Euphoria

„Spannend… intensiv, verführerisch, erotisch…“, so überschlagen sich Literaturkritiker diverser renommierter Medien bei ihren Rezensionen zu Euphoria. Kombiniert mit dem Wortklang des Titels und dem nach einem fiktiven Pseudonym klingenden Namen der Autorin verführen spätestens Keywords aus der Inhaltsangabe wie „Dreiecksbeziehung in exotischem Setting“ zu völlig unzutreffender Kategorisierung. Also Vorsicht vor voreiligen Schnellschlüssen, denn das Buch bietet aus diesem Genre relativ wenig, aber dafür viel mehr Höherkarätiges. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Erzählung, Gesellschaftsroman, Historischer Roman, Reisen
Illustrated by C.H. Beck München

Sweeter than fame

Ein Rocksar in einer Kleinstadt?

Die 30-jährige Ani Bennett ist vor Jahren in ihre beschauliche Heimatstadt Wildwood zurückgekehrt – gerade weil sie nach einem traumatischen Vorfall wieder zur Ruhe kommen will. Sie lebt jetzt in einem kleinen Holzhaus und arbeitet ganz unspektakulär in einem Tante-Emma-Laden. Aber mit einem Mal ist es mit der ganzen unspektakulären Lebensweise wieder vorbei, als Ani merkt, wer in das benachbarte viktorianische Anwesen eingezogen ist: der berühmte Rockstar Garret Hayes. Der will nach ebenso traumatischen Vorfällen genau wie Ani nur seine Ruhe haben. Das bekommt Ani sehr schnell mit und beschließt, dem Rockstar Anonymität zu gewähren. Damit hat sie bei dem mürrischen und melancholischen Mann einen Stein im Brett. Außerdem bittet Garrets Freund und Bandkollege Ani, sich um den trauernden Mann zu kümmern. Allmählich entwickelt sich eine platonische Freundschaft zwischen den beiden – bis Ani feststellt, dass sie sich wider jede Vernunft in den Rockstar verliebt hat.

Romantik, Traumata und Heilung

Der in sich abgeschlossene Liebesroman präsentiert eine heil(end)e Welt als Rahmen. Die Kleinstadt mit ihren Bewohner*innen voller Eigenheiten, Macken und trotzdem herzlichen, anteilnehmenden Eigenschaften und die schöne Landschaft werden im Buch liebevoll beschrieben, sodass die Leser*innen sehr gut in diese kleine, heile Welt eintauchen und verstehen können, warum diese als Rückzugsort bei seelischen Schmerzen dient. Man fühlt sich auch als Leser*in eingepuckt in diese Wohlfühlatmosphäre. Und in dieser wird nach und nach, also in verdaulichen Happen, enthüllt, welche Traumata die Hauptfiguren quälen, wie sie bisher damit umgegangen sind und wie sie weiter damit umgehen wollen. Es wird deutlich, dass Heilung ein Prozess ist, der Zeit braucht und auch Irrwege und Sackgassen beinhalten kann. Die Autorin versteht es, die Traumata ihren Leser*innen nicht schockierend hinzuklatschen, sondern eingebettet in eine gute Atmosphäre schrittweise darzubieten und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie man damit umgehen kann.

Die Romantik kommt ebenfalls nicht zu kurz. Auch die Liebe ist ein Prozess, wie der Roman schön zeigt. Und er zeigt auch, dass man nicht perfekt sein muss, um eine Beziehung einzugehen, sondern dass auch Unperfektheiten gut zueinander passen und sogar bei der eigenen Entwicklung helfen können. Humor ist sowieso in allen Lebenslagen eine Hilfe, auch in diesem Roman.

Ebenfalls schön: Der Rockstar wird nicht als abgehobene Person dargestellt, sondern als Mensch wie jede*r andere auch (was Stars eigentlich sind, selbst wenn diese oder die Fans das gern mal vergessen). Garrett hat mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen, nimmt dabei aber irgendwann Hilfe von außen an – ab da beginnt seine Heilung. Außerdem merkt er instinktiv, dass er am besten in einer ruhigen Umgebung als normaler Mensch heilen kann. Das ermöglichen ihm Ani und später auch die Dorfbewohner, indem sie Garretts Identität so lange schützen, wie er es braucht. Bei allen Figuren ist eine Charakterentwicklung zu beobachten – sie entwickeln sich zu ihren Gunsten, auch durch die Hilfe der anderen, weiter und finden letztlich ihren Weg.

Fazit

Der New-Adult-Roman bettet eine sehr gut aufgebaute romantische Beziehung in einen Ort mit Wohlfühlatmosphäre ein, der als Ausgangspunkt für die Heilung der Traumata der Hauptfiguren dient. Spannend und sensibel geschrieben.


Genre: New Adult, Romantik, Traumata
Illustrated by LYX- Verlag/ Bastei Lübbe

Frauen in Speyer. Leben und Wirken in zwei Jahrtausenden. Ein Beitrag von Speyerer Frauen zum Jubiläumsjahr (hrsg. im Jubiläumsjahr der Stadt Speyer 1990)

Zitate zum 8. März (Weltfrauentag)

„Frauen leisten zwei Drittel der Arbeitsstunden, haben ein Zehntel des Einkommens und ein Hundertstel des Eigentums auf der Welt.“ Monika Griefahn

„Einer Frau steht Mut immer gut.“ Antonia Rados

„Ich kann die Stelle in der Bibel einfach nicht finden, in der Gott der Frau die Gleichberechtigung abspricht.“ (Sarah Moore Grimké, geb. 1792)

Spuren von Frauen?

“Wenn wir nun nach konkreten Zeugnissen oder wenigstens Spuren von Frauen suchen, dann erleben wir die Enttäuschung, daß selbst in den ausführlichen und farbigen Schilderungen des Speyerer Reichstages Frauen gar nicht vorkommen. Aber auch die wenigen Kirchenbücher aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die durch die vielfältigen Kriegswirren und Fluchtbewegungen hindurch gerettet werden konnten, bieten nur spärliche Hinweise auf Frauen.” (S. 109)

„Da sind schon wieder keine Frauen drin!“

„Da sind schon wieder keine Frauen drin!“, empörte sich Frauenbeauftragte Friederike Ebli, als sie die neueste Ausgabe der Speyerer Geschichte in Händen hielt. Also beschloss sie, eine eigene Geschichte der Frauen der Stadt Speyer zum Jubiläumsjahr Speyers herauszugeben. Dafür stellte die Stadt aber wenig bis keine Unterstützung bereit, also musste Ebli sehen, wie sie das Projekt auf die Beine stellte und finanzierte. Sie wandte sich also an kompetente Frauen wie Archivarinnen, um die Speyerer Geschichte nach berühmten Frauen und überhaupt nach Frauengeschichte zu durchforsten – und sie wurde fündig. Außerdem arrangierte sie Treffen, an denen an dem Projekt interessierte Frauen teilnehmen konnten. Das erste schon war ein voller Erfolg, denn es kamen viele Frauen von z.T. sehr unterschiedlicher Herkunft und Profession, darunter viele Schwestern, die sagten: „Wir sind auch Frauen!“ Später sind sie zu einem beachtlichen Teil im Buch vertreten und zeigen auf, was die religiösen Frauen für eine tiefgehende nicht nur soziale Wirkung in ihrem Einzugsbereich hatten. Es waren auch Frauen dabei, die aufgrund ihres Berufes Korrektur gelesen oder lektoriert haben und auch sonst ehrenamtlich zu dem Buch beitrugen. Das Cover entwarfen Schülerinnen des Edith-Stein-Gymnasiums im Kunstunterricht. Es zeigt neben dem Zeichen für Weiblichkeit die Krone von Kaiserin Gisela, Gattin von Kaiser Konrad II. – der im Gegensatz zu seiner Frau nicht lesen und schreiben konnte (vgl. u.a. https://www.speyer.de/de/familie-und-soziales/frauen/historische-frauenspuren-in-speyer/kaiserin-gisela/, https://saeulen-der-macht-ingelheim.de/gisela-2/). Entstanden ist so ein Buch, das einen breit gestreuten Blick explizit auf die ignorierte und verdrängte Frauengeschichte wirft und diese wieder aus den Niederungen des Vergessens in das Licht der Erinnerung holt.

Frauen in deutlich mehr Bereichen tätig als in den sozialen

Natürlich fehlt in dem Buch ein Portrait dieser wichtigen Frau nicht, ebenso wenig wie das von anderen kaiserlichen Hoheiten wie Kaiserin Bertha, Beatrix und Agnes. Zunächst beginnt das Buch aber mit einer Spurensuche in der Frühzeit und im römischen Speyer, wo sich leider wenig Spuren finden lassen, auch recht wenig bzgl. einer Göttinnenverehrung.

Es geht weiter mit dem Leben und Wirken katholischer Frauen von den Anfängen bis zur Neuzeit und neuerer Zeit, die oft Frauenbildung fokussiert haben. Es folgt das Leben und Wirken evangelischer Frauen – die ersten Pfälzer Diakonissen stammten aus Speyer. Das Wirken dieser Frauen wird als „umfangreiche und vielseitige christliche Sozialarbeit“ (s. 115) beschrieben. Die evangelischen Frauen seien für die kulturelle und geistige Entwicklung der evangelischen Gemeinden ein wichtiger Schritt gewesen (S. 110).

Auch das Leben und Leiden jüdischer Frauen wird beleuchtet. Danach folgt eine kurze Skizze der Kleiderordnung von 1356 mit dem versuchten Modediktat der Speyerer Ratsherren. Es geht weiter mit dem Erwerbsleben von Speyerer Frauen im Mittelalter, in dem auch die Prostituierten sowie Brotmägde und Brezelfrauen vorkommen und an die wertschätzend und mitfühlend erinnert wird. Ebenso kommen in den Beiträgen Industriearbeiterinnen zu Wort bzw. ihrer und ihrer Lebensumstände wird erinnert (Baumwollspinnerinnen, Zigarrenmacherinnen, Ziegelarbeiterinnen, Frauen in der Konfektionsindustrie und Schuhfabrik, Kampf der Speyerer Frauen bei der VFW-Fokker-Aktion). Ebenso werden Frauen portraitiert, die in den „typischen“ (weil auf sie begrenzten) Frauenberufen tätig waren: Hebammen, Fürsorgerinnen, Lehrerinnen. Aber ebenso gab es Geschäftsfrauen, Künstlerinnen, Politikerinnen, Bademeisterinnen, Schriftstellerinnen, Fotografinnen. Die Frauen werden immer eingebettet in ihre Zeit dargestellt. Als Erziehende werden Lehrerinnen, Philosophinnen, Denkerinnen, Stifterinnen, Gründerinnen und theologisch tätige Frauen (Pfarrersfrauen) genannt.

