Micky-Maus-Magazin 21 (MM 21)

Cover Jubiläums-Produkte 100 Jahre Disney

Inhalt

„Rudi Ross: Flammende Leidenschaft“: Rudi bricht – von Klarabella und ihren romantischen Serien genervt – zur Arbeit auf. Er ahnt nicht, dass er diesmal keinen normalen Arbeitstag haben, dafür aber als Feuerwehrmann einen Einsatz fahren wird.

„Dagobert Duck: Der Pharao ist nicht froh“: Gundel Gaukeley hat es geschafft und Dagobert seinen Glückszehner gestohlen. Allerdings landet sie durch einen vermurksten Zauberspruch im alten Ägypten und soll mit dem Pharao verheiratet werden.

„Strolchi: Die kleinen Schwestern“: Strolchi ärgert, dass ihm seine Schwestern immer in die Parade fahren, wenn er etwas ausheckt. Deshalb will er ihnen einen Denkzettel verpassen.

„Minnie Maus: Kampf mit dem Phantom“: Micky jagt wieder das Phantom, kommt aber nicht weiter. Erst als Minnie einschreitet, kommt Bewegung in die Sache.

„Gundel Gaukeley: Zu weit gereist“: Aus Versehen landet Gundel in der Zeit der Hexenverbrennung und entkommt nur knapp, weil sie dem Herrscher ihre Dienste anbietet. Das aber führt zu einer schlechten Entwicklung der Geschichte.

„Donald Duck: Traumpaar in Gefahr“: Donald und Daisy machen Urlaub am Strand. Dabei stößt Donald auf eine Diebesbande, die das berühmte „Traumpaar von Millionen“ ausrauben will.

„Dagobert Duck: Die Macht der Geschichten“: Dagobert will wissen, wie sich seine Geschäfte in der Zukunft weiterentwickeln. Er bittet Daniel Düsentrieb um Hilfe und reist in die Zukunft. Dort trifft er auf eine friedliche Welt ohne Geld.

„Micky Maus: Der Wünschelruten-Finger“: Außerirdische wollen der Erde etwas Gutes tun und verwandeln Goofys Zeigefinder in eine Wünschelrute für das Finden von Erdöl. Sie ahnen allerdings nicht, was sie damit anrichten.

Frauenfeindlichkeit in Entenhausen – manchmal unreflektiert weitertransportiert, manchmal aber auch kritisch reflektiert (zum Glück!)

15 Geschichten im Extra-Heft, das dem LTB nachempfunden ist, und 5 im Hauptheft bieten viel Lesefutter. Das Hauptheft kommt wie gewohnt mit Rätselcomics, dem Enten-Kurier, Witzen, Tipps, Tricks und Zusatzinfos zu wichtigen Tagen des Monats einher.

Das Magazin bietet diesmal nicht die üblichen Extras/Gimmicks, sondern wie oben schon erwähnt als Extra „Micky Maus Extra Comic-Spaß Nr. 2“. Das Hauptheft wird also mit einer kleineren Ausgabe eines LTB als Zugabe mit noch mehr Comics unterstützt. Das ist zunächst etwas Gutes, denn Lesen bildet in vielerlei Hinsicht: Rechtschreibung, Ausdruck, Erweiterung des Weltbildes u.a. Aber gerade zu Letzterem kann unreflektiertes Lesen auch zu Weltbildern führen, die Ungutes aufbringen oder zementieren.

