Ein seltsamer Ort

Mimis Reise zu sich selbst und ihrer Familie

Den Vater bei einem Unfall verloren, die Mutter seit Jahren im Koma – die beiden Schwestern Mimi und Kodachi haben es nicht leicht. Als junge Frauen ziehen beide von der Pflegefamilie weg nach Tokio, um Abstand zu ihrer Vergangenheit zu gewinnen und zusammen ein neues Leben aufzubauen. Aber eines Tages wird dieser vorübergehende Frieden zerstört, denn Kodachi verschwindet spurlos, als sie ihre Mutter in ihrem Heimatdorf besucht. Mimi, die nun ganz allein dasteht, beschließt, wieder in ihre Heimat zurückzukehren und Kodachi zu suchen. Dabei begibt sie sich auf die Spuren ihrer Vergangenheit, taucht tiefer in die Geschichte des Dorfes ein, sucht den Rat von Wahrsagerinnen und führt überfällige Gespräche mit ihrer Pflegefamilie. All das bringt sie nicht nur Kodachi und ihrer Mutter näher, sondern sie macht sich so auch auf den Weg zur eigenen inneren Heilung.

Altbekanntes und eine Neuerung

Der vorliegende in sich abgeschlossene Roman ist wohl laut Yoshimotos Ankündigung im Buch ihr letzter, da sie sich in den Ruhestand begeben will. Dabei wagt sie sich hier zum Abschluss ihrer Schreibtätigkeit auf Neuland: Sie betritt die Welt der Phantastik. Das macht sie zusammen mit den Leser*innen, indem sie Mimi auf die Suche nach ihrer Familie und zu sich selbst schickt und die Protagonistin nach und nach von den phantastischen Geschichten erfährt (und diese auch hautnah erlebt), die sich um ihr Heimatdorf ranken. Die Autorin verbindet hier wie selbstverständlich Spirituelles, Zombies und Außerirdische mit dem japanischen Alltag und den Mythen.

Leichtigkeit im oft schwierigen Alltag

Wie immer in Yoshimotos Romanen haben es die Charaktere nicht einfach – trotzdem ist den Romanen/dem Schreibstil eine Leichtigkeit zu eigen, die die Leser*innen mühelos durch schwerere Passagen trägt, ohne diese zu verleugnen oder zu verharmlosen. Das habe ich in dieser Art nur bei Banana Yoshimoto jemals gelesen und erlebt, und ich bewundere diese Schreibkunst sehr, v.a. da wir momentan mit Jugend- und Young-Adult-Romanen überschwemmt werden, die sich anscheinend darin überbieten, wie schwer es die Figuren haben und mit wie vielen Traumata belastet sie sind. So liest es sich dann leider oft auch. Das ist und war bei der japanischen Autorin glücklicherweise anders, denn eine gewisse Geborgenheit und ein realistischer Optimismus schwingen immer mit und nehmen sowohl die Figuren als auch die Leser*innen selbst bei schwererer Kost an die Hand und lassen sie damit nicht im Stich. Damit werden Triggerwarnungen wie in o.g. Büchern unnötig.

Entwicklungsroman

Dabei machen alle ihre Figuren, auch in diesem Roman, eine Entwicklung (s. Entwicklungsroman) durch und entdecken ihre eigene Stärke, meist durch eine innere und/oder äußere Reise. Yoshimoto wählt als Hauptfiguren immer Frauen, weshalb ich mich auch gut in die Charaktere hineinversetzen kann. Ganz nebenbei wird auch auf das Thema Integration eingegangen, wenn Yoshimoto z.B. erzählt, wie die taiwanesische Küche in das japanische Dorf Eingang gefunden hat. Oder wie man sich mit freundlicher Offenheit und Neugierde an Leute herantastet, die anders sind. Mischwesen, in diesem Fall Mischlinge hervorgegangen aus Menschen und Außerirdischen, haben einen Platz in der Gesellschaft – sie können Brücken bauen, wenn man sie denn nur ließe. Damit spielt die Autorin natürlich auch auf menschliche Mischlinge an, die Brücken bauen könnten zwischen Völkern. Der Tod wird mit stiller Würde und Respekt behandelt (Grabwächter), aber auch auf die Zombies mit Mitgefühl eingegangen und wie falsch es ist, Tote nicht ruhen zu lassen. Dabei wird nie der pädagogische Zeigefinger erhoben, alles fügt sich ganz natürlich in die Geschichte ein.

