheinander gebracht, denn plötzlich wurden seine Skulpturen, Interventionen und Stencils zu Objekten des Kunsthandels. Inzwischen soll es sogar schon Leute geben, die sich Banksy’s Werke tätowieren lassen, was – wie der Verfasser des Vorworts, Steven P. Harrington, lakonisch bemerkt – kein Wunder sei, würden sie doch den „Wert von Eigentum“ („since this is a vandal whose deeds actually raise the value of property“) erhöhen.

Banksy: Originelle Gedanken umgesetzt

One original thought is worth a thousand mindless quotings. Diogenes“, hat Banksy auf eine Wand gesprüht. Oder hat er nu rden jungen Mann mit Hip Hop Mütze auf einem Papierkorb sitzend hinzugefügt, der von sich selbst ein Selfie macht, während er diesen Satz schreibt? Die Mise en Abyme ist jedenfalls doppelt und dreifach gelungen, denn wer den Satz zitiert, fällt genau in den Abgrund seiner Bedeutung und wer sich dabei noch fotografiert oder das Bild selbst fotografiert geht doppelt in die Falle des modernen Medienzeitalters, denn tatsächlich ist alles nur mehr zu einem Zitat verfallen und nichts mehr originär, in diesem Leben voller Schablonen und vorgefertigter Gedanken. Ein originelle Gedanke wäre tatsächlich mehr wert als jedes Zitat und genau das beschreibt Banksys Werk eigentlich am besten, denn er ist der originelle Gedanke und nicht das Zitat, selbst wenn er selber gerne zitiert.

Neue Blicke auf New York

Als Banksy in New York weilte, ermöglichte er auch vielen ihrer Bewohnerinnen und Bewohner einen neuen Blick auf „ihre“ Stadt und für viele Journalisten oder Kunstsammler begann eine Schnitzeljagd durch die ganze Stadt, die in vorliegendem Buch dokumentiert ist. Über instagram konnten nämlich einige der Objekte schneller verbreitet werden und so entstand ein wahrer Kunsttourismus. „But more so than street art, graffiti is anti-authoritarian, and it continued to take me places where I would otherwise not go and allowed me to meet incredibly dedicated individuals I would have otherwise never met.“, schreibt Ray Mock über seine Erfahrungen mit Banksy im New York. Ein Objekt stellt einen Biber dar, der gerade eine Verkehrsschildstange umgenagt hat: die Stange liegt auf dem Boden, währen der Biber natürlich nur auf die Wand dahinter gesprayt ist. Ein Lastwagen einer Fleischerei fährt Kuscheltiere durch die Stadt oder hinter einer Baustellenverschalung wartet ein Priester wie im Beichtstuhl auf eine Beichte. Wie sagte schon William Ernest Henley: „I am the master of my fate: I am the captain of my soul“ und für Ray Mock passt diese Zitat zur Grim Reaper Installation Banksys im East Village.

Die Objekte, die von Banksy in New York verbreitet wurden oder ihm zugeschrieben werden, reichen von einem pinkelnden Hund, der einen Hydranten anpinkelt welcher darauf erwidert „You complete me“, bis hin zu einer Lastwagen-Installation eines Paradiesgartens in East Village. Besonders letztere Aktion verdeutlicht für Mock, dass Banksy unmöglich alleine arbeiten könne und es sich also folgerichtig nur um ein Kollektiv handeln könne. Ist also vielleicht Banksy selbst nur ein Akronym einer Mise en Abyme?