Ein eigenes Kapitel wird den Frauen im Nationalsozialismus gewidmet. Dort werden sowohl die widerständigen Frauen als auch diejenigen Frauen beleuchtet, die die Nazi-Ideologie mitgetragen haben. Die Nazis wollten die Frauen wieder aus den Berufen und der Politik herausdrängen, um der männlichen Arbeitslosigkeit zu begegnen. Also bauschten sie das Mutterbild einer selbstlosen, opferbereiten Mutter auf, das keine Frau (ohne Schaden zu nehmen) erfüllen kann – und das immer noch in unserer Gesellschaft herumgeistert und Frauen das Leben schwer macht! Mich hat bei dieser Lektüre ein heiliger Zorn gepackt. Ein heiliger Zorn darauf, was Frauen seit der Sesshaftwerdung der Menschheit angetan wurde und immer noch wird. Auch das demonstriert das Buch eindrücklich: die Leidensgeschichte der Frau, die definitiv ohne das Patriarchat nicht in diesem schrecklichen Ausmaß hätte leiden müssen und immer noch leidet (Stichworte: Misogynie, Femizide, Ehrenmorde, Diskriminierung [u.a. auch im deutschen Strafgesetz und im Familienrecht], …)! Aber selbst die Nazis haben es nicht geschafft, die Frau vollständig aus dem Leben zu drängen – trotz gegenteiliger Aussagen wurden Frauen u.a. in der Rüstungsindustrie beschäftigt.

Frauen bleiben über die Jahrtausende im öffentlichen Leben sichtbar, ob man(n) das will oder nicht. Auch das zeigt das Buch: Wie Frauen immer wieder Mittel und Wege finden, trotz z.T. massiver Repressalien präsent zu bleiben und sich gegen die Unterdrückung zu wehren. Es zeigt auch, dass ohne die Frauen die Gesellschaft schon längst zusammengebrochen wäre – und das zeigt es allein durch die Darstellung der Frauenschicksale. Denn diese veranschaulichen sehr gut, dass eine Gesellschaft ohne das weitsichtige Handeln von Frauen zum Scheitern verurteilt ist. Leider wird ebenso deutlich, wie wenig Wertschätzung Frauen für ihre umfassende Wirkweise entgegengebracht wurde und wird. Im Gegenteil: Sie wurde (und wird) auch noch in ihren Tätigkeiten behindert.

Manche Fragen, die ich mir bei der Lektüre des Buches gestellt habe, blieben mir allerdings eine Antwort schuldig: Warum schießen die Stadt und die „hohen Tiere“ quer, wenn die Schwestern versuchen, ihre soziale Mission zu erfüllen? Diese Frage wird im Buch z.B. nicht beantwortet. Ebenso wenig die Frage, warum die berühmte katholische Gläubige Edith Stein ihren Glauben an Gott verloren hat. Und die vielleicht eher banale Frage: Was sammelte der Frauenbund eigentlich?

Bildung der Mädchen – das zentrale weibliche Anliegen

Ansonsten wird das zentrale Anliegen der Nonnen, Schwestern und Frauenbünde immer wieder deutlich: Bildung der Mädchen! Dieser rote Faden zieht sich durch alle Schilderungen von Frauenleben. Aber auch die sichere Vermittlung von Arbeitsstellen an junge Frauen war Thema bei Frauen und die Gewissheit, dass eine Hausfrau eine bessere Mutter ist, wenn sie die Tätigkeiten der Frauenbewegung verfolgt. Die Politik als Sache der Frauen wird von weiblicher Seite aus schon zuvor, aber erst recht nach dem Dritten Reich fokussiert. Auch brisante Themen wie Tschernobyl werden von Frauen angegangen. Es wird immer wieder deutlich, dass Frauen der Schutz der Natur, Frieden, Menschenrechte im Kleinen und im Großen sehr am Herzen liegen. Und genauso wird leider deutlich, dass Chronisten das Leben von Frauen unverständlicherweise für nicht überlieferungswürdig hielten (S. 146).

Bzgl. jüdischer Vorstellungen wird im Buch der Fokus ebenfalls auf das weibliche Leben gerichtet. Die Leser*innen erfahren, dass ein Ehevertrag sowohl Witwen als auch geschiedene Frauen schützen soll. Ebenfalls als Schutz angesehen wird die Vorstellung, dass die Frau „Königin des Hauses“ sein soll. Haus und Frau sind Zellen des jüdischen Glaubens, die Vielehe ist untersagt, Bildung verhindert eine frühe Verheiratung. Die Frau führt den Haushalt und hilft beruflich dem Mann; sie verdient den Lebensunterhalt oft mit. Die Frau wurde vom Gottesdienst erst durch islamisches „Vorbild“ separiert. Mädchen werden gebildet, um zur Regeneration des Judentums beizutragen, und die Frau bildet sich sowohl jüdisch als auch christlich. Der Anteil von jüdischen Mädchen in Töchterschulen ist hoch. Das Buch übt Kritik an der Speyerer Judenfeindlichkeit in der Vergangenheit.

Demonstrationen für ein besseres, lebenswerteres (weibliches) Leben

„Gegen den Brotwucher“ lautete die Parole 1901, um gegen die Erhöhung der Getreidezölle zu demonstrieren. Auch Frauen wollten demonstrieren; sie taten es bei einer Versammlung schließlich auch. Aber ein Polizeiwachtmeister verbot den Frauen, an der Demonstration teilzunehmen – er hatte zwar Erfolg, aber nur unter erregtem, starkem Protest der anwesenden Männer und Frauen mit dem Ruf: „Es lebe die Freiheit!“ Diese Episode zeigt etwas Exemplarisches: Man(n) versuchte immer wieder, Frauen aus dem öffentlichen und politischen Leben herauszudrängen. Bis heute, und das nicht „nur“ in Ländern wie Afghanistan und dem Iran.

Aber auch wirtschaftlich sieht es nicht besser aus: Frauen arbeiten und arbeiteten unentgeltlich oder für einen Hungerlohn – sie bekommen für die gleiche Arbeit deutlich weniger Geld. Das ist – Schande über jede Gesellschaft, die das zulässt – auch heute noch so. Im Buch wird anschaulich beschrieben, welchen Arbeitsbedingungen Frauen ausgesetzt waren. Das ist hart zu lesen, denn die Ausbeutung war enorm, ebenso der gesundheitliche Schaden für die Frauen. Und die Ausbeutung geschah in allen wirtschaftlichen Bereichen! Es tut sich ein Abgrund an unfassbar schlechten Arbeitsbedingungen auf. Im Buch heißt es z.B.: „Die Art und Weise, wie Lehrlinge in der Zigarrenindustrie eingestellt und ausgebildet wurden, spricht allen Begriffen von Lehrling und Lernen Hohn. […] In dieser Lehrzeit, in der von Ausbildung keine Rede sein konnte, bekamen sie nur einen sehr geringen Lohn.“ (S. 209) „Ich atmete die dicke, beißende Tabakluft und übergab mich zum Erbarmen.“ (S. 209) Tabakdunst und Tabakstaub legte sich auf die Arbeiterinnen und in die Lungen. Die vornübergebeugte, sitzende Arbeitsweise mit den Gesichtern direkt über den Händen verursachte das Zusammendrücken der Atmungs- und Geschlechtsorgane und das Einatmen von beträchtlichen Mengen an Tabakstaub – bei geschlossenen Fenstern! Es gibt keine Bestimmungen zum Schutz der Arbeiterinnen.

Auch die Arbeiterinnen in den Ziegelwerken waren unterbezahlt: Sie verdienten an einem Arbeitstag von 6 Uhr morgens bis 19 Uhr abends nach einem Streik wegen immer niedriger werdender Löhne 1, 60 M! Die jüngsten Mädchen von 14 bis 17 Jahren z.B. mussten 5000 Ziegel mit Schiebkarren eine 100 Meter weite Strecke schieben. Außerdem gab es zwar fließend Wasser, das aber unter Strafandrohung nicht zum Waschen benutzt werden durfte. Essen konnte nicht aufgewärmt werden, eine Umkleide gab es nicht.

Dafür bewirkten Ehefrauen durch konsequentes Durchhalten und Kämpfen, dass ihre Männer nicht von VFW-Fokker entlassen wurden, obwohl besagte Ehefrauen kein Stimmrecht hatten. Da zeigt sich, was eigentlich immer gilt: Wenn frau lautstark und konsequent für eine Sache eintritt, stehen die Aussichten auf Erfolg gut. Weswegen Vertreter des Patriarchats immer wieder versuchen, sie in mehrfacher Hinsicht stimm- und mundtot zu machen.

Insgesamt werden in dem Buch Frauen aller Couleur vorgestellt, wie oben schon erwähnt Bademeisterinnen, Fotografinnen, Geschäftsfrauen, Mundartdichterinnen ebenso wie die bekannte Schriftstellerin Sophie von la Roche und Henriette Feuerbach, die für den Maler Anselm Feuerbach wie eine zweite Mutter war. Aber wer kennt heute noch Franziska Möllinger, die erste Fotografin überhaupt? Sie leistete auf zwei Gebieten Pionierarbeit. Zum einen war die Arbeit des Fotografen in den ersten Jahrzehnten eine fast reine Männerarbeit. Frauen waren lediglich Assistentinnen, v.a. wegen der umständlichen, aufwändigen und z.T. gefährlichen technischen Seite des Berufs, denn die belichteten Platten wurden mithilfe von Quecksilberdämpfen entwickelt. Möllinger starb infolgedessen an Lungenschrumpfung. Möllinger war zum anderen die erste Reisefotografin, die die Strapazen des Reisens auf sich nahm.

Fazit

Das in sich abgeschlossene Buch versucht eine möglichst breite Darstellung von Frauenleben in vergangener Zeit zu bieten. Dafür musste aber z.T. tief in der Geschichte gegraben werden. Zudem wird deutlich, dass Frauen zwar vornehmlich im sozialen Bereich tätig waren (auf den sie nach männlicher Sicht auch beschränkt bleiben sollten), es aber immer wieder geschafft haben, aus diesem einengenden System auszubrechen und ihrer eigenen Berufung nachzugehen – unter deutlich mehr Mühen, als Männer auf sich nehmen mussten. Und es wird deutlich, dass Arbeit, die von Frauen verrichtet wird, geringgeschätzt und somit gering oder gar nicht bezahlt wurde – was bis heute ein unsäglicher Zustand ist. Das Buch verschweigt auch nicht die Diskriminierungen, denen Frauen immer wieder ausgesetzt waren, und dies allein durch die Darstellung der einzelnen Frauenschicksale. Sehr gelungenes Buch; es müsste deutlich mehr Bücher dieser Art geben, um das ignorante Schweigen zur Geschichte der Frauen zu durchbrechen. Schön zu hören: Anscheinend ist schon ein Folgeband in Planung.

Ausstellung in Schifferstadt

Dazu schreibt die Stadt:

Vernissage zur Ausstellung “Aus dem Schatten ins Licht” – starke Frauen aus 1000 Jahren Pfälzer Geschichte

Im Rahmen der Frauenwochen anlässlich des Internationalen Frauentags, haben die Gleichstellungsbeauftragten der Stadt die eindrucksvolle Ausstellung nach Schifferstadt geholt.

