Gott, hilf dem Kind

Überambitioniert und thematisch überfrachtet

Das Werk der US-amerikanischen Nobelpreis-Trägerin Toni Morrison ist gekennzeichnet durch das Thema Rassentrennung, so auch in «Gott, hilf dem Kind», ihrem elften Roman. Gegenüber früheren Romanen ist sie hier stilistisch aber neue Wege gegangen, sie arbeitet mit nicht weniger als vier Ich-Erzählerinnen, ergänzt um eine auktoriale Passage. Im Mittelpunkt des Plots steht ein farbiges Paar, beide Anfang zwanzig, die auf jeweils ganz individuelle Weise psychisch geschädigt sind durch schreckliche, rassen-feindliche Kindheits-Erlebnisse mit Sexualtätern, die sie mental nicht verarbeiten können.

Der vierteilige Roman beginnt aus der Perspektive von Sweetness mit der Geburt von deren Tochter Lula Ann, einem Baby, das im Gegensatz zu Mutter und Vater tiefschwarz ist. «Sie war so schwarz, dass es mir Angst machte», heißt es im Roman. Sie ist fassungslos, glaubt an eine Verwechslung, will das Kind zur Adoption freigeben. Sie selbst ist so hellhäutig, dass sie als Weiße gilt wie auch ihr Mann, der denn auch prompt glaubt, er wäre nicht der Vater, und wütend die Familie verlässt. Sweetness hat Probleme, mit der Situation klar zu kommen, sie erzieht ihre Tochter zu absolutem Gehorsam und zu einer unterwürfigen Haltung den Weißen gegenüber. Immer nach dem Motto «Nur nicht auffallen» in einem Land, dessen Bewohnern die Rassentrennung scheinbar unausrottbar in den Hirnen eingepflanzt ist, aller Vernunft zum Trotz! Als Lula Ann bei einem Prozess gegen ihre Lehrerin, die sich an Kindern vergangen haben soll, als Zeugin aussagt, belastet sie die Angeklagte, nur um sich wichtig zu machen und die Mutter zu beeindrucken. Eine Aussage, die der Lehrerin eine fünfzehnjährige Gefängnisstrafe einbringt und ihr selbst ein lebenslanges Trauma beschert. Lula Ann wächst zu einer bildschönen Frau heran, nennt sich künftig Bride und kleidet sich auf Anraten eines als Modeberater arbeitenden Freundes provokant nur noch in strahlendem Weiß, was sie als Black Beauty noch attraktiver macht. Und sie legt eine steile Karriere in einer Kosmetikfirma hin, deren Sortiment sie kreativ erweitert, – die junge Frau fährt fortan einen Jaguar.

Zweiter Protagonist des Romans ist neben Bride deren Freund Booker, dessen Geschichte auktorial erzählt wird. Sein älterer Bruder ist Opfer eines pädophilen Sexualverbrechens geworden, das ein Weißer Mann begangen hat. Obwohl er hochbegabt ist und erfolgreich studiert hat, hat diese Zäsur in seinen Jugendjahren ihn seelisch vollkommen aus der Bahn geworfen. Nach einem Streit trennt sich das Paar, und jeder versucht auf seine Weise, mit seinem speziellen Trauma fertig zu werden. Im Roman kommen Sweetness, die Mutter von Bride zu Wort, ferner Brooklyn, ihre beste Freundin und Kollegin, aber auch Sofia, die zu Unrecht verurteilte Lehrerin sowie Rain, ein von seiner Mutter an Männer vermietetes kleines Mädchen, dass von einem weißen Ehepaar bei strömendem Regen einsam auf der Straße aufgegabelt wird.

Rassismus ist niemals nur ein Übel bei den alten weißen Männern, wie immer gesagt wird, im Diskurs zur «Critical Whiteness» nimmt auch Toni Morrison deutlich dazu Stellung: «Mein Projekt ist das Bemühen darum, den kritischen Blick vom rassischen Objekt zum rassischen Subjekt zu wenden…» Und beweist auch in diesem Roman wieder, dass Selbsthass als rassistisch vorgeprägtes Bewusstsein bei den Betroffenen fest verankert ist. Sie erzählt oft sentimental, aber stilistisch locker, und meist erhaben über ihrer Geschichte stehend, in der abartige Sexualität eine wichtige Rolle spielt. Die Bilder, die sie schafft, sind nicht immer überzeugend, vor allem die kafkaeske Metamorphose von Bride zurück zu Lula Ann irritiert denn doch. Thematisch überfrachtet, ist dieser Roman zwar durchaus lesenswert, aber auch die gleich vierfach auftretenden, unzuverlässigen Erzählerinnen sind des Guten zuviel, hinterlassen sie doch allzu viele Leerstellen und falsche Fährten. Überambitioniert und thematisch überfrachtet, leider!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Das grosse Spiel

Wenn es in unseren Zeiten ein schreibendes Gewissen gibt, dann trägt es den Namen Richard Powers. Es gab in den letzten Jahren kein heißes gesellschaftliches Eisen, das dieser Autor mit seiner intellektuellen Vielseitigkeit nicht angefasst hätte. Seine beruflichen Tätigkeiten als Lehrer an einer internationalen Schule in Bangkok und später als Programmierer sowie seine Studiengänge in Physik und Literatur waren neben seiner unbestreitbaren literarischen Begabung hervorragende Voraussetzungen, um naturwissenschaftliche und philosophische Themen für eine breite Leserschaft aufzuarbeiten. Erkenntnisse der Gehirnforschung und ihre psychologischen Implikationen zeigt er in „Das Echo der Erinnerung“ am Beispiel eines hirnverletzten Unfallopfers auf. In „Klang der Zeit“ verknüpft er seine Kritik am amerikanischen Rassismus und seine Sympathie mit der Bürgerrechtsbewegung geschickt mit einer Familiensage und breitet gleichzeitig seine fundierte Begeisterung zur Musik aus. In „Die Wurzel des Lebens“ kämpfen neun Protagonisten um den Schutz der Bäume vor Abholzung. Weiterlesen


Genre: Politik und Gesellschaft, Roman, Science-fiction
Illustrated by Penguin

Turbulenzen

Turbulente Lektüre für Minimalisten

Der in Kanada geborene und in London aufgewachsene Schriftsteller David Szalay hat sich für seinen zweiten Roman mit dem Titel «Turbulenzen» ein Setting ausgedacht, welches unwillkürlich an Schnitzlers ‹Reigen› erinnert. Der Buchtitel weist auf die heftigen Wetterstörungen hin, die beim Fliegen als unangenehme Begleiterscheinungen manchmal auftreten können. Und so sind denn auch die zwölf Kapitel des Romans jeweils an einen internationalen Flug geknüpft und mit den dreistelligen Kurzbezeichnungen der internationalen Flughäfen überschrieben. Alle Flüge zusammen absolviert würden eine Reise rund um die Welt ergeben, die in London begänne und dort nach 12 Flügen auch endet. Anders als bei Schnitzler sind die Figuren hier aber nur dadurch lose verbunden, dass eine Nebenfigur ohne feste thematische Bezüge im folgenden Kapitel zur Hauptfigur wird.