RAY MOCK 
Banksy in New York

Published by Carnage New York
Gingko Press
128 pages pages, Hardcover8” x 10”
180 Illustrations, English
ISBN: 978-0-9906437-1-5

$29.95


Genre: Graffiti, Humor und Satire, Kulturgeschichte, Kunst
Illustrated by Gingko Press

Berlin. Eine literarische Einladung

Berlin: Eine literarische Einladung

Berlin: Eine literarische Einladung

Ich gestehe zu, dass Libyen ausgenommen, wenige Staaten sich rühmen können, es uns an Sand gleich zu thun“, meinte Friedrich der Große 1776 über seine Hauptstadt.Das vorliegende Format, „die literarische Einladung“, ist aus Praktikabilitätsgründen für die reisenden BenutzerInnen stets auf 144 Seiten beschränkt, was sicherlich schwer fällt eingehalten zu werden, da es so viele spannende Geschichten um die jeweiligen Städte gibt. Inzwischen sind schon 23 solche literarischen Einladungen in die schönsten Städte Europas und auch der Welt ergangen und diesen Sommer ist auch endlich die deutsche Hauptstadt dran: der Zeitraum aus dem die Texte zu Berlin stammen umfasst 60 Jahre, also von der Teilung bis zur Wiedervereinigung. Die AutorInnen aus Ost-, West- und ganz Berlin haben teilweise sogar noch unveröffentlichte Texte beigesteuert, darunter welche von Fatma Aydemir, Jurek Becker, Wolf Biermann, Volker Braun, Jan Peter Bremer, Tanja Dückers, Günter Grass, dem GRIPS-Theater, Annett Gröschner, Durs Grünbein, Katharina Hacker, Christoph Hein, Monika Maron, Thomas Melle, Heiner Müller, Katja Petrowskaja, Tilman Rammstedt, Ingo Schulze, Anke Stelling, Ton Steine Scherben, David Wagner, Christa Wolf und anderen. Die Herausgeberin Susanne Schüssler ist seit 1991 beim Wagenbach Verlag und hat auch selbst schon Bücher im Verlag ihres Mannes publiziert.

Metropolis und Jericho

Für Brigitte Reimann ist Berlin eine „ziemlich unappetitliche Sorte Babel“, aber die Linden düften dort süß. „Metropolis. Metropole der Macht“ nennt Christa Wolf Berlin in ihrer „Hadesfahrt“, für Durs Grünbein ist Berlin „der ganz große Bluff, ein täglich gebrochenes Versprechen“, Metropolis und Jericho. Er sieht Berlin als „Paradies für Hochstapler und Händler der heißen Luft“, ist vielleicht deswegen dort alles so „dufte“? Schließlich ist sogar die gute Berliner Luft sprichwörtlich, weht dort doch immer ein leichter Wind. Tanja Dückers moniert die Leerstellen der Stadt und singt ein Loblied auf die „Brachen“, die heute – in der gesamtdeutschen Hauptstadt – leider zusehends verschwinden. Günter Grass berichtet von den Mauerspechten, Katja Petrowskaja macht sich Gedanken darüber, warum in Berlin ankommende Reisende mit „Bombardier Willkommen in Berlin“ begrüßt werden und für wen die „Bomben“ denn wohl bestimmt wären. Günter Kunert definiert ein- und für allemal, worum genau es sich bei einem „Berliner Zimmer“ handelt und Ingeborg Bachmann hat sogar 1965 schon darüber geschrieben. Auch zwei Lieder über die Mauerstadt werden zitiert, das eine aus 1972 von den berühmten Ton Steine Scherben, das andere aus den Achtzigern von Ideal, „Rauch-Haus-Song“ und „Berlin“ fangen zwei wundervolle Stimmungsbilder der Stadt ein und sind so typisch für Berlin wie die Stulle oder der Türkenmarkt am Maybachufer. Aufhorchen lässt ein Beitrag von Adolf Endler, der schon 1981 (!) über die Zugerasten in Prenzlberch (sic) schimpft, dass es „een ja kalt den Rücken runterlooft“. Einen köstlichen WG-Dialog führt Anke Stelling in „Gemeinschaftsfläche“ und auch Peter Schneiders „Mauerspringer“ ist zum Brüllen komisch, wenn es nicht tatsächlich genau so passiert wäre.

