Matthias Risches „Die Mimik der Haie“ ist eine Sammlung von Erzählungen, die sich durch ihre dichte Atmosphäre, psychologische Tiefe und oft beunruhigende Themen auszeichnen. Rische versteht es, in gedrängter Form komplexe emotionale Zustände und gesellschaftliche Themen zu behandeln, die den Leser in eine dunkle und introspektive Welt entführen. Weiterlesen
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Die Mimik der Haie. Erzählungen
Spuren von Nüssen. Komische Lyrik in Reimform
»Spuren von Nüssen« ist eine charmante und humorvolle Gedichtsammlung, die durch ihren spielerischen Umgang mit Sprache und Alltagsbeobachtungen besticht. Der Band enthält kurze, reimlose Perlen, die den Leser durch scharfsinnige und komische Alltagsbetrachtungen zum Schmunzeln bringen. Weiterlesen
Auf allen Vieren
No risk, no fun
In ihrem autofiktionalen Roman «Auf allen Vieren» erzählt die als Multitalent bekannte US-amerikanische Künstlerin und Autorin Miranda July von den Verwerfungen, denen Frauen kurz vor der Menopause ausgesetzt sind. Die 45jährige, namenlose Ich-Erzählerin erleidet einen Schock, als sie die auch im Buch abgebildete Grafik sieht, auf der, getrennt für Männer und Frauen, die Entwicklung der Sexualhormone dargestellt ist. Während diese Kurve beim Testosteron der Männer im Alter nur leicht abfällt, stürzt sie beim Östrogen der Frauen mit dem fünfzigsten Lebensjahr steil ab. In Panik beschließt die mit Mann und Kind in L.A. lebende Künstlerin, allein mit dem Auto nach New York zu fahren. Ein zweiwöchiger Selbstfindungstrip, den sie sich zu ihrem Geburtstag leistet, der dann aber schon nach kaum einer halben Stunde Fahrzeit an einer Tankstelle endet. Sie ist völlig hingerissen von dem jungen Tankwart, den sie aus dem Wagen heraus sieht, als er ihre Windschutzscheibe putzt. Sie mietet sich spontan in einem Motel in der Nähe ein, um ihn wiederzusehen und kennen zu lernen.
Es stellt sich heraus, dass Davey verheiratet ist, seine Frau ist Innenarchitektin. Die Protagonistin lässt sich von ihr das nüchterne Motelzimmer, in dem sie wohnt, nach ihren Wünschen komplett neu einrichten. Das Bad wird neu gefliest, alle Möbel werden durch gediegene neue ersetzt, die Wände neu tapeziert. Nach wenigen Tagen ist sie die zwanzigtausend Dollar los, die sie von einem begeisterten Kunden für ihre unkonventionelle, kreative Umsetzung seines Auftrags erhalten hat. Die Affäre mit Davey aber verläuft nicht so, wie sie sich das erhofft hat. Er bleibt zurückhaltend, was den Sex anbelangt, der ihr so außerordentlich wichtig ist. Davon unbeirrt imaginiert sie sich in ein neues Leben mit ihm hinein, sie ist bereit, dafür alles aufzugeben. Nach ihrer Rückkehr nach L.A. trifft sie sich noch einige Male mit ihm in dem Motelzimmer, das ihr der Besitzer des Motels kostenlos zu Verfügung stellt. Denn er macht mit dem Luxuszimmer sehr gute Geschäfte, er bekommt ein Vielfaches des normalen Zimmerpreises dafür. Der telefonische Kontakt mit Davey reißt irgendwann komplett ab, er ist mit seiner Frau nach Sacramento gezogen, wo er ein Haus gekauft hat und Vater geworden ist. Die Ich-Erzählerin lernt bei ihrem letzten Besuch in dem Motel eine ältere Frau kennen und landet mit ihr im Bett, wobei sie völlig überrascht ihre wiedererwachte Libido und den Reiz von lesbischem Sex entdeckt.
All das erörtert die Erzählerin in endlosen Telefonaten mit ihrer besten Freundin, in denen in sexueller Hinsicht Klartext gesprochen wird. Nach der Devise «Sex mit Davey» hatte die Protagonistin vergebens ihre sexuelle Befreiung gesucht, die sie stattdessen durch multiples masturbieren bei jeder sich bietenden Gelegenheit findet, und durch ihre lesbische Affäre. Schließlich offenbart sie sich ihrem Mann und vereinbart mit ihm, dass jeder an einem bestimmten Tag in der Woche nicht zu Hause sein muss. Diesen Tag könne ihr Mann dann mit seiner Geliebten verbringen, und sie wird sich an ihrem Tag mit ihrer lesbischen Gespielin vergnügen. Der Klappentext spricht von «Lust außerhalb von Konventionen». Der Erfolg des Romans beruht zu einem großen Teil auf den vielen pornoartigen Szenen mit deftigen sexuellen Details, die konservative Kreise als unanständig empfinden mögen, die voyeristische Freigeister aber jubilieren lassen.
Die Ich-Erzählerin gehöre zu den «Einparkern», hatte ihr Ehemann ihr erklärt, also zu der Sorte von Menschen, die stehen bleiben und eine Lücke suchen, die bestätigt werden wollen und auf das Glück warten. Die «Fahrer» hingegen würden nach dem Motto «no risk, no fun» die freie Fahrt genießen. Die eingängige, ungeniert direkte Sprache verleiht dem skurrilen Roman immer wieder amüsanten Schwung, wobei der wenig plausible Plot allerdings zunehmend uninteressanter wird. Allenfalls die reichlich eingestreuten feministischen Thesen und wohlfeilen Lebens-Weisheiten versprechen ein wenig Erkenntnis-Gewinn.
Fazit: mäßig
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An allem nagt der Zahn der Zeit: Vom Reiz der Vergänglichkeit
Thema des Buches »An allem nagt der Zahn der Zeit« ist die Vergänglichkeit. Der Autor geht davon aus, dass der Mensch als jüngste Spezies auf dem Planeten Erde bereits mit einem Bein im Grab steht. Zwar wissen wir nicht, auf welcher Stufe der Entwicklung wir stehen, auf der anderen Seite seien wir extrem anfällig für jede neue, überraschend auftretende Epidemie, da wir alles – und damit unsere Zukunft – auf ein einziges Organ setzen, und das ist das Gehirn. Weiterlesen
Sacred Sites
Sacred Sites. Die Reihe “Bibliothek der Esoterik”, die im TASCHEN Verlag verlegt wird, präsentiert “Orte der Andacht. Eine visuelle Erkundung der bedeutendsten Kultstätten“. Sacred Sites widmet sich dem menschlichen Bedürfnis nach Spiritualität durch eine visuelle Pilgerreise zu Bergen, Pyramiden oder Kathedralen. Mit vielen Essays, Interviews und mehr als 400 Bildern werden heilige Orte besucht. Darunter antike Tempel ebenso wie moderne Werke der Land Art.
