Vom Herzasthma des Exils

Frau Krechels Stärke sind präzise Beschreibungen nach aufmerksamer Beobachtung. Zur Verleihung des Büchner Preises nennt der Tagesspiegel dies die „Innenansicht der Klassenverhältnisse“. Und Klassen sind nicht nur Herkunfts- oder Wohlstandsklassen, auch die von Rassen, Religionen oder politischen Meinungen werden beachtet.

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Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Cotta

Die Zukunft unseres Wassers Was kann es? Wo fehlt es? Wem gehört es?

Die Autorin, deren Namen auf dem Titel vergrößert geschrieben ist, hat in einem flotten Stil von ihrer Arbeit als geschäftsführende Vorständin von Viva con Agua e.v. berichtet und alle Fragen, die auf dem Titel gestellt werden, beantwortet; gerne mit Ich-Botschaften.

Rüdiger Braun, der Mitautor, hat als Wissenschaftsjournalist die naturwissenschaftlichen Anteile beigetragen.

In zehn Kapiteln werden auf knapp 300 Seiten mit Quellenangaben Leser*innen mitgenommen, und es macht Spaß! Ich habe mich daraufhin an meine Wassererfahrungen in Tansania vor 45 Jahren erinnert und in meinem Blog von meiner aktuellen Tätigkeit als Wassermanagerin berichtet. Es beginnt mit:

„Wasser ist Leben. Wasser ist magisch. Wir sind Wasser.

Lasst uns die Wucht der gemeinsamen Welle zusammen entdecken…“

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Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Ludwig Buchverlag

Das grosse Spiel

Wenn es in unseren Zeiten ein schreibendes Gewissen gibt, dann trägt es den Namen Richard Powers. Es gab in den letzten Jahren kein heißes gesellschaftliches Eisen, das dieser Autor mit seiner intellektuellen Vielseitigkeit nicht angefasst hätte. Seine beruflichen Tätigkeiten als Lehrer an einer internationalen Schule in Bangkok und später als Programmierer sowie seine Studiengänge in Physik und Literatur waren neben seiner unbestreitbaren literarischen Begabung hervorragende Voraussetzungen, um naturwissenschaftliche und philosophische Themen für eine breite Leserschaft aufzuarbeiten. Erkenntnisse der Gehirnforschung und ihre psychologischen Implikationen zeigt er in „Das Echo der Erinnerung“ am Beispiel eines hirnverletzten Unfallopfers auf. In „Klang der Zeit“ verknüpft er seine Kritik am amerikanischen Rassismus und seine Sympathie mit der Bürgerrechtsbewegung geschickt mit einer Familiensage und breitet gleichzeitig seine fundierte Begeisterung zur Musik aus. In „Die Wurzel des Lebens“ kämpfen neun Protagonisten um den Schutz der Bäume vor Abholzung. Weiterlesen


Genre: Politik und Gesellschaft, Roman, Science-fiction
Illustrated by Penguin

Im Schnellzug nach Haifa

Gabriele Tergit ist eine anerkannte Journalistin von Gerichtsreportagen und Bestsellerautorin (Käsebier erobert den Kurfürstendamm) im Berlin der zwanziger Jahre, verheiratet mit einem Architekten; nie wären sie auf die Idee gekommen, nach Palästina auszuwandern.

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Genre: Autobiografie, Politik und Gesellschaft, Reisen
Illustrated by Schöffling & Co Frankfurt am Main

Die Dinge. Eine Geschichte der Frauen in 100 Objekten

Ich lese dieses Buch seit einem halben Jahr und bin noch nicht „durch“. Pro Tag etwa drei Objekte, und manche immer wieder. Was können alles Objekte sein? Annabelle Hirsch erklärt es uns und beginnt mit einen 30 Tausend Jahre alten weiblichen Oberschenkelknochen, der einen verheilten Bruch zeigt.

Im Vorwort berichtet sie, dass ein Mann losprustete, als sie im Kreis von Bekannten über den Plan sprach, die Geschichte der Frauen an Objekten zu beschreiben: Frauen wären doch selbst Objekte!