Auf dem unruhigen Flug LGW-MAD von London nach Madrid erzählt eine Frau mit Flugangst ihrem Sitznachbarn, dass sie in London ihren krebskranken Sohn besucht hat. Den senegalesischen Sitznachbar erwartet bei seiner Ankunft in Dakar die Nachricht von einem tragischen Unfall. Ein Frachtpilot erlebt in Dakar auf einer Taxifahrt zum Flughafen, wie ein Junge von dem Taxi totgefahren wird. Im Hotel angekommen, ruft er nach einigen Drinks nachts um zwei Uhr eine Bekannte an. Die versucht, ihn nach einer Liebesnacht möglichst schnell wieder los zu werden, sie hat als Journalistin einen Interview-Termin, den sie nicht verpassen darf. Eine Mutter besucht ihre Tochter, die gerade ein Kind geboren hat, das blind ist. Ein indischer Golfspieler bestiehlt ohne jedes Schuldbewusstsein den dementen Vater, die Tochter einer Auswanderin will einen syrischen Flüchtling heiraten, mutmaßlich nur, um seine Einbürgerung zu erzwingen. Eine Frau aus Budapest besucht ihren sterbenskranken Vater in London, sie hat ihn viele Jahre lang nur selten mal gesehen, und jetzt ist er dem Tode geweiht, aber sie finden keinen Zugang mehr zueinander.

Es sind emotional labile Charaktere, denen gemeinsam nur die seelischen und psychischen Turbulenzen sind, die ihr Leben instabil machen, sie über die Maßen belasten. Wie die Flugverbindungen sind auch die Verbindungen der Figuren untereinander von Störungen bedroht, die ihre vermeintliche Souveränität in Frage stellt und sie angreifbar und verletzlich macht. Mit der originellen Struktur seines Plots ermöglicht der Autor seinen Lesern tiefe Einblicke in das Leben seiner Figuren, die einsam sind, mit Beziehungsproblemen kämpfen, sich mit Krankheit und Tod auseinander setzen müssen, mit Unterdrückung und Betrug. Indem er seine Schauplätze über alle Kontinente hinweg verteilt, macht er seine Befunde zu globalen Problemen, die oft sogar erst durch die schrankenlose Mobilität des modernen Menschen entstehen. Jeder ist also gefordert, so die Botschaft, mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Insoweit ist dieser schmale Band ein veritabler Gesellschafts-Roman mit einer unverhohlen kritischen Note.

So kreativ das formale Konzept des Romans auch erscheinen mag, so kontraproduktiv ist die skizzenhafte Flüchtigkeit, mit der da flott über tiefgründige psychologische Probleme hinweg erzählt wird. Die schon fast sarkastisch knapp bemessenen Szenen eilen unbeirrt über schwierigste mentale Herausforderungen hinweg, von einer angemessenen, gedanklichen Tiefe kann nicht die Rede sein bei diesem Kurzroman. Während andere Autoren ihre Werke manchmal narrativ hoffnungslos überfrachten, geht David Szalay hier den umgekehrten Weg, wird damit allerdings seiner anspruchsvollen Thematik in keiner Weise gerecht. Ein Zuviel kann ärgerlich sein bei einem Roman, ein Zuwenig aber auch, das ist die ernüchternde Erfahrung nach der turbulenten, allenfalls für Minimalisten goutierbaren Lektüre!

Fazit:   miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Machandel

DDR-Epos von zerplatzten Lebensträumen

Der erste und bisher einzige Roman der in Ostberlin geborenen und literarisch vielseitig tätigen Schriftstellerin Regina Scheer erschien 2014 unter dem Titel «Machandel». Er bezeichnet ein fiktives Dorf in Mecklenburg, das in weiten Teilen der Schauplatz des Geschehens ist, aber im Niederdeutschen auch ein Bezeichnung für den Wacholder. Die Autorin schildert in ihrer von den 1930iger Jahren über den Zweiten Weltkrieg, DDR und Wiedervereinigung bis in die Neuzeit reichenden Geschichte die Auswirkungen der verschiedenen politischen Epochen auf die Figuren ihres umfangreichen Romans. Im Anhang «Die wichtigsten Personen» stellt sie nicht weniger als dreizehn davon ausführlich vor, und auch die 25 Kapitel dieses Wenderomans sind mit dem Namen einer der fünf Protagonisten überschrieben, aus deren Perspektive jeweils abwechselnd erzählt wird. Beides erweist sich als außerordentlich nützlich für die Orientierung beim Lesen.

Es beginnt damit, dass die 24jährige Clara, wichtigste Protagonistin des Romans und unschwer als Alter Ego der Autorin erkennbar, im Sommer 1984 von Ostberlin aus mit ihrem Mann und Jan, ihrem vierzehn Jahre älteren Bruder, nach Machandel reist. Jan wurde im Schloss von Machandel geboren und verbrachte seine Kindheit dort bei der Großmutter. Es ist ihre erste Reise in das Dorf, wo ihre Eltern sich einst kennen gelernt haben und ihr Bruder dann ein Jahr später auch geboren wurde. Sie entdeckt bei diesem Besuch eine herunter gekommene Kate, die sie als Sommerhaus herrichten will. Clara arbeitet dann dort unter primitivsten Bedingungen an ihrer Dissertation über das Märchen vom Machandelbaum, das es in den verschiedensten Dialekten aus unterschiedlichen Kulturen gibt. Allmählich lernt sie auch andere Dorfbewohner kennen und erfährt von deren Schicksalen. So von Natalja, einer Ostarbeiterin aus Weißrussland, die sich nach dem Krieg nicht hat repatriieren hat lassen und in Machandel geblieben ist. Hans Langner, Claras Vater, war während der Nazizeit im Roten Frontkämpferbund engagiert, überlebte das KZ und kann später in hohe Ämter der DDR. Clara und vor allem ihr Bruder stehen dem Regime kritisch gegenüber, Jan wird als Dissident zu Gefängnis verurteilt und verlässt nach der Haft 1985 die DDR. Er hatte einen Ausreiseantrag gestellt, der wohl wegen seines prominenten Vaters dann auch positiv beschieden wurde. Aber auch Clara und ihr Mann engagieren sich in einer regimekritischen Friedensinitiative, und gute Freunde von ihnen werden als Mitglieder einer Oppositionsgruppe sogar inhaftiert und müssen die DDR 1988 verlassen, – jedes politische Engagement war gefährlich im Arbeiter- und Bauernparadies.

In diesem äußerst komplexen, detailverliebt erzählten DDR-Epos von den zerplatzten Lebensträumen werden die Schicksale der vielen Figuren eng miteinander verwoben. Durch die unterschiedlichen Perspektiven ist es allerdings schwer, die komplizierten Zusammenhänge immer richtig zu verstehen und zuzuordnen. So erwähnt Claras Vater denn auch mehrfach, dass er seiner Tochter «nicht alles» erzählt habe, ein deutlicher Hinweis der Autorin also auf die Leerstellen, die sie für Claras Verständnis der Geschehnisse ganz bewusst gelassen hat. Dieses überbordende Epos als Konglomerat aus fünf Erzählstimmen leidet ein wenig unter deren Gleichklang, es fehlen Spannung erzeugende, alternative Standpunkte und kontroverse Diskussionen. Die Romanfiguren lassen scheinbar klaglos alles über sich ergehen, zeigen sich ohnmächtig einem Generationen übergreifenden, schicksalhaften Geschehen gegenüber.

Nüchtern, präzise und detailreich wird in diesem Roman von einer mystischen Gegenwelt zum ‹real existierenden Sozialismus› erzählt, raffiniert gespiegelt am uralten Mythos «Von dem Machandelboom», der bekanntlich eine bessere Zukunft verheißt. Die ist hier allerdings auch nach dem Mauerfall nicht gegeben und droht ja trotz all der negativen Erfahrungen wieder in einen faschistischen Albtraum abzugleiten. Die Figuren erzeugen keine Emotionen und bleiben unnahbar, ihre Geschichten sind allzu ausufernd erzählt und werden schnell quälend langweilig!