Sakrale Geometrie und Architektur
Jessica Hundley, Autorin, Filmemacherin und Journalistin, erkundet in vorliegender Publikation Themen der Counterculture mit einem Fokus auf die metaphysischen, psychodelischen und magischen Aspekte. Hundley hat schon für die Vogue, Rolling Stone und die New York Times geschrieben, aber auch schon Bücher über Künstler wie Dennis Hopper, David Lynch und Gram Parsons veröffentlicht. Für Sacred Sites bekam sie Zugang zu Privatsammlungen, Bibliotheken und Museen aus aller Welt, die ihr Exponate zur Verfügung stellten. Werke der Moderne ebenso wie Archivbilder dokumentieren das Streben nach einem spirituellen Zugang zu unserer Welt, dem man natürlich auch durch (Tag-)Träume und Albträume auf die Spur kommen kann, um sich so selbst in Beziehung zum Göttlichen zu setzen.
Library of Esoterica: Sacred Sites
Faszinierend ist auch die Übereinstimmung vieler sakraler Gegenstände in den unterschiedlichsten Kulturen. So kommen etwa die Pyramiden, Monumente für eine Vielzahl von Göttern, sowohl in Afrika als auch Südamerika vor. Eine kosmische, sakrale Geometrie und Architektur ist aber auch in den marmornen Heiligtümern, die für die griechischen und römischen Göttinnen erbaut wurden, zu finden. Ebenso in windgepeitschten Bergklöstern des alten Asiens und in den Felsenwohnungen der Ureinwohner des amerikanischen Südwestens. Natur, Kunst, Schönheit stehen im Zentrum des fünften Bands der TASCHEN Reihe “Library of Esoterica” und zeichnet sich durch eine ästhetische sowie essayistische Annäherungsweise aus.
Ein spiritueller Ort des Rückzugs für jedermann
“Your sacred space“, meinte Joseph Campbell in seinen Reflections on the Art of Living 1993, “is where you can find yourself again and again. You really don’t have a sacred space, a rescue land, until you find somewhere to be that’s not a wasteland, some field of action where there is a spring of ambrosia – a joy that comes from inside, not something external that puts joy into you – a place that lets you experience your own will and your own intention and your own wish so that, in small, the Kingdom is there. I think everybody, whether they know it or not, is in need of such a place.” Wer sich – zumindest auf den Seiten dieses Buches – auf eine spirituelle Reise zu Heiligen Stätten durch die Kontinente und Jahrhunderte begeben möchte, wird vielleicht sogar einen Hinweis finden, wo er/sie sich selbst so einen heiligen Raum einrichten könnte.
Spirituelle Inspiration aus der Welt
Für Inspiration sorgt die vorliegende reich bebilderte Publikation, die zu den Pyramiden Ägyptens ebenso führt wie nach Stonehenge oder ins mythische Indien. Die rätselhaften Nazca Lines werden besucht und abgebildet und interessante Texte erklären die Zusammenhänge. Faszinierende Orte, die es entweder tatsächlich gibt oder von der Fantasie eines Menschen erschaffen wurden. Jessica Hundley hat sich schon durch viele andere Publikationen beim TASCHEN Verlag profiliert und steht für gleich bleibende Qualität. Eine spirituelle Reise zu alten Kulturen und jenen Resten davon, die in jedem von uns noch vorhanden sind.
Jessica Hundley
Sacred Sites. The Library of Esoterica
2024, Hardcover, quarterbound, 17 x 24 cm, 1.77 kg, 520 Seiten
ISBN 978-3-8365-9060-0
TASCHEN
€ 30
Heilung
Vom Sinnsucher zum Bauernknecht
In seinem zweiten Roman mit dem Titel «Heilung» erzählt Timon Karl Kaleyta von einem Mann, der nicht mehr schlafen kann. Unter den Überschriften «Innen» und «Außen» des zweiteiligen Romans wird zunächst der verzweifelte Kampf des egozentrischen Ich-Erzählers gegen seine Schlaflosigkeit in einem vom Schauplatz her dem «Zauberberg» ähnelnden, exklusiven Resort in den Dolomiten geschildert. Dort werden Leute behandelt, denen nichts fehlt, immer nach der Erkenntnis von Karl Valentin: «Gar ned krank is a ned g’sund». Im zweiten Teil befindet sich der Protagonist nach einem abrupten Wechsel des Settings in einem Prozess der Sinnfindung, frei nach dem Motto «Zurück zur Natur» des Aufklärers Jean-Jacques Rousseau, örtlich angesiedelt in einer idealtypischen, bäuerlichen Idylle, mitten in einer gottverlassenen Gegend.
Nach langem Sträuben gibt der namenlose Protagonist Mitte vierzig endlich dem Drängen seiner Frau Imogen nach, sich in die Obhut des für seine Behandlungs-Erfolge berühmten Prof. Trinkl zu begeben. Denn seine andauernde Schlaflosigkeit droht die immer noch kinderlose Ehe zu zerstören. Der Professor stellt fest, dass ein in seiner Vergangenheit begründetes «Unbehagen» schuld sei an seinen geheimnisvollen, psychischen Störungen. Schon am ersten Tag seines Aufenthalts lernt er im Schwimmbad Mona kennen, eine Frau, die offensichtlich Kontakt zu ihm sucht, obwohl sie weiß, dass er verheiratet ist. Zu den fragwürdigen Methoden des Professors gehört stundenlanges Einsperren seines Patienten in einer stockdunklen Kammer, und er geht auch zur Jagd mit ihm. Auf einem Hochsitz drückt er ihm, der noch nie eine Waffe in der Hand hatte, plötzlich ein Gewehr in die Hand. Er soll auf einen Bären schießen, den sie in Schussweite entdeckt haben, und als der Bär dann nur angeschossen ist, muss er ihn waidmännisch korrekt auch noch mit einem Messerstich ins Herz töten.
