Spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie ist Kranksein zu einem Privileg geworden. Nicht nur wird dieses Privileg immer kostspieliger. In einem intransparenten Gesundheitssystem, das von bürokratischen, wirtschaftlichen und politischen Machtrochaden sowie von mangelnder Kommunikation und Logistik heimgesucht wird, gehen viele Entscheidungen oft auch auf die gesundheitlichen Kosten der Patienten – ohne, dass sie sich dessen bewusst sind oder sich dagegen zur Wehr setzen können.
Der im März 2023 erschienene Roman „Schmerzambulanz“, für den die österreichische Autorin Elena Messner 2022 mit dem Theodor Körner Preis für Literatur ausgezeichnet wurde, nimmt sich dieser Problematik an. Zwischen fiktiven Krankenberichten, erlebten Reden und inneren Monologen changierend, spürt Messner mit einem gnadenlosen Röntgenblick den Lücken und Tücken eines ‚krankenhausreifen‘ Systems nach, dem auch das Krankenhauspersonal zum Opfer fällt.
Leeres Versprechen
Dr. Judit Kasparek, leitende Ärztin der internen Abteilung eines Krankenhauses und hoffnungslose Optimistin, wird mit einem leeren Versprechen um den Finger gewickelt: Sie hat ihren Ausbildungsplatz an der besten Klinik des Krankenhausverbundes verlassen, um an ihrer neuen Arbeitsstelle eine Schmerzambulanz mit diversen Therapieangeboten aufzubauen. Aber der Weg dorthin ist noch lange nicht geebnet. Die Stolpersteine häufen sich nur so an.
Messner beschreibt ein – nicht beim Namen genanntes – österreichisches Krankenhaus als rentable Betreibergesellschaft, die lieber auf geliehene Ärzte und Pflegekräfte statt auf fix angestelltes Personal setzt. Seit geraumer Zeit wird vergeblich bei diversen Medizinmessen wie Arab Health neues medizinisches Equipment angefragt. Auch bei der Produktion und Lieferung von Medikamenten ist man auf externe Pharmakonzerne angewiesen – Stichwort China und Indien als neue Weltapotheke. Antibiotika und Erkältungsmedikamente gehören in Österreich schon seit Monaten zur Mangelware. Vielversprechende Studien zu neuen Schmerztherapien werden nicht zur Kenntnis genommen oder unter den Teppich gekehrt. Pflegekräfte werden nicht in die ärztliche Beratung miteingebunden. Dann wären da noch die Unstimmigkeiten bei der Vergabe von Medikamenten, und, und, und. Die Liste ist unerschöpflich.
Der Fall der 78-jährigen Barbara Steindl bringt das Pulverfass endgültig zum Explodieren: Nach einer nicht eindeutig erklärbaren Verschlimmerung des Gesundheitszustandes der Patientin sieht sich Judit dazu verpflichtet, ein Ethik-Konsil einzuberufen, womit sie den Groll all jener Angestellten auf sich zieht, die die Patientin betreut haben. Die Autorin lässt dabei die Frage offen, ob es sich um einen schlecht getarnten Racheakt wegen des nicht eingehaltenen Versprechens handelt, oder ob Judit den Fall der Patientin, in deren Alter ihre Kollegen die Ursache für deren „Gebrechlichkeit“ sehen, einfach nicht über einen Kamm scheren will.
Gleichzeitig versäumt Messner es nicht aufzuzeigen, wie das gesamte Personal unterschiedlicher sozialer Klassen auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und Schuldzuweisungen und die Instrumentalisierung der Patientin Vorrang gegenüber gemeinsamen Lösungen haben. So nimmt die Freundschaft zwischen Judit und der Anästhesistin Asja einen Kollateralschaden. Die Paranoia von Krankenpfleger Jovo wird zum Nährboden für fatale Missverständnisse. Vor ihnen ist auch nicht Judits Mentor, der Oberarzt Tom Trattner, gefeit. In ihm sieht wiederum der Bettenschieber Cveto, dem die Ausbildung zum Pfleger fehlt, eine Möglichkeit, sich beruflich über Wasser zu halten.
Wissenswertes und Sarkasmus
Messner gelingt es, in 226 Seiten viel Wissenswertes und selbst Recherchiertes über das (österreichische) Gesundheitssystem zu packen. Man erfährt unter anderem, dass die Richtlinien privater Krankenkassen im Krankenhaus Behandlungsmaßnahmen erzwingen, die der Patientin Steindl aber nicht zugutekommen. So werden nicht unbedingt notwendige Infusionen nur deswegen verabreicht, weil sie abrechenbar sind und die alleinige Einnahme von zu schluckenden Medikamenten finanziell nicht in der Krankenkasse inbegriffen ist. Da verwundert dann auch ein fiktiver Chirurg nicht, der angeblich die Kosten für einen Eingriff am Körpergewicht seiner Patienten misst.
Ein flüssig geschriebener, gelegentlich auch poetisch angehauchter Roman, der für notwendiges Unbehagen sorgt. Allerdings wird das Aufbrechen konventioneller Geschlechterrollen im Gesundheitswesen eher belächelt denn befürwortet, etwa wenn ein junger Krankenpfleger eine On-Off-Beziehung zu einer älteren Ärztin führt oder ein homosexueller Bettenschieber dem Oberarzt während des Ethik-Konsil unterstützend zujubelt. Trotz mancher Unwahrscheinlichkeiten wie der befürchteten Kündigung von Pflegern, auf die die Spitäler im Jahr 2023 mehr denn je angewiesen sind, überzeugt „Schmerzambulanz“ mit wahrheitsgetreuen Schilderungen.
Glückwunsch zu deiner ersten Rezension auf Literaturzeitschrift.de, liebe Christina!