Let’s talk about sex, sang die Band Salt n Pepa im Jahre 1990. Ein Appell an die Offenheit, sich über die individuellen Wünsche und körperlichen Bedürfnisse auszutauschen, diese zu berücksichtigen, ohne sie dem Gegenüber aufzudrängen. Kurz: Sex in Absprache und Übereinstimmung miteinander, aus freier Wahl.
Was für uns heute selbstverständlich klingt, nahm in Europa seine offiziellen Anfänge mit Napoleon Bonapartes Einführung des Code Civil Anfang des 19. Jahrhunderts. Sex sollte nicht mehr als Rechtspflicht in der bürgerlichen Ehe betrachtet werden – mit Betonung auf bürgerlich! Eine Frau konnte beispielsweise bei der Verweigerung von Sex nicht mehr schuldig gesprochen werden.
Aber wurden die sexuellen Machtstrukturen des Patriarchats dadurch tatsächlich gelockert oder einfach verschoben? Über welche Instanz, wenn nicht mehr über das Gesetz oder die Kirche, wurden diese geregelt? Inwiefern zerbrachen sich die Philosophen Rousseau, Kant, Hegel und Freud darüber den Kopf? Fragen, denen sich der deutsche Literaturwissenschaftler Johannes Kleinbeck in seinem neuen Sachbuch widmet.
Gemeinsamer Nenner Zärtlichkeit
Kleinbecks Hauptargument besagt, dass der Gedanke, Zärtlichkeit solle an die Stelle der Rechtspflicht des Ehevollzugs treten, zuerst von den oben genannten Philosophen formuliert wurde. Da wäre Rousseau, demzufolge sich Zärtlichkeit durch die Prägung der rohen körperlichen Triebe steuern ließe – die ‚Gebrauchsanleitung‘ dazu ist kein geringerer Roman als sein Emile. Immanuel Kant wiederum schwört – paradoxerweise in junggesellenhafter Gesinnung – während der Besatzung Königsbergs durch die Truppen der Zarin Elisabeth I. auf schöngeistig-höfische Galanterie und eine ästhetische Verfeinerung der Sinne.
Hegels Vorstellung fällt da weniger romantisch aus. Der Verlust der sinnlichen Begierde in der Ehe ist nicht beklagenswert, sondern eine Bereicherung in Sachen Zärtlichkeit. Das wusste Hegel als Verfechter der Nationalökonomie Adam Smiths auch aus eigener Erfahrung zu schätzen, seine um knapp 20 Jahre jüngere Frau Marie weniger. Freud wiederum hatte es mit der Zärtlichkeit wie mit dem Koks. Wenn seine Verlobte Martha Bernays beides zu häufig und zu schnell mit anderen teilte, verlor es den Reiz des Speziellen, des Außergewöhnlichen.
Ein Elefant im Raum
Kleinbeck gelingt es, die unterschiedlichen Lesarten der Zärtlichkeit und deren Widersprüchlichkeiten in ihren jeweiligen historischen Kontexten auszuloten und zu zeigen, dass Zärtlichkeit nicht gleich sexuelle Freiheit in der Ehe bedeutet. Die Analyse von Freuds Briefaustausch mit seiner Verlobten hätte vielleicht zugunsten einer intensiveren Beschäftigung mit Napoleons Rezeption der Schriften Kants vor der Erlassung des Code Civil ein wenig bescheidener ausfallen können. Immerhin hatte Napoleon den französischen Offizier Charles de Villers mit der Übersetzung von Kants Schriften beauftragt.
Die gegen Ende der Abhandlung geäußerten Thesen gehen dann schon expliziter in Richtung Kapitalismuskritik und feministische Kritik. Seit den 1960ern und 1970ern, wo sich gleichzeitig mit der sexuellen Revolution die Institution Ehe aufzulösen begann, sei es zunehmend schwieriger geworden, Zärtlichkeit unabhängig von kapitalistischen Bedürfnissen zu praktizieren. Dass diese fragmentierende Trennung von (außerehelicher) Sinnlichkeit als Warencharakter und (ehelicher) Zärtlichkeit von Männern ersehnt sei, verlinkt Kleinbeck wiederum mit feministischen Ansätzen wie Virginie Despentes King Kong Theorie. Diese Argumente fallen, gerade weil sie im Schlussteil der Arbeit platziert sind, knapp aus. Dabei sprechen sie genau die wunden Punkte an, die näher zu erörtern es sich in dieser Abhandlung noch ausgezahlt hätte.
Letztlich wird die Frage „Ist Zärtlichkeit heute – unabhängig von der sexuellen Neigung – mit alternativen Beziehungsmodellen als der von politischen Aktivist*innen gefürchteten Monogamie bzw. monogamen Ehe langfristig praktizierbar?“ zum Elefanten im Raum.