In einer traumartigen Szene lässt der Ich-Erzähler alles stehen und liegen und flüchtet vor diesen merkwürdigen Behandlungs-Methoden zu seinem Freund aus Kindertagen, der mit seiner Frau einen Bauernhof in einer einsamen Gegend bewirtschaftet. Der liefert den beiden Selbstversorgern alles, was sie zum Leben brauchen. Und hier findet der verzweifelte Mann auch endlich Ruhe, er beschließt, immer bei seinem Freund zu bleiben. Voller Elan bringt er sich ein in dieses archaische Leben, arbeitet körperlich hart und erlernt all die Arbeiten, die ein solcher Bauernhof mit sich bringt. Bis die Dinge schließlich eskalieren und ihn dort seine Vergangenheit einholt. Mit viel Symbolik, zu der auch diverse, immer wieder mal zitierte Klopstock-Gedichte zählen, entwickelt der Autor in verstörenden Szenen das Bild einer aus den Fugen geratenen Gegenwart, die auch die drohende Klimakatastrophe mit einbezieht. Es sind ebenso unheimliche wie absurde Bilder, die da heraufbeschworen werden.
Sowohl der Plot als auch das Setting dieses stilistisch misslungenen Romans, der den Rückzug aus der verachteten Leistungs-Gesellschaft zum Thema hat, sind wenig überzeugend, denn da ist Vieles geradezu an den Haaren herbeigezogen. Man weiß als Leser nicht, ob das, was man da liest, wirklich ernst gemeint oder einfach nur komisch ist. Gut gelungen ist die Schilderung der Seelenpein des gequälten Protagonisten, der bäuerliche Jugendfreund hingegen ist wenig glaubwürdig dargestellt, er bleibt als Figur eher blass. Imogen und die Frau des Freundes fristen erzählerisch sogar ein Mauerblümchen-Dasein. Und auch die begehrenswerte Mona verschwindet heimlich und spurlos während der erzählerischen Metamorphose des Helden vom ohnmächtigen Sinnsucher zum kraftstrotzenden Bauernknecht. Der kommt schließlich nach Hause und ist geheilt. Der Roman endet abrupt mit dem kaum noch zu überbietenden, kitschigen Satz des Ich-Erzählers: «Heute Nacht würde ich Imogen ein Kind schenken.»
Fazit: miserabel
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Der Nachtwächter
Modernes Indianer-Epos
Mit dem Roman «Der Nachtwächter» öffnet die US-amerikanische Schriftstellerin Louise Erdrich einen aufschlussreichen Einblick in die Kämpfe der indigenen Bevölkerung gegen die geplante Assimilierung. Im Nachlass ihres indianischen Großvaters fand die Autorin viele Briefe von ihm an seine Kinder, die «eine Fundgrube für spannende, lustige, klischeeferne Alltags-Geschichten aus dem Reservat» waren, wie sie im Nachwort schreibt, und die fiktional ergänzt in ihren Roman eingeflossen sind. Die Regierung in Washington verfolgte Anfang der 1950er Jahre Pläne zur Aufhebung der einst vertraglich festgelegten Sonderrechte der indianischen Bevölkerung, die, so lautet der Vertrag, gelten sollen, «solange das Gras wächst und die Flüsse fließen». In den USA gilt die in Deutschland weniger bekannte Louise Erdrich als eine der besten Gegenwarts-Autorinnen, der vorliegende Roman wurde 2021 mit dem begehrten ‹Pulitzer Prize for Fiction› ausgezeichnet.
Am 1. August 1953 wurden in der House Concurrent Resolution 108 die Indianerstämme benannt, die zur «Terminierung» vorgesehen waren, unter ihnen auch der Turtle Mountain Band of Chippewa. Die sogenannte Terminations-Politik sollte angeblich die in prekären Verhältnissen lebende, indianische Bevölkerung wirtschaftlich dem Niveau der weißen Bevölkerung angleichen. Letztendlich aber zielte sie nur darauf ab, endlich die Reservate aufzulösen und damit im Immobilienboom jener Jahre das Land für die großen Konzerne verfügbar zu machen. Männlicher Protagonist des Romans ist Thomas Wazhashk, der titelgebende Nachtwächter. Er kämpft als Vorsitzender des Stammesrates an vorderster Front gegen diese Pläne, beschäftigt sich intensiv mit der listig verklausulierten Gesetzesvorlage, schreibt in den langen Nachtstunden Briefe an das Bureau of Indian Affairs, an den Senator von North Dakota, und er korrespondiert mit den weitverstreut siedelnden, anderen Stammesräten. Als er nach zähem Kampf schließlich erreicht, dass eine Anhörung vor dem zuständigen Unterausschuss im Kongress anberaumt wird, sammelt er auch noch Geld ein bei seinen Leuten, damit eine kleine Delegation mit ihm zusammen für einige Tage nach Washington reisen kann.
Um diesen Handlungsrahmen herum schildert die Autorin in mehreren parallel verlaufenden Handlungssträngen vom Leben der Indianer im Reservat North Dakotas. Einziger Arbeitgeber ist dort eine in der Nähe angesiedelte Lagersteinfabrik, in der viele indigene Frauen beschäftigt sind. Sie bohren winzige Löcher in Edelsteine, die vor allem in der Uhrenindustrie gebraucht werden, eine Präzisionsarbeit, die für Männerhände nicht geeignet ist. Die beste Arbeiterin dort ist Patrice, die weibliche Protagonistin des Romans, eine blitzgescheite, toughe junge Frau, die von ihrem Lohn die ganze Familie ernähren muss. Ihre ältere Schwester ist nach Minneapolis gegangen und hat sich dann nicht mehr gemeldet. Monate später macht Patrice sich auf, um ihre verschollene Schwester und deren Baby zu finden. Sie findet das Baby auch und nimmt es mit nach Hause, ihre Schwester aber ist mutmaßlich in die Hände von Zuhältern geraten und wird irgendwo als Sexsklavin gefangen gehalten. Ein weiterer Handlungsstrang beschäftigt sich mit dem Boxsport, dessen Trainer für die schöne Patrice schwärmt, die ihm aber die kalte Schulter zeigt. In vielen Episoden, die kunstvoll zu einem beeindruckenden Epos miteinander verbunden sind, wird von weiteren Figuren aus dem Stamm der Chippewa erzählt. Sie sind allesamt sympathische Charaktere, die stimmig geschildert werden.