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Knaus München

Als wir Schwäne waren

Vom Überwintern in Deutschland

Nach dem Erfolg seines Debütromans hat der auf Deutsch schreibende iranische Schriftsteller Behzad Karim Khani jetzt unter dem kryptischen Titel «Als wir Schwäne waren» seinen zweiten Roman vorgelegt. Die in der Jetztzeit angesiedelte, autobiografisch inspirierte Coming of Age Geschichte hat als hochaktuelle Thematik die Probleme der Migration in Deutschland zum Gegenstand. Reizvoll daran ist die authentische Perspektive, aus der ein jugendlicher Ich-Erzähler das Thema mit scharfem Blick für Details sehr subjektiv angeht. Wobei das Besondere daran ist, dass seine Probleme als Nicht-Deutscher hier nicht beklagt und bejammert werden, sondern in unverhohlenen, gewaltbereiten Hass umschlagen.

In den 1990er Jahren ist seine Familie mit ihm aus dem Iran geflohen und im Ruhrgebiet gelandet. Sein Vater ist Schriftsteller, seine Mutter Soziologin. Sie wohnen in einer Sozialwohnung in einem herunter gekommenen Hochhaus eines typischen Problem-Viertels mit verdreckten, stinkenden Treppenhäusern und allgegenwärtigem Müll drum herum. Die Mitbewohner sind andere Migranten aus aller Herren Länder, denen scheinbar jedes Gespür abgeht für Sauberkeit und Ordnung. Als später auch noch zwei Großfamilien von Sinti und Roma einziehen, zusammen fast einhundert Personen, verschlimmert sich die prekäre Lage dramatisch. Diese mehr als schlimmen Verhältnisse, in denen die kleine iranische Familie dort leben muss, bessern sich auch mit der Zeit nur wenig, ihr Wohnsitz ist und bleibt eine asoziale Müllhalde.

Auf den Straßen drum herum herrschen Zustände, von denen sich seine gebildeten Eltern keine Vorstellung machen können. Beginnend in der Schule erlebt der Junge eine nicht abreißende Welle von Gewalt, unter der er besonders leidet als Kind von Migranten. Diebstahl, Erpressung, Schlägereien sind an der Tagesordnung, aus Frust werden Autos mutwillig beschädigt oder angezündet, dauerndes Schulschwänzen gilt als ein nicht der Rede wertes Kavaliersdelikt. So bleibt es nicht aus, dass der heranwachsende Junge schon früh von seinen fragwürdigen Kumpels zu Ladendiebstahl animiert wird, man ihm aber auch sein eigenes Fahrrad klaut und er mit Drogen in Berührung kommt, zuerst als Junkie, später auch als Dealer, wobei man ihn eines Tages prompt auch erwischt. Unter diesen Umständen schafft er nur gerade so sein Abitur, an Studium und berufliche Karriere ist nicht zu denken.

In dieser Erzählung über Migranten erfährt man tatsächlich viel mehr über die Einheimischen, welche voller Vorurteile die Migranten zu Außenseitern machen und mit ihrer Fremden-Feindlichkeit das verhängnisvolle soziale Klima ja erst selber herbeireden. Die deutlichen Hinweise des Autors auf diese sachlich gebotene Umkehr der Schuldzuweisung prägen den Plot des Romans thematisch ebenso wie die bisher in der deutschen Literatur kaum thematisierte Gewalt, die daraus erwächst. Der Nährboden dafür sind eben genau jene Verhältnisse, von denen Behzad Karim Khani in seinem Roman authentisch berichtet. Er erzählt schnörkellos in einer bildhaften Sprache vom grandiosen Scheitern einer – immer nach dem Motto: «Wir schaffen das» – politisch leichtfertig herbei geredeten, überbordenden Migration in Deutschland. Von Politik ist in diesem Roman allerdings nicht die Rede, hier geht es einzig um die Befindlichkeiten seiner Figuren, die nach Deutschland kamen, aber nie wirklich angekommen sind. Berichtet wird strikt aus deren eigener Perspektive, wobei es einzig um ihre seelische Verfasstheit und die irreparablen mentalen Schäden geht, die atmosphärisch bedingt daraus hervor gegangen sind, – und ja weiterhin ungebremst daraus hervor gehen. Stärkste Figur des Romans ist übrigens der Vater, dem der Kapitalismus völlig fremd ist und der seine Rolle darin nur als Verlierer findet. Die titelgebenden Schwäne sollen andeuten, dass es in dieser Spezies auch Zugvögel gibt, selbst wenn sie mancherorts überwintern, – und der Protagonist gehört eben eindeutig zur Zugvogel-Fraktion. Überwintern in Deutschland, das heißt bleiben, kommt für ihn partout nicht in Frage!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Der große Bagarozy

Die Callas und Mephisto

Der Teufel in Menschengestalt ist spätestens seit Goethe eine beliebte Thematik, Helmut Krausser hat sich in seinem Roman «Der große Bagarozy» dem Fauststoff auf eine sehr originelle Art angenommen. In einem aberwitzigen Konstrukt lässt er ihn in seinem Plot sogar in die Gestalt eines Pudels schlüpfen, eine Reverenz an das grandiose literarische Vorbild. Mit leichter Hand betreibt der Autor ein mystisches Spiel um Themen wie Schuld und Lüge, Vernunft und Wahn. Im Mittelpunkt steht die Diva Assoluta der Opernwelt, Maria Calles, als unvergesslicher Sopran weibliches Pendant zum ebenfalls unvergessenen Tenor Enrico Caruso im Olymp der Sangeskünstler.

Die37jährigen Psychiaterin Dr. Cora Dulz, die über «obsessions-bedingte Detail-Überinterpretation» promoviert hat, steckt in einer Sinnkrise. Zwei ihrer Patienten haben erst kürzlich Suizid begangen, trotz aller ihrer Bemühungen, sie von ihrem Wahn zu befreien. Nun erscheint eines Tages Stanislaus Nagy in ihrer Praxis, den sie von seiner Obsession für Maria Callas befreien soll. Abgeklärt wie sie ist nach vielen Jahren als Psychotherapeutin, sind die Therapiesitzungen für sie nur «Talkshows», und die Patienten bezeichnet sie insgeheim nur noch als «Mängelexemplare». Der neue Patient nun stellt sich nach ein paar Sitzungen als der leibhaftige Teufel vor, der die ‹Göttliche› ein Leben lang begleitet, ihre Nähe und ihre Zuneigung gesucht habe. Er habe ihre Karriere gefördert wo er konnte, habe keinen ihrer Auftritte je versäumt, habe alle ihre Triumphe miterlebt, erzählt er. Nach ihrem tragischen, altersbedingten Niedergang von der Höhe ihrer Kunst habe er zerstörerisch mitgewirkt und sich regelrecht geweidet an ihren langen Qualen und dem frühen Tod. Ein Teufel eben, – der nun allerdings, mit der Hilfe von Dr. Cora Dulz, ein normaler, sterblicher Mensch werden will.

Nach einigen Sitzungen trifft sie ihren Patienten spätabends zufällig in einem Café. Sie folgt ihm spontan auf seinen Vorschlag hin, mit ihm in ein nachts menschenleeres Kaufhaus zu gehen, in dem er als Hausdetektiv arbeitet. Später besucht sie ihn in einer Aufführung, wo er als Zauberer unter dem Namen «Der große Bagarozy» auftritt. Sie begeht also den unverzeihlichen Kunstfehler, mit Patienten privat Kontakt aufzunehmen. Aber Nagy hat sie mit seiner überlegenen Art völlig in Bann gezogen, sie ist ihm inzwischen regelrecht verfallen, wie sie bestürzt feststellt. Sie wünscht sich, wie Dr. Faustus, den Teufel sogar leibhaftig herbei als Komplizen! Der attraktive Nagy übt auf sie auch einen erotischen Reiz aus, dem sie nicht widerstehen könnte, – wenn er denn nur wollte. Ihre kinderlos gebliebene Ehe ist nämlich langweilig geworden, sie ist tatsächlich eine «zu beiderseitigem Nachteil verheiratete Frau», wie es im Roman ironisch heißt. Gefangen in einem sinnentleerten, reizlosen Spießerleben, machen ihr die langen, kontemplativ ergiebigen Diskussionen mit Nagy inzwischen die erschreckende Trivialität ihres eigenen Lebens in voller Härte bewusst.