 

“Aus dem Schatten ins Licht – starke Frauen aus 1.000 Jahren Pfälzer Geschichte” stellt schlaglichtartig die Lebensbedingungen und Leistungen von 23 ausgewählten Frauen aus gut 1.000 Jahren Geschichte dar. Alle porträtierten Frauen haben einen Bezug zur Pfalz oder zu Gebieten, die historisch einmal mit der Pfalz verbunden waren. Die vorgestellten Frauen stehen exemplarisch für viele andere, meist namenlos gebliebene Heldinnen der Ereignis- und Sozialgeschichte.

 

Eröffnet wird die Wanderausstellung “Aus dem Schatten ins Licht – starke Frauen aus 1.000 Jahren Pfälzer Geschichte” am Montag, 27. März um 18.30 Uhr im Foyer des Rathauses der Stadtverwaltung Schifferstadt. 

 

Zur Ausstellung: 

Obwohl die Gender-Forschung in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht hat und die Leistungen von Frauen in Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Alltag in den Fokus gerückt sind, finden sich nur mühsam belastbare Hinweise auf “starke” Frauen in der Geschichte. Denn: Je weiter die Zeiten zurückgehen, desto schlechter ist die Quellenlage. Zu sehr war die Geschichtsschreibung männlich dominiert, zu sehr standen die Frauen im Schatten der Männer, zu sehr lagen ihre Leistungen in wenig öffentlichkeitswirksamen Bereichen: hinter Klostermauern, im Bereich von Haus- und Landwirtschaft, Handwerk und Gewerbe, Kindererziehung und Krankenpflege. Die Schriftstellerin O Zuge der Französischen Revolution 1791 eine “Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin”. Es war ein langer Weg bis ihr Artikel I zur gesellschaftlichen Realität wurde: “Die Frau ist frei geboren und bleibt dem Manne ebenbürtig in allen Rechten.” 1903 wurden in der damals bayerischen Pfalz zum ersten Mal Frauen zum Studium zugelassen, 1918 erhielten sie das Wahlrecht. Seit dem Grundgesetz von 1949 sind Männer und Frauen zumindest rechtlich gleichberechtigt. Allerdings brauchten Frauen noch bis 1977 die Zustimmung ihres Ehemannes, wenn sie berufstätig sein wollten. Angesichts der rechtlichen Unterordnung ist es nicht verwunderlich, dass die Lebensleistungen von Frauen entweder nicht wahrgenommen oder als selbstverständlich angesehen wurden.
“Aus dem Schatten ins Licht” wurde von den Stadtmuseen Ludwigshafen und Zweibrücken gemeinsam als Wanderausstellung konzipiert und produziert und ist ab 27. März bis einschl. 21. April zu den Öffnungszeiten im Foyer des Rathauses zu sehen.

Laufzeit der Ausstellung: 27. März bis 21. April 2023

 

Interessante weiterführende Links:

https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/gewalt-familie-umgangsrecht-kinder-vater-100.html#xtor=CS5-281

https://de.wikipedia.org/wiki/Alice_Guy-Blach%C3%A9

https://www.deutschlandfunkkultur.de/das-gelehrte-frauenzimmer-eine-andere-geschichte-der-philosophie-100.html?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

https://de.wikipedia.org/wiki/Frauen_in_der_Wissenschaft


Genre: Emanzipation, Frauengeschichte
Illustrated by Progressdruck GmbH

Walt Disneys Mickey Mouse

(Fast) 100 Jahre Mickey Mouse

Walt Disneys Mickey Mouse. Kleine Maus ganz groß. TASCHENs XXL-Ausgabe zu Walt Disneys Mickey Mouse ist die wohl umfangreichste Publikationen über das Disney-Universum einer kleinen Maus aus New York. Über 1.250 Illustrationen, darunter die allerersten Entwürfe, Animationszeichnungen, Storyboards, Hintergründe, Plakate und zahlreiche Fotografien sowie Informationen über alle rund 122 Zeichentrickfilme und die zeitlosen Comicabenteuer in einem Band.

Alles begann mit einer Maus

Zudem werden alle Künstler, die Mickey je Leben eingehaucht haben – ob im Trickfilm oder Comic – vorgestellt. Denn seit der kleine Mäuserich das erste Mal, am denkwürdigen Abend des 18.11.1928, in dem Cartoon Steamboat Willie in New York über die Kinoleinwand flimmerte war sein Siegeszug nicht mehr aufzuhalten. Aber eigentlich stammt die Maus gar nicht aus der großen Stadt, sondern aus Kansas City, Missouri. Denn dort wurde ihr Schöpfer Ub Iwerks 1901 geboren. Übrigens ein Name,
Der sich aus seinen ostfriesischen Wurzeln erklärt, denn sein Vater war in die USA ausgewandert. Ub Iwerks war ein Jahrgänger des berühmten Walt Disney und auch sein erster Angestellter. Ihm wurde 1999 auch der Dokumentarfilm “The Hand Behind the Mouse: The Ub Iwerks” gewidmet, denn er war maßgeblich am Erfolg der Disney-Studios beteiligt, obwohl er sich 1930 von Disney getrennt hatte. Nach dem Misserfolg seines Iwerks-Studios kehrte er aber 1940 zu Disney zurück. “Steamboat Willie” (1928) gilt als der erste vertonte, öffentlich aufgeführte Zeichentrickfilm mit einer Cartoonfigur.

Micky Maus, der Musterknabe

Walt Disney, his brother Roy, and Mickey pose proudly © Disney Enterprises, Inc.

Der Erfolg von Micky Maus und seine Freunden könnte aber auch damit zusammenhängen, dass viele Menschen währende der Großen Depression Trost in den lustigen Abenteuern der kleinen Maus suchten, denn bereits 1935 war Disney ein millionenschweres Unternehmen. Das war aber nicht nur den Filmen, sondern auch den Comic-Strips zu verdanken, die auch in Deutschland schon ab 1930 erschienen. Diese “Parallelaktion”, die mit der Filmabteilung bei Disney nicht abgesprochen war, sei vor allem dem Zeichner Floyd Gottfredson zu verdanken gewesen, wie Brancheninsider verlauten ließen. Das Erfolgsrezept der Figur beruht übrigens auf einer einfachen Wahrheit: Der vormals leichtfertige Mickey wurde immer mehr seiner jugendlichen und wilden Eigenschaften beraubt und diese dann neuen Figuren, meist Gegenspielern überschrieben. So konnte die Zensur umgangen werden und es entstanden Pluto als Prügelknabe, Goofy als Dummerchen, Donald Duck als Choleriker und Faulpelz oder Kater Karlo als Bösewicht. Übrig blieb Micky Mouse als Musterknabe und Identifikationsfigur für die amerikanische und europäische Jugend.

Walt Disneys Mickey Mouse: Inhalt

Die vorliegende TASCHEN XXL-Publikation feiert (fast) 100 Jahre der berühmtesten, pfiffigsten und charmantesten Maus der Welt mit einer Neuausgabe einer der umfangreichsten illustrierten Biografien, die es je zu dieser Comicfigur gegeben hat. Aus dem Inhalt: Mickey im Zeichentrickfilm, Mickey im Comicstrip, Mickey im patriotischen Einsatz während des Zweiten Weltkriegs, sein Auftritt als Zauberlehrling in dem abendfüllenden Spielfilm Fantasia, einer ambitionierten und unvergesslichen Visualisierung klassischer Musik, Mickey im Radio, im TV (The Mickey Mouse Club) u.v.m. Der Disney-Konzern (ursprünglich als Disney Brothers Cartoon Studio gegründet) besteht inzwischen aus Disneylands in der ganzen Welt und macht sowohl Kinder als auch Erwachsene glücklich. Nicht nur in Zeiten der (Großen) Depression. Einen Umsatz von 74,8 Milliarden US-Dollar ist der Konzern schwer, bei einem Gewinn von 10,4 Milliarden US-Dollar. Einer der fünf größten Medienkonzernen der Welt und laut den Forbes Global 2000 auf Platz 36 der weltgrößten Unternehmen (Stand: 2020). „Ich kann nur hoffen, dass wir eine Sache nie aus den Augen verlieren: dass es alles mit einer Maus begann.“, soll Walt Disney einmal rückblickend auf sein Imperium gesagt haben.

David Gerstein, J. B. Kaufman, Daniel Kothenschulte
Walt Disneys Mickey Mouse. Die ultimative Chronik
Hardcover, 25 x 34 cm, 3,16 kg, 496 Seiten
ISBN 978-3-8365-8356-5 (Deutsch)
ISBN 978-3-8365-8355-8 (Englisch)
Taschen Verlag
€ 60 | CHF 60


Genre: Comics
Illustrated by Taschen Köln

Großmutters Haus

Thomas Sautner – Großmutters Haus

Großmutters Haus. Der aus dem Waldviertel stammende Autor ließ zuletzt (2023) mit einem amüsanten Roman über zwei alte Männer aufhorchen, die sich ihren Lebensabend mit der Gesellschaft einer gewissen Julia versüßen. Aber auch zuvor schon hat sich der fleißige Essayist immer wieder interessanten Außenseitern unserer Gesellschaft gewidmet. Darunter etwa ein ein Roman über die Jenischen, die fahrenden Gesellen, in “Fuchserde” (2008), aber auch der Hanf anpflanzenden Großmutter von Malina, seinem alter ego.

Großmutters Haus: Refugium der Triebe

Für “Großmutters Haus” schlüpft der Erzähler Sautner in die Rolle einer Frau, der jungen Malina, die von ihrer tot geglaubten Großmutter, Kristyna, eines Tages ein großes Paket bekommt. Bald findet sie heraus, warum ihre Großmutter in ihrer Verwandtschaft eine “persona non grata” angesehen wird und gerne totgeglaubt wurde, aber im Gegenteil sehr lebendig ist. Sie ist nämlich zu genau jener verrückten alten Frau geworden, die schon Brecht in seiner Kurzgeschichte “Die unwürdige Greisin” 1939 beschrieb: Eine Frau, die sich über alle Konventionen hinwegsetzt und einfach das tut, was sie will. So nimmt sie sich nicht nur mehrere Liebhaber, sondern pflanzt in ihrem Haus im Wald auch noch ein Kraut an, das für manche Spießbürger einige Offenbarungen bereithält. Wenn wir hier von “Trieben” sprechen, sind also durchaus auch pflanzliche und nicht nur menschliche gemeint.

Zeit: eine physikalische Wechselbeziehung

Drei Sorten sind es sogar, die sie eigenhändig kreiert: die “Godfather5000”, die “Sputnik” und die “Able”. Alle drei haben unterschiedliche Auswirkungen und natürlich hängt es auch von dem ab, der sie raucht, was mit ihm oder ihr dann passiert. Malina zum Beispiel verliebt sich in Jakob, den schweigsamen Besucher ihrer Großmutter, der ihr immer wieder unter die Arme greift. Manchmal noch mehr. Aber es gibt ja auch noch andere Männer, die Kristyna besuchen, während Malina über die Literatur, das Bücher lesen und den Sinn des Lebens nachdenkt. An einer Stelle setzt sie sich etwas mit der Zeit auseinander und begreift, dass diese ein Teil von uns ist. “Ich denke, dass die Zeit uns ausmacht” beschließt sie eines abends, es sei wie eine physikalische Wechselbeziehung, denn auch wir würden sie beeinflussen, nicht nur sie uns. “Wenn ein Bild, ein Buch, eine Lebenszeit glückte, waren Inhalt und Form eins“. Form follows function, FFF, der Designleitsatz aus dem Produktdesign und der Architektur wird für Marina zum Lebensmotto. “Die Form folgt immer der Funktion, und dies ist das Gesetz. Wo die Funktion sich nicht ändert, ändert sich die Form nicht.“, wusste Louis Sullivan schon 1896. Aber was bedeutet das Sullivan-Axiom für das Leben im Allgemeinen und für Malina im Speziellen?