Gerade die Geschichte „Rudi Ross: Flammende Leidenschaft“ ist wirklich ein Unding, was Geschlechterklischees angeht: Klarabella wird komplett als Frau erniedrigt und der Lächerlichkeit preisgegeben! So etwas dürfte es weder in Comics und erst recht nicht in der realen Welt geben! Das fängt schon an im ersten Panel und wird im weiteren Verlauf nicht besser, eher im Gegenteil. Aber zurück zum Anfang. Klarabella schaut einen Liebesfilm und Rudi sagt ungehalten: „Bekomme ich noch eine Tasse Kaffee, bevor ich zur Werkstatt gehe?“ In dieser Szene sieht das kritische Auge schon gleich mehrerlei: Klarabella ist in der Position der Hausfrau und ihre ARBEIT wird nicht wertgeschätzt, ganz im Gegenteil, sie wird als selbstverständlich hingenommen und gleich abwertend kommentiert, wenn der Mann einmal nicht umsorgt wird. Und seine Arbeit ist, weil sie Geld bringt, eh wichtiger. Gruselig! Genauso gruselig geht es weiter. Hinter Klarbaellas Klage, dass sie wegen genau diesen Kommentaren Liebesfilme schaut (als Ersatz für das, was sie leider bei Rudi nicht findet), cancelt Rudi ab, anstatt sich zu fragen, welcher Wunsch seiner Frau hinter der Klage steckt. Denn würde er sich das fragen, käme Folgendes heraus: der Wunsch ist der der Wertschätzung und ehrlichen Liebe – Grundpfeiler einer Beziehung – der von Rudi definitiv nicht erfüllt wird. Einmal über den echten Sinn von Romantik nachzudenken, empfiehlt Klarabella Rudi zwar, aber der ist für Denkarbeit und Emotionsarbeit überhaupt nicht zu haben. Da kommt das Manko der Erziehungsarbeit bei Jungen zum Tragen: Sie werden weder dazu erzogen, sozial zu denken und zu handeln noch positive Emotionen zuzulassen und als wertvoll zu erachten. Aber gerade das Soziale und Emotionale macht eine Gesellschaft aus und stabilisiert sie. Männer dagegen sind durch patriarchale Strukturen emotional und sozial amputiert. Rudi präsentiert das toxisch Patriarchale in Reinform: die Missachtung der Frau, und zwar umfassend. Kein Wunder, dass sich Klarabella dagegen wehrt und sich Ersatz z.B. in Form von Liebesfilmen sucht. Als sie endlich vermeintlich Wertschätzung erfährt, weil ein Feuerwehrmann (und dann auch noch Rudi) sie aus dem Feuer rettet, wird sie im letzten Panel komplett der Lächerlichkeit preisgegeben, indem sich die Männer über sie in ihrer (unverschuldet) misslichen Lage lustig machen. Ehapa sollte sich wirklich übergelegen, ob solche frauenfeindlichen Comics überhaupt noch veröffentlicht werden dürfen!

Und es bleibt ja nicht bei einem frauenfeindlichen Kaliber, nein, es muss ja noch ein zweites her. Zumindest scheint es vordergründig bei „Strolchi: Die kleinen Schwestern“ so. Strolchi wertet permanent seine drei kleinen Schwestern ab mit Aussagen wie „alberner Mädchenkram“, dass sie Petzen sind, und dass er ihnen Streiche spielen will, um ihnen zu schaden (verharmlost: ihnen einen Denkzettel zu verpassen). Der geht zwar nach hinten los, aber Strolchi – ganz patriarchaler Junge – sieht überhaupt nicht ein, dass er sich durchgehend falsch verhalten hat. Er kommt überhaupt nicht auf die Idee, dass dem so wäre, obwohl es ihm sowohl Schwestern, Mutter als auch Vater sagen, die alle gar nicht damit einverstanden sind, wie Strolchi sich verhält und damit nicht nur sich in Gefahr bringt. Gut an diesem Comic: Die Mädchen stehen am Ende nicht wie Klarabella schlecht da, ganz im Gegenteil. Sie nutzen eine missliche Lage zu ihrem Vorteil, indem sie ausgesetzte Katzen retten und von ihrem Vater (!) sehr für ihr soziales Verhalten gelobt werden: „Mädchen …ihr seid Heldinnen!“

Dass Männer Frauen nicht ernst nehmen, es aber besser tun sollten, zeigt auch „Minnie Maus: Kampf mit dem Phantom“. Micky nimmt ihre Warnung nicht ernst und landet im Schlamassel. Dazu kommt, wie bei Klarabella, das abgelutschte und überhaupt nicht realitätsnahe Klischee, dass die Frau als Opfer ständig gerettet werden muss – bei der Phantom-Story sogar zweimal, herrje! Dann aber wendet sich zum Glück das Blatt: Micky entpuppt sich als schwach und Minnie rettet nicht nur die Situation, sondern auch aller Leben. Anbei bezeichnende Dialoge: „Pah! Dich könnte ich auch ohne meinen Kräfte-Verstärker-Anzug locker bezwingen, teure Minnie!“ (Phantom, Paradebeispiel, wie sehr eine Frau verachtet und unterschätzt wird) Minnies Reaktion ist ebenfalls bezeichnend für die Situation von Frauen im Allgemeinen und wie sehr ihnen die ständige Abwertung stinkt: „Tut einfach so, als wäre ich Luft für ihn! Aber dem werde ich zeigen, was es heißt, einer Dame keine Aufmerksamkeit zu schenken!“ Auch Minnies Reaktion auf Mickys Feigheit ist bezeichnend (denn sie steht für die Stärke der Frau im Alltag und die Schwäche des Mannes in genau demselben): „Ja, weil du auf den Knien lagst, anstatt zu kämpfen!“ Micky: „Du hast doch gesagt, dass ich ihn nicht mit Körperkraft besiegen kann!“ Minnie: „Weshalb du ihn ja auch überlisten solltest! Nur hast du mir mal wieder nicht zugehört! Egal! Hauptsache, ich habe es geschafft, das Phantom auszuschalten.“ Sie betont extra, dass SIE es war, die die Situation gerettet hat. Und (was leider für Frauen nicht alltäglich ist) die Wertschätzung, die man ihr gegenüber als selbstverständlich erachten sollte. Im Gegensatz zu Strolchi ist Micky reflektiert – er erkennt Minnies Leistung an: „Die haben Recht! Minnie war echt klasse! Allerdings wird das Phantom eines Tages wiederkommen…  tja, und dann… hoffe ich, dass ich Minnie dabei helfen darf, es noch einmal zu überlisten!“ Micky setzt also sogar noch eins drauf: Er gibt den Posten im männlichen Scheinwerferlicht ab und erkennt an, dass Frauen es mindestens genauso verdient haben, im Rampenlicht zu stehen und die volle POSITIVE Aufmerksamkeit zu bekommen wie Männer. Davon ist Rudi in der unsäglichen Geschichte oben noch weit entfernt.