Bernd Eichinger verfilmte diesen originellen Stoff erfolgreich unter gleichem Titel. Der Roman ist einerseits eine Hommage an Maria Callas, deren Leben hier aber nur skizziert wird in Hinblick auf die Problematik des Ruhmes und eines einseitig der Kunst gewidmeten Lebens. Es ist eine überaus pfiffige Idee des Autors, dieses spektakuläre Künstlerleben mit dem berühmten Teufelspakt zu verbinden. Wobei Nagy als Teufel nie ein Wort mit seiner Muse gesprochen hat und Berührungen von ihr einzig dann genießen konnte, wenn sie ihn, als ihren schwarzen Pudel, gedankenverloren gestreichelt hat. Der angenehm lesbare Roman ist gleichzeitig eine harsche Kritik an der überwiegend geistig anspruchslosen, aber zu Gewalt und Krieg neigenden Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit allerlei kurzen, journalistischen Einschüben über originelle Todesarten und etlichen Fotos aus dem Spielfilm angereichert, ist dieser Roman eine kurzweilige, amüsante und oft sogar recht nachdenklich machende Lektüre.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Fegefeuer der Eitelkeiten

Am Ende gibt es fast nur Verlierer

Als typischer Vertreter des mit fiktiven Elementen angereicherten ‹New Realism› erzielte der erfolgreiche US-amerikanische Journalist Tom Wolfe mit seinem Debütroman «Fegefeuer der Eitelkeiten» auch in fiktionalen Gefilden einen Durchbruch als Romancier. Dieser Bestseller gilt als der bekannteste und wichtigste seiner vier Romane, er wird zudem neben «American Psycho» auch als exemplarischer New-York-Roman der 1980er Jahre angesehen. Sehr früh schon wurde er mit Tom Hanks und Bruce Willis in den Hauptrollen auch verfilmt. Der Plot ist während des Börsenbooms in der Regierungszeit von Präsident Ronald Reagan angesiedelt. Thematisiert wird die aus dem extremen Materialismus resultierende, moralische Verwahrlosung der US-amerikanischen Gesellschaft, für die gerade der Moloch des Big Apple einen idealtypischen Schauplatz darstellt. Der Romantitel spielt auf den berühmten Bußprediger Girolamo Savonarola an, der Jugendliche in Scharen durch Florenz ziehen lies, um alles zu beschlagnahmen, was im religiösen Sinne als eitel und unzüchtig galt, –  und somit also auch als Beleg für die Verkommenheit des Menschen. All das gesammelte Teufelszeug, Bücher und Bilder vor allem, wurde in den Jahren 1497/98 als Zeichen der Reue auf riesigen Scheiterhaufen öffentlich verbrannt.

Der mit Prolog und Epilog in 31 Kapiteln erzählte, dickleibige Roman beginnt mit der detaillierten Schilderung einer total aus dem Ruder gelaufenen Veranstaltung des New Yorker Bürgermeisters. Der wichtigste Protagonist dieses Plots ist der neureiche, 38jährige Börsenmakler McCoy, der mit hysterischer Frau und verwöhnter Tochter in einer pompösen Wohnung an der Park Avenue wohnt. Er ist ein elitärer Vertreter des ‹White Anglo-Saxonian Protestant›, der sich mit seiner Geliebten aus den Südstaaten in einer angemieteten kleinen Wohnung als Liebesnest trifft. Gegenpart ist der in jeder Hinsicht frustrierte Staatsanwalt Kramer, dessen einst attraktive Frau ihn mit der Geburt eines Kindes für immer an die Familie gebunden hat. Und damit hat sie auch seine Bodybuilder-Ambitionen durchkreuzt und ihn, wie er glaubt, für fremde Frauen unattraktiv gemacht. Er hadert aber auch damit, dass er zu wenig verdient, und beneidet seine ehemaligen Studienkollegen, die längst in Anwaltskanzleien Karriere gemacht haben und nun geradezu im Geld schwimmen. Ein weiterer Protagonist ist der britische Journalist Fallow, der wenig erfolgreich bei einer New Yorker Boulevardzeitung arbeitet und sich durchschnorrt bei allerlei Veranstaltungen.

Eines Abends holt McCoy seine Geliebte vom Flughafen ab, verirrt sich dabei in der Bronx und wird dort in einer Auffahrt auf den Highway von zwei farbigen Jugendlichen gestoppt, die ihn ausrauben wollen. Als seine Geliebte, die sich bei seiner Rangelei mit den Ganoven ans Steuer gesetzt hat, in Panik losfährt, berührt der Mercedes einen der beiden, der dadurch umgestoßen wird. Sie begehen Fahrerflucht und melden den Unfall auch später nicht, da das nur zu Komplikationen führen würde. Die Frau von McCoy kommt ihm schließlich mit der Geliebten auf die Schliche, und ein Erfolg versprechender Wertpapier-Deal, mit dem er seine finanziellen Probleme zu beenden hofft, scheitert kläglich. Ein Reverend macht den Unfall mit Hilfe des Journalisten Fallow zu einer Sensation, eine Hexenjagd auf McCoy beginnt. Der Polizei ist es nämlich gelungen, ihn als Besitzer des Mercedes-Sportwagens und mutmaßlichen Fahrer zu identifizieren, und Staatsanwalt Kramer erhofft sich von dem spektakulären Prozess einen Karriereschub. Am Ende aber gibt es fast nur Verlierer!

Dieser spannende Roman ist in einem journalistisch knappen, nüchternen Stil geschrieben, wobei die vielen protokollartig anmutenden Dialoge und die Passagen mit erlebter Rede durch ihren satirischen Ton gekennzeichnet sind. Sehr gelungen sind auch die verschiedenen Jargons, in denen da geredet wird, der Slang von Polizei und Justiz wird geradezu parodiert, und auch das Fachchinesisch der Börsenmakler und die Idiome der schwarzen Ghettobewohner sind stimmig. Eine bereichernde Lektüre mithin, bei der es einem über mehr als neunhundert Seiten hinweg nie langweilig wird!

Fazit:   erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Der heilige Skarabäus

Unterhaltsam, aber geschwätzig

Im Jahre 1909 erschienen erstmals der Roman «Der heilige Skarabäus» der in Wien geborenen Else Jerusalem. Er löste bei seinem Erscheinen einen Skandal aus, war er doch mit seiner Prostituierten-Thematik nicht nur moralisch bedenklich für das damalige Lesepublikum, sondern mit seiner unverblümten Gesellschaftskritik auch ein Ärgernis für die ‹bessere Gesellschaft› Österreichs. Gleichwohl (oder gerade deshalb?) musste dieser als ihr Hauptwerk angesehene Milieu-Roman innerhalb von nur zwei Jahren 22 Mal neu aufgelegt werden, er wurde 1928 verfilmt, 1933 dann in Deutschland als unerwünschtes Schrifttum verboten und fiel anschließend den Bücher-Verbrennungen der Nazis zum Opfer. Der in der ägyptischen Mythologie als Glücksbringer geltende Skarabäus ist ein Mistkäfer, mit dem Buchtitel wird also symbolisch darauf hingewiesen, auf welchem Unrat das angestrebte Glück der Huren aufbaut. Die werden hier erstmals nicht mehr als Außenseiter der Gesellschaft dargestellt wie in dem drei Jahre vorher anonym erschienenen, pornografischen Roman «Josefine Mutzenbacher», sondern sie sind für die als Feministin geltende Autorin ein inhärenter Bestandteil der Gesellschaft.