Von den hundert beschriebenen kann es hier nur eine kleine Auswahl werden. Ihr profundes Wissen auch über Mythologie, Religionen und Geschichte verblüfft, auch wie sie Zusammenhänge darstellt. Es geht um Sex and Crime, um Religion und Mystik, um Recht und Liebe, wie sie von Frauen erlebt werden.

Zurück zum Oberschenkel: Margret Mead berichtet von der Frage eines Studenten, was wohl ihrer Meinung das älteste Zeugnis menschlicher Zivilisation sei. Sie antwortete: Dieser Oberschenkel zeigt, dass die Frau mit dem gebrochenen Oberschenkel über Wochen auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen war; die sie fütterten, vielleicht auch trugen. Ein Tier wäre, ohne Laufen zu können, gestorben…

Dann geht es nicht nur ums Überleben, auch um die weibliche Lust: Drei Dildos stellte sie vor, der erste im 17. Jahrhundert aus Muranoglas. Venedig war ein Ort der raffinierten Sünde, schade, dass die katholische Kirche nichts von Onanie hält.

Da war man 1984 weiter, als in den USA der kleine Rabbit Pearl entwickelt wurde, mit einem Kitzler für den Kitzler. Im Film Sex and the City wurde Miranda süchtig nach ihm und man sprach davon.

Dann geht es um die Rechte der Frauen im Grundgesetz: Von den vier „Müttern“ des Grundgesetzes war nur eine, Elisabeth Selbert, konsequent gegen die Fortführung der Formulierung des Textes der Weimarer Republik. „Männer und Frauen sind gleichberechtigt,“ forderte sie, das ist etwas anderes als: sie sind gleich. Als auch die anderen drei Mütter eher zu Kompromissen bereit waren, betrieb Frau Selbert Öffentlichkeitsarbeit in Fabriken, auch im Radio und „erklärte den Frauen, was auf dem Spiel stand“. Das erinnert mich an den Film „Die Unbeugsamen“ von Torsten Körner, wo die CDU-Frauen vor Adenauers Haus dagegen protestierten, dass er immer nur eine (Alibi) Frau als Ministerin zulassen wollte.

Aus Großbritannien stellte sie die Hungerstreikmedaille vor: Als Frauen vor und während des ersten Weltkrieges bürgerliche Rechte forderten, sahen sie, dass es andere Aktionen gegen brauchte, notfalls mit Gewalt. Auch gegen sich selbst; sie hungerten. Dazu gab es den „Cat and Mouse Act“. Wenn die Frauen so geschwächt waren, dass sie drohten zu sterben, wurden sie entlassen, aber zurück ins Gefängnis gebracht, wenn sie wieder hungerten. Erst später gab es dann die Medaillen.

In den USA gab es eine Medaille für Women Airforce Service Pilotinnen, die während des Krieges dienten. Als die Männer zurückkamen, wurden sie nicht mehr gebraucht. Sie könnten doch Stewardessen werden…

Frau Hirsch ist Deutsch-Französin und hat auch in Paris studiert. Viele ihrer Objekte stammen aus Frankreich.

Etwa das vom Buch des Essayisten de Montaigne aus dem sechzehnten Jahrhundert. Da geht es um die Freundschaft im Sinne des Humanismus. „Weil ich es war, weil er es war“ beschreibt er eine Beziehung. Das ist etwas Anderes, als die Nächstenliebe. Wie kann die funktionieren, wenn mir ein Mensch nicht angenehm ist.

Aber, geht das nur unter Männern? De Montaigne hatte eine Brieffreundschaft mit einer Frau und wünschte sich nach seinem Tode, dass sie sein Werk weiter betreut, und seine Witwe bat sie darum.

Oder der Nervenarzt Charcot, der sich auf hysterische Frauen spezialisierte und es schaffte, dass sie sich vor großem Publikum in einem Krampfanfall hineinsteigerten. Selbst Freud hat sich das mal angesehen. Von dessen Theorie vom Penisneid hält sie dann auch nichts.