Mit leichter Hand und trotz aller Tragik humorvoll wird hier vom drohenden Verlust der Identität indianischer Stämme berichtet, die alle nicht Farmer werden wollen. In ihnen ist das Erbe ihrer Vorfahren tief verwurzelt, die bekanntlich nomadisierende Jäger waren. Leicht lesbar und mit einem klug aufgebauten Plot ist dieses moderne Indianer-Epos eine bereichernde Lektüre.
Fazit: erfreulich
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Beth Chatto Mein Leben für den Garten
Bei unserem Besuch in den Gärten von Beth Chatto und Christopher Lloyd (Christo) entdeckte ich das Buch Dear Friend and Gardener, die Korrespondenz der beiden, die, wie sich dann herausstellte, nur von 1996 und 1997 währte. Darin schwärmten sie von ihrem gemeinsamen Reisen in den vergangenen Jahrzehnten. Darüber wollte ich mehr lesen. Und dann war da noch etwas:
Vierundsiebzig
Nervige Arabesken
Der zweite Roman von Ronya Othmann mit dem kryptisch erscheinenden, tatsächlich aber für unsägliche Gräuel stehenden Titel «Vierundsiebzig» schließt an ihren Debütroman an. Der hat ebenfalls die Ethnie der Jesiden zum Thema, eine etwa eine Million Angehörige zählende Volksgruppe im Kurdengebiet zwischen Syrien, dem Irak und der Türkei. Diese auf keinen heiligen Schriften, sondern nur auf mündlich weitergegebene Regeln beruhende Sekte wurde Opfer des IS, dem eine Theokratie anstrebenden ‹Islamischen Staat›. Es war das historisch 74ste Genozid, dem die «Teufelsanbeter» und Ungläubigen, wie die Islamisten sie nennen, in ihrer Geschichte ausgesetzt waren. Der Vater der Autorin ist ein säkularer kurdischer Jeside, der mit einer Deutschen verheiratet ist. Womit er sofort, nach den strengen Regeln der Sekte, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen ist, denn Jesiden dürfen nur unter sich heiraten.
Ronya Othmann wurde in München geboren, ist im Landkreis Freising aufgewachsen und hat Literatur studiert. Im Fernsehen erfährt sie 2014 von den Gräueltaten an den Jesiden und sieht die flüchtenden Menschen, die ihre dort in Shingal lebenden Verwandten seien könnten. Sie müssen jetzt um ihr Leben rennen vor den Mördern des IS, sie ist entsetzt! Sie war schon öfter dort und hat mit dem Vater ihre Verwandtschaft besucht, und nun herrscht dort ein unbeschreiblicher Terror. Mit journalistischem Eifer beginnt sie, ihren Vater zu befragen und andere Jesiden, die sie kennt und die, wie 200.000 andere, in Deutschland in der weltweit größten Diaspora leben. In der Bibliothek findet sie Reiseberichte, die bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichen, sie studiert alles, was mit der Geschichte der Jesiden zu tun hat und recherchiert im Internet. Immer wieder katalogisiert die Sammelwütige ihre Flut von Notizen, ordnet unzählige Ton- und Videoaufnahmen auf ihrem Smartphone und kopiert sie auf eine Festplatte. Im Jahre 2018 reist sie dann erstmals wieder mit ihrem Vater nach Shingal, um Material zu sammeln, sie möchte ein Buch über den 74sten Genozid schreiben. Diese Reise, der noch zwei weitere folgen, bildet den erzählerischen Rahmen für ihre Geschichte, deren Entstehen sie ebenfalls ausführlich schildert und das sie dann mit den Erlebnissen und Erfahrungen auf ihrer Reise zu einem gemeinsamen Erzählstrang verknüpft.
Die Autorin hat ihr Buch als Roman bezeichnet, und so ist es denn auch vom Verlag deklariert, was in den Feuilletons verschiedentlich beanstandet wurde. Es sei eher ein Reisetagebuch, eine Autobiografie, Dokumentation, Geschichtsschreibung oder subjektive Reportage, kann man da lesen. Andererseits, und das entspricht dann doch einem Roman, ist das Buch deutlich fiktional angereichert und enthält auch einige poetische Einsprengsel. Nachdem die kurdischen Peschmerga den IS zurückgedrängt hatten, sind die vertriebenen Jesiden allmählich in ihre Heimat zurückgekehrt. Ihr auch als Dolmetscher fungierender Vater besucht mit ihr die Verwandtschaft, gemeinsam bereisen sie das ehemalige Jesiden-Gebiet. Immer wieder treffen sie dabei auf freundliche Leute, die ihnen gern weiterhelfen, wenn eine Fahrt an den Straßensperren der verschiedenen militärischen Gruppierungen zu scheitern droht.
Mit scharfem Blick für Details registriert die Autorin fast alles und beschreibt es minutiös. Die gastfreundlichen Menschen, sogar Soldaten oder Beamte, bieten ihnen sofort Tee an, wenn sie auf etwas warten müssen. Geschätzt Hunderte von Malen wird da Tee getrunken. Spätestens ab der Hälfte des gut gemeinten und absolut wichtigen, dickleibigen Buches beginnt man sich zu ärgern über diese immergleichen, banalen Beschreibungen und die unzählbaren, oft wortwörtlichen Wiederholungen. Erzählerische Arabesken mithin, die nicht kitschig, sondern einfach nur nervig sind. Da ist ein erstmaliger IS-Prozess vor dem Oberlandesgericht München mit einer grandiosen Urteilsbegründung geradezu ein Labsal für den frustrierten Leser. Schade eigentlich, aber literarisch nicht überzeugend!
Fazit: mäßig
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Iowa – Ein Ausflug nach Amerika
Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten
«Iowa», das neue Buch der unter ihrem Künstlernamen Stefanie Sargnagel schreibenden, österreichischen Schriftstellerin S. Sprengnagel, trägt den Untertitel «Ein Ausflug nach Amerika». Dieses fiktional angereicherte Reisetagebuch beschreibt einen Aufenthalt der Wiener Autorin in der Kleinstadt Grinnell, mitten in der Einöde Iowas. Das exklusive Elite-College von Grinnell hat sie 2022 zu einem zeitlich begrenzten Lehrauftrag über Creative Writing eingeladen. Sie reist zusammen mit ihrer zwanzig Jahre älteren Berliner Freundin, der Sängerin Christiane Rösinger, die vom College für einen Festabend engagiert wurde. Und die ist es denn auch, die dem Buch äußerst amüsante, korrigierende Fußnoten hinzufügt. Wie schon der ulkige Künstlername vermuten lässt, geht es in dieser Road Novel ziemlich lustig zu.