Damit ist der Roman eine wegweisende und hellsichtige Sozialstudie der besonderen Art, der die bedauernswerten Frauen in den Fokus nimmt, die sich aus verschiedenen Gründen prostituieren. Sie also stehen im Vordergrund, werden als käufliche Ware wie Sklavinnen behandelt und suchen ihr Glück meist vergebens. Am Aufstieg und Fall eines Bordells werden hier die ökonomischen Vorbedingungen der käuflichen Liebe exemplarisch verdeutlicht. Auf Korruption der staatlichen Behörden aufbauend wird die Not und Unwissenheit junger Mädchen gewissenlos ausgenutzt für ein äußerst einträgliches Gewerbe, das für alle anderen Beteiligten viel Geld abwirft. Die Mädchen aber kommen meist vom Land und erhoffen sich naiv, viel Geld zu verdienen oder einen reichen Freier zu finden, der sie als Mätresse nimmt, oder besser ehelicht, und aus ihrer Misere erlöst. Aber das gelingt eben nur selten! Erzählt wird von dem einträglichen Mädchenhandel, der über die Landesgrenzen hinaus für «Frischfleisch» sorgt. Das landet dann bei Eignung, also körperlicher Attraktivität und entsprechendem geistigen Niveau, in den noblen Bordellen der Großstadt. In einem Edelbordell wie dem «Rothaus» in Wien müssen die Liebesdienerinnen aber auch regelmäßig ausgetauscht werden, damit die wohlhabenden, geradezu handverlesenen Freier mit stets neuen Attraktionen versorgt werden und nicht gelangweilt zur Konkurrenz abwandern.

Das sprichwörtlich älteste Gewerbe der Welt wird in diesem Gesellschaftsroman aus der Zeit der k.u.k. Monarchie einer hochnotpeinlichen Analyse unterzogen, die dazu beiträgt, die sozialen Missstände offenzulegen und der Gesellschaft die Leviten zu lesen. Angeklagt werden die schikanösen Reglementierungen und das hilflose Ausgeliefertsein der Mädchen an die willkürlich agierende Polizei. Im Mittelpunkt des Geschehens steht Milada, die als ungewünschtes Kind einer Prostituierten aufwächst und nichts anderes kennt als dieses Milieu. Ihr gelingt es aber, sich durch Bildung aus diesem Umfeld zu lösen. Als Erwachsene zieht sie in die Berge, gründet ein Kinderheim und wird zur Ersatzmutter für viele Kinder aus dem Milieu. Damit gleitet dieser Roman am Ende in eine Utopie hinein, die dem Wunschdenken der engagierten Frauenrechtlerin Else Jerusalem entspricht.

Die Figuren des Romans sind allesamt anschaulich beschrieben und als fiktionale Personen durchaus glaubwürdig. Erzählt wird das turbulente Geschehen in einer dem Milieu stimmig angepassten Diktion, die mit mundartlichen Begriffen angereichert ist, was manchen deutschen Leser doch etwas irritieren dürfte. Die erzählerischen Ausflüge in philosophische Themen sind wenig überzeugend, sie sind eher Geschwafel denn Lebensweisheit. Hauptmanko aber dürfte die schiere Länge dieses unterhaltsamen Romans sein, weniger wäre hier mehr gewesen!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by DVB Verlag

101 Jahre Der Zauberberg

Ausgabe 2024 (vergriffen)

Der Zauberberg. Letztes Jahr, 2024, jährte sich Manns Jahrhunderroman zum 100. Mal und es erschien eine Geschenkausgabe in Leinen zum 100. Geburtstag. Dieses Jahr, 2025, wäre Thomas Mann am 6. Juni 150 Jahre alt geworden. Ein Grund mehr sein Werk zu lesen und den “Zigeuner im grünen Wagen” hochleben zu lassen.

Die Vorwegnahme der europäischen Katastrophe

Zigeuner im grünen Wagen” – so nannte ihn sein Vater, der sah, dass sein Sohn vom Schreiben einfach nicht lassen konnte. Noch dazu hatte er gerade ein miserables Schulzeugnis abgeliefert und mir nichts dir nichts Puppentheater gespielt. Aber im Zauberberg ist der bereits 50-jährige Schriftsteller bereits zur Höchstform aufgelaufen und schrieb einen Roman, der für eine ganze Epoche kennzeichnend werden sollte. “Ganz Europa stürzte mir in den Kopf”, soll Susan Sontag über das für sie wichtigste Buch der Epoche einmal geschrieben haben. Für die US-Kritikerin und Schriftstellerin war der Zauberberg gar das wichtigste Buch ihres Lebens. Ganz Europa ist im Roman “große Konfusion”, Ideologien, Überzeugungen und Positionen, die in einem Davoser Sanatorium unversöhnlich aufeinanderprallen werden zum spannenden Dialog und spalten die Zuhörer:innen in Kontrahenten und Zujubelt. Alles ist irgendwie komisch und tragisch zugleich, bis man sich irgendwann nur noch Schlagworte an den Kopf wirft. Wem das – 100 Jahre später – alles sehr bekannt vorkommt, der weiß, dass das Europa von 1924, als der Roman erstmals erschien, sich gar nicht so sehr vom Europa des 2024 unterscheidet. Zumindest was die politische Lage betrifft. Die Katastrophe auf die Europa damals zusteuerte, die Gereiztheit und Gewalt und das Geschwafel der Alphamänner, das unterscheidet sich vielleicht weniger als man hören möchte. Dabei sollte man vielmehr zuhören und weniger reden. Oder noch besser: den Zauberberg lesen.

Ein Jahrhundertroman als Warnung

Ausgabe 2025

Zum 100-jährigen Buchjubiläum gibt es nun diese limitierte Sonderausgabe – dem Anlass angemessen – im schneeweißen, glitzernden Leinen mit eisblauem Farbschnitt, tiefgeprägter Typographie, hochwertigem Vorsatzpapier und Lesebändchen. Der als Novelle geplante Jahrhundertroman mit mehr als 1000 Seiten gilt als einer der großen Romane der klassischen Moderne und ein eindringliches Porträt der europäischen Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg. Der Einbruch der Katastrophe in eine sicher geglaubte Welt und die Nationalismen, die einen allzu plötzlich in einen Weltkrieg schlittern ließen, als hätte man mal kurz nicht aufgepasst, gehörten zur Tragödie des 20. Jahrhunderts, die nur noch durch den Nationalsozialismus in seiner Grausamkeit übertroffen wurde. Settembrini, Castorp und Naphta sind die männlichen Protagonisten, die gewissermaßen um die Ehre rittern, ein von Krankheit, Tod und Verwüstung bedrohtes Europa allein durch ihre geistigen Dispute zu erretten. Eine gewisse Clawdia Chauchat (man beachte die “claw” und die “chau(d) chat” im Namen) wird zur erotischen Herausforderung für den bisexuellen Castorp, der sich im Sanatorium in sie verliebt und statt den geplanten drei Wochen gleich sieben Jahre am Zauberberg bleibt. Einen Blick und Appetitanrager auf den Roman findet man noch bis 2025 hier!

Thomas Mann
Der Zauberberg
Roman. Geschenkausgabe in Leinen
2024, Hardcover, Sonderausgabe 100 Jahre Zauberberg, 1120 Seiten, 1448 g
ISBN: 978-3-10-397675-5
S.Fischer Verlag
€ 58.-


Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Heute kein Abschied

“Und jetzt ist er nirgendwo mehr. Jetzt ist er überall.” Der niederländische Autor, Journalist und Historiker legt mit “Heute kein Abschied” einen persönlichen Roman vor, der alle angeht. Denn jeder muss eines Tages von seinen Eltern Abschied nehmen: “Das gehört zum Älterwerden”.