Auf dem Klappentext steht: von diesem Buch kauft frau sich am besten gleich zwei; eins für sich und eines für die beste Freundin. Ich habe es schon dreimal verschenkt.


Genre: Feminismus, Politik und Gesellschaft, Sachbuch
Illustrated by Kein & Aber Zürich

Eine kurze Geschichte der Informationswerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz

Anfangs dachte ich, das Vorgängerbuch Sapiens, das 25 millionenfach verkauft wurde, müsste ich vor diesem gelesen haben; der Autor bezieht sich gerne darauf. Dann aber überzeugte die Fülle der Beispiele dieses Buches. Diese „kurze Geschichte“ des Historikers hat mehr als sechs hundert Seiten, einhundert davon sind Quellenangaben.

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Genre: Politik und Gesellschaft, Wissenschaft
Illustrated by Penguin

Geständnisse eines Touristen: Ein Verhör

Wer „Atlas eines ängstlichen Mannes“ gelesen hat, ist unweigerlich verloren. Verloren im Universum der Literatur-Droge namens Christoph Ransmayr. Wie es in Selbsthilfegruppen üblich ist, nennt man seinen Namen und gesteht: „Ich bin süchtig“. Weiterlesen


Genre: Erinnerungen, Erzählung, Gesellschaftsroman, Kurzgeschichten und Erzählungen, Politik und Gesellschaft, Reisen
Illustrated by Fischer Verlag

Omas for Future

Im Vorwort erklärt Frau Weimann, warum sie, die nie Journalistin, Politikerin oder Wissenschaftlerin war, oder werden wollte, das Buch schrieb: Um die schweigenden Mitbürgerinnen unter uns Älteren dazu zu bringen, Verantwortung für die Erde zu übernehmen. Schon weil sie eine immer größer werdende Wählerschaft darstellen. Und sie sind auch die, die sich nun Fernreisen, Kreuzfahrten leisten. Dass sie besonders viel CO2 emittieren, wird an Beispielen vorgerechnet.

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Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Scorpio

Black As F***. Die wahre Geschichte der USA

Whitewashing” heißt es nicht umsonst. Denn die amerikanische Geschichtsschreibung wird als Geschichte der Sieger dargestellt: der Sieg der Weißen. Aber was hätten diese ohne die Schwarzen in ihrem Land erreicht? Michael Harriot deckt den wahren Ursprung des Reichtums der amerikanischen Nation auf. Ein paar Geschichtslektionen wie es wirklich dazu kam.

500 Jahre Unterdrückung und Rassismus

Mit sehr viel bissiger Ironie und einer Prise Sarkasmus hat Michael Harriot ein Geschichtsbuch der anderen Art geschrieben. Am Ende jeden Kapitels gibt es auch einen Fragenkatalog, ganz so als würde es sich um einen Test an der Schule handeln. Zudem hat er ein paar Karikaturen und ein Interview mit einem zukünftigen weißen Suprematisten, einem weißen Grundschüler, eingeflochten, damit alle Generationen endlich das verstehen, was wirklich passiert ist. In 500 Jahren Amerika. Nehmen wir zum Beispiel die vom Autor zitierte Untersuchung zum Nettoeinkommen der Brookings Institution aus dem Jahre 2016 her, sehen wir, dass Ungleichheit immer noch eine große Rolle spielt. Das durchschnittlich Nettovermögen einer weißen Familien betrug 171.000 Dollar, das einer schwarzen Familie 17.150 Dollar. Ein anderes Beispiel für die heutige Ungleichheit in den USA ist die unter Brown versus Board of Education of Topeka bekannt gewordene Tatsache, dass Schwarze die Steuern für die Schulbusse der Weißen zahlten, ihre eigenen Kinder aber zu Fuß gehen mussten. Schwarze Eltern zahlten zudem überproportional viel Steuern für die schönen neuen Schulden der Weißen, etwa in South Carolina. Dort war 1948 die Bevölkerung zu 40% schwarz, aber schwarze Schulen bekamen 12,9 Millionen und weiße 68,4 Millionen Dollar. Ungerecht? Ungleich? Demokratisch? Nein. Zutiefst amerikanisch.