Genüsslich arbeitet die Autorin in ihrer Geschichte alle, aber auch wirklich alle Klischees ab, die es über die USA gibt, und zwar alle, die man schon kennt, und viele, die es noch zu entdecken gibt in diesem Buch. Für die beiden Großstädterinnen ist das langweilige Kaff ein Kulturschock der besonderen Art. Und es ist nicht nur das allgegenwärtige Fast Food, es sind auch ansprechend erscheinende Restaurants, die sich als permanente Enttäuschung und resigniert hinzunehmendes Ärgernis herausstellen. Erstaunt sehen sie in einer Bar zum Beispiel ein Glas voller eingelegter Truthahnmägen, Gipfel der skurrilen Genüsse, die man in Iowa offensichtlich goutiert. Die beiden Frauen taumeln von einer kulinarischen Zumutung zur nächsten und landen in «abgeranzten Bierspelunken». Nichts schmeckt, alles ist lieblos zubereitet. Und das gilt nicht nur für die amerikanische Küche, sondern auch für die dort häufig vertretene asiatische, welche die Beiden aus Österreich oder Deutschland ganz anders kennen. Und bei den Getränken ist es besonders die überall gleiche Plörre, die man bekommt, wenn man Kaffee bestellt, was die Freundinnen dann jedes Mal aufs Neue verzweifeln lässt.
Die Beiden erleben bei ihren Ausflügen immer wieder skurril anmutende Überraschungen, sei es in den kleinen Läden des Ortes, in merkwürdigen Museen, in Second Hand Shops, in den Waffengeschäften oder im Walmart, dem riesigen Supermarkt. Oft spazieren sie durch den menschenleer erscheinenden Ort, wo niemand mehr zu Fuß unterwegs ist und man selbst für zweihundert Meter lieber ins Auto steigt als zu laufen. Die Menschen sind fast alle übergewichtig, ernähren sich falsch und bewegen sich zu wenig. Mit scharfem Blick erfasst die Autorin all die kulturellen Unterschiede und erzählt sie dann liebevoll spöttisch, aber schonungslos ehrlich, manchmal sarkastisch, aber unverkennbar auch voller Sympathie. Ihr Vergleichs-Maßstab dabei ist das für sie vermeintlich anarchische, politisch rechtslastige Österreich.
Die Kettenraucherin Stefanie Sargnagel gibt sich im Buch als typisch grantelnde Wienerin, die ihren Frust im Alkohol ertränkt, und ihre Freundin hält als bühnenerprobte Punksängerin dabei meistens wacker mit. Die Autorin, eine ausgewiesene Feministin, spricht mit ihr über ihren latent vorhandenen Kinderwunsch, übers Älterwerden, über Künstlertum, Geschlechterrollen oder über die Abtreibungs-Debatte in den USA. Sie verliert sich, meist leicht beschwipst, in unpathetischen Selbst-Analysen oder sinniert zum Beispiel über Frauen-Freundschaften. Und es ist denn auch gerade ihre Freundschaft, die verschiedenen Charaktere der Beiden, die den besonderen Reiz dieses Buches ausmachen, besonders in den funkelnden Wortgefechten. Sprachlich salopp und immer ironisch wird hier ein Klischee nach dem anderen bedient. Dabei bieten sich jedoch en passant auch viele erkenntnisreiche Einblicke in das «Land der unbegrenzten Möglichkeiten», zu denen leider auch eine durch keinerlei soziale Unterstützung abgemilderte, geradezu archaisch anmutende Armut gehört.
Fazit: erfreulich
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Set the Night on Fire
Set the Night on Fire. 1965, Venice Beach, California: vier illustre Gestalten gründen eine der aufsehenerregendsten Bands der Sechziger. Vor allem ihr Leadsänger Jim Morrison zieht die Aufmerksamkeit der sensationsgeilen Medien auf sich. 1967 ihr erster Durchbruch mit der Number 1 Hit Single Light My Fire. Geschrieben hat diesen Song Robby Krieger, der Gitarrist, der in vorliegender Autobiographie seine Sicht der Dinge darlegt.
Set the Night on Fire!
Nach den Autobiographien von Ray Manzarek und John Densmore, den beiden anderen Gründungsmitgliedern, ist nun auch mit großem zeitlichen Abstand auch Robby Kriegers Lebensbeichte erschienen. Denn es geht bei weitem nicht nur um die Doors, in seiner Autobiographie, Robby hatte auch ein Leben außerhalb und nach den Doors. Denn 1969, nur vier Jahre nach der Gründung der Band, war eigentlich alles schon wieder vorbei. Der Miami-Vorfall hatte die Band an den Rand ihrer Existenz gebracht und Jim Morrison wäre eventuell sogar im Gefängnis gelandet, wäre er nicht noch vor Prozessende am 3. Juli 1971 in Paris an einem Herzinfarkt in der Badewanne gestorben. Oder war es doch das Heroin, das seine Freundin und Langzeitlebensgefährtin Pamela Courson ihm verabreichte? Robby Krieger hält nicht hinter dem Berg, dass auch er die fatale Droge damals konsumierte. Genauso wie Kokain, Marihuana und LSD. Letztere, die sog. bewusstseinserweiternde Droge, war bei Gründung der Doors sogar noch legal. Alle hatten es damals probiert.
It was the sixties, man!
Für Jim Morrison war es laut Robby Krieger nur eine Möglichkeit seine Grenzen zu testen. Meistens testete er seine Grenzen aber an seinen Bandenmitgliedern, wie Robby verschmitzt bemerkt. “The worst hair in Rock’n’Roll” lautet seine bescheidene, selbstironische Selbstbeschreibung. Immerhin hatte Robby die größten Hits der Doors geschrieben, seinen süffisanten Humor beweist er auch in seiner Autobiographie. Etwa wenn er erzählt, dass es “Light My Fire” – immerhin der größte Hit der Doors – niemals ohne die Coverversion von José Feliciano “in den Orbit” geschafft hätte. Offene Worte findet Robby auch über seinen Zwillingsbruder Ronny, seine Eltern oder seine Beziehungen: “Or when I contracted crabs (Filzläuse, AP). What can I say? It was the sixties, man.”