Natürlich kommen auch Frauenthemen zum Zug: Mimi z.B. interessiert, ob ihre schwangere Schwester ein übergroßes Baby zur Welt bringen wird – davon hängt schließlich die Gesundheit oder gar das Leben einer Frau ab. Also natürliche Geburt oder Kaiserschnitt? Auch die Schwesternschaft unter Frauen, die vor dem Einbruch des Patriarchats so natürlich war, ist Thema: Die drei Frauen – die beiden Töchter und die Mutter – stehen füreinander ein.

Das Außergewöhnliche im Alltag

Das Außergewöhnliche im Alltag, das bringt Yoshimoto auf den Punkt. Hier ein treffendes Zitat aus dem Buch: „Das ist mal ein seltsames Abenteuer – so ohne jeden Höhepunkt, dachte ich. Keine gerechte Sache, um die es geht, kaum Mysteriöses, nur reichlich Absonderliches, irgendwie banal unspektakulär – normal eigentlich. Vielleicht ist das die Realität: weil es nämlich auch Abenteuer im Alltag gibt.“ (S. 268) Die Phantastik bricht in den Alltag ein, der Alltag in die Phantastik. Das Paranormale ist eigentlich normal und natürlich, auch wenn man es in einer vermeintlich naturwissenschaftlichen Welt verleugnet, da die Naturwissenschaften (noch) nicht in der Lage sind, alles in der Natur Vorkommende zu erfassen.

„Und wie gut wäre es doch, wenn sich die Menschen immer auf solche Weise zwischen dieser und anderen Welten hin- und herbewegen könnten, denn so ließe sich die Traurigkeit auf Erden doch beträchtlich vermindern.“ (S. 268) Yoshimoto spricht hier die Spiritualität im Alltag an, die v.a. eine weibliche Spiritualität war, bevor andere Religionen diese zerschlagen haben. Nicht nur in Japan, auch in Europa finden sich noch Reste dieser weiblichen Spiritualität in Form u.a. von Frau Holle im deutschsprachigen Raum („Frau“ als ehrerbietiger Begriff für eine Göttin): Holle (ihr Baum ist der umfassend heilende Hollunder) als Göttin der Ungeborenen, der Verstorbenen, der den Toten Geborgenheit Gebenden, der Anführerin der Wilden Jagd in den Raunächten, der Heilenden usw. Die Frau u.a. als weise und unabhängige Alte, im Patriarchat als „Hexe“ verteufelt, die Magie im Alltag webt durch ihren reinigenden Besen und ihren transformativen Kessel. All das sieht man übrigens auch in den Animes von Studio Ghibli, aktuell im neuesten in den Kinos laufenden Werk „Der Junge und der Reiher“.

„Wir essen, schlafen und erträumen uns das Leben. Doch müssen wir uns davor hüten, den Traum eines anderen zu träumen. Jeder lebt seinen eigenen Traum, und den respektieren die anderen. So, wie man selbst deren Träume respektiert, ohne sie mit eigenen Vorstellungen auszuschmücken. Die Träume überschneiden sich und stimmen sich allmählich aufeinander ab. Das müssen sie, sie können nicht anders.“ (S. 291) Ganz klar hier der Appell, jede Person so leben und sein zu lassen, wie sie ist und leben möchte. „Jeder einzelne Fehler wurde mir verziehen, jede Marotte toleriert und eins nach dem anderen in Pluspunkte umgewandelt. Langsam, aber sicher löste sich alles in Wohlgefallen auf.“ (S. 301) Aus Fehlern kann man lernen und so mancher Umweg hält einen bunten Strauß an Erfahrungsblumen bereit. Yoshimoto lässt ihre Figuren ihre Erfahrungen machen und Schlüsse daraus ziehen, die sie weiter durch das Leben tragen.