Exkursionen in das alte und neue Berlin

In Acht nehmen sollte man sich in Berlin übrigens von den Kellnerinnen, meint Jakob Hein, denn die ständen den Kellnern von Wien in ihrem schlechten Ruf in nichts nach. Am eindringlichsten ist aber die Geschichte von Ingo Schulze, dessen Protagonist eine „Exkursion nach Berlin West“ macht und schon hinter dem Brandenburger Tor Heimweh bekommt. Mit beissendem Spott und gleichzeitig voller Ernsthaftigkeit schildert er darin die Vorzüge des kommunistischen Systems und erinnert daran, was wir seither alles verloren haben. Und damit meine ich jetzt nicht den Sand. „und wenn man wieder hinaussteigt“, schreibt Tilman Rammstadt über das Ausflugsziel Flughafensee Tegel, „wartet am kleine Strand eine stattliche Wildsau und schaut einen teilnahmslos an.“

Susanne Schüssler (Hrsg.), Linus Guggenberger (Hrsg.)
Berlin. Eine literarische Einladung
SALTO. 2017
144 Seiten. 11 x 21 cm. Rotes Leinen. Fadengeheftet. Gebunden mit Schildchen und Prägung
ISBN 978-3-8031-1328-3
Wagenbach Verlag
17,– €


Genre: Erinnerungen, Kulturgeschichte, Kurzprosa, Reiseführer
Illustrated by Wagenbach

Maya. Das Rätsel der Königsstädte

Rätsel der Königsstädte

Rätsel der Königsstädte

Nach Ausstellungen zum persischen Weltreich, den Samurai und Ägyptens Schätzen hat das Historische Museum der Pfalz Speyer wieder ein internationales Thema für seine heiligen Hallen auserkoren, das sich mit der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt und Natur auseinandersetzt. In Zusammenarbeit und mit Unterstützung des Landes Rheinland-Pfalz und dem Ministro de Cultura y Deportes Guatemala konnten wertvolle Leihgaben finanziert werden. Die Ausstellung sowie die vorliegende Publikation beschäftigen sich mit den Maya, die bis ins 9. Jahrhundert im Regenwald Zentralamerikas eine städtische Zivilisation bewohnten, die ihresgleichen sucht. Für rund 2000 Jahre bestand eine Maya-Kultur, die auf bis heute ungeklärte Ursachen danach plötzlich wieder verschwand, da die Maya ihre Städte verließen. Vermutet werden ununterbrochene kriegerische Auseinandersetzungen, eine Klimaveränderung mit extremen Trockenperioden und natürlich die Invasion der Spanier. Aber dennoch konnten sich viele Maya-Gemeinschaften noch lange erhalten, wie auch der vorliegende Band eindrücklich nachweist.

Hochkultur im 5-Länder-Eck

Die Kultur der Maya ist wohl auch deswegen erst so spät in das Bewusstsein des Abendlandes vorgedrungen, weil die Maya im tiefsten Herzen des Regenwaldes lebten und anders als die Kultur der Azteken in Zentralmexiko oder der Inka in den Andenländern Südamerikas dadurch schwerer zu erreichen waren. „Die Grüne Hölle“ – der Regenwald – war für die Maya ein Paradies der Artenvielfalt, das sich über Mexiko, Guatemala, Belize, Honduras und El Salvador erstreckte. Ab etwa 1000 v. Chr. wurden die Menschen dort sesshaft und es entstanden die ersten Kulturbauten unter der Fußböden die Verwandten bestattet wurden. In der Präklassik entwickelten die Maya dann auch einen Kalender und eine Hieroglyphenschrift. Bauwerke hatten damals die Höhe von 20 Metern erreicht, später erreichte etwa die Danta-Pyramide von El Mirador sogar 72 Meter. Sie steht auf einem Sockel von 500 mal 350 Meter.