Ship of Fools
Die Struktur von Robbys Doors Narrativ richtet sich lose nach den Studioalben der Band. Aber er öffnet auch den Zugang zu seinem öffentlichen und privaten Leben in Rückblenden und Meditationen zwischen dem Hier und Jetzt. Große Genugtuung brachten ihm die Tourneen der Doors nach Jims Tod, denn Robby spielte in den verschiedensten Formationen, u.a. auch mit Ray Manzarek in The Doors of the 21st Century mit Ian Ashbury (The Cult) als Morrison-Inkarnation. Allerdings brachten diesen Auftritte auch John Densmore und die Coursons und Morrisons auf den Plan, die das “Erbe der Doors” schützen wollten und Klage einreichten. Legal Battles waren die Folge, die vielleicht länger in Erinnerung bleiben als die guten Zeiten, die sie miteinander verbrachten. Aber spitzbübisch wie er nun einmal ist managte er auch diese eingefahrene Situation. So wie die Konzerte: Sie hätten nie mit einer Set List gespielt, erzählt Robby, denn das heute dem Konzert die Spontanität genommen und die Beziehung zwischen Band und Publikum zerstört.
Trauma Hochschaubahn
Was Oliver Stone in seinem Film aus Jim gemacht hätte? “He came across as a pretentious, obnoxious, stupid Druck who was a dick to everyone around him”, aber Jim war eher so: “He was a funny, and shy, and when he was out of line he knew it, and he was sorry. He hat a way of making everyone who mit him feel like he was their best friend.” Seine Zeit mit Jim Morrison bezeichnet er als “six year roller coaster ride“, und beschreibt die Zeit nach der Achterbahnfahrt dann so: “It was full of loops and corkscrew turns and Drops that suspended laws of gravity. We needed a Moment for our heart Rates to return to normal“. Man merkt trotz allem Humor und der vielen anderen Geschichten, dass Robby immer noch im Bann der Doors steht und irgendwie unter dem Schock des Verlusts. Man stelle sich vor, dass der wichtigste Mensch im Leben einfach von einem zum andern Tag verschwindet: “There was no one last Drink. There was no one last meal. A few days later he was just gone.” Erst nach Paris, dann in den Orbit.
“To me, its value lies in what it inspired“, meint Robby über seine verschollene Gibson SG mit der er Light My Fire komponiert hatte. Vielleicht gilt das auch für das Werk, das die Doors hinterlassen haben.
Robby Krieger
Set the Night on Fire
Living, Dying and Playing Guitar with the Doors
2021, 432 Seiten, 196 x 128mm
ISBN-13 978-1-4746-2418-3
White Rabbit Publishing
€ 20.-
Das Philosophenschiff
Falsch erzählt, aber gut erfunden
Zum riesigen Œuvre des österreichischen Schriftstellers Michael Köhlmeier ist nun der neue Roman «Das Philosophenschiff» hinzugekommen. Ein neugierig machender Buchtitel, der sich auf die Schiffe bezieht, mit denen die Bolschewiken unliebsame Intellektuelle ins Exil verfrachtet haben. Zu denen gehört auch die vierzehnjährige Tochter eines russisch-jüdischen Akademiker-Paares, die mit ihren Eltern und sieben anderen Geistesgrößen und Künstler 1922 auf einem solchen Schiff aus Russland deportiert werden. Niemand weiß wohin, und ob sie letztendlich nicht doch noch liquidiert werden wie all die anderen Opfer des bolschewistischen Terrors. Der Erzähler der Geschichte ist ein Schriftsteller namens Michael, der im Auftrag einer weltberühmten österreichischen Architektin einen Roman über deren Leben schreiben soll. Er ist dafür bekannt, Fakten und Fiktionen kaum unterscheidbar in seinen Erzählungen miteinander zu verflechten. «Deshalb glaubt man Ihnen oftmals nicht, wenn Sie die Wahrheit schreiben, und glaubt Ihnen, wenn Sie schummeln», begründet die exzentrische Anouk Perleman-Jacob bei einem Bankett zu ihrem hundertsten Geburtstag, warum sie ausgerechnet ihn mit diesem Buch beauftragen will.
In der äußeren Erzählfläche dieses Romans schildert der so gern fabulierende Ich-Erzähler, wie er sich im Haus der Architektin ihre Lebensgeschichte erzählen lässt. Diesen Sitzungen entsprechen die einzelnen Kapitel des Romans, jeweils eingeleitet durch kurze Erläuterungen und Fragen des Schriftstellers. In der inneren Erzählfläche werden, in Anführungszeichen gesetzt, die mündlichen Schilderungen der greisen Dame wiedergegeben, von ihm mit dem Smartphone aufgezeichnet. Während dieser mehrstündigen, interviewartigen Gespräche entwickelt sich zwischen ihnen eine gewisse Sympathie, der Ton wird deutlich lockerer. Eine mehrtägige Pause nutzt der Schriftsteller dazu, in der Wiener Staatsbibliothek Näheres über die Hintergründe der Lenin-Ära zu recherchieren, denen er dann ein eigenes Kapitel widmet.
Die zehn Personen auf dem «Philosophenschiff» haben keinerlei Kontakt zur Besatzung, Sie sind in Kabinen der dritten Klasse untergebracht und dürfen sich nicht frei bewegen auf dem riesigen, für zweitausend Passagiere ausgelegten Luxusdampfer. Nach einigen Tagen stoppt das Schiff ohne erkennbaren Grund mitten auf der Ostsee, durch die Bullaugen kann man einen Kutter beobachten, der am Schiff anlegt. Neugierig geworden findet Anouk einen allerdings gefährlichen Weg, aus ihrem abgesperrten Deck heraus zu kommen, indem sie aus einem zufällig nicht versperrten Kabinenfenster herausklettert und auf einer an der Außenwand des Schiffs angebrachten Leiter auf das Promenadendeck hochsteigt. Sie trifft dort einen alten Mann, der mutterseelenallein in einem Rollstuhl sitzt, halbseitig gelähmt. Es ist niemand geringerer als Wladimir Iljitsch Lenin, der nach dem historischen Motto «Die Revolution frisst ihre Kinder» in Ungnade gefallen ist. Die Vierzehnjährige kommt mit dem einsam dahin dämmernden, aber geistig hellwachen Revolutions-Führer ins Gespräch, sie reden über Macht und Liebe. Nach einigen Tagen wird Lenin dann einfach über Bord geworfen, Anouk ist heimliche Zeugin des Verbrechens. Eine Flunkerei natürlich, denn Lenin ist nicht ins Meer geworfen worden, er starb auch nicht 1922, sondern zwei Jahre später, wurde dann als Mitbegründer der UDSSR einbalsamiert und auf dem Roten Platz im Lenin-Mausoleum an der Kremlmauer aufgebahrt, ein Zuschauermagnet par excellence.