Weitere Werke

Banana Yoshimoto hat u.a. an Büchern geschrieben: Kitchen (ihr bekanntester Roman), Erinnerungen aus der Sackgasse, Tsugumi, Federkleid, Eidechse, Moshi Moshi, N.P., Amrita, Sly, Dornröschenschlaf, Hard Boiled Hard Luck.

Fazit

Banana Yoshimoto hinterlässt als Abschiedsgeschenk an ihre Leser*innen ein Buch, das in bekannter Leichtigkeit trotz Schicksalsschlägen der Figuren daherkommt – und das eine Neuerung bietet: Sie wagt sich mit Erfolg und in ihrer ganz eigenen Interpretation an das Genre der Phantastik heran.


Genre: Entwicklungsroman, Mystery, Phantastik
Illustrated by Diogenes

How do I tell them I love them?

Schmerzhafter Entwicklungsprozess

Lark Winter (17) ist in mehrfacher Hinsicht anders: transgender, neurodivers, people of colour, polyamor. Die Erfahrungen, die sier mit dieser Art des Andersseins macht, verarbeitet sier in einem Roman, dessen Hauptfigur passenderweise „Birdie“ heißt, denn sier möchte Schriftsteller*in werden. Aber kein Verlag ist an sierer Geschichte interessiert, es hagelt Absagen. Unter anderem sei sier zu jung, um über solche Themen und Probleme zu schreiben. Oder sier übertreibe mit dem, was sier schreibt. Dabei ist Larks Leben alles andere als einfach, u.a. durch den Rassismus, den sier immer wieder erlebt und das Mobbing sogar in der eigenen LGBTQ+-Bubble. Und Kasim, der beste Freund Larks, hat sich von Lark abgewendet. Dabei will Lark nur eins: Frieden und unendliche Liebe in der Welt. Denn dann gibt es keine Ungerechtigkeiten mehr. Über siere Gedanken schreibt sier im Internet. Auch da muss sier sich mit Hasskommentaren der LGBTQ-Community und people of colour über siere Einstellung auseinandersetzen. Eines Tages aber geht ein Tweet viral, indem es angeblich über siere unerwiderte Liebe geht. Der Haken an der Sache: Diesen Tweet hat nicht Lark, sondern Kasim geschrieben. Lark sieht eine Chance für sieren Erfolg als Autor*in und klärt den Irrtum nicht auf – mit vielen unangenehmen Konsequenzen, aber auch Wachstumschancen.

Sehr tiefgründiger Roman über ernste Themen

Themen insgesamt: nicht-binär, neurodivers, dunkle Hautfarbe, Social Media, Kritik an der eigenen Bubble, Polyamorie, Drogen, Depressionen, Angststörung, Traumata, Rassismus, (Cyber-)Mobbing, Queerfeindlichkeit, Sexismus, Corona-Pandemie, schwierige Familienverhältnisse, Berufswunsch, Liebe in ihren Facetten, Spiritualität – um einmal die wichtigsten zu nennen, denn es sind nicht alle.

Vielfalt – eine Sache der Natur

Der in sich abgeschlossene Roman greift gleich mehrere Themen auf, die deutlich verbreiteter in die Mainstreamliteratur gehören würden: zunächst das Thema Anderssein generell, hier spezifiziert durch nicht-binäre und neurodiverse Menschen, sowie people of colour. Es mag vielleicht erst einmal als too much herüberkommen, dass die Hauptperson all diese Themen in sich vereint. Aber Autor*in Kacen Callender schreibt aus eigener Erfahrung und die Natur geht sowieso nicht nach Schema F vor, sondern hat als Überlebensprinzip ihre unendliche Vielfalt. So geht der Roman sehr in die Tiefe, was Leser*innen, die derartige Erlebnisse nicht teilen müssen, vielleicht als schwere Kost wahrnehmen. Aber Menschen, die anders sind, müssen vielfältige und immerwährende Anfeindungen stemmen können, wollen sie überleben. Das macht sie tiefsinniger und insgesamt stärker. Allerdings kann es auch, wie am Beispiel von zweien der Freunde Kasims gezeigt, zur Radikalisierung und beginnender Unmenschlichkeit führen, wenn alle anderen (außer sie selbst und ihre Meinung) als Feinde wahrgenommen werden und dabei die Realität völlig aus dem Blick gerät.