Anker in stürmischer See

Die durchwegs amüsante Geschichte von Krystina und ihren unterschiedlichen Liebhabern wird für ihre Enkelin Malina zum formgebenden Erlebnis ihrer Adoleszenz, ihrem “Coming of Age”, wie dieser Lebensabschnitt in dem sie sich befindet gerne genannt wird. Denn es sind vor allem die Freunde und das soziale Milieu der Großmutter, die Marina für ihr Leben prägen werden und einen wichtigen Einfluss auf ihre Genese haben. Malina hat Glück, dass sie eine so coole Großmutter hat, denn das ist eine Ressource, die ihr immer wieder nützlich sein wird. Der Generationenvertrag sollte noch einmal neu überdacht werden, neu geschrieben werden. Vielleicht sind “Zwei alte Männer” (2023) und “Großmutters Haus” (2019) beide ein Plädoyer dafür, alte Menschen wieder mehr in unseren Alltag zu integrieren. Denn sie sind eine unglaubliche Ressource für uns alle. “Der Mond stand am Himmel wie eine Schüssel dampfende Vanillemilch”, schreibt Thomas Sautner. Sie, die “Alten”, sind die eigentliche “Tätowierung”, die sich unser Fleisch eingebrannt haben, die “ein Anker (sind), der sie (uns) während der Fahrt auf das offene Meer an daheim erinnerte, an den sicheren Hafen, den es gab, geben musste, irgendwo“. Gut immer wieder daran erinnert zu werden, dass man wo hingehört.

Thomas Sautner
Großmutters Haus. Roman
2019, Hardcover, 252 Seiten
ISBN 978-3-7117-2076-4
Picus Verlag
€22,00


Genre: Roman
Illustrated by Picus Verlag

Mr. Loverman

Es ist das dritte Buch von Bernhardine Evaristo, das ich las. Hier stellt sie einen kleineren Kreis eng verflochtener Menschen vor, die in der westindischen Community in London leben. Jeder/m lässt sie ihre/seine Würde und Eigenheiten, Stärken und Schwächen. Neben den hier näher beschriebenen Protagonisten gilt das auch für die Töchter des Paares und den Geliebten Morris.

Am Anfang steht ein Spruch von James Baldwin, dass wir uns den Dingen stellen müssen, wenn wir sie ändern wollen.

Dazu ist der Protagonist, Barrington Jedidah Walker, Esq., erst mit Mitte Siebzig bereit. Nach einem halben Jahrhundert Ehe mit Carmel stellt er sich dem Wunsch, mit seiner Jugendliebe, Morris, zusammenzuziehen.

Das Buch beginnt in London im Mai 2010: Betrunken, und nach Zigarren stinkend, kommt er viel zu spät nach Hause, will sich unauffällig neben Carmel ins Bett schleichen, aber sie wacht auf und macht ihm, wie immer, eine Szene. Beim Einschlafen träumt er von seinem Geliebten. Das Kapitel endet mit dem Liebesgeständnis: von „meinem Morris-liebenden, süß verliebtem, blutvollen, glutvollen, bums fidelen, pochenden Ding von einem unbeherrscht, unentrinn-, unbezähmbar-männerliebenden Herz.“

Dann geht es ein halbes Jahrhundert zurück nach Antigua, wo die gerade angetraute Braut, stolz auf diesen schmucken Ehemann, sich in der Hochzeitsnacht etwas wundert, „er hat ihn nicht reingesteckt, hat sich nur an dir gerieben.“ Bestimmt nur deshalb, weil er ein echter Gentleman ist. So schön können Träume von Verliebten sein. Dabei wissen wir doch schon, wie es um das Paar bestellt ist.

Dann kommt wieder die Jetztzeit des Romans: Im Kapitel Die Kunst des Sonntagsessens kommt Morris zu Besuch, Carmel kann gut kochen, leider kommt sie nach der Kirche mit ihren Betschwestern und wir müssen deren Geschwätz ertragen, das in Teilen homophob ist.

So plätschert es dahin, wir wissen, dass sie immerhin zwei Töchter haben, einen Enkelsohn. Carmel hatte, schon in London, eine Ausbildung absolviert und in einer guten Stellung gearbeitet, sogar mal eine Affäre gehabt, (von der Barry aber nichts ahnt), aber nun sind ihre Betschwestern ihre Bezugspersonen.

Barry hatte immer nur Morris im Sinn, allerdings hat er gerne mit anderen Männern herumgemacht, und dafür auch kein Risiko gescheut. Er ist ein gebildeter Hedonist, hat über Abendschulen sein britisches Allgemeinwissen aufgebaut. Mit einem guten Riecher für Immobilien mit Gentrifizierungsprotenzial ist er sehr wohlhabend geworden – was würde Carmel wohl bei einer Scheidung für sich beanspruchen?

Der englische Text ist im westindischen Slang geschrieben, die Übersetzerin Tanja Handels verzichtet darauf, dies einzudeutschen, und einmal fragt Barry seinen Geliebten: „Wha rong wit yah, Morris?“ Obwohl ich die Bücher lieber auf Englisch lese, genieße ich die Übersetzungen von Barrys drolligen Sprüchen. Und manche Wörter habe ich gelernt, so sind Emanzen braburners.

Dass er Carmel in ihrer tiefen Frustration verachtet und als fett (diese hängenden Oberarme!) und trutschig abtut, stört mich, bis ich zum Schluss den Coup der Autorin genieße, indem sie es ihm heimzahlt, dass er ihr Leben zerstört hat.

Und bei den Gesprächen zwischen Morris und Barry geht es um die Entwicklung der Rechte homosexueller Menschen. Barry hält nichts vom „aufmerksamkeitsheischenden Gehabe dieser Schwulenbewegten.“ Morris geht da eher mit, könnte sich eine eingetragene Partnerschaft vorstellen.

Die letzten 70 Jahre haben Barry kein bisschen weise gemacht. Er ist ohnehin der Meinung, dass die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit mit elf Jahren abgeschlossen ist. „Ich bin viel zu sehr daran gewöhnt, in meinem hausgemachten Gefängnis zu sitzen, Amtsrichter, Aufseher und armseliger Zellengenosse in einem.“ Bei so einem Mann war es dann kein Wunder, dass Carmel von seiner Homosexualität nichts ahnte.


Genre: Gesellschaftliche Veränderungen, Leben als Homosexuelle, Schwarze Community im UK
Illustrated by Tropen Verlag

The Shining

The Shining. Der Roman von Stephen King, der 1977 erstmals in den USA erschien, habe in Bret Easton Ellis den Wunsch geweckt, Schriftsteller zu werden, wie er in seinem neuen Roman, “The Shards“, der 1981 spielt, freimütig bekennt. Seine Beschreibung seines ersten Shining-Kinobesuchs liest sich so spannend, wie das Meisterwerk von Stanley Kubrick schon im Auftakt ist. “Nie zuvor hatte ein Film mit so wenig Blutvergießen einen derartigen Gruselfaktor“, wissen die Herausgeber.

Shining: Gruselhorror vom Feinsten

Denn das Grauen, der Horror, spielt sich hauptsächlich im Hauptdarsteller selbst, dem Hausverwalter und ehemaligen Lehrer Jack Torrance (Jack Nicholson) ab. Auch er möchte nämlich gerne Schriftsteller werden, aber den einzigen Satz, den er auf seiner deutschen Adler-Schreibmaschine zustande bringt lautet: “All work and no play makes Jack a dull boy“. In der deutschen Version wiederum „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“, was man ohne weiteres als nicht ganz so treffend bezeichnen könnte. Kubrick habe den Satz eigenhändig mehrmals auf mehrere Seiten Papier geschrieben, erzählen damals einige Insider. Der Film kommt zwar ohne Blutvergießen aus, aber natürlich nicht ohne Blut, wie eine der eindringlichsten Szenen erinnert: der Blutaufzug.

Neue Details über den Film des Jahrzehnts

Die vorliegende exklusive XXL Publikation des TASCHEN Verlages eröffnet ungeahnt tiefgründige Einblicke in den Entstehungsprozess eines filmischen Meisterwerks, das Kubrick selbst allerdings gehasst haben soll. Das und noch viel mehr erfährt man aus Hunderten von Stunden an exklusiven Interviews mit den Darstellern und der Crew, aus denen für diesen Band die spannendsten Passagen ausgewählt wurden. Manche werden den Kultklassiker von 1980 nun in einem völlig neuem Licht sehen, etwa wenn man die Details über die mysteriösen Feuer, die während der Dreharbeiten in den Elstree Studios ausbrachen, erfährt oder mehr über die Technik des berüchtigten „Blutaufzugs“ erfährt. Kubricks bahnbrechender Einsatz der Steadicam machte ebenso Schule wie die endlosen Drehbuchänderungen und die unzähligen Takes, die der Perfektionist Kubrick seiner Crew abverlangte. Auch heutige Schauspieler:innen könnten ein Lied davon singen.

Die Macher und Fans

Der Oscar-prämierte Regisseur Lee Unkrich, den The Hollywood Reporter als den „führenden Shining-Kenner“ bezeichnet hat. Die vorliegende limitierte Collector’s Edition von 1.000 nummerierten Exemplaren mit einem begleitenden Textbeitrag von Bestsellerautor J. W. Rinzler herausgegeben. Die dreibändige Sammlung umfasst Hunderte von unveröffentlichten Set- und Backstage-Fotografien, seltene Originaldokumente, Kubricks private Korrespondenz sowie Szenenbildentwürfe aus dem Stanley Kubrick Archive und den Privatarchiven der Darsteller und der Crew sowie exklusives Set mit Faksimiles von Ephemera aus dem Film. “Sie müssen dieses Buch lesen und dann The Shining noch einmal anschauen. Es ist egal, ob Sie den Film schon 50 Mal gesehen haben, Sie werden ihn nie wieder auf dieselbe Weise sehen. Das Buch verändert alles.“, so Regie-Kollege Steven Spielberg über die vorliegende Publikation.

Lee Unkrich, J. W. Rinzler
Stanley Kubrick’s The Shining
Box mit 2 Bänden und einem Ephemera-Set mit
Faksimile-Reproduktionen und originalen
Artwork-Büchern, 36,5 x 42,4 cm, 19,9 kg, 2198
Seiten, XXL Formatt

ISBN 978-3-8365-7717-5
TASCHEN Verlag
€ 1.500 | CHF 1.500


Genre: Film, Horror, Literaturverfilmung
Illustrated by Taschen Köln

LTB: Entenhausen Stars 1 Donald Duck

„Reise ins Ich“: Donald hat massive Schlafstörungen, aber keine Ahnung, woher die kommen. Erst ein Psychiater gibt ihm einen guten Tipp: Er soll sich seiner Psyche zuwenden, denn diese macht sich auch körperlich bemerkbar.