Neben den grausamen Verfolgungen ist das Scheitern des Bolschewismus ein dominantes Thema dieses Romans, der trotz aller historischen Schummeleien aufklärend und bereichernd wirkt. Brillant und oft lakonisch erzählt der Autor durch seine Protagonistin bedrückende, skandalöse, aber auch amüsante Geschichten, deren oft anekdotische Szenen aber manchmal doch etwas zu aufgesetzt wirken. Gleichwohl gilt: ‹Falsch erzählt, aber gut erfunden!›
Fazit: lesenswert
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Nochmal von vorne
Da capo
Auch der zweite Roman von Dana von Suffrin mit dem Titel «Nochmal von vorne» widmet sich dem Thema jüdisches Leben in Deutschland, die promovierte Historikerin beschreibt darin die komplizierte Geschichte einer vierköpfigen Familie aus der Perspektive der jüngeren Tochter. Dabei deckt diese unverkennbar autobiografisch gefärbte, fragmentarisch erzählte Geschichte einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren ab. Sie beginnt in der Jetztzeit mit dem Tod des aus Siebenbürgen stammenden Vaters, um dann in vielen Rückblenden bis in die 90er Jahre hinein, bis in die Kindheit der Ich-Erzählerin Rosa zurück zu schweifen. Schon der Buchtitel deutet auf ein Da capo hin, denn der Debütroman «Otto» handelte von ebendieser chaotischen Familie, die in dem neuen, für den Deutsche Buchpreis nominierten Roman nun erneut im Fokus steht.
Diese deutsch-rumänische Familie ist von extremen Fliehkräften geprägt, denn alle Vier, Vater, Mutter, Rosa und ihre ältere Schwester Nadja, trachten aus ganz unterschiedlichen Gründen danach, ihrer Familie zu entkommen. Beweggründe dafür sind unerfüllte Sehnsüchte, Heimatlosigkeit, Freiheitsdrang, Überdruss der Ehepartner, dauernde Streitereien und die Divergenz der intellektuellen Fähigkeiten, die da ungebremst aufeinander prallen. Der Vater hat in Rumänien ein Studium der Chemie absolviert, das aber in Deutschland nicht anerkannt wird. Er arbeitet deshalb nun als Laborant der Münchner Stadtwerke und kontrolliert Proben des Abwassers. Studienabbrecher sind auch die beiden ungleichen Schwestern. Rosa ist wenigstens im Archiv ihrer Fakultät an der Uni untergekommen, Nadja hingegen schlägt sich mit ständig wechselnden Jobs mehr schlecht als recht durchs Leben. Am Ende des Romans lebt sie mit einer Professorin für Medien-Theorie in deren, nach Ansicht Rosas, hässlichem Einfamilienhaus zusammen und führt, ganz ungewöhnlich für sie, den gemeinsamen Haushalt.
Nach dem Tod des Vaters ist die Ich-Erzählerin gezwungen, sich um die Auflösung seiner Wohnung in Rumänien zu kümmern. Mit ihrer älteren Schwester hat Rosa seit sechs Jahren keinen Kontakt mehr, also muss sie sich alleine um den Nachlass kümmern. Sie bestellt eine Firma, um die Wohnung auszuräumen und den armseligen Hausrat zu entsorgen. Und da sie auch keine irgendwo versteckten Ersparnisse fand, muss sie auch noch allein für die Bestattungs-Kosten aufkommen, denn sie kann die exzentrische Nadja nicht mal mehr telefonisch erreichen. Zwischen Vater und Mutter tobte ein ständiger Streit, der meistens von der aggressiven Mutter ausging, die ihren Mann für einen Schlappschwanz hielt, der sich antriebslos in seiner unter-qualifizierten Stellung eingerichtet hat, wodurch die Familie zu einem sehr bescheidenen Leben gezwungen war. Ein Ausbruch der Mutter aus diesen bedrückenden Verhältnissen war dann ihre Selbstfindungs-Reise nach Thailand, von der sie nie mehr zurück gekehrt ist. Sie war zu weit ins Meer hinaus geschwommen, kam nicht mehr zurück und wurde nach zwei Wochen für tot erklärt. Schlimmer noch als die Mutter ist die launische Nadja mit ihren Neurosen, die oft nicht reagiert, wenn man sie anspricht, oder einfach mitten im Gespräch wegläuft. Sie ist eine Exzentrikerin durch und durch, die sich keinen Konventionen beugt, sich wie ein Paradiesvogel herrichtet und anzieht, manchmal von einem Tag zum anderen wieder ganz anders.
Unter Verzicht auf einen linear erzählten Plot und mit nicht immer nachvollziehbaren Szenewechseln wird in dieser Familiengeschichte ein Jahrhundert voller politischer Verwerfungen gespiegelt, ohne dass ein Holocaust-Roman daraus geworden ist. Erzählt wird in einer schlichten, leicht lesbaren und vorwärts drängenden Sprache, in der unverkennbar eine leichte Ironie mitschwingt und manchmal auch die jüdische Abart des schwarzen Humors.