Larks Gedanken dazu fasst das Buch an einer Stelle folgendermaßen zusammen: „Derselbe Kummer. Dieselbe Wut. Und derselbe Schmerz. Zerreißt uns wieder und wieder. In einer Welt, die von uns verlangt, dass wir uns heilen. In einer Welt, die von uns Schwarzen Menschen verlangt, dass wir uns ändern, damit andere Leute sich sicher fühlen können. Leute, die vor unseren Körpern Angst haben, unsere Haut als bedrohlich empfinden. Genau diese Welt weigert sich, zu sehen, wie sie uns umbringt. Ich bin wütend. Das habe ich mir vermutlich nie wirklich eingestanden. Ich dachte immer, die Wut einer Person wie mir sei in dieser Welt sinnlos. Schwarz, queer, trans, neurodivers. Mir absolut unbekannte Menschen verwenden meine Identitäten gegen mich. Sie sagen, ich hätte nicht das gleiche Recht zu leben, zu existieren. Wenn ich wütend werde, tun sie so, als wäre ich es nicht wert, geliebt zu werden. Wenn ich frustriert bin und mich wehre und Fehler mache (ich bin trotz allem ein menschliches Wesen, das lernen und wachsen muss), werde ich zur unsympathischen Figur eines Buches gemacht. Naja. Vielleicht interessiert es mich nicht mehr so sehr, was andere von mir denken.“ (S. 339)

Lark: Lerche. So hat Larks Mutter sier genannt. Und sie gibt Lark mit, dass sier nicht an Protesten teilnehmen muss, wenn das nicht sierer Identität entspricht – es gibt andere Wege wie z.B. das Schriftstellertum, um der eigenen Stimme Gewicht zu verleihen. Jeder und jedem, wie sie/sier/er mag und kann und nicht, wie andere meinen, dass man kämpfen muss. „‘Ich glaube, unsere bloße Existenz ist genug. Einfach zu sein, zu atmen und uns selbst und einander zu lieben. Das ist auch eine Art Kampf. Findest du nicht auch?‘ Ja. In einer Gesellschaft, die mir Selbsthass und Selbstverachtung beibringt, kann Selbstliebe stattdessen eine völlige Revolution bedeuten.“ (S. 342)

(Selbst-)Reflexion als Grundvoraussetzung für Entwicklung

Das Buch ist sehr (selbst-)reflektiert und auch philosophisch. Auch das gehört dazu, wenn man anders und Anfeindungen ausgesetzt ist: Man denkt viel, eigentlich immerwährend, über sich und die Welt nach. Das Finden zu sich selbst und der eigenen Haltung ist ein fortlaufender, oft schmerzhafter Prozess – der aber gegangen werden muss, will man wachsen und zu einem erfüllteren Leben kommen. Intelligenz muss aber nicht automatisch bedeuten, dass man (selbst-)reflektiert ist, wie zwei von Kasims Freunden zeigen. Sie benutzen ihre Intelligenz als Waffe und drehen Lark immer wieder das Wort im Mund herum, um sier zu diffamieren und den Hass auf sier zu schüren, während sie selbst sich im Gegenzug als diejenigen präsentieren, die einen Feind der Community entlarvt haben und sich so als Held*innen darstellen. Das ist das Gegenteil von Wachstum, das ist Versteinerung. Und das schadet sich und anderen immens. Auch das stellt das Buch sehr schön heraus, ebenso, dass es schwer ist, diese perfide Troll-Strategie zu durchschauen und dagegen anzugehen. Und in Bezug auf Rassismus sollten alle, die rassistisch denken, sich vor Augen führen, dass dunkelhäutige Menschen nichts weniger als die Wiege der Menschheit darstellen – die hellhäutigen sind schlicht Mutationen des dunkelhäutigen Ursprungs. Vielleicht sollte man sich auch einmal das Szenario überlegen, dass alle Menschen von Natur aus blind wären. Würden dann solche Äußerlchkeiten wie die Hautfarbe überhaupt noch eine Rolle spielen?