„Kein Honigschlecken“: Donald hat endlich seinen Traumberuf gefunden. Die Arbeit als Imker macht ihm überraschenderweise Spaß – bis ein Bär auftaucht.

„Spaß im Stau“: Staus sind eine Plage der Menschheit. V.a. Donald leidet darunter, denn jetzt hat er gar keine Freizeit mehr. Aber warum den Stau nicht für sein Hobby nutzen? Dafür entwickelt er eine clevere Idee, die sich zudem als einträgliches Geschäft erweist.

„Unvergessliche Ferien“: Donald und seine Neffen schlagen bei einem extrem günstigen Urlaub am Meer zu. Der hat aber so seine Schattenseiten.

„Folgenschwerer Kleidertausch“: Weil er als Werbeträger 1 Million Taler bekommt, zieht Onkel Dagobert seinen altgedienten Frack für ein neumodisches Fetzchen aus. Das setzt eine ungeahnte Kettenreaktion in Gang.

„Ein Fischsitter für alle Fälle“: Donald brüstet sich als Tierexperte. Als solcher soll er bei einem Kunden eine sehr seltene Fischart betreuen. Das entwickelt sich zum Desaster – aber anders als von Donald befürchtet.

„Ritter Raumut“: Donalds in die Jahre gekommene Lieblingsserie „Ritter Raumut“ soll neu aufgelegt werden. Das birgt für Investor Onkel Dagobert so einige Tücken.

„Witze“ auf Kosten der Frau

11 Geschichten bietet der Auftakt der neuen Reihe „Entenhausener Stars“ – leider ist keine einzige deutsche Erstveröffentlichung dabei, sondern nur alte Aufgüsse. Da könnte man sich im Verlag doch glatt an der letzten Geschichte des Bandes „Ritter Raumut“ orientieren und das auch schon bei anderen LTBs angewandte Konzept Altbekanntes mit Neuem mischen auch hier verwenden – oder insgesamt frischen Wind reinlassen.

Denn es ist haarsträubend, wenn man wie in „Folgenschwerer Kleidertausch“ und besagtem „Ritter Raumut“ bloß mit dummen Rollenklischees konfrontiert wird, die beim Lesen entsprechend sauer aufstoßen! Kostprobe gefällig? Donald: „Frauen sind irgendwie nicht wie normale Leute.“ Dagobert: „Glaub mir, solange du noch versuchst, sie zu verstehen, hast du nichts begriffen.“ (S. 307) Das ist nicht „nur“ Rollenklischee, sondern eindeutig misogyn. Denn was beinhaltet so eine Aussage, wenn man sie genauer unter die Lupe nimmt? Zum einen gehören Frauen offensichtlich nicht zu den „normalen Leuten“, also stellen sie (mit über 50% der Menschheit!) angeblich nicht die Norm der Menschheit dar, schon gar nicht die bessere Norm. Sie sind außen, und zwar außen vor, am Leben nicht beteiligt und schon gar nicht an allem, was wichtig ist. Mit dieser Aussage ist also die gesamte, von Diskriminierung, Unsichtbarmachung, Diffamierung, Herabsetzung und Versklavung (die in den westlichen Ländern bis weit ins 20. Jahrhundert reicht, in anderen noch heute anzutreffen ist) durchzogene Geschichte der Frauen auf den äußerst unrühmlichen Punkt gebracht.

Das ist alles, nur alles andere als witzig! Eigentlich sollten die Zeiten, in denen auf Kosten der Frau Witze gemacht wurden, schon längst vorbei sein, denn diese Art von Witzen sind eben nicht harmlos, sondern verfestigen das Fundament der Frauenverachtung! Dagoberts Antwort setzt dem Ganzen noch die Krone auf: Angeblich könne man(n) Frauen nicht verstehen und versuchen sollte man(n) es erst gar nicht. Tja, das ist genau die Haltung, die Frauen und Männer noch weiter auseinander treibt, anstatt dass man(n) versucht, soziale Kompetenz und Empathie zu lernen und zu zeigen – welche für jedwede Herdentieraktivität, also auch die des Menschen, fundamental ist.

Und damit sind wir bei den so schädlichen Rollenklischees. Denn wenn das Wissen über Frauen und Männer weiterhin eher auf Mythen als auf der erfahrbaren Realität basiert (was kursiert nicht alles an Schwachsinn, was angeblich Frauen sind und machen; genauso der Schwachsinn über Männer, kräftig unterstützt durch besagte Rollenklischees), solange ist es auch kein Wunder, dass Beziehungen zwischen den Geschlechtern von vorneherein immenses und vielfältiges Konfliktpotential bieten. Hier heißt es bei der Erziehung ansetzen, Rollenklischees kritisch hinterfragen, Mädchen mit Jungen und umgekehrt spielen lassen, Mädchen in die Bauecke und Jungs in die Puppenecke setzen (dort würden Letztere vielleicht endlich einmal mehr soziales Verhalten lernen), Jungs Röcke tragen lassen (die Männer der Männerrockbewegung weisen zur Recht darauf hin, dass sie die gleichen Kleidungsfreiheiten haben wollen wie die Frauen und betonen zudem, dass die Belüftung untenherum auch aus urologischer Sicht gesünder ist als die warme Enge der Hose).

Auf besagten Rollenklischees ruht sich auch Gustav aus, wenn er mit Daisys Schleife auf dem Kopf sagt: „Mir ist etwas Seltsames passiert. Ich habe plötzlich befremdliche Interessen an mir entdeckt“ (Hervorhebungen von mir) und dabei einen Stopp in einem Damenmode-Geschäft einlegt. Die Verkäuferin setzt dem noch die Spitze auf, indem sie sagt: „Eine gute Wahl! Die Frau Gemahlin wird sich sicher freuen!“ Feingefühl für Transmenschen oder andere aus der LGTBQ+-Szene? Fehlanzeige. Zudem wird negiert, dass in der Geschichte der Frauen- und Männerkleidung lange Zeit beide Geschlechter kleiderähnliche Kleidungsstücke (z.B. Toga) trugen und es bei den Römern, v.a. den römischen Soldaten, als barbarisch galt, Hosen wie die Germanen anzuziehen. Kleidung ist immer eine Sache des Zeitgeistes, ebenso wie die Farbwahl derselbigen, und keineswegs in Stein gemeißelt… Und dann setzt Gustav auf all das eh schon sattsam Unrühmliche noch eins drauf: „Stundenlang hab ich in Damenmoden gestöbert! Und mit einem Mal war ich ein miserabler Fahrer!“ Da fragt frau sich doch: Wer ist denn jetzt tatsächlich der miserable Fahrer – bei all den Unfällen v.a. der männlichen Fahrer bis ca. 25 Jahren? Und den ganzen Schnipplern, Rasern, Dränglern und Vorfahrtklauern? (Ich verwende bewusst das angeblich generische Maskulinum.) Alles auf S. 286. Dass Daisy da wütend reagiert, ist ihr allzu gutes Recht, dient im Comic aber leider bloß der Erheiterung der (theoretisch) männlichen Leserschaft. Die weibliche wird so nämlich gründlich miss- und verachtet.

Sowas hat in modernen Comics (und überhaupt in Comics) nichts zu suchen, schon gar nicht in Wiederauflage! Insgesamt ist auch in diesem LTB auffällig, dass aus der (oft nicht besonders menschenfreundlichen) männlichen Sicht heraus agiert wird. Frauen treten selten auf. Wenn, dann in Nebenrollen oder eher negativ (wie Daisy in „Kleidertausch“, deren Frust frau aber sehr wohl nachvollziehen kann – beruht dieser Frust doch auf jahrtausendealtem Zementieren von patriarchalen Vorstellungen). Wie soll das interessant sein für Leserinnen? Das ist für diese eher zum In-Die-Ecke-Knallen des LTBs! Sitzen wieder mal nur oder hauptsächlich Männer in den Entscheidungsgremien, in diesem Fall in denen von Egmont Ehapa, oder wie sind diese Fehlgriffe zu interpretieren?

Da mein Sohn die LTBs gern liest, geben solche Griffe ins Klo leider immer wieder Anlass, ihn darüber aufzuklären, wie menschenverachtend auch und gerade in Comics agiert wird.

Diverses

Nach all dem fällt es mir schwer, noch etwas Positives zu finden. Aber den Versuch ist es immer wert. Manche Geschichten sind einfach nur für dem Klamauk geschrieben z.B. „Kein Honigschlecken“, wobei auch bei dieser gesagt werden kann, dass sie dennoch eine gute Botschaft beinhaltet: Es ist immer klug, hinter die Kulissen zu schauen, denn manche Dinge sind eben nicht so, wie sie scheinen. Gleiche Botschaft bei „Unvergessliche Ferien“. Genau hinschauen, hinspüren, Empathie und Vernunft sind entschieden von Vorteil.

„Ein Fischsitter für alle Fälle“ hält u.a. die Botschaft bereit, dass Tiere Lebewesen sind, die man artgerecht halten muss. Leider wird diese verwässert durch die ebenfalls unterschwellige Botschaft, dass diejenigen, die es versuchen, extravagante Spinner sind. Aber gerade diese Spinner sind solchen Haltern haushoch überlegen, die sich z.B. exotische Tiere bloß aus Prestige oder anderen nicht-artgerechten Gründen anschaffen und dabei den Tieren bis hin zum Aussetzen unsägliches Leid zufügen.

„Reise ins Ich“ könnte durchaus v.a. den Männern die Botschaft senden: „Es lohnt sich, sich mit der eigenen Psyche auseinanderzusetzen und sich tatsächlich ins Gesicht zu schauen, anstatt alles zu verdecken und zu ignorieren – es holt dich sonst sowieso ein!“  „Haustausch mit fatalen Folgen“ enthält die Botschaft: „Vorurteile lohnen sich nicht!“

“Ritter Raumut” unterstreicht u.a. die Gefahr, dass man vom Medienkonsum süchtig werden kann und dabei das normale Leben in Schieflage gerät.

Außerdem erweisen sich die Neffen Donalds in diesem Band als immer wieder vernunftbegabt; sie müssen oft sogar eine Art erzieherische Rolle übernehmen, wenn ihr Onkel mal wieder Mist baut. Der Onkel selbst dient in der Serie als ewige Lachnummer (hier z.B. „Trotzdem der Dumme…“). Das ist allerdings nicht sehr empathisch gegenüber Menschen, denen eben nicht das Glück im Leben winkt. Von denen kennt wohl jede*r mindestens einen, vielleicht gehört man sogar selbst zu den Glücklosen. Sogar mein Sohn bedauerte schon als kleines Kind „den armen Donald“ und litt mit ihm mit, anstatt sich über ihn lustig zu machen. Mein Kind ist auch weiterhin sehr sozial eingestellt, was ich als Erfolg verbuche. Von den Sich-über-andere-Lustigmachern braucht man in der Welt nicht noch mehr als es ohnehin schon gibt.