K’uh: Gesamtheit alles Heiligen

Eine Chronologie verschafft einen guten Überblick über die gesamte Geschichte der Mayas. Im ersten Kapitel werden dann die Städte im Regenwald näher unter die Lupe genommen sowie kulturelle Artefakte abgebildet und beschrieben. Die digitale Rekonstruktion der Maya-Welt extra für die Ausstellung wird aufschlussreich erklärt sowie durch Karten und Fotos ergänzt. Die Maya hatten zum Beispiel auch schon ein ausgeklügeltes System der Wasserversorgung durch Kanäle und Reservoirs – z.B. in Yucatan gibt es keinen Fluss – und auch ihre Gesellschaftsstruktur war komplex. Mit Hilfe von durch Ausgrabungen gefundenen Figurinen (Figuren aus Keramik), die teilweise schon 2000 Jahre alt sind, können die Archäologen und anderen Wissenschaftler die Kultur der Maya erklären. Viele dieser Figurinen (ca. 225) werden in vorliegendem reich bebilderten Prachtband des Hirmerverlages auch gezeigt und ausführlich beschrieben, quasi inventarisiert, sodass ein verblüffend authentischer Eindruck von der damaligen kulturellen Größe entsteht. Besonders beeindruckend ist etwa auch ein Jadefischchen aus dem Tiefland Guatemalas oder der Gott L., Chef der Unterwelt, der schon Zigarre (!) raucht. Es gab aber auch einen Mais- und Kakaogott und K’uh, die Gesamtheit alles Heiligen und aller Götter. Faszinierend sind auch die astronomischen Berechnungen der Maya, die zum Beispiel auch schon den Planeten Saturn miteinschlossen.

Nikolai Grube (Hg.) Historisches Museum der Pfalz Speyer
Maya. Das Rätsel der Königsstädte
Hirmer Verlag
320 Seiten, Format 24,6 x 3,3 x 28,4 cm
ISBN-13: 978-3777426037

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Genre: Dokumentation, Kulturgeschichte, Reportagen, Volkskunde und Brauchtum
Illustrated by Hirmer

Tintoretto. A star was born

tintorettoIn allem was die Malerei anbelangt aber ist er wunderlich, kapriziös, schnell und kühn und der furchterregndste Intellekt, den die Malerei je besessen“, schrieb der Maler Bildhauer und Architekt und Zeigenosse Giorgio Vasari über den Maler aus Venedig. 2018 wird sein 500. Geburtstag gefeiert und aus diesem Grund wurde auch eine große Ausstellung organisiert, die im nächsten Jahr u.a. im Musée du Luxembourg (6. März bis 1. Juli 2018) gezeigt wird.

Das Färberlein aus Venedig

Tintoretto – eigentlich Jacopo Robusti – wurde als Sohn eines Färbers in einem Venedig geboren, das in neuer kultureller und wirtschaftlicher Blüte erstrahlte, obwohl es einerseits von den Türken, andererseits von den Habsburgern bedroht wurde. Tintoretto (dt.: Färberlein) produzierte vorerst Graffiti bis er sich ab 1538 als „Meister“ etablierte. Er gehörte der Klasse der popolani an, die rund 80 Prozent der venezianischen Bevölkerung stellten und in deren Händen Fischerei, Dienstleistungsgewerbe sowie Handwerke aller Art lagen, wie die Herausgeber zum vorliegenden Ausstellungskatalog betonen. Durch seine Malerei konnte Tintoretto die engen Klassengrenzen durchbrechen und auch im öffentlichen Raum, den Adelshäusern und im Dogenpalast aufzutreten. Seine Phantasie und Schöpfungskraft fand in allen Schichten der Gesellschaft Anerkennung.