Fazit: lesenswert
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Blutorangen – Eine Reise zu den Zitrusfrüchten Italiens
Kulturgeschichte der Blutorangen und Zitronen
Allheilmittel Zitrone
Wenn Lucio Battisti seiner Geliebten verspricht, dass in seiner Brust eine Zitrone schlägt (“batte in me un limone giallo, basta spremerlo“) und damit unweigerlich die Aufforderung es auszupressen (spremerlo) verbunden wird oder Paolo Conto in seinem Chanson “gelato al limon” verspricht, dass Liebe keine Sache des Geldbeutels sei, wird auch den etwas weiter nördlich Geborenen unweigerlich klar, dass die Zitrone mehr ist als nur eine Frucht. Schon in Zeiten der Pest wurden ihr heilsame Fähigkeiten zugesprochen, weswegen die Dottori mit der langen Nase der Commedia dell’Arte stets getrocknete Exemplare darin aufbewahrten. Auch in unserem Jahrhundert wuchs der Verkauf der Zitrone ums Doppelte, da viele glaubten, die Zitrone helfe auch gegen Corona. Aber genug der Theorie, die Gelateria Mario Campanella im apulischen Badestädtchen Polignano a Mare kredenzt einen Caffè Speciale, den man sich nicht entgehen lassen sollte: er enthält Zesten (sehr feine Streifen der Schale einer Zitrusfrucht) von Zitronen und gilt als Hinweis, wie vielseitig verwendbar die Zitrusfrüchte doch sind. Das zeigen auch 12 Rezepte, die Peter Peter feinsinngerweise zusammengestellt hat und hier sogar mit Fotos präsentiert.
Zum Nachkochen dringend empfohlen! (Auch das Rezept für einen zünftigen Limoncello ist dabei.) Natürlich erfährt der Leser auch woher die besten Zitronen kommen und was ihre Unterschiede sind. Ob Gardasee oder Kalabrien, jede Region hat ihre eigenen Vorzüge und Zitronen, darauf spielt auch die Beuyssche Capri-Batterie an.
Peter Peter
Blutorangen
Eine Reise zu den Zitrusfrüchten Italiens
2024, SALTO [285], 144 Seiten, rotes Leinen, fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1384-9
Wagenbach Verlag
22,– €
Unrast
Glückliches Polen
Die polnische Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tokarzuk hat 2007 ein Buch veröffentlicht, das in ihrer Heimat hoch gelobt wurde und zwei Jahre später dann unter dem Titel «Unrast» in deutscher Übersetzung erschien. Im Jahre 2018 wurde ihm schließlich der britische International Booker Prize verliehen. Die Resonanz in Deutschland war eher verhalten, und das Feuilleton war völlig uneins. Denn das als Roman veröffentlichte Buch entspricht kaum den Erwartungen an dieses literarische Genre, viele sehen darin eher eine Kurzgeschichten-Sammlung. Die Autorin selbst hat ihr Buch als «Konstellationsroman» bezeichnet, «eine genre-übergreifende Sammlung von Fiktion, Historie, Memoir und Essay». Und weiter: «Als ich es erstmals meinem Verlag geschickt habe, riefen sie mich zurück und fragten, ob ich vielleicht die Dateien in meinem Computer durcheinander gebracht hätte, denn das sei kein Roman». Wie auch immer! «Ein Roman wie dieser könnte niemals den Deutschen Buchpreis gewinnen», schrieb Ina Hartwig 2009 in der Frankfurter Rundschau. Und sie fügte hinzu: «Glückliches Polen, wo Bücher wie dieses mit dem wichtigsten Literaturpreis des Landes ausgezeichnet werden!» Wo sie recht hat, hat sie recht!
Im polnischen Original heißt das Buch «Bieguni», die Bezeichnung für eine orthodoxe jüdische Sekte, deren Mitglieder daran glaubten, in der ständigen Bewegung Gott näher zu sein. Neben vielen, manchmal nur eine halbe Seite umfassenden Notizen, Porträts, Glossen und Gedankensplittern der Ich-Erzählerin, neben zufälligen Beobachtungen, historischen oder mythologischen Randbemerkungen gibt es auch umfangreichere Geschichten. Da verschwindet zum Beispiel während eines Spaziergangs eine Frau spurlos mit ihrem Kleinkind. Die Suche der Polizei auf der kleinen, kroatischen Insel ist vergebens. Als sie drei Tage später wieder auftaucht, bleibt sie ihrem Mann jede Antwort schuldig, wo sie gewesen ist, – ihre Ehe zerbricht daraufhin. Ein ehemaliger Walfänger, der als Kapitän auf einer Fähre frustriert täglich mehrmals immer die gleiche Strecke fahren muss, nimmt plötzlich Kurs aufs offene Meer. Was die Passagiere zunächst ziemlich irritiert, aber ihr Protest schlägt schnell in Zufriedenheit um, alle finden den neuen Kurs prima. Auch die Mutter eines behinderten Kindes verlässt ohne ein Wort die Familie, streift ziellos durch Moskau, kampiert in der Metro und teilt das Leben der Obdachlosen. Wie lange, bleibt offen!
Erzählt wird auch von einem Altertums-Wissenschaftler, der auf einem Kreuzfahrtschiff Vorträge für die Passagiere hält. Berichtet wird zudem von Reise-Psychologen, die einem zufälligen, ständig wechselnden Publikum im Wartebereich eines Flughafens Vorträge halten über ihr Fachgebiet. Ein längerer Erzählstrang beschäftigt sich mit dem Thema Plastination und der Konservierung von Leichen. Dazu gehören dann auch mehrere ausführliche Briefe der Tochter des Kammer-Mohren am Hofe des Kaisers Franz III, die hartnäckig darum bittet, ihr die im Museum ausgestellte, mumifizierte Leiche ihres Vaters für eine christliche Bestattung zu überlassen. Und die Schwester von Frédéric Chopin schließlich, die ihren berühmten Bruder innig geliebt hat, begleitet sein Herz auf eine letzte Reise in die Heimat. Sogar ein Loblied auf die überaus wichtige Funktion von Wikipedia fehlt nicht in den lose verknüpften, literarischen Miniaturen, die dieses geradezu nomadisierende Buch prägen.
In seiner Intention ist «Unrast» eine kritische Auseinandersetzung mit der globalisierten, spätkapitalistischen Welt. Das Unstete, die Reisesucht und Entfremdung kennzeichnen die zunehmende Entwurzelung des Menschen. Immer wieder weicht die zentrale Perspektive einer dezentralen, fragmentierten, auf Emphase seiner zumeist sympathischen Figuren setzenden Erzählweise. Stilistisch brillant und wortmächtig erzählt, ist dieses Buch eine kontemplativ außergewöhnlich anregende Lektüre.
Fazit: erstklassig
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