Booze, Beans, Blow and Bad Decisions

Im Falle der der Geschwister Tessel, Moor und Cat ist es der Vater. Ihre Eltern, Elise und Oskar, haben sich vor langer Zeit getrennt. Die langen (beruflichen) Abwesenheiten Oskars in Hollywood, die Sprachlosigkeit und Stille wurden ihr langsam zu viel und so suchte sie Trost in den Armen eines langzeitigen Freundes, Cas. Aber für Oskar brach wohl eine Welt zusammen, denn er hätte sich nie vorstellen, können, dass eine Familie sich so einfach auflösen kann. Immerhin bekam er die Katze, das einzige, was Elise nicht bekam. “Alles würde er geben für eine Brücke, einen Blick, ein Winken, eine Einladung. Warum macht keiner von ihnen den ersten Schritt? Die Jüngste, Cat, wohnte zwar noch eine Weile bei ihm, aber er unterstützte sie dabei, sich bei der NYU zu bewerben. Dort lebt sie als die traurige Nachricht sie erreicht. Aber etwas ist seltsam: Warum hat ihr Vater gerade ihr, der Jüngsten, die Testamentsvollmacht erteilt? Gibt es etwa ein Familiengeheimnis, von dem alle nichts wissen? Und was meinte der Hollywood-Freund ihres Vaters, Gene Grift, mit den 4Bs eigentlich? “Er wollte wirklich wieder nach Amerika. Er hatte das Recht, hinzufliegen, darum ging es, um das Recht zu fliehen, nicht vor ihnen, sondern vor sich selbst.” Ihr Name war: Lucy.

Der Knick in der Kurve

“Die Sixties, der Zeit in der die Luft sauber und der Sex schmutzig war.” War es dieses Jahrzehnt, das die Ehe von Elise und Oskar zerstörte? Die Umwertung aller Werte? Mit einfühlsamen Worten und detailreichen Schilderungen taucht man ein in die Welt der Familie der Van Bohemens und ihres Oberhauptes, des Fotografen Oskar van Bohemen. “Fotografie war für ihn mehr als Journalismus und möglicherweise sogar mehr als Kunst. Sie war eine Methode, die absolute Wahrheit zu zeigen, womit sie sagen wollten: das, was nicht mehr geleugnet werden konnte”. In Rückblenden erfährt man vom Doppelleben der beiden Elternteile, Elise und Oskar, auch von der strengen Kindheit Oskars, dessen Vater ihn den “Knick in der Kurve” nannte und dafür oft bestrafte. In den Sechzigern wurde es dann besser, Oskar hoffte sogar, dass sein leben so bleiben würde wie es war: “Doch das sollte sich als Illusion erweisen, so wie jede Hoffnung, die auf Stillstand beruht”. Auch von den drei Geschwistern erfährt man viele persönliche Dinge und lernt die drei kennen, als ob sie eigene Bekannte wären.

Ein Leben wie im Film in Fotos

Auch eine literaturwissenschaftliche Ebene ergibt sich: der allmächtige Erzähler wird in Cats Studium zum zentralen Angelpunkt. “Nichts macht so einsam wie eine Begegnung”, “Nie Kinder bekommen, bedeutet niemals zu altern”, sind Stehsätze mit Hilfe derer sie ihr Privatleben ad acta legt. “Es ist nicht das Schneiden, das so schmerzt, sondern das Abgeschnittensein”, zitiert Tessel die Dichterin Vasalis. “Die Eltern sterben und man landet in einer elternlosen Welt. Diese Welt scheint identisch zu sein mit der, die man kennt.(…) Das Theaterstück ist dasselbe, aber die Rollenverteilung anders.(…) Man dürfe froh sein, dass das Stück noch eine Weile weitergeht.” Ein Roman wie ein Familienalbum, voller nützlicher Einsichten und vieler zärtlicher Momente. Wie wenig man über Menschen weiß, die man kennt, begreift man oft erst nach ihrem Ableben. “Nicht alles, was endet, ist ein Misserfolg. Nicht alles, was verloren ist, war ein Paradies.” Die drei Geschwister streifen durch ihr Elternhaus, um den Hausrat aufzuteilen und da entdecken sie auch die Kiste, die zu dem kleinen Schlüssel aus Cats Brief passt. Manche sagen das Leben sei ein Film, aber vielleicht hatte doch Oskar recht: “Das Leben besteht aus Fotos“.

Daan Heerma van Voss
Heute kein Abschied
Roman
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens
2025/2023, Hardcover, Leinen, 496 Seiten
ISBN: 978-3-257-07325-6
Diogenes Verlag
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80


Genre: Familiengeschichte, Roman
Illustrated by Diogenes

Salz und sein Preis

Glanzstück der Suspense-Literatur

Mit «Salz und sein Preis» hat die US-amerikanische Schriftstellerin Patricia Highsmith unter Pseudonym 1952 einen lesbischen Liebesroman veröffentlicht, der durch eine persönliche Begegnung inspiriert worden ist, die sie als Verkäuferin in der Spielwarenabteilung eines New Yorker Kaufhauses hatte. Erst achtunddreißig Jahre später hat sie persönlich sich zu dem Roman bekannt und ihn in einer überarbeiteten Version und mit einem ausführlichen Nachwort versehen nun unter dem Titel «Carol» herausgebracht. Im prüden Amerika der McCarthy-Ära befürchtete sie mit Recht einen Entrüstungssturm in der Bevölkerung. Nach ihrem erfolgreichen, von Hitchcock verfilmten Romandebüt «Zwei Fremde im Zug» hatte ihre Kariere gerade erst begonnen, da hätte ein heftig umstrittener zweiter Roman ihr erheblich schaden können.

Erzählt wird die Geschichte der neunzehnjährigen Therese, einer angehenden Bühnenbildnerin, die in ihrem vorübergehenden Job als Aushilfs-Verkäuferin in der hektischen Vorweihnachtszeit eine attraktive Kundin im Nerzmantel bedient, deren Blick sie trifft wie ein Schlag. Sie kauft bei Therese einen Puppenkoffer, den sie sich an ihre Adresse schicken lässt. Spontan sendet Therese ihr einen Tag später an diese Adresse eine Firmen-Weihnachtskarte und gibt als Absender nur ihre Personalnummer an. Die Frau ruft sie zwei Tage später in der Abteilung an und schlägt ihr vor, sie in der Pause zum Lunch zu treffen. Sie kommen ins Gespräch und verstehen sich schon auf Anhieb. Da beide Weihnachten allein sein würden, lädt Carol Therese zu sich nach Hause ein. Es stellt sich heraus, dass Carol dreizehn Jahre älter ist als Therese, in Scheidung lebt und eine fünfjährige Tochter hat. Therese wohnt allein in einem kleinen Zimmer, ihr Vater ist tot, die Mutter, eine Konzertpianistin, hat wieder geheiratet, beide haben sich aber schon lange nicht mehr gesehen. Therese ist seit einiger Zeit mit dem gutmütigen Richard befreundet, der Maler werden will. Sie hatte mit ihm auch den ersten Sex, nachdem die zwei vorhergehenden Verehrer sie abrupt verlassen hatten, als sie nicht mit ihnen ins Bett wollte. Auch mit Richard ist sie nicht mehr intim, sie empfindet einfach nichts dabei, obwohl er sie unbedingt heiraten will und ihr versichert, das Problem zwischen ihnen würde sich mit der Zeit schon von allein erledigen. Carol und Therese verstehen sich bestens und werden gute Freundinnen.