Intoleranz in der Realität auch in eigentlich toleranten Communities

In der eigenen Bubble nicht ernst genommen zu werden, Intoleranz selbst dort, auch Anfeindungen kommen tatsächlich vor. Intoleranz mancher Homosexuellen gegenüber Bisexuellen ist keine Seltenheit. Auch anderweitige Intoleranz gibt es: Meine Freundin berichtete mir mehrfach von der Frau einer lesbischen Kollegin, die das transsexuelle Kind derselben nicht akzeptiert. Ich selbst wurde mit meinen Gedanken kurz und inhaltslos abgespeist, als ich versucht habe, mich in einer solchen Bubble mitzuteilen, obwohl diese sich als offen bekennt und Aufklärungsarbeit betreibt. Ein anderes Erlebnis hatte ich mit schwarzhäutigen Frauen, die meinen Kommentar zu schwarzhäutigen Göttinnen ein paar Minuten nach Erscheinen gelöscht haben. Ich bin für Verbindung und finde es gut, dass Göttinnen wieder erstarken und Frauen sich ihre eigenen göttlichen Ansprechpartnerinnen suchen – egal welcher Hautfarbe. Aber da ich weißhäutig bin, wurde der Kommentar gelöscht – Rassismus andersherum. Dieser Rassismus andersherum wird in einer anderen Art auch im Buch thematisiert, indem alle weißhäutigen Menschen über einen Kamm geschert und angefeindet werden. Die Wut der people of colour ist sehr verständlich, aber die Schlussfolgerung daraus Larks und meiner Meinung nach die falsche. Auch hier gilt: Pauschalisierung und Engstirnigkeit trennt, Offenheit verbindet.

Es wäre also meiner Meinung nach besser, dass in meinem o.g. Beispiel Frauen sich verbinden und sich nicht gegenseitig z.B. aufgrund der Hautfarbe anfeinden. Damit will ich nicht kleinreden, dass weiße Menschen gegenüber people of colour nicht einiges aufzuarbeiten hätten! Aufarbeitung ist dringend nötig. Allerdings schwächt ein Verhalten wie oben dargestellt die Frauenbewegung insgesamt und spielt patriarchalen Kräften in die Hände, wenn Frauen sich gegenseitig zerfleischen. Miteinander reden und Aufarbeitung bringt viel mehr als Zerfleischung, finde ich.

Oder dass während meiner Studienzeit in einem feministischen Buch stand, Männer seien nicht erwünscht, obwohl sich Männer ebenfalls für die Frauenbewegung einsetzen. Hier wird meiner Meinung nach der Fehler gemacht, dass alle Männer über einen Kamm geschoren werden. Aber es entsprechen eben nicht alle Männer dem patriarchalen Männerbild (Gottseidank!) – auch Männer leiden unter dem Patriarchat, denn es gibt mehr Männertypen, als das patriarchale Bild zulassen und wahrhaben will.

Das alles hat mich schockiert. Und da kommt automatisch die Frage auf, ob solche Leute denn nichts aus der eigenen Erfahrung gelernt haben? Sie wollen Akzeptanz für sich, gestehen sie aber anderen nicht zu? Ich finde es sehr gut und mutig, dass Callender auch diese Probleme in der Welt der people of colour und der LGBTQ+-Gemeinde anspricht. Denn solche Inakzeptanz in den eigenen Reihen schwächt und die Bubble verliert an Glaubwürdigkeit.

Selbstliebe und Selbstfindung

Das Buch strotzt insgesamt vor Themen und Tiefgang. Große Themen sind Selbstliebe und Selbstfindung, gepaart mit der Übernahme der Verantwortung für sich selbst und das eigene Handeln. An Lark sieht man sehr gut, dass das Übernehmen von Verantwortung wie ein Sprung ins kalte Wasser und schmerzhaft ist und man dabei auch viele Fehler machen kann. Aber die Mühe lohnt sich, denn es fördert die Selbstliebe. Es ist schmerzhaft, sich mit sich selbst und anderen auseinanderzusetzen und Grenzen zu ziehen, v.a. weil letztere oft genug nicht akzeptiert werden. Das bedeutet natürlich einen mühevollen Entwicklungsprozess, der letztlich aber lohnend ist. Lark stellt sich diesem Prozess, der alles andere als glatt verläuft, und findet sich am Schluss selbst, dazu neue (echte) Freunde und siere Liebe, denn jetzt ist sier authentisch.