Fazit

U.a. unkritische Zementierung schädlicher Rollenklischees, eine als selbstverständlich geltende männliche Sicht mit hauptsächlich erneut männlichen Figuren und misogyne Äußerungen vergällen das Leseerlebnis. Zudem ein Aufguss alter Geschichten ohne deutsche Erstveröffentlichungen. Muss frau/ (vernunftbegabter) man(n) also nicht haben.

 


Genre: Comics, Psyche, Rollenklischees
Illustrated by Egmont Ehapa Media

The Gender of Mona Lisa 8

Das Jahr der Entscheidung

Im letzten Schuljahr von Hinase, Ritsu und Shiori will Hinase wissen, was typisch männlich ist. Shiori macht sich darüber viele Gedanken und kommt zu dem Schluss, dass es das „typisch Männliche“ gar nicht gibt – viele Dinge machen beide Geschlechter gern. Auch die Kleidung ist nicht unbedingt ein Kriterium für weiblich oder männlich. Deshalb macht er mit Hinase das, was er unter „männlich“ versteht, aber Hinase fällt auf, dass das eigentlich ganz normale Dinge sind, die jede*r tun kann. In einem Aquarium kommt es zu einem Gespräch über das soziale und biologische Geschlecht anhand von Clownfischen und Zackenbarschen, die ihr Geschlecht ändern können. Dabei stellen sie sich die Frage, wie es wäre, wenn der Mensch schon von Baby an ein biologisch zugeschriebenes Geschlecht hätte – würde man sich dann genauso mit der Geschlechterfrage quälen?

Außerdem hört Hinase Shioris Seite der Geschichte, nachdem Shiori Hinase ein Liebesgeständnis gemacht hat. Shiori liebt Hinase, allerdings ist es für ihn ein Unterschied, ob Hinase als geschlechtslose Person in Männer- oder Frauenkleidung vor ihm steht oder als biologische*r Frau/Mann. Nach den Gesprächen mit seinen Freund*innen ist sich Hinase klar, wie sier weiter vorgehen will. Außerdem stehen noch Berufsentscheidungen an, das Abschlussfest und andere Dinge. Alles deutet auf Neuanfang hin. Schließlich hat sich Hinase für ein Geschlecht entschieden und auch die biologischen Werte deuten auf diese Entscheidung hin.

Selbstfindung ist ein Prozess

Der Abschlussband der Reihe verrät nicht, welches Geschlecht es letztendlich wird, denn die Message ist eine ganz andere: Hinase hat sich durch Auseinandersetzungen mit sich selbst und mit siehrer Umwelt selbst gefunden und ist nach langen Kämpfen mit sich im Reinen. Nur darauf kommt es an. Das Geschlecht selbst ist letztlich nicht so wichtig und nur ein Faktor unter vielen anderen.

Die Reihe macht sowohl „ganz normalen“ Jugendlichen Mut, die sich gerade mitten in den Pubertätswirren und damit der Selbstfindungsphase befinden, als auch Menschen, die auf die ein oder andere Art mit ihrem Geschlecht und/oder ihrer geschlechtlichen Ausrichtung im Krieg liegen. Hinase zeigt anhand von Farben, dass jede*r weibliche und männliche Anteile in sich hat. Gesellschaftliche Konventionen sind oft nicht hilfreich, wenn es um Selbstfindung geht, sondern eher hinderlich, v.a. Rollenklischees, die einer freien Selbstentfaltung im Weg stehen. Auch das arbeitet die Reihe heraus. Besonders deutlich wird das an der Auseinandersetzung mit den Vorstellungen von „typisch weiblich“ und „typisch männlich“, aber auch den Überlegungen bzgl. der sexuellen Ausrichtung: Wenn man z.B. auf Männer steht, ist es nicht relevant, welches Geschlecht man hat. Die Figuren in der Reihe würden auf Männer stehen, egal welches Geschlecht sie annehmen.

Die Kämpfe mit sich selbst werden ebenso dargestellt – niemand macht es sich leicht, wenn sie/er von der Norm abweicht. Dafür aber üben sie sich in tiefer (Selbst-)Reflexion und gelangen somit zu weitreichenden Einsichten. Ebenso wird herausgearbeitet, dass frau/man immer noch die- oder derselbe bleibt, auch nach der Entscheidung für ein Geschlecht. Hinase formuliert das für alle, die noch unentschieden bzgl. ihrer geschlechtlichen Entwicklung sind, so: „An dich ‚mit dem Geschlecht der Mona Lisa‘. Hab keine Angst. Auch wenn sich dein Körper verändert, du selbst wirst dich nicht verändern. Du bleibst, wie du bist, aber du wirst ab jetzt und bis in alle Ewigkeit in den schönsten Farben erstrahlen.“ Das ist eine sehr schöne Botschaft, auch wenn es nicht so ganz stimmt, dass der Mensch sich nicht verändert – Menschen und alles andere ist der Entwicklung und damit auch der Veränderung unterworfen. Aber der innerste Kern, der grundlegende Charakter bleibt gleich.

Es sind noch zwei Nebenbände geplant, die zeigen sollen, wie Hinases Entwicklung nach siehrer Entscheidung weiter verläuft.

Fazit

Sehr zu empfehlende Reihe über Fragen bzgl. Geschlechterrollen, biologisches Geschlecht und andere Identitätsfragen.


Genre: biologisches Geschlecht, Rollenklischees, Selbstfindung, soziales Geschlecht
Illustrated by Carlsen / Hayabusa

Detektiv Conan, Vol. 2, Folgen 35-68

Detektiv Conan - Box 2 (Episoden 35-68) [6 DVDs]Über Allgemeines zu der Serie und die ersten Folgen habe ich hier schon berichtet und rezensiert, weshalb ich das jetzt nicht mehr wiederhole: https://literaturzeitschrift.de/book-review/detektiv-conan/

Neue Fälle und ein altes Ich

Shin’ichi muss weiterhin heimlich Fälle lösen, indem er als Conan Privatdetektiv Kogoro Mori bei der Aufklärung hilft und ihn dazu in Schlaf versetzt – der „schlafende Kogoro Mori“ ist mittlerweile aufgrund dieser Besonderheit berühmt geworden. Auch in diesen Folgen löst Conan eine Reihe von Fällen, wobei die Detektive Boys nicht so oft zum Zug kommen wie in den Folgen davor, was mein Sohn schade findet – kommen hier doch Kinder wie er zum Zug. Unter anderem passiert ein Mord in einem Tempel, den die Moris mit Conan besuchen. Ein anderes Mal wird ein Professor ermordet und ein Firmenchef. Ebenso müssen u.a. ein professioneller Turmspringer, ein Ehemann, eine Regisseurin, ein Geldgeber für einen Film und eine Kunststudentin dran glauben. Als Besonderheit dieser Ausgabe bekommt Conan seinen 17-jährigen Körper als Shin’ichi wieder zurück – aber nur für kurze Zeit. Das stellt den Schülerdetektiv allerdings vor neue Herausforderungen. Azßerdem wird neue Spannung in die Serie durch einen neuen Schülerdetektiv namens Heiji Hattori gebracht, der in Konkurrenz zu Shin’ichi steht.

Rollenklischees, Diskriminierung, Ethik im Allgemeinen

Langweilig wird es auch mit den neuen Folgen nicht und die Folge, in der Shin’ichi kurzzeitig sein altes Ich zurückgewinnt, bringt frischen Wind in die Serie. Allerdings sind ein paar der Folgen bzgl. der Gewalt, die den Opfern angetan wurde, grenzwertig, gerade für Kinder, die ebenso eine Zielgruppe der Serie sind wie ältere Fans. Manche Folgen kommen wieder als Doppelfolgen mit Cliffhanger daher.

Bzgl. Männer- und Frauenbild gibt es kaum Neues zu sagen, v.a. nicht in positiver Hinsicht. Rollenklischees werden munter und unkritisch weitertransportiert, allerdings auch manchmal durchbrochen, wenn sich eine Frau dem Klischee entgegenstemmt. Angedeutet wird in diesen Folgen eine weitere Dimension der Misogynie: Die Frau darf nicht erfolgreicher sein als der Mann – das kann gefährlich für sie werden, wie in der Folge mit der ermordeten Kunststudentin deutlich wird. Sie war ihrem Professor zu erfolgreich und er bediente sich ihrer Zeichnungen, was nicht herauskommen durfte. Ein ähnliches Muster taucht in der Folge auf, in der ein Professor ermordet wird, der sich der Ideen seiner weiblichen Mitarbeiter bedient hat. Dieses Muster gibt es in der Realität tatsächlich: Männer haben sich gerade in der Wissenschaft und im Beruf im Allgemeinen sehr oft der Ideen der weiblichen Mitarbeiter bedient, ohne dass Frauen für ihre Intelligenz gewürdigt wurden: Ideenklau.

Weiterführende Links zu dem Thema (es gibt leider wegen der Häufigkeit dieses Phänomens zahlreiche Links):

https://www.woman.at/a/frauen-wissenschaft-vergessen

https://www.deutschlandfunk.de/gleichstellung-in-der-wissenschaft-frauen-erhalten-weniger-anerkennung-100.html

https://zeitgeschichte-online.de/themen/frauen-der-wissenschaft

https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.leonberg-wenn-maenner-weibliche-ideen-klauen.d79d700e-3a66-4c13-b70c-70190cbd67d5.html

https://www.spiegel.de/karriere/kollege-klaut-ideen-wie-verschafft-man-sich-gehoer-tipps-von-der-karriereberaterin-a-ff5c4786-c95b-4ed3-8bd6-99bb49236c4a

https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Wissenschaft-Technologie-digitaleGesellschaft/FrauenanteilForschung.html

https://www.statistik-bw.de/Service/Veroeff/Monatshefte/20210101

https://www.academics.de/ratgeber/frauen-in-der-wissenschaft

https://www.deutschlandfunk.de/fraueninderwissenschaft-100.html

 

Abgeschiedenheit ist oft ein Thema – die Menschen sitzen irgendwo, z.B. im Wald, in einem Kloster, auf einem Schiff, fest- und dass Ran öfter in Gefahr gerät, aus der sie sich entweder selbst rettet oder von Conan gerettet wird.

Bei den meisten Fällen kann man die Motivation der Täter*innen nachvollziehen, denn oft sind sie Opfer von Diskriminierung oder anderen Ungerechtigkeiten bzw. von Menschen mit schlechtem Charakter. Die Opfer-Täter*innen-Rolle ist also nicht schwarz-weiß, sondern vielschichtig. Das beugt einer pauschalen Verurteilung vor – was nicht heißt, dass ein Mord in der Serie gutgeheißen wird! Es sind zum Glück auch nicht immer die Frauen, die Opfer werden, wie leider oft in v.a. älteren Krimis. Denn weibliche Opfer werden oft auch mit Passivität und Schwäche gleichgesetzt – man(n) kann mit ihnen machen, was man will. Wie gesagt, das ist hier nicht so, sondern einigermaßen gut durchmischt.


Genre: Krimi
Illustrated by Kazé

LTB Crime 13: Die dritte Staffel

Allerlei Verbrechen

Das Wüten der Wächter: Donald und Dussel treten ihren Dienst als Nachtwächter eines Museums an. Dabei erschrecken sie vor ihrem eigenen Schatten, treiben aber nebenbei echte Diebe in den Wahnsinn.

