Am Rande des Schweigens
Mit ihrem Band von Kurzgeschichten unter dem Titel «Einen Vulkan besteigen» folgt die Schriftstellerin Annette Pehnt ihrem ganz eigenen Stil der radikalen Reduktion, zu dessen Vorbildern John Steinbeck gehört, dem sie als erste ihrer Veröffentlichungen ein eigenes Werk gewidmet hat. In abgemilderter Form erinnert ihr Stil auch an Castle Freeman, einen weiteren amerikanischen Autor, der ebenso erfolgreich mit kargen sprachlichen Mittel arbeitet und trotzdem im Kopf des Lesers viel bewegt. Hier steht also die sprachliche Knappheit dem ausufernden, weitläufigen Erzählen vieler literarischer Klassiker diametral gegenüber. Erstaunlicher Weise aber wird die Leserschaft emotional dabei nicht minder tiefgründig berührt, sie reagiert seelisch nicht weniger betroffen als bei den Geschichten der großen Meister mit den kunstvoll konstruierten, langen Schachtelsätzen. Einen Theodor Fontane beispielsweise liest man gerne allein seines grandiosen Plaudertons wegen, auch wenn, wie in seinem Alterswerk «Der Stechlin», so gut wie nichts passiert auf 500 Seiten, wie er selbst bekannt hat. Bei Annette Pehnt hingegen passiert emotional unglaublich viel auf drastisch reduzierten, kurzen Flattersatz-Zeilen.
Im Nachwort erklärt sie: «Ich wollte wissen, was entsteht, wenn ich (radikaler als sonst) im Schreiben alles Überflüssige weglasse. Was geschieht mit der Sprache, wenn ich sie konsequent entschlacke, dass keine Füllwörter, keine verschachtelten Sätze, keine Abschweifungen, keine elaborierten Metaphern mehr Platz haben»? Und weiter: «Welche Räume öffnen sich, wenn ich am Rande des Schweigens entlang schreibe»? Impuls war für sie das Regelwerk der «Leichten Sprache«, und so steht denn auch in diesem Band nahezu jeder Satz in einer eigenen Zeile, Zeitsprünge und Perspektiv-Wechsel werden konsequent vermieden. Sie wolle damit Lesern «Räume zwischen den Zeilen» eröffnen.
Die Ich-Erzähler oder -Erzählerinnen, deren wahre Identität sich oft erst nach einer ganzen Seite herausstellt, berichten von ihren ureigensten Sehnsüchten, Ängsten, Hoffungen, Irrtümern und Widersprüchen. Dabei ergibt sich Alles als geradezu zwangsläufig, und Vieles liegt in der Einsamkeit der Figuren begründet und in ihrer Sprachlosigkeit. Sei es der Wunsch nach einer Schwester, die Nöte der Schwangerschaft, das Alleinsein, wenn die Kinder aus dem Hause sind, das Erlebnis einer Komponistin bei der ersten Aufführung ihres Werks. Thematisiert werden auch die psychotischen Ängste eines Vaters, die Fehlinvestition in ein vermeintlich idyllisches Landhaus, die Nöte eines Politikers, eine Flucht von Kindern aus der beengenden Wohnung in den Wald, die Erfolge eines smarten Bruders, der Tod eines Vaters, die Verwahrlosung einer Katzen-Närrin, ein gelungener Studienabschluss, die Vulkanbesteigung als menschliche Herausforderung. Weitere Themen sind Fitnesswahn, der grausame Tod einer Schnecke, eine Wohnungsauflösung nach dem Tod des Vaters, der Umgang mit Tieren, eine geplatzte Verabredung, eine unerquickliche Liaison, das Phänomen der Muttermilch, Erlebnisse eines Fährmanns, Verlust eines Goldrings, die Zumutungen von Patienten eines Arztes, ein seltsames Kranichhotel, eine plötzliche Erkrankung, eine schwierige Geschenkauswahl, Erlebnisse einer selbsternannten, manischen Müllsammlerin im Stadtpark, der Tod des Vaters beim Schwimmen, das plötzliche Alleinsein zweier Kinder und der vermeintliche Gewinn einer teuren Kreuzfahrt.
All das zeigt in seiner Knappheit ein auf das Wesentliche reduziertes Bild des Menschseins. Unter dieser narrativen Oberfläche findet eine dem Titel entsprechende Gratwanderung durch das menschlich Allzumenschliche statt. Die sprachlich nicht immer voll gelungene, stilistische Reduzierung regt gleichwohl den Leser zu erstaunlichen Reflexionen über hochkomplexe Themen an. Man fragt sich aber unwillkürlich, an welche Leser die Autorin sich damit wenden will, denn sprachlich affine dürfte sie eher verschrecken. Aber der Mut zur Reduktion ist gleichwohl zu loben, und das Ergebnis ihres kühnen stilistischen Experiments ist zudem durchaus überzeugend!
Fazit: erfreulich
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