Nach den Feiertagen beginnt Therese ihren ersten Job als Assistentin des Bühnenbildners an einem New Yorker Theater. Sie lernt auch Abby kennen, Carols beste Freundin, die mit ihr zusammen mal ein Möbelgeschäft betrieben hat. Die Beiden hatten damals auch ein kurzes Liebesverhältnis, und Abby ist nun scheinbar eifersüchtig, sie will alles von Therese wissen. Schließlich schlägt Carol Therese vor, mit ihr zusammen im Auto eine längere Reise in den Westen zu machen, sie will einfach mal Abstand von den Querelen um ihre Scheidung gewinnen. Nach zwei Wochen, in denen sie sich weiterhin sehr formell Siezen, gestehen sie sich endlich ihre Liebe und werden ein lesbisches Paar. Schließlich bemerken sie, dass sie verfolgt werden, und es stellt sich heraus, dass tatsächlich ein von Carols Mann beauftragter Privatdetektiv sie die ganze Zeit schon observiert. Es geht um das Sorgerecht für die kleine Tochter, das der Mann für sich allein beansprucht, indem er die unmoralische Lebensweise seiner Frau nachweist, die man dem Kind nicht zumute könne. Ohne Zögern fliegt Carol sofort nach New York zurück. Therese aber stellt entsetzt fest, dass Carol sich zwischen ihr und der Tochter wird entscheiden müssen und macht sich keine Illusionen, wie diese Entscheidung ausgehen wird.

Ein ungewöhnlicher Roman, der den Leser mit seiner psychologischen Tiefe in Bann zieht und durch seinen geschickt aufgebauten Spannungsbogen die einsame Klasse der Autorin als Suspense-Spezialistin unter Beweis stellt, immer nach dem Motto: Und erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.

 Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Eva schläft

Eva schläft. “Vielleicht ist es eines Tages gar nicht mehr so schlimm, ein Kind zu haben und unverheiratet zu sein”, hofft Gerda. Der Romanerstling “Eva schläft” der in Rom geborenen Autorin Francesca Melandri beschäftigt sich mit den sog. “Südtiroler Bummsern”, also den Separatisten, die in den Siebzigern Südtirol aus Italien zurück in ihr “Heimatland” Österreich bomben wollten. Aber auch eine Vater-Tochter Geschichte wird erzählt, die einmal mehr die Spannung zwischen dem Norden und dem Süden des Landes verdeutlicht. 1397 km trennen Vito und Eva.

Südtirols Befreiungskampf

Eva ist die Tochter von Gerda Huber und Vito. Nur, dass Eva ihren Vater gar nicht kennt. Sie macht sich auf die Suche nach ihm, reist nach Kalabrien und dazwischen wird in Rückblenden die Geschichte ihrer Mutter und der Provinz Alto Adige erzählt, die vor allem durch das weise Handeln von Silvius Magnago nach etlichen Konflikten zu einer gewissen Autonomie der Region führte. Die “Option” war eine zwischen Mussolini und Hitler ausgearbeitete Lösung, die die Südtiroler “heim ins Reich” holen sollte und Südtirol italianisieren sollte. Aus diesem Grund wurden auch aus dem Süden Italiens Menschen in den Norden umgesiedelt. Aber die, die blieben, ignorierte man, “man tat einfach so, als gäbe es sie überhaupt nicht”, Italienisch wurde zur Pflicht.

Die Suche nach einem (Landes-)Vater

Aus der “Los von Trient” Bewegung der Nachkriegszeit wurde bald eine “Los von Rom!” Bewegung, aber das gelang dann doch nicht ganz. Als Südtiroler war man ein Mensch zweiter Klasse im eigenen Land, die Behörden sprachen kein Deutsch, und als Südtirolerin wurde man zudem noch als “Matratze” diffamiert, besonders wenn man im Hotelgewerbe arbeitete. Die Männer schufteten in den Kalkwerken der Dolomiten und ruinierten sich ihre Gesundheit. Diejenigen die sich dagegen wehrten, wurden gefoltert, das kannte auch Silvius Magnago. “Dieser Mann war nicht nur ein erstklassiger Jurist, sondern ein echter Intellektueller“, schreibt Melandri. “Und vor allem war er jemand, dem, so erschöpft und zerstreut er sein mochte, nie ein Gemeinplatz über die Lippen kam“.

Duft von Stube und Heuboden

Si accusi bella ca si faciss’ nu pireto m’o zucass“, heißt ein sizilianisches Sprichwort, das Francesca Melandri dem Leser:in gerne ein paar Zeilen weiter übersetzt. Allein dafür lohnt es sich schon, diesen Romanerstling der Romanautorin zu lesen, die zuletzt mit einem sehr engagierten Essay, “Kalte Füße“, ebenfalls bei Wagenbach erschienen, auf sich aufmerksam machte. Sie erzählt vom Verbot der Mischehen, das bis 1971 bestand, den Grundfähigkeiten eines leidenschaftlichen Briefmarkensammlers und vom Duft von Stube und Heuboden, der aus einer handgeschnitzten Holzkiste strömt. Jedem Abschied wohnt ein Zauber inne, aber noch mehr dem Wiedersehen.

Eine Umarmung der Vergebung

Über 1397 km hinweg zelebriert sie das Wiedersehen zwischen Tochter und Vater, zwischen Eva und Vito, das durch ihr Mutter 30 Jahre lang hinausgezögert wurde. “Es ist ihre Schuld. Es ist alles ihre Schuld. Alles, aber wirklich alles ist ihre Schuld“. Aber wieviel Gnade und Wonne liegt im Vergeben und verzeihen: “Und jetzt umarme ich meine Mutter, denn nichts und niemand kann uns für das entschädigen, was wir verloren haben. (…) sich wieder umarmen zu können und nicht mehr länger und sei es nur für einen Augenblick, das große Glück zu vergessen, zu leben und zusammen sein zu dürfen.

Eine Roman zwischen Nord und Süd, zwischen Südtirol und Kalabrien. Die Streitbeilegungserklärung vom Juni 1992 zwischen Österreich und Italien und dem Schengener Abkommen von 1998, nach dem alle Schlagbäume am Brenner entfernt wurden, waren Ergebnisse eines langen Kampfes, den Melandri in bunten, duftenden Eindrücken voller poetischer Wendungen und sinnlichen Einwerfungen wie ihr eigenes Schicksal schildert. Wollen wir dieses vereinte Europa wirklich verlieren?

Francesca Melandri
Eva schläft. Roman
Aus dem Italienischen von Bruno Genzler
2025/2010, 440 Seiten, broschiert
ISBN 978-3-8031-2805-8
Wagenbach Verlag
16,– €


Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Gilead

Für Atheisten schwer erträglich

Als erster einer von Marilynne Robinson als Buchreihe geplanten Folge von Romanen erschien im Jahre 2004 «Gilead», ein auf das gleichnamige, biblische Land östlich des Jordans hinweisender Titel. Die deutsche Ausgabe in der aktuell vorliegenden, teilweise bemängelten Übersetzung wurde erst 2016 herausgegeben. Dieser in den USA ziemlich erfolgreiche Roman wurde mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet und vom damaligen Präsidentschafts-Kandidaten Barak Obama überschwänglich gelobt. Allerdings schreibt die in Deutschland kaum bekannte US-amerikanische Schriftstellerin keine leichtverdaulichen Romane. In «Gilead» widmet sie sich vielmehr schwierigen Menschheits-Themen wie Geburt, Krankheit und Tod in einer von tiefer Religiosität geprägte Erzählung, die in weiten Teilen als Briefroman angelegt ist, aber auch als Tagebuch und Memoir.