Die Rache des Hannibal Haderlomp: Inspektor Hunter hat seit Jahrzehnten eine Rechnung mit dem einflussreichen Bürger Hannibal Haderlomp offen, denn der lässt sein Geld für sich sprechen und achtet das Gesetz nicht. Außerdem wird noch Micky Maus entführt. Ob das etwas mit der Fehde zwischen Hunter und Haverlomp zu tun hat?

Kampf dem Karriereknick: Momentan laufen die Geschäfte nicht so gut für Kater Karlo. Ob eine neue Bande ihn aus der Misere retten kann?

Das Wahlversprechen: Entenhausen hat nicht nur einen offiziellen Bürgermeister, sondern auch einen Bürgermeister der Unterwelt. Und der plant einen außergewöhnlichen Cup.

Das kulinarische Komplott: Privatdetektiv Hubert Bogart und Dussel haben einen neuen Fall zu lösen. Sie sollen das Rezept eines berühmten Gourmet-Kochs bewachen, während dieser an einem Wettbewerb teilnimmt. Dabei geht aber einiges schief.

Die Herausforderung: Trudi, Karlos Freundin, und Petunia, die Frau von Hunter, haben es beide satt, dass ihre Männer nie Zeit für sie haben – weil sie damit beschäftigt sind, sich gegenseitig das Leben schwer zu machen. Also beschließen die beiden Frauen, gemeinsam etwas zu unternehmen.

Humorvoll, aber bzgl. Frauen- und Männerbild veraltet

15 Geschichten rund um vielerlei Arten von Verbrechen bietet die Sonderserie, davon 7 als Erstveröffentlichungen, was eine gute Ausbeute an neuen Stories ist. Am 23.3. ist eine weiterer Band im Handel erhältlich. Die Geschichten sind kurzweilig und humorvoll. Allerdings spielen auch hier die Frauen wieder nur eine Nebenrolle; die meisten Geschichten drehen sich um die männlichen Protagonisten. Es wird also wieder missachtet, dass es auch Leserinnen gibt, die die LTBs mögen. Das LTB-Universum ist noch in veralteten Rollenklischees verhaftet und nimmt kaum neue Einflüsse der Gegenwart bzgl. Rollenfindung von Mann und Frau auf. Das ist schade und nicht mehr zeitgemäß.


Genre: Comic, Crime
Illustrated by Egmont Ehapa

Die Transgender-Frage: Ein Aufruf zu mehr Gerechtigkeit

Nach Lektüre (und Rezension bei Literaturzeitschrift.de) des Buches Material Girls von Kathleen Stock, der Transphobie nachgesagt wurde, wollte ich „Transphiles“ lesen, um meinen Horizont zu erweitern.

Das Buch verschafft einen Einblick in die Schwierigkeiten von Transmenschen und in die Debatten dazu, mit dem Schwerpunkt im UK, der Heimat der Autorin. In zehn Kapiteln werden verschiedene Aspekte abgearbeitet, die Quellenangaben sind eher Zeitungsberichte, kaum theoretische Beiträge. Das Patriarchat und der Kapitalismus werden durchgehend als Ursache des gemeinsamen Leids vieler Menschen benannt.

Auf über 300 Seiten werden Ereignisse und Begegnungen beschrieben. Beim Lesen lernen wir den Werdegang der Autorin kennen, die sich als privilegiert bezeichnet, da sie weiß ist, studieren konnte und von ihrer Familie in ihrem Wunsch, zu transitionieren, unterstützt wurde.

Im Kapitel Klassenkampf berichtet die Autorin über die Medien, und von ihren eigenen Anfängen als Journalistin: Sie hätte lieber längere Hintergrundartikel geschrieben, aber von ihr als geoutete Transfrau wollte man lieber persönliche Statements, von Banalem, etwa wie sie sich schminkt, so wie es auch anderen Frauen geht, auf deren Aufmachung mehr Wert gelegt wird, als auf Taten. So machte sie eher Interviews mit Betroffenen, was ihr den Zugang zu einer Fülle von Biografien verschaffte, die das Buch bereichern.

In Der Staat beschreibt sie den Zusammenhang zwischen Diktaturen und gezielter Diskriminierung, hier am Beispiel USA unter Trump und Ungarn. Trump hatte die gesundheitliche Versorgung von Transmenschen in der Armee ausgesetzt. Und fundamentalistische christliche Glaubensgemeinschaften erfreute er mit seinen Besuchen. Ein anderer Aspekt ist der hohe Anteil von Sexarbeitern unter Transmenschen, das Kapitel dazu heißt plakativ „Sex Sells“, es wird aber auch beschrieben, dass Prostitution für viele von ihnen zu den wenigen Möglichkeiten gehört, Geld zu verdienen.

Bei den anderen Gruppierungen, die unter dem Patriarchat leiden, hätte ich mir Konkreteres über ihre Lage, über ihre Klagen, oder Konzepte gewünscht, so las man nur, dass deren Positionen (meist aus moralischen Gründen) abzulehnen seien.

Um das Ausmaß der Leiden von Transmenschen zu ermessen, empfehle ich das Buch, als politische Strategieempfehlung oder „Aufruf zur Gerechtigkeit“ weniger, es fordert diese gezielt für Transmenschen, die anderen Minderheiten, die das Patriarchat unterdrückt, werden in Untergruppen sortiert.

So lese ich von einer Maya Forstater, der gekündigt worden sei, weil sie einen „transfeindlichen Tweet“ geschrieben hätte, den Frau Rowling unterstützt hätte. Was die beiden Transphobisches geschrieben haben, wird nicht benannt, ich muss im Internet nachlesen. Sie hatte in einem Tweet gemeint, das biologische Geschlecht sei eine Realität, und Frau Rowling, hatte sie unterstützt. Ist das ein Kündigungsgrund? Und weiter lese ich, dass sie in 2. Instanz den Prozess gegen den Arbeitgeber gewonnen hatte.

Wir Alt Achtundsechziger sind dafür, dass Freiheit die Freiheit der Andersdenkenden ist, wem gewähren woke Menschen Meinungsfreiheit?

Allerdings sehe ich, dass die Biografien der Transmenschen sehr vielfältig und divers sind, und sie, zu Recht, in ihrem Sosein verstanden werden wollen. Und warum sollte ich einer äußerlich männlich erscheinenden Transfrau nicht am Waschbecken beim Damenklo begegnen? Dann begegne ich auch endlich mal einem Transmenschen persönlich …


Genre: Gesellschaft, Transgender
Illustrated by ‎ hanserblau

Das Romanische Café

Dieses kleine Büchlein von knapp 150 Seiten hat es in sich: Géza von Cziffra hielt sich von 1923 bis 1933 regelmäßig im Romanischen Café auf, traf Gott und die Welt und sammelte Anekdoten. Das Namensregister umfasst bald 300 Einträge und die Seitenzahlen sind aufgelistet, wann die Personen auftraten, oder auch nur zitiert wurden: Shakespeare und Goethe sind dabei. Es erschien 1981, als der Autor über achtzig war und die Geschichte über diese Zeit hinweggegangen war, unter dem Titel „Die Kuh im Kaffeehaus“. So kann er Vergleiche mit der damaligen Jetztzeit anstellen, als es schon Groupies und Hippies gab.

Viele der Prominenten wurden vom Stammgast Emil Orlik porträtiert und bebildern das Büchlein. Ein Nachwort von Ingrid Feix rundet es ab.

Im R.C. gab es feste Tische, was der 23 Jahre alte von Cziffra nicht wusste, als er das erste Mal an einem leeren Tisch Platz nahm. Der Gast, der sich dazu setzte, fragte ihn, wessen Sohn er sei, und der aufgebrachte Kellner klärte ihn auf: „Das hier ist ein höchst reservierter Tisch! Setzen Sie sich bitte anderswohin.“ Später erfahren wir, dass der Stammgast des Malertisches Max Liebermann war. Und ich glaube nun, dass dieser richtig gut berlinern konnte, das hatte ich einem Spross aus großbürgerlichem Haus nie zugetraut. Von Cziffra wurde ja später Drehbuchautor und kann Dialoge. Die noch nicht arrivierten Maler saßen am Nichtschwimmertisch.

Am Tisch der Männer der Feder saßen Schriftsteller, tauschten sich aus, mal auch mit Wissenschaftlern, Einstein verkehrte hier, flirtete heftig, was ihm den Spitznamen „der relative Ehemann“ einbrachte. Mal bot er Zauberkunststücke dar, oder er erklärte die Relativitätstheorie: „Stellen Sie sich vor, Sie sitzen neben einer hübschen und geistreichen Frau, dann wird Ihnen diese Stunde wie eine Minute vorkommen. Sitzen sie aber mit dem nackten Hintern nur eine Sekunde auf einem heißen Ofen, so wird Ihnen die Zeit sicher wie eine Stunde vorkommen.“

Es geht um Freundschaften und Feindschaften, Bewunderung, Eitelkeiten, Eifersucht und Neid. Einmal droht ein Duell: Es ging um die Schauspielerin Elisabeth Bergner, von der alle Männer schwärmten. Ein stattlicher Bursche sagte etwas Abfälliges über sie, woraufhin „ihr Lieblingskameramann Adolf Schlazy“, ein kleiner Schmächtiger, ihn ohrfeigte. Als der Riese ihn angriff, wurde er zurückgehalten, fordert dann aber ein Duell. Als er erfuhr, dass Schlazy Jude war, sagte er, mit Untermenschen duelliere er sich nicht. Der war erleichtert: „Der erste sympathische Nazi, den ich kenne.“ Wir verfolgen die Biografien von vielen der Protagonisten, auch wie sie sich später, während und nach der Nazizeit, entwickelten.

Die Frauen hatten auch ihren Tisch und es gibt auch einiges an Zickenzoff. Für einen alten Herrn, der 1900 geboren wurde, berichtet von Cziffra darüber erfreulich sachlich, etwa so wie über die Männer. Nur einmal kommt ein Herrenwitz, nicht vom Frauentisch, vor dem fürchteten sich die Männer, aber vom Kükentisch: „Hier saßen laute junge Mädchen, die … mit den grimmigsten Gesichtern der Welt verkündeten, dass sie fest entschlossen wären, sich von keinem Mann verführen zu lassen. Kurz nach Mitternacht änderten sie fast immer ihren Entschluss.“

Am meisten war am Tisch der Mimen los, wir erfahren viel, etwa, wie es zur Dreigroschenoper gekommen war. Und wie erfolgreich sie war.

Eine Marke für sich waren auch die selbstbewussten Kellner, und so schließt das Buch mit dem Lied von Friedrich Holländer über die „Romanischen Kellner“, rund um die Gedächtniskirche herum.