Tintoretto und die venezianische Malerwerkstatt

Neben einem ausführlichen Katalog mit Reproduktionen der Gemälde des Meisters beinhalter der vorliegende Bildband in hochwertiger Ausfertigung auch einige hochkarätige Essays namhafter Wissenschaftler. So widmet sich der Beitrag von Stefania Mason der wissenschaftlichen Pionierleistung von Rodolfo Pallucchini, Roland Krischel, Erasmus Weddigen und Guillaume Cassegrain erörtern das „self-fashioning“ des jungen Tintoretto und Giuseppe Gullino beschreibt Venedig im Zeitalter Tintorettos zwischen 1523 und 1533 als „Renaissance und Erneuerung“. In „Tintoretto und die venezianische Malerwerkstatt um 1530-1540“ zeigt Michel Hochmann, wie das künstlerische Schaffen zu Beginn des 16. Jahrhunderts organisiert wurde. Auch Frauen spielten natürlich eine wichtige Rolle im Leben und in der Malerei von Tintoretto. Ein Kapitel ist deswegen auch seinen „Femmes fatales“ gewidmet. Er male „Verführerinnen und Opfer sexualisierter Gewalt, zeigt Mägde und Musen, Prinzessinnen und Prostituierte“, aber auch ledige Mütter und Ammen. „Eva“, „Susanna“ und „Potiphars Weib“ erfahren bei Tintoretto ihre Würdigungen. Im „Jüngsten Gericht“ (Kirche Madonnal dell’Orto) habe diese Phase seines Schaffens ihr Ende und Gegengewicht gefunden, schreibt der Herausgeber.

Die Ausstellung wird zuerst in Köln im Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud vom 06.10.2017 – 28.01.2018 gezeigt. Vom 6. März bis 1. Juli 2018 in Paris im Musée du Luxembourg. Leihgaben stammen u. a. aus dem Museo del Prado, dem Louver, dem KHM in Wien, sowie weitern Museen in Belgien, Italien, Deutschland und den USA u.v.a.m.

Roland Krischel (Hg.)
Tintoretto. A Star was born.
Mit Beiträgen von L. Borean, G. Cassegrain, G. Gullino, M. Hochmann, R. Krischel, S. Mason, E. Weddigen
In Kooperation mit der Réunion des musées nationaux – Grand Palais,
Text: Deutsch, 224 Seiten, 228 Abbildungen in Farbe, 23 x 30 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-2942-7
Hirmer Verlag


Genre: Dokumentation, Kulturgeschichte, Sachbuch
Illustrated by Hirmer, Hirmer

Romy Schneider – Film für Film

romyRomy Schneider Film für Film: 63 Filme hat die im Alter von nur 44 Jahren verstorbene Romy Schneider in ihrem kurzen Leben gedreht. Die Liste der berühmten Regisseure (Luchino Visconti, Orson Welles, Andrzej Zulawski und immer wieder Claude Sautet, u.v.a.m.) mit denen sie zusammengearbeitet hat ist lang, auch die ihrer Filmpartner und berühmten Kollegen, obwohl sie wohl am liebsten mit Alain Delon gedreht hat. Der vorliegende prächtige Bildband zeichnet die Karriere der Femme fatale Film für Film noch und kann so wie ein Lexikon benutzt werden für Filmfreaks und Romy-Fans ebenso wie für einfache Cineasten. Isabelle Giordano zeichnet in ihren Film-Rezensionen, die reich illustriert sind, ein intimes Porträt der Schauspielerin und des Menschen Romy Schneider. Vor allem soll aber eine selbstbewusste Frau gezeigt werden, die zum Symbol ihrer Zeit wurde, denn sie prägte nicht nur das Bild von Generationen, sondern wurde auch zum Vorbild für die heranwachsende neue Generation von Frauen.