Lark ist sehr spirituell, dabei aber in keiner Religion verhaftet. Sier macht sich ein eigenes Bild über die jenseitige und göttliche Welt, die viele Anklänge an die Reinkarnationstheorie hat. Dabei spielt bedingungslose Liebe eine sehr große Rolle: Liebe zu anderen (was Lark leichtfällt, selbst zu sieren Feinden) und Liebe zu sich selbst (was Lark sehr schwerfällt, da sier regelmäßig angefeindet wird). Sier wünscht sich (Selbst-)Akzeptanz, Harmonie, eine friedliche Welt und einfach sein zu dürfen, ohne Wenn und Aber.

Nicht perfekt sein ist das Ziel, sondern Wachstum. Dabei macht man häufig Umwege und damit Fehler, die aber als weiterer Entwicklungsanstoß dienen können. Den Wachstumsprozess mit all seinen Irrungen und Wirrungen, sowie dass das Leben nicht einfach, sondern komplex ist, stellt das Buch wunderbar dar. Nicht nur Lark durchläuft einen Entwicklungsprozess, sondern auch fast alle anderen Figuren im Buch – außer denjenigen, die nichts dazulernen wollen. Und die gibt es durchaus auch in der eigenen Bubble.

Fazit

Sehr tiefgründiges Buch mit vielen ernsten Themen, die endlich wahrgenommen und akzeptiert werden wollen. Sehr empfohlen!


Genre: Diversität, Entwicklungsroman, Neurodiversität, non-binär, people of colour, Sexismus, Traumata
Illustrated by LYX

Dark Rise

55424891. sy475 Gut gegen Böse?

Will lebt zusammen mit seiner Mutter ein einfaches Leben auf einem Bauernhof– bis eines Tages seine Mutter von mysteriösen Männern ermordet wird. Er selbst kann nur knapp entkommen und verdingt sich seitdem als Hafenjunge. Aber eines Tages wird er von einem reichen und einflussreichen Händler namens Simon gefangen genommen, der in ihm eine Wiedergeburt einstiger magischer Wesen sieht. Durch die Hilfe von Violett, der Schwester und Tochter der zwei treuesten Untergebenen Simons, kann Will sich befreien. Auf der Flucht werden die beiden von Kämpfern des Ordens der Stewards gerettet und finden dort Zuflucht. In Will sehen die Stewards einen Nachfahren der Dame, die vor langer Zeit den Dunklen König in seine Schranken verwiesen hat. Deshalb wird er von der Ältesten der Stewards in Magie unterrichtet, während Violett Unterricht in den Kampfkünsten erhält. Allerdings hat Violett ein Geheimnis, das für sie tödlich enden könnte: Sie ist ein Löwe – und die gelten als die treuesten und stärksten Verbündeten des Dunklen Königs. Aber auch Will hat zu kämpfen, denn in ihm wollen die Kräfte der Dame einfach nicht erwachen. Diese allerdings braucht er dringend, wenn er gegen James St. Clair, den mächtigen wiedergeborenen General des Dunklen Königs, bestehen will. Außerdem würde der Tod des Nachfahrens der Dame den Dunklen König wiedererwecken – und damit den Untergang der Welt einleiten.

Perfekt aufgebaute Fantasy-Welt mit überraschenden Wendungen

Der Auftakt der Trilogie verbindet Elemente der Steam-Punk-Fantasy mit Fabelwesen, die neu interpretiert werden, und mit eigenen neuen Ideen, angesiedelt im klassischen Setting „Gut gegen Böse“. Aber die Autorin versteht es auch hier, dieses Setting neu zu gestalten und ihrem Haupt-Helden eine überraschende Wendung zu geben, die sie aber schon subtil im Buch vorbereitet, sodass aufmerksame Leser*innen, die gut Spuren deuten können, ahnen, worauf die Geschichte hinausläuft. Insgesamt ist der Roman spannend, die Figuren sympathisch, die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen, die Motive der Figuren sind nachvollziehbar.