Genre: Film, Kultur, Kunst, Unterhaltung
Illustrated by be.bra Verlag Berlin

Berühre mich. Nicht. Die Graphic Novel: Teil 1

Berühre mich. Nicht. / Berühre mich nicht - Graphic Novel Bd.1 - Kneidl, LauraNeuanfang

Sage hat nach traumatischen Erlebnissen beschlossen, ein neues Leben fernab ihrer Heimat zu beginnen. Mit nichts als ihrem wenigen Besitz und ihrem Auto kommt sie in Nevada an. Nach anfänglichen Schwierigkeiten bekommt sie einen Job in einer Bibliothek, wo sie im Archiv arbeiten soll. Dort lernt sie Luca kennen, der ebenfalls für das Archiv eingeteilt worden ist. Für Sage blanker Horror, denn Luca erinnert sie an ihren ehemaligen Peiniger, dem sie eigentlich entkommen wollte. Auch sonst begleitet sie ihre traumatische Erfahrung auf Schritt und Tritt, denn sie hat Panik vor jedem Mann – und die sind nunmal nicht nur im Archiv, sondern auch in der Uni und in allen anderen Alltagssituationen zu finden. Zum Glück helfen ihr ihre langjährige Freundin Megan und ihre neu gefundene Freundin April über das Schlimmste hinweg – bis Sage entdeckt, dass April die Schwester von Luca ist.

Ein New-Adult-Roman in einer Graphic Novel umgesetzt

Die New-Adult Graphic Novel fußt auf dem gleichnamigen Roman von Kneidl. Diesen kenne ich nicht, dafür aber andere New-Adult-Romane, die ähnlich aufgebaut sind. Momentan gibt die Mainstream-Strömung vor, dass romantische Romane Tiefgang haben sollen, deshalb werden die Protagonist*innen mit allen möglichen Traumata und sonstigen Schwierigkeiten ausgestattet. Das ist eine sehr gute Sache, denn oft verkommen Liebesromane zur Seichtigkeit und damit Flachheit, was dieser neuen Strömung so nicht passieren wird. Hin und wieder meinen es aber die Autorinnen zu „gut“ und statten ihre Held*innen mit zu vielen Schwierigkeiten aus. Das scheint bei dieser Graphic Novel zumindest im ersten Teil nicht der Fall zu sein; das Verhältnis stimmt und die Autorin kann sich ganz der Ausgestaltung eines einzelnen Traumas widmen. Das tut sie sehr gut, einfühlsam und plausibel. Und obwohl ich den Roman nicht kenne, habe ich beim Lesen nicht das Gefühl gehabt, dass die Handlung zu sehr gestrafft worden ist und zu schnell vonstatten geht; das Tempo ist meiner Meinung nach genau richtig. Die in Farbe gehaltenen Zeichnungen unterstützen die Story gut, das Verhältnis Text-Zeichnungen ist in Ordnung. Die Farben spiegeln z.T. auch die Gefühle von Sage wider. Zudem gibt es am Ende des Bandes einen Steckbrief mit den Hauptcharakteren. Was mir bei den ansonsten guten Zeichnungen aufgefallen ist: Die Gefühle werden bei allen Figuren sehr verhalten dargestellt und manchmal stimmen Proportionen und Winkel nicht so ganz.

Traumatische Erfahrungen

Kneidl und der Comic stellen sehr schön dar, was passiert, wenn man mit Missbrauch leben muss, was das mit einem anstellt und wie sehr eine solche Erfahrung das Leben beeinträchtigt. Vor den Erinnerungen kann man nicht weglaufen, man muss sie verarbeiten, um wieder ein halbwegs normales Leben führen zu können. Sage erfährt das und wird zudem noch durch einen Einbruch retraumatisiert. Aber die sich anbahnende Beziehung mit Luca, der nur äußerlich Sages Peiniger gleicht, innerlich aber ein hilfsbereiter empathischer junger Mann ist, hilft ihr langsam über ihr Trauma hinweg. Dazu muss man aber sagen, dass es in der Realität oft so ist, dass man sich unterbewusst ähnliche Menschen und/oder Situationen sucht, die der schlechten Erfahrung ähneln. Deshalb kommt es oft vor, dass z.B. Frauen nach einem gewalttätigen Kerl wieder an einen solchen geraten. Da muss schon eine gewisse (Selbst-)Reflexionsfähigkeit und/oder therapeutische Begleitung vorhanden sein, damit man nicht wieder retraumatisiert wird. Dass es bei Sage anders ist, ist wohl dem romantischen Impetus des Romans geschuldet.

Einen Traum zu haben, den man umsetzen kann oder schon zumindest teilweise umsetzt, hilft auch. Bei Sage ist das der Traum, Schmuck herzustellen und zu verkaufen, was sie schon mit einem gewissen Erfolg begonnen hat. Auch Freundschaften helfen, obwohl Sage z.B. April, der neuen Freundin, (noch) nichts erzählen kann. Aber sie erfährt in einer Notlage viel Unterstützung durch April und Luca, was ihr wieder ein Stück mehr Vertrauen in die Menschheit gibt. Weitere Themen: Obdachlosigkeit, Kampf ums Überleben. Sage hat keine Wohnung; sie wohnt in ihrem Auto. Als in dieses eingebrochen wird, steht sie ohne alles da. Auch vorher schon hat sie Geldnot und Hunger kennengelernt, da der Verkauf ihres Schmucks nicht alle Kosten deckt. Auch das stellt der Comic dar, aber ebenso der unbedingte Wille trotz Schüchternheit und schlechten Erlebnissen, etwas aus dem eigenen Leben zu machen und sich seine Träume zu bewahren und zu erfüllen. Damit ist Sage Vorbild für Leserinnen.

Empfohlen.


Genre: Missbrauch, New Adult
Illustrated by LYX

Die Eingeborenen von Maria Blut

Die Eingeborenen von Maria Blut – Maria Lazar

“Die Eingeborenen wollen ihren Messias haben”, meint Meyer-Löw, prophetisch in Maria Lazars 1935 fertiggestellten Roman, der erst 1958 veröffentlicht wurde. Maria Lazar ist heute noch eine gänzlich Unbekannte in der österreichischen oder deutschsprachigen Literaturgeschichte und das obwohl sie nicht nur Oskar Kokoschka (“Dame mit Papagei“) porträtiert hatte, sondern sie sogar in Peter Weiss’ “Ästhetik des Widerstands” einem gewissen Bertolt Brecht die Stirn bietet. Ganz zu schweigen von ihrem eigenen Werk, das neben zwei Werken zum Herandäuen des Klerikalfaschismus und Nazismus in Österreich aus den Dreißigern, sich sogar bis Anfang der Zwanziger zurückverfolgen lässt und neben Prosa und Lyrik auch Theaterstücke umfasste.

Österreich zwischen Faschismus und Nazismus

In “Die Eingeborenen von Maria Blut” nimmt Maria Lazar, die Entwicklung, die ihr Heimatland Österreich in den Dreißigern nehmen wird, schon vorweg. Der Titel ist gut gewählt, verknüpft er doch die vermeintliche Landidylle eines provinziell geprägten Landes mit dem Katholizismus. Dass sich Marienkult und Geschäft schon immer gut verbinden ließen und für so manchen Wallfahrtsort, wo diverse Wunder geschehen, die Kasse (oder den Opferstock) klingelt, dürfte seit der österreichischen Satire “Braunschlag” kein Geheimnis mehr sein. Maria Blut wird im Roman sogar dreimal als “österreichisches Lourdes” bezeichnet, wo nicht nur Wunder geschehen, sondern damit auch einiges verdient wird. Auch ein Wunderheiler beteiligt sich am Schröpfen der Ahnungslosen von Maria Blut und trägt so zur Wundergläubigkeit der Bevölkerung bei. Aber natürlich gibt es auch in Maria Blut Ungläubige und Verräter, so zum Beispiel der Sozialdemokrat Lohmann, der Arzt des Dorfes, oder der bereits eingangs erwähnter Meyer-Löw, der Jurist des Dorfes.

Die Eingeborenen von Maria Blut

Beiden wird von den Eingeborenen allerhand angedichtet und nachgesagt, aber nichts davon ist wahr. Aber Gerüchte und Tratsch halten die Dorfgemeinschaft der Eingeborenen eben zusammen und schaffen Identität nach außen. Auch die Wipplingers oder die Marischka, Haushälterin und Köchin, gehören zum sympathischen Teil der Dorfbevölkerung, während der Rest entweder klerikal oder nazistisch geprägt ist. Die Prädispositionen der katholischen Provinz für den Faschismus werden in Maria Lazars Roman schonungslos und authentisch dargestellt und gipfeln in dem allgemein verbreiteten Hass auf das Rote Wien, das all das verkörperte, was wohl die Bibel als “Sodom und Gomorrha” bezeichnete. Maria Lazar antizipierte in ihrem Roman nichts weniger als den herannahenden Untergang der zivilisierten Welt oder wie es Meyer-Löw ausdrückt: “Es kommen grausame Jahre”.

Nationalsozialismus Made in Austria

Für all jene, die heute immer noch behaupten, man hätte nichts gewusst oder nichts wissen können, sei “Die Eingeborenen von Maria Blut” ins Stammbuch geschrieben, denn es legt bitteres Zeugnis darüber ab, dass der Nazismus kein preußisch-junkerisches Phänomen war oder gar auf Bismarck oder Friedrich den Großen zurückgeführt werden könne, sondern original “Made in Austria”. Der Antisemitismus und Slawenhass entstand nämlich in Böhmen und wurde von einem “böhmischen Gefreiten” zur Ideologie eines rassistischen Herrschaftssystems, das selbst die größten Despotien der Gegenwart und Vergangenheit im Ausmaß seiner Grausamkeit noch heute in den Schatten stellt stilisiert. Abschließend kann ich nur beipflichten, was Birgt Nielsen mit folgenden Worten ausdrückt: “Die zwei Romane über Österreich (Leben verboten! und Maria Blut, JW) verdienen es, dass sie heute im Zusammenhang mit den Reflexionen über die Vergangenheit in Österreich neu aufgelegt werden.”

Neuauflage des Gesamtwerks

Dies hat der Wiener DVB (“das vergessene buch”) Verlag dankenswerterweise in besonders schönen gebundenen Ausgaben 2020 gewagt und somit ist es auch ihm zu verdanken, dass 2022/23 vorliegender Roman von Maria Lazar am Wiener Akademietheater in einer Adaptation als Bühnenfassung von Lucia Bihler und Alexander Kerlin als Theaterstück gespielt wird. Diese Inszenierung wurde auch zum Berliner Theatertreffen 2023 eingeladen. Maria Lazars Gesamtwerk umfasst acht Romane, drei Dramen, eine Zitatensammlung, Gedichte, einige Essays und viele Artikel aus der Zeit als Publizistin und Journalistin für Der Tag, Das Wort u.a. Näheres zur Biographie erfährt man in dem lesenswerten Nachwort von Prof. Johann Sonnleitner zu Leben und Werk der wiederentdeckten Autorin.

Maria Lazar
Die Eingeborenen von Maria Blut
2., durchgesehene Auflage.
Mit einem umfangreichen Nachwort von Johann Sonnleitner
2020, hochwertiges Hardcover mit SU, Prägung und Lesebändchen, 313 Seiten
ISBN 978-3-903244-06-1
DVB (“das vergessene buch”) Verlag
24 Euro


Genre: Faschismus, Nationalsozialismus, Österreich, Roman
Illustrated by DVB Verlag