Chronologie Romy Schneider Film für Film

Chronologisch nach den Jahrzehnten ihres Wirkens geordnet beginnt die Zusammenstellung mit einem Film aus den Fünfzigern „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“ und endet mit „Der Spaziergängerin von Sans-Souci“, ihrem letzten Film. Dazwischen liegen weitere 61 Filme, die sich mit unterschiedlichen Thematiken beschäftigen. Von den „Mädchenjahren einer Königin“ einmal abgesehen, stammt auch der verstörende Thriller „Nur die Sonne war Zeuge“ noch aus diesem ersten Jahrzehnt von Romys Schaffen. Spätestens ab den Sechzigern habe Romy Schneider die moderne Frau verkörpert, schreibt Giordano, die „sich befreien und ihr Schicksal selbst bestimmen wollten“. Ihre Persönlichkeit stehe für „eine Epoche, eine Generation und, noch tiefer reichend, für eine leidenschaftliche Suche nach Freiheit, einen Durst nach Anspruch und Perfektion“, so die Herausgeberin. Giordano sieht in ihr eine moderne Antigone, die wie einst die griechische Heldin laut und deutlich betone „Ich will alles!“

Romy und Alain am Pool

Der erste Film von Romy, der in den Sechzigern gedreht wurde, war „Die Sendung der Lysistrata“, allerdings fürs Fernsehen und nicht fürs große Kino. Aber „Lysistrata“ ist ein sehr politischer Film mit einem politischen Inhalt, geht es doch darum, dass sich die Frauen ihren Männern verweigern, um den Krieg zu verhindern. Der „Sexstreik“ steht somit am Beginn der Filmkarriere Romys in den wilden Sechzigern, in denen sie am Ende mit Alain Delon an einem Swimmingpool liegt und der Liebe frönt. „La piscine“ – so der Originaltitel von „Der Swimmingpool“ kam 1968 heraus und zeigt Romy in „voller sonnengebräunter und strahlender Schönheit“ zusammen mit Alain Delon in „katzenhafter Anschmigesamkteit (…) auf dem Höhepunkt ihrer Kunst und ihrer Verführungskraft“. Neugierige erfahren übrigens auch wo genau in Frankreich sich der Swimmingpool mit der dazugehörigen Villa befinden. Die einzigartige Atmosphäre des Films verdankt er wohl auch dem wirklichen Leben: Romy und Alain hatten ihre Beziehung schon hinter sich und wurden nun – durch die Drehareiten – zu echten Freunden. Aber das erotische Knistern zwischen den beiden ist vielleich gerade darauf zurückzuführen und – dass Romy schon Mutter geworden war.

Ein schöner Bildband mit einmaligen Szenen- und Standfotos, interessanten Geschichten zu den Dreharbeiten und viel Details über Romy. Die Journalistin und Kinoexpertin Isabelle Giordano zeichnet eine reich bebilderte Filmographie und ein intimes Portrait der großen Darstellerin, Bild für Bild von den Anfängen als Tochter des deutschen Vorzeige-Schauspielerpaars Magda Schneider und Wolf Albach-Retty über ihre ersten filmischen Ausflüge nach Frankreich (mit Alain Delon) und die Jahre der Hollywood-Produktionen bis zum Image der Grande Dame des französischen Films der 1970er Jahre und ihrem tragischen Ende in Paris.

Isabelle Giordano (Hg.)
Romy Schneider Film für Film
2017, Schirmer/Mosel, 256 Seiten,
206 Abbildungen in Farbe und Schwarzweiß.
Format: 24,5 x 28,5 cm, gebunden.
Deutsche Ausgabe.