Verbrechen an der Menschheit: Sklaverei

Michael Harriot geht weit zurück in die eigentliche Geschichte der USA, nicht die offizielle, weiß gewaschene vom “Land of the Free, Home of the Brave”. Er beginnt im 16. Jahrhundert als die europäischen Seefahrer im neu entdeckten Land zwar nicht so viel Gold und Diamanten entdeckten, dafür aber entdecken, dass sie mit den entführten Menschen aus Afrika ein wohl ebenso großes Vermögen mit der Baumwollpflanzung verdienen konnten. Die Sklaverei gab es natürlich zu vor schon, aber nirgends erfuhr sie eine derart massenhafte, perfektionierte Industrialisierung wie in der damals britischen Kolonie Amerika. Die Gaskammer hätte ein französischer General namens Rochambeau damals erfunden, um aufständische “Sklaven” zu unterdrücken. Dazu führte er Kriegsgefangene an Bord seiner Schiffe auf denen er Schwefel verbrennen ließ. Das sich entwickelnde Schwefeloxid führte zum Ersticken der dort Gefangenen. Völlig jenseits ist die Erfindung einer Krankheit, Drapetomanie, die die Flucht schwarzer Menschen als pathogen darstellte. Als ob nicht jeder Mensch aus Gefangenschaft fliegen wollen würde. Aber es gab auch immer wieder Widerstand und Hoffnung, etwa die Maroons, auch von denn erzählt Harriot. Bis herauf zum amerikanischen Bürgerkrieg und darüber hinaus zeigt der Autor nicht ganz ohne Humor die völlig unlustige Geschichte der Unterdrückung und Versklavung von Menschen mit schwarzer Hautfarbe.

Ein Geschichtsbuch für neue Generationen

Mit Zitaten von Lincoln lässt sich leicht belegen, dass nicht einmal der so “glorreiche Bürgerkrieg zur Befreiung der Sklaven” ein solcher war. Denn es ging einfach nur um Machtpolitik, um die Erhaltung der Union. Ein Geschichtsbuch, das vielleicht endlich dazu beitragen kann, den Begriff “Rassenunruhen” neu zu überdenken. Denn es waren die Weißen, die Schwarze lynchten, ihnen Körperteile abschnitten und diese als Souvenir verkauften. RIP Sam Hose. Und es waren die Schwarzen, die sich zurecht dagegen wehrten, wie Vieh und nicht wie Menschen behandelt zu werden. Ein Buch voll trauriger Aktualität, denn noch immer ist der Rassismus in den USA weit verbreitet. Neuerdings sogar mit Segen von oben.

Michael Harriot
Black As F***. Die wahre Geschichte der USA
2024, Hardcover, 560 Seiten,
ISBN: 9783365007990
Harper Collins
26.-€


Genre: Politik und Gesellschaft, Rassismus
Illustrated by Harper Collins

Kalte Füße

Kalte Füße. “Dagegen gibt es nur eine Medizin: die Erinnerung.” Wer in den Nachkriegsjahren in Mitteleuropa geboren wurde oder aufwuchs, wusste, früher oder später, dass seine Eltern in den Faschismus oder Nationalsozialismus involviert waren. Diese Erkenntnis mag viele unbeantwortete oder unbeantwortbare Fragen ausgelöst haben, nicht nur bei der 1964 geborenen italienischen Schriftstellerin Francesca Melandri, deren Vater als “Alpini” in der Ukraine kämpfte. Im sog. Russlandfeldzug, der eigentlich eine Ukrainefeldzug war…

Kalte Füße oder: Nie wieder Krieg!