Im Jahre 1956 schreibt der in Gilead, einer fiktiven, abgeschiedenen kleinen Stadt in Iowa, auf dem Sterbebett liegende, weiße Pastor John Ames einen langen Brief an seinen siebenjährigen Sohn, dem er darin alles erklären will, was das Leben betrifft. Eine fiktionale Autobiografie mithin, in der Hochwürden episodisch seine zu verschiedenen Anlässen entstandenen Aufzeichnungen aneinander reiht. Er will von seinen Einsichten und Lebenserfahrungen als 76Jähriger möglichst vieles an den Sohn weitergeben, bevor er wegen seiner Herzerkrankung dazu bald schon nicht mehr in der Lage sein wird. Seine Familie lebt bereits seit Generationen in Gilead, sowohl sein Vater als auch sein Großvater waren schon kongregationalistische Pastoren dieser Gemeinde, eine seit jeher weitverbreitete Tradition im weiten Verbund ihrer Familie. Der  Vater von John Ames war überzeugter Pazifist, der Großvater ein radikaler Gegner der Sklaverei in den USA, der gemeinsam mit Gleichgesinnten im amerikanischen Bürgerkrieg Guerilla-Aktionen durchgeführt hat und als Kaplan bei den Truppen der Union mitwirkte.

Beginnend mit der Suche nach dem Grab des Großvaters, der in den Kriegswirren den Tod gefunden hat, schildert der betagte Briefschreiber in einer weiteren Episode seine Kommunion, die er in einer vom Blitz getroffenen Kirche von seinem Vater empfing. Er schildert aber auch die Geschichte, wie er mit Lila, seiner wesentlich jüngeren, zweiten Frau, die aus einem bildungsfernen Milieu stammt, an einem Pfingstsonntag, in seiner Kirche zum ersten Mal zusammentraf. Die ungleichen Zwei fühlten sich magisch zueinander hingezogen, er tauft sie sogar, bis sie ihm schließlich, ganz unkonventionell, einem Heiratsantrag macht und dem 69Jährigen schon bald einen Sohn schenkt, – den kleinen John, den Ich-Erzähler dieses Romans. Auch der Apartheid ist eine Episode des Romans gewidmet, als sein Patensohn Jack, den er par partout nicht mag, schwer leidet unter der erzwungenen Trennung von seiner afroamerikanischen Frau. Er darf sie aufgrund der Jim-Crow-Gesetze zur Rassentrennung nicht heiraten, und auch seine Familie lehnt sie ab. Dieser erlittene Verlust verbindet Jack ganz besonders mit Lila, der ein solcher Verlust mit dem drohenden Tod ihres Mannes ja bald schon bevorsteht.

Der Roman ist geprägt durch die vielen theologischen Sinnkrisen, die den Ich-Erzähler plagen. Zu denen gehören insbesondere die unbegreiflichen Taten seines Großvaters im Bürgerkrieg, die schwere Zeit nach dem Tod seiner ersten Frau, das Entsetzen über seinen definitiv vom Glauben abgefallenen Bruder und schließlich auch über den eigenen Vater, der scheinbar ebenfalls den Glauben verloren hat und seine Gemeinde verließ. All das wird von Zitaten aus der Bibel begleitet und theologisch kommentiert. Mit reichlich Pathos werden diese Begebenheiten von dem sympathisch anmutenden Protagonisten ziemlich gelassen vorgetragen, mit der offensichtlichen Botschaft zudem, darüber bloß nicht die kleinen Freuden des Lebens zu vergessen. Moralisch aufbauend zweifellos, ist «Gilead» als Lektüre allerdings weder bereichernd noch unterhaltend, – und für Atheisten einfach nur schwer erträglich!

Fazit:   miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Rote Sonne

In den Feuilletons völlig unbeachtet

Der neue Roman der schwedischen Schriftstellerin Johanne Lykke Holm mit dem Titel «Rote Sonne» ist eine Dystopie, die sich auf eine beklemmende Weise mit den Themen Kindsein, Erziehung und Verantwortung beschäftigt. Erzählt wird eine handlungsarme, mystische Geschichte, bei der drei elternlose, unbehauste Jungen im Blickpunk stehen, in deren Schicksal ein kinderloses Paar ungewollt hineingezogen wird. Zeit und Ort der Handlung bleiben im Dunkeln, werden bewusst verschleiert, und auch die Figuren des Romans bleiben rätselhaft, ihr Tun wird äußerlich in allen Details beschrieben, ihr Innerstes aber bleibt unerschlossen.

Kallas und India, ein junges unverheiratetes Paar, leben in einer kleinen Wohnung im siebten Stock eines Hochhauses in einer nicht benannten Stadt am Fluss. Sie sind ein überaus glückliches Paar, ihre Liebe ist grenzenlos. Desma, eine alte Freundin von Kallas, die er seit der Jugendzeit kennt, lädt ihn bei einem ihrer gelegentlichen Telefonate ein, sie und ihren Freund Lafayette für einige Zeit in ihrem großen Haus am Meer besuchen zu kommen. Spontan sagt er zu, er und India machen sich schon am folgenden Tag mit der Eisenbahn auf den Weg. Im Zug fallen ihnen drei kleine Jungens auf, die auf dem Gang herumtoben. Am Meer verbringen die beiden Paare dann einige schöne Tage miteinander und führen allabendlich lange Gespräche in weinseliger Runde. Dabei kommt heraus, dass Desma schon sehr früh schwanger geworden ist und man sie damals überrumpelt hat, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Lafayette gesteht, dass er als Jugendlicher einen anderen, der ihn öfter bedroht hatte, mit dem Messer erstochen hat, wofür er vier Jahre im Jugendgefängnis absitzen musste. Bei einem gemeinsamen Badeausflug fällt ein Mann in Strandnähe von seinem Boot und wäre beinahe ertrunken, wird aber durch den Bademeister gerettet. Vorsorglich fahren Kallas und Lafayette mit ihm ins Krankenhaus. Unter den neugierigen Zuschauern sind auch die drei Jungs vom Zug, die später plötzlich am Gartentor von Desma auftauchen und sich besorgt nach dem Mann erkundigen.

Es stellt sich heraus, dass die Drei im Alter von fünf, sieben und elf Jahren allein unterwegs sind, ohne Eltern. Desma lädt sie ins Haus ein, gibt ihnen zu essen und verfrachtet sie für die Nacht in ein Gästezimmer. Als nachts in der Nähe eine Fabrik in Brand gerät und das Feuer wegen der Trockenheit rasend schnell um sich greift, beschließen Kallas und India, vorsichtshalber die Kinder sofort mit dem Auto von Desma in ihre Wohnung in der Stadt zu bringen. Es vergehen einige Tage, bis das Paar dort endlich die Behörden über die Kinder informiert. Man sagt ihnen schließlich, sie sollten die Kinder vorerst bei sich behalten, bis nach Ende der Feuersbrunst eine Entscheidung über das weitere Vorgehen getroffen wird, – es vergeht fast ein Jahr darüber!

Über dem scheinbar normalen, nicht immer plausiblen Geschehen in diesem Roman liegt permanent ein mystischer Schleier der Ungewissheit. Die Autorin schildert Nebensächliches wie Spaziergänge oder Einkäufe mit auffallender Detail-Versessenheit. Sie erläutert immer wieder die besonderen Lichtverhältnisse, Wind und Wetter, Gerüche, Farben, Geräusche und Oberflächen von allen möglichen Dingen. Dabei überlässt sie das Wesentliche, die innere Verfasstheit ihrer Figuren, weitgehend der Phantasie des Lesers. Die zufälligen Pflegeeltern, erfährt man fast nebenbei erst ganz am Ende, waren sich beide schon immer einig, keine Kinder zu wollen. Sie lassen die unerwartete Situation mit der Verantwortung für die drei Jungs ungerührt über sich ergehen und leben wie in Trance weiter in dieser für sie völlig ungewohnten familiären Konstellation. Kinder zu lieben und zu versorgen ist plötzlich scheinbar das Normalste von der Welt für sie. Das planvolle Unterlaufen von Erwartungen des Lesers ist ein typisches stilistisches Merkmal dieses idealistischen Romans. Er ist in den Feuilletons erstaunlicher Weise völlig unbeachtet geblieben, wo sonst ja nahezu jeder Schundroman beflissentlich rezensiert wird.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by AKI-Verlag Zürich