Magerer Plot und stilistisches Können
Mit dem Roman «Cabo de Gata», der eher als eine zielgerichtete Novelle anzusehen ist, hat Eugen Ruge ein autobiografisches Buch geschrieben, in dessen Widmung geschrieben steht: «Diese Geschichte habe ich erfunden, um zu erzählen, wie es war». Und so beginnen denn auch beinahe alle Sätze der Novelle mit den Worte «Ich erinnere mich». Ein angehender Schriftsteller (sic) mit Schreib-Blockade berichtet darin von seinem Selbstfindungstrip. Der namenlos bleibende Ich-Erzähler, der nach der Scheidung von seiner Frau in einer tiefen Sinnkrise steckt, schildert darin eine spontane Reise in den Süden, die ein Ausbruch aus seinem bisherigen Leben darstellt. Er will in der Einsamkeit eines fremden Ortes völlig ungestört einen Roman schreiben.
In dem Wahn, sich von allen Fesseln zu befreien, geht der Vierzigjährige so weit, seine bescheidene Wohnung zu kündigen, alle Möbel zu verkaufen oder zu verschenken, alle Zahlungen zu stoppen und dann sein schmales Konto vollends leer zu räumen. Er reist mit kleinem Gepäck, alles hinter sich lassend, mit einigen kurzen Zwischenstopps und ohne konkretes Ziel Richtung Mittelmeer. Erst unterwegs wird er mit Hilfe eines Reiseführers auf den Naturpark im Süden Spaniens aufmerksam und landet kurz entschlossen, nach beschwerlicher Anreise mit einem klapperigen Bus, von Almeria kommend, im titelgebenden Naturpark «Cabo de Gata». Dort sucht er in einem kleinen Fischerdorf ein bescheidenes Quartier, was sich als ziemlich schwierig erweist, weil diese Gegend touristisch noch völlig unerschlossen ist. Das merkt er daran, dass der kleine Ort und auch sein Strand total vermüllt sind, was allerdings dort niemanden zu stören scheint. Schließlich kommt er als einsamer Gast in der Pension einer alten Witwe unter, deren Mann Fischer war. Die Tochter, deren gewaltiges Hinterteil immer wieder seinen Blick anzieht, ist ebenfalls mit einem Fischer verheiratet und arbeitet bei der Mutter als Bedienung. Die Wirtin, aber auch die anderen Dorfbewohner, sind äußerst wortkarg, sogar die Tochter spricht kein Wort mit ihm und knallt ihm mittags nur wortlos sein Essen auf den Tisch.
Die Landschaft ist öde, es weht ein kalter Wind, die Bewohner sind ausgesprochen unfreundlich, gleichwohl beschließt der Ich-Erzähler, dort zu bleiben. Er kämpft mit seinen Notizen, die er vormittags aufschreibt und meist am Nachmittag schon wieder verwirft, sein Romanprojekt kommt nicht von der Stelle. Dabei geht es ihm wie den drei Fischern, Söhne seiner Wirtin, die er oft beobachtet bei seinen Spaziergängen am Strand. Die rufen ihm dann immer zu: «Mucho trabajo, poco pescado», – viel Arbeit, wenig Fisch! Zu den auffallend wenigen Figuren der Erzählung gehören auch zwei Kurzzeit-Touristen, ein Engländer und ein Amerikaner. Außerdem einige Sonderlinge aus dem Ort, die er beobachtet: Zwei Männer in Schlafanzügen, die jeden Morgen vor ihre Haustür treten, eine Frau mit Gipsbein, die dann irgendwann keines mehr hat, sowie ein wortkarger Barmann. Zuletzt freundet er sich dann mit einer rot getigerten, scheuen Katze an, die er langsam an sich gewöhnt, indem er sie füttert. Er sieht in ihr die Inkarnation seiner Mutter, die ihm mit ihrer Anwesenheit etwas sagen will, davon ist er überzeugt. Dass er vergebens hier sei, der Erfolg mit seinem Buch würde sich nämlich von selbst einstellen, «sobald die Welt aufgehört hat, mich durch Wandel zu stören». Er bleibt 123 Tage in Gabo de Gata, bis er schließlich einen im flachen Wasser sterbenden Rochen beobachtet und spontan abreist.
Mit dem Vorhaben, für sein Buch aus nichts als aus Erinnerungen zu schöpfen, nutzt Eugen Ruge bewusst die Schwächen des Gedächtnisses und gibt absonderlichen Assoziationen und irrealen Zusammenhängen einen breiten Raum. Damit bezweckt er, zu einer anderen, zu einer ‹poetischen› Wahrheit zu gelangen. Das mag über den langweiligen, äußerst mageren Plot hinweg täuschen, was hier allein durch stilistisches Können ein wenig kompensiert wird. Ob das denn reicht, muss letztendlich jeder Leser für sich allein beantworten!
Fazit: mäßig
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Parodie auf den Literaturbetrieb


Ein gar nicht stiller Roman
Ein Wink an den Leser
Sterben als Therapie
1984 erhängt sich die Mutter der Fotografin Bettina Flitner. 33 Jahre späte wiederholt sich dasselbe Schicksal bei ihrer Schwester Susanne und dessen Ehemann Thomas. Mit ihrem 2023 erschienen Roman “Meine Schwester” legte die Autorin schonungslos die eigenen Wunden offen. Nun legt sie mit “Meine Mutter” noch einmal nach.
Noch persönlicher als das Nachfolgewerk “Meine Mutter” ist allerdings der Vorgänger aus dem Jahre 2023, “Meine Schwester”. Die Autorin beschreibt darin sachlich und zugleich erschütternd ihre Beziehung zu ihrer Schwester, die ebenfalls Suizid beging. Susanne, ihre ältere Schwester, war eine Art “trauriger Clown”. Sie konnte meisterhaft andere nachahmen und sich über alles und jeden lustig machen. Auch ihr Vater hatte ein komödiantisches Talent und als er bei der Ford Foundation in New York einen Job bekommt, geht die ganze Familie mit. “Wir vier”, denkt sich Bettina oft, aber bald schon muss sie feststellen, dass sie einer Fiktion unterliegt. Denn der Vater geht fremd und bald auch die Mutter. In den Siebziger Jahren als die beiden Schwestern aufwuchsen war dies eine Normalität. Bettina sucht in ihrem Text nach den Vorzeichen für den bevorstehenden Selbstmord, den ersten Anzeichen, wann es begann und natürlich steht die Frage im Raum, ob es nicht vielleicht doch genetisch sein könnte? Oder waren die Depressionen der Mutter eine gewollte Flucht? Wieder zurück in Deutschland besuchen sie Waldorfschule, ihre Schwester dann auch die Montessori-Schule. Als die Eltern sich sogar vor den Kindern streiten, beginnen auch die beiden sich zu zanken. Wenn Flitner das Bild des Familienautomobils als faradayschen Käfig zeichnet, wird deutlich, wie sich die Emotionen entwickelt hatten. Und bald muss sie erkennen, dass Liebe etwas war, das man mit Demütigung bezahlte, “etwas, das einen am Ende vernichten konnte”.
Eine unerhörte Begebenheit
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Wächserne Lektüre
Ein Roman ohne Verleger