Ihr Vater hatte als Journalist für die Gazzetta del Popolo gearbeitet und sich sogar in einem namentlich gekennzeichneten Artikel gegen Ende des Krieges für den Faschismus ausgesprochen. Dieses Faktum wird für Francesca Melandri zum Ausgangspunkt ihres bereits vierten Romans, der sich nicht nur mit der Aufarbeitung der Vergangenheit ihrer Vätergeneration beschäftigt, sondern auch mittels eines immer wieder wiederholten Mantras “der Krieg in Russland, der größtenteils in der Ukraine war” den Bezug zur Gegenwart herstellt. Ihre Schilderungen der Verbrechen – der Wehrmacht damals und der russischen Armee heute – lassen einen den Atem stocken, da sie so lebensnah erzählt und zeigt, dass die Vergangenheit noch lange nicht vergangen ist.

Das Ende aller Kriege

Nie wieder Krieg!” hätten wir achtzig Jahre lang gerufen, dabei hätten wir nur gehofft, dass er nicht vor unserer Haustüre stattfinde. Aber als Melandri in einem YouTube einem Gespräch zwischen einer Ukrainerin und einem russischen Soldaten folgt, gibt ihr dies den Anstoß zu vorliegendem Buch. Die Ukrainerin gab ihm Sonnen-blumenkerne in die Hand und forderte ihn auf, diese in seine Taschen zu geben, damit dort, wo er falle, später Sonnenblumen wachsen würden. Die westlichen Verbündeten der Ukraine hätten eben solche “Kalte Füsse” (Titel!) bekommen, wie ihr Vater als Soldat in der Ukraine. Hätte er damals nicht die russischen Walenki-Stiefel erbeutet, wäre er wohl nicht heil davon gekommen. Aber “heil” kommt ohnehin niemand aus einem Krieg, höchstens körperlich unversehrt.

Die Vergangenheit in der Gegenwart

Bei einem Treffen mit Macron Anfang Februar 2022, also noch kurz vor dem Krieg, soll der russische Präsident den zweiten Satz eines Songtextes der Punkband Krasnaja Plesen (Roter Schimmel) aus den 80ern direkt in die Kamera gesagt haben: (“Die Schönheit lag still in dem Sarg, schnell schlich ich näher, um sie zu vögeln.) Jetzt bist du dran, meine Schöne, ob du willst oder nicht“. Die bizarre Situation will Melandri selbst auf YouTube mehrmals überprüft haben, weil sie so unfassbar ist. Die “öffentliche “Zurschaustellung von Dominanz und Unterwerfung, in ein Ritual, das auf den visuellen Codes von Feudalsgesellschaften der Mafiaclans basiert und in dem mit theatralischen Gesten und dreisten Lügen operiert wird“, schreibt Melandri, habe hier seine volle Perfidie entfaltet. “Wahr ist nur der Tod, der Verlust und der Schmerz. Wahr ist nur die Kälte.

Flammendes Plädoyer zum Ende aller Kriege

Francesca Melandris Betrachtungen sind ein flammender Appell für die Souveränität der Ukraine. Sie greift auf die Bücher ihres Vaters zurück und zitiert diese in einem Absatz vor ihren jeweiligen Kapiteln, so stellt sie den Bezug zwischen Vergangenheit und Gegenwart spielend her. Die Invasion der Faschisten und Nazis wurde damals aber nicht nur von Russen zurückgeworfen, sondern auch von Kasachen, Tscherkessen, Tataren, Bajaren und Soldaten vieler sibirischer und kaukasischer Ethnien. Gemessen an der Bevölkerung waren es vor allem Belarussen und Ukrainer, die gegen die Invasoren kämpften, schreibt Melandri. Der Holodomor zehn Jahre zuvor hatte aber vor allem die Ukrainer geschwächt und wird gerne auch als Vernichtungskrieg gegen die eigene Bevölkerung der Sowjetunion bezeichnet. Die Nachfahren dieser Bevölkerungsgruppen der Burjaten, Tuba, Tschuktschen, Akuten und Tungusen und Jukagiren werden im heutigen Krieg als “Kanonenfutter” in den ersten Schwung der ukrainischen Artillerie geworfen und sterben zu Tausenden.