Die vom Verlag beschworene und beworbene Diversität im Buch wird allerdings nur nebenbei behandelt, sodass die Inhaltangabe auf der Rückseite des Buches und die Pressemitteilung etwas irreführend wirken. Wer also meint, dass u.a. Homosexualität und Romantik den Großteil des Romans einnehmen, irrt. Beides kommt (wie schon geschrieben) eher nebenbei vor; es wird deutlich mehr Wert auf Spannung und Charakterentwicklung gelegt. Die Welt an sich ist stimmig, der Spannungsaufbau perfekt, die Handlungsstränge stringent und penibel geplant.

Die Beiläufigkeit der Erwähnung der sexuellen Orientierungen gefällt mir andererseits aber auch wieder gut. Denn das zeigt etwas, wo in der realen Welt noch deutlich Luft nach oben ist: Die sexuelle Orientierung, egal welcher Art, gehört einfach so sehr zum Leben dazu, dass darüber kaum noch Worte verloren werden müssen. In diesem Buch wird Homo- und Bisexualität so behandelt, wie sie in der Natur vorkommt: Sie war und ist schon immer da, gehört zum diversen (Über-)Lebensprinzip der Natur dazu und wird als Naturphänomen ganz selbstverständlich akzeptiert.

Frauen in diesem Roman werden als starke Frauen charakterisiert, wobei sie aber auch ihre Macken, Verletzlichkeiten und Schwächen haben – aber macht nicht gerade das sie stark? Violett wird in ihrer Eigenschaft als Löwe, der ohnehin ein Symbol für Mut und Kraft ist, ohnehin als stärker als sogar männliche Löwen dargestellt. (Sind es nicht die Löwenweibchen, die jagen gehen und das Rückgrat des Rudels bilden?) Dahingegen gestehen sich manche männlichen Charaktere ihre Schwächen, dunklen Seiten und Verletzlichkeiten ein, was ihrer Entwicklung einen Schub nach vorne versetzt. Der Kontrast wirkt umso mehr, weil Pacat auch Frauen und Männer einbaut, die im klassischen Rollenklischee verhaftet sind und nicht reflektieren. Aber selbst hier bricht zwar kein Mann, aber eine Frau (Katherine, in die Will sich verliebt hat) aus den Konventionen aus, um ihren eigenen Weg zu gehen – auch wenn dieser unsicher ist. Das spiegelt gut auch reale historische und aktuelle Situationen wider, denn es sind oft genug v.a. Frauen, die Ungerechtigkeiten anprangern und für Gerechtigkeit einstehen. Bei den Stewards ist es selbstverständlich, dass eine Frau den mächtigen Orden anführt, dass Frauen Führungsrollen übernehmen und kämpfen. Es wird nicht infrage gestellt, dass sie umfassend stark sind, auch körperlich. Das wird nicht explizit erwähnt, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt und entsprechend im Roman behandelt – es ist Teil dieser Welt. Und es ist eine Frau, die der toxischen Männlichkeit nachhaltig die Stirn bietet.

Wie die sexuelle Orientierung und die Stärke der Frauen wird auch ein weiteres Thema eher nebenbei eingebaut, ohne aber an Wichtigkeit zu verlieren: der Glaube an die Wiedergeburt. Er wird nicht infrage gestellt, sondern ist selbstverständlicher Bestandteil der Welt, während die Magie, die früher keiner Erklärung bedurfte, in der aktuellen Zeit als Mythos gilt.

Fazit

Rundum gelungener Fantasy-Roman mit neuen Ideen, die sich in althergebrachten Mustern verstecken und diese aufbrechen. Ich bin gespannt auf die Fortsetzung!


Genre: Entwicklungsroman, Fantasy
Illustrated by LYX