Genre: Biographien, Biographien, Briefe, Dokumentation, Erinnerungen, Fotografie, Frauenliteratur, Kulturgeschichte, Memoiren, Reportagen
Illustrated by schirmer/mosel

Paläo-Art: Urzeittiere und Pulp-Dinos im Großformat

paleoart_ju_d_3d_03421_1707131052_id_1128674Palaeo-Art: Das dreidimensionale Strukturencover lässt einen Dinosaurier ertasten, dessen Maul geradezu vor Blut trieft und Appetit auf noch mehr Urzeitgeschichte macht. Gleich die ersten Seiten hinter dem Hardcover-Cover sind ausklappbar und erreichen beinahe die Spannweite eines Urzeitvogels. Paläo-Art, das ist Geschichte in einem neuen Format erzählt, großformatig, bunt und spannend oder wie es Walter Ford im Vorwort nennt: „Das ist schon verwirrend, aber Paläo-Kunst ist keine Höhlenmalerei, das wäre paläolithische Kunst.“, letztere wäre tatsächlich schon „steinalt“, Paläo-Kunst hingegen ist gerade einmal 100 Jahre alt, wie auch der junge Walter Ford einst beim Spielen schmerzlich feststellen musste.

Palaeo-Art: Archiv der Illusionen

Die Paläo-Kunst ist eine zeitgenössiche Kunstform, die 1830 in England begann und die prähistorische Vergangenheit anhand von Knochen- und Skelettfunden rekonstruierte, um sich so ein Bild von der Altsteinzeit zu machen. Paläo-Künstler rekonstruierten dabei aber nicht nur die Urtiere, sondern ach die entsprechenden Landschaften. So wie sich die Menschen mit der Erfindung der Dampfmaschine vermehrt Gedanken über eine mögliche Zukunft machten, so konstruierten sie auch ihre prähistorische Vergangenheit mit Bildern von Tieren und Pflanzen, die zuvor noch nie ein menschliches Auge erblickt hatte. Walter Ford suchte also jemanden, der sich mit den künstlerischen Aspekten der Urzeit auseinandersetzte und fand Zoë Lescaze, die schon „riesige Wandbilder in Moskauer Museen, strahlende Ölgemälde in dunklen Lagerräumen in Tschechien und feine Aquarelle in Schubladen britischer Archive“ aufgestöbert hatte, noch bevor er von dieser Publikation zu träumen gewagt hatte.

Wahrheit: Kind ihrer Zeit

Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit liegt nun in einer einzigartigen Publikation des TASCHEN Verlages vor, die wieder einmal alle Grenzen sprengt. „Dieses Buch strotzt vor Darstellungen, die in der hitzigen Aufregung überraschender Entdeckungen entstanden. (…) Es ist wie eine doppelte Zeitmaschine aus einem Science Fiction Comic, den ich als Kind geliebt hätte“ und als Erwachsener erst richtig zu schätzen weiß, möchte man hinzufügen. Anhand von Werken aus der Zeit von 1830 bis 1990 zeichnet die vorliegende Publikation die wundersame Geschichte der Paläo-Kunst nach und zeigt dass die Wahrheit immer auch ein Kind ihrer Zeit ist, denn viele Darstellungen sind dem jeweiligen Zeitgeist angepasst und sagen wohl genau so viel oder sogar mehr über ihre Zeit aus, wie über die Zeit des Abgebildeten. Dinosaurier im Stile des Fauvismus, vom Japonismus oder vom Jugendstil beeinflusst, viktorianische und sowjetrussische Urzeittiere ebenso wie Pulp-Dinos, albtraumhafte Monster oder majestätische Titanen. Ein Essay von Zoë Lescaze sowie eine Vielzahl beeindruckender Abbildungen und Illustrationen sowie vier Ausklappseiten im Riesenformat überzeugen nicht nur Paläo-Fans, sondern auch zeitgenössische Kunstkritiker.

Zoë Lescaze/Walton Ford

Paläo-Art: Darstellungen der Urgeschichte
Hardcover mit 4 Ausklappseiten, 28 x 37,4 cm, 292 Seiten
Ausgaben in Deutsch/ Englisch/ Französisch/ Spanisch
2017, TASCHEN
ISBN 978-3-8365-6584-4
75.-€

 


Genre: Dokumentation, Dystopie, Kulturgeschichte
Illustrated by Taschen Köln