Kalte Füße, heißer Krieg

Melandri klagt aber auch die westeuropäische Linke an, die jahrzehntelang nur die Verbrechen der USA, nicht aber den Kolonialismus und Imperialismus der UdSSR thematisierte und verurteilte und durch diese “Realitätsverweigerung”, “Flucht in die Abstraktion” und “Strategie der Mapuche” einfach ignorierte, was die Fakten waren. Ein aufrührerisches Plädoyer, das man einfach gelesen haben muss, da es viele unbeantwortete und unbeantwortbare Fragen aufwirft und versucht, sie zumindest ansatzweise zu beantworten. Eine Vergangenheitsbewältigung im intimen Du-Ton, einem Gespräch mit ihrem dementen Vater, der nicht mehr antworten kann. Selbst wenn er es wollte.

Francesca Melandri
Kalte Füße
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
2024, Quartbuch, gebunden mit Schutzumschlag, 288 Seiten
ISBN 978-3-8031-3367-0
Wagenbach Verlag
24,– €


Genre: Krieg, Politik und Gesellschaft, Politische Romane
Illustrated by Wagenbach

Kunst im Krieg: Kulturpolitik als Militarisierung

Stefan Ripplingers Essay “Kunst im Krieg: Kulturpolitik als Militarisierung” ist ein ambitioniertes und differenziertes Werk, das die Verflechtungen von Kunst, Kulturpolitik und den Mechanismen der Macht in Zeiten von Krise und Krieg analysiert. Das Buch ist ein Appell für die Unabhängigkeit der Kunst und eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Instrumentalisierung durch Politik und Gesellschaft. Weiterlesen


Genre: Kunst, Politik und Gesellschaft
Illustrated by PapyRossa

Die Fehlbaren Politiker zwischen Hochmut, Lüge und Unerbittlichkeit

Helene Bubrowski ist mir als häufiger Gast bei Lanz bekannt, wo sie noch nie etwas Dummes gesagt hat, aber an richtigen Stellen lächelt. Das Buch lag in der Stadtbücherei bei Neuheiten, Rezensionen kannte ich nicht, nach der Lektüre eigentlich unverständlich, denn es ist sehr lesenswert.

Es geht um die fehlende Fehlerkultur, die die Autorin seit Jahren bei Politiker:innen aller Parteien verfolgt. Es geht nicht um die Fehler, sondern darum, wie damit umgegangen wird.  Die Taktiken werden beschrieben und bewertet: mit Salamitaktik kommt niemand durch.

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Genre: Gesellschaftsroman, Politik und Gesellschaft
Illustrated by dtv München

Der Klimaatlas- 80 Karten für die Welt von morgen

Luisa Neubauer ist das Gesicht von Fridays for Future, der „unideologischen Bewegung“, leiteten sie doch ihre Aktivitäten von Studienergebnissen ab. „Wissenschaftliche Bekenntnisse sind das stärkste Argument gegen Klimazerstörung,“ dachten sie.

Aber, warum ist FFF verschwunden?

An der Wissenschaft liegt es nicht, und so werden von den Autoren andere Wege gesucht, und gefunden, diese Erkenntnisse bekannter zu machen.

Dazu kommt ein Buch im DIN A4 ähnlichen Format, knapp zweihundert Seiten, mit großflächigen Abbildungen. Die Kapitel werden durch Texte eingeleitet, die in sehr hellem Grau gehalten und für Ältere nicht gut lesbar sind. Umso farbiger sind die Abbildungen.

Die ersten beiden Kapitel beschreiben die Lage, dass weltweit Frühlinge früher beginnen, die Temperaturen ansteigen.

Dass der ökologische Wandel ein komplexeres Geschehen ist, wird im dritten Kapitel eingeleitet: Es ist mehr als der CO2 Anstieg. Lebensräume sind bedroht. Arten sterben. Wie schützen wir unsere Ressourcen, die Böden und das Trinkwasser?

Im Kapitel Gesundheitlicher Wandel wird die Tatsache angesprochen, die sich durch das Werk zieht: Es trifft die Ärmeren stärker. Länder, die am Äquator liegen, sind schon bei einem Anstieg von 1,5° C nicht mehr bewohnbar, andere in deren Nähe werden es bei über 2°C nicht mehr sein. Alle Länder, die deutlich oberhalb des Äquators liegen, ob in Amerika, Europa oder Asien, also die reicheren, bleiben auch dann bewohnbar.

Und wen trifft es hier? Die Ärmeren, die kürzer leben, schlechtere Luft atmen, weniger Parks haben, keine Gärten. Eine Abbildung dazu: Dein Lamborghini schadet meiner Lunge.

Ein gesellschaftlicher Wandel ist gefragt. Dazu ist zu reflektieren, was wir anstreben und was Fortschritt ist. Und: was wer verlieren wird.

Ist unsere Welt die von Hollywood, mit breiten Autospuren, auf denen ein „PS-gestählter Superheld“ dahinbraust? Gerade diejenigen Menschen, die ohne lebensgefährdende Einschränkungen etwas für den Bestand des Planeten tun könnten, genießen diesen Lebensstil und glauben, sie hätten ihn sich verdient.

Gibt es andere Leitbilder? Es geht auch anders. In einer Abbildung werden Popheld:innen bewertet: Batman gehört der Vergangenheit an, Asterix setzt auf Technologien mit geringem Ressourcenaufwand, Lucky Luke hat einen Hauch toxischer Männlichkeit, gepaart mit einer Liebe für Eisenbahn und Empathie. Besser wird es mit Bibi Blocksberg, sie ist klimaneutral und setzt auf Frauen und Pipi sieht Kinder an der Macht, mit PS, aber ohne Auto.

Dann gibt es Vorschläge, wie die Leser: innen sich einbringen können. Die Auswahl ist groß, auf allen Ebenen können Aktivitäten entwickelt werden. Senior: innen können auf Klappstühlen den Eingang einer Bank blockieren. Und neben diesen gut hundert Vorschlägen gibt es nochmal so viele fürs Internet.

Mein Lieblingskapitel folgt: Politischer Wandel. Auf der einen Seite sind das Grundgesetz und das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Klimakrise abgedruckt, auf der anderen die Aussagen aktueller Politiker, schon Bekanntes von Lindner zum Freisein im Auto und Söder zur Bratwurst. Neu war mir das Beste: „Autobahnen sind in Beton gegossene Freiheit“ von Christoph Meyer, FDP von 2024!

Die nächsten Kapitel behandeln den wirtschaftlichen und den technologischen

Wandel mit globalen Beispielen.

In der Einleitung steht: „Wir möchten den Blick weiten, für all das, was sich kulturell, technologisch, gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich gerade verändert. Von der Energiegewinnung über die Gesetzgebung hin zu unserer Sprache und unseren Zukunftsträumen. Die Welt ist im Wandel, und das ist eine gute Nachricht.“

Das ist den Autor:innen gelungen.


Genre: Politik und Gesellschaft, Sachbuch
Illustrated by Rowohlt

Bauern Sterben – wie die globale Agrarindustrie unsere Lebensgrundlagen zerstört

Der Autor wurde 1954 als „Bauernbub“ in Bayern geboren, in seiner Kindheit erlebt er die Veränderungen der Landwirtschaft, die er dann in den Jahrzehnten seiner journalistischen Tätigkeiten durch investigative Reisen weltweit verfolgte.

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Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Siedler München

SCUM: Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer

“scum” bedeutet eigentlich Abschaum oder Schmutz. Aber Valerie Solanas machte daraus das Akronym S.C.U.M.: Society for Cutting Up Men. Ihr “S.C.U.M. Manifesto” – so der Originaltitel – schrieb Geschichte, nicht zuletzt, weil dessen Autorin ihre Anliegen kurzerhand selbst in die Tat umsetzte. Sie erschoss am 3. Juni 1968 Andy Warhol.

scum: inspirative Lektüre

Andy Warhol, der die New Yorker Künstlerkommune “Factory” gegründet hatte, starb zwar erst runde 20 Jahre später an den Folgen des Attentats, aber dennoch wäre es wohl zu dem Ereignis geworden, wäre nicht wenige Tag später auch Robert Kennedy erschossen worden. Valerie Solanas wurde in eine Anstalt für abnorme Rechtsbrecher eingeliefert und starb nur ein Jahr später, 1988, nach Warhol. Ihr Manifesto wird seither dennoch mit Andy Warhol und seiner Factory verbunden und inspirierte eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren. Sogar Nick Cave findet auf dem Buchrücken der neuen Ausgabe des renommierten MÄRZ Verlages einfühlsame Worte für die Autorin. Der Originaltext in der deutschen Erstausgabe erschien übrigens erstmals bei MÄRZ, 1969. Damals noch mit der Autorin am Cover.

S.C.U.M.: Aufruf zur Satire?

Solanas kam aus einem sog. zerrütteten Elternhaus, wurde sowohl von ihrem Vater als auch Verwandten schon sehr früh missbraucht und landete schließlich wie alle Dropouts* jener Zeit in New York City, wo sie standesgemäß im Künstlerhotel “Chelsea Hotel” Unterkunft fand. Dort verkaufte sie ihr Manifest als Hektographie vorerst selbst auf der Straße, schaffte an und lernte die bekannte Drag Queen Candy Darling aus der Factory kennen, die sie auch mit Warhol bekannt machte. Als ihr Manuskript eines Drehbuchs mit dem vielversprechenden Titel “Up your Ass” aus dessen Büro spurlos verschwindet, macht Solanas Warhol persönlich für den Verlust ihres Textes verantwortlich. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Ein persönlicher Rachefeldzug, der die Veröffentlichung ihres Manifests in Buchform wesentlich beschleunigte und die Verkaufszahlen erhöhte.

Manifest zur Vernichtung der Männer

Das Manifest selbst liest sich wie eine moderne Satire, ist scheinbar auch an Jonathan Swifts “Modest Proposal” angelehnt, in dem die Kinder der Armen zu Wurst verarbeitet und verspeist werden. Solanas geht mit den “Herren der Schöpfung” zwar auch sehr streng ins Gericht, aber nicht ganz so weit wie Swift. Ihre Hasstiraden auf die Männer, die sie allesamt als Versager verflucht (sowohl Hippies als auch Durchschnittsmänner) sind durchwegs nachvollziehbar und lesenswert. Nicht nur aufgrund ihrer persönlichen Biographie. Denn der Text liest sich unterhaltsam und amüsant und gehört zur feministischen Pflichtlektüre, deren Thesen alle durchdiskutiert gehören.

scum-Neuausgabe mit umfangreichen Extras

Das besondere an der Neuausgabe des MÄRZ Verlages sind nicht nur die Faksimiles von Originalbriefen von Solanas an Jörg Schröder vom MÄRZ Verlag, den sie kurzerhand zum “contact man of the mob” erklärt hatte, sondern auch das informative Nachwort desselben, der über einige Eigentümlichkeiten der wilden Zeit, den Sechzigern, Aufschluss gibt. Anmerkungen im Anhang geben auch Auskunft darüber, was unter *Dropouts zu verstehen ist: “eine moderne Form des Klassenkampfes durch Vorenthalten der Ware Arbeitskraft“.

Valerie Solanas
Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer
(Originaltitel: S.C.U.M. Manifesto)
Aus dem amerikanischen Englisch von Nils Lindquist, mit einem Nachwort von Jörg Schröder,
hrsg. von Barbara Kalender.
2024, 132 Seiten, gebunden,
ISBN: 978-3-7550-0005-1
MÄRZ Verlag
18,– €


Genre: Feminismus, Politik und Gesellschaft
Illustrated by März