Auch Gundel, die in den Comics immer schlecht wegkommt, ist eigentlich eine selbstständige Frau, die sich von nichts und niemandem etwas sagen lässt (was im Patriarchat nicht gern gesehen wird). In „Dagobert Duck: Der Pharao ist nicht froh“ trickst sie nicht nur Dagobert aus, sondern macht glasklar, dass eine Frau auch sehr gut ohne Mann auskommt – er aber anscheinend nicht ohne sie, wie der Pharao demonstriert. Sie ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass eine Frau eben nicht rollenklischeemäßig immer gut und sozial sein muss, denn es gibt unter Frauen eine sehr große Bandbreite an Charakteren, die eben nicht in Klischees und männliche Wunschträume passen.

In „Gundel Gaukeley: Zu weit gereist“ demonstriert Gundel genau das. Aber es ist schon sehr bezeichnend, dass sie für ihr antisoziales Verhalten abgestraft wird, während Dagobert mit seinem permanent antisozialen Verhalten jedes Mal ungestraft davonkommt. Aber zumindest wird in dieser Geschichte ebenfalls gezeigt, dass Hexen zu Unrecht ständig als böse hingestellt werden: Hexen sind eigentlich alte, weise Frauen, die das Patriarchat dämonisiert hat. Hexen sind Zaunreiterinnen, „auf den Hecken Sitzende“: Hecken als Grenzen, und damit Hexen als Grenzwächterinnen, und zwar als Grenzwächterinnen zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Mit ihren Besen reinigen sie sowohl im Alltag als auch spirituell das Haus. Mit dem Kessel stellen sie nicht nur Nahrung her, sondern auch Medizin – Kessel gelten bzgl. des Göttinnen-Glaubens als mächtiges Beiwerk der Transformation.

In „Traumpaar in Gefahr“ werden zwei Dinge deutlich und auch kritisiert: Zum einen der Unterschied zwischen Schein und Sein. Der (nicht so) „schöne Schein“ wird in Bezug auf Fernsehen und Social Media kritisiert, weil sich dort Menschen relativ einfach eine Schein-Identität aufbauen können, die mit der Wirklichkeit wenig bis nichts zu tun hat. Das „Traumpaar von Millionen“ ist so ein Fake-Ehepaar, das nur vor der Kamera eine glückliche Ehe und Familie mimt und damit alle an der Nase herumführt. Sie stellen sich als zerstrittenes Paar ohne Kinder heraus; der Mann ist feige, die Frau nutzt Männer aus. Donald und Daisy dagegen repräsentieren sozusagen ein ganz normales Paar, wobei Donald sich nichts aus Fernseh- oder sonstigen Helden macht, aber dann anpacken kann, wenn es notwendig ist. Zum zweiten allerdings werden Rollenklischees deutlich: Daisy interessiert sich für oberflächlichen Klatsch und Tratsch und gilt damit auch automatisch als oberflächlich. Noch weiter negativ vertieft wird das durch ihren Ausruf, dass Donald, weil er das „Traumpaar“ nicht kennt, ungebildet sei. Donald dagegen interessiert sich überhaupt nicht für das, was seine Freundin zu sagen hat und ist stattdessen sichtbar gelangweilt. Von Wertschätzung der Frau gegenüber keine Spur. So oder so: Das Bild, dass beide Paare abgeben, ist kein gutes für eine funktionierende Liebesbeziehung.

Insgesamt bietet das Extra-Heft, abgesehen von oben genannten Kritikpunkten, Abwechslung: Geschichten rund um die Panzerknacker, Donald und Daisy, Klarabella und Rudi, Donald und seine Neffen, Gundel Gaukeley, Strolchi usw. Der Fokus wird teilweise auf Herbst-Geschichten und Halloween (mit Einbezug von Sagen) gelegt, z.B. in „Halloween-Horror“.

Die Macht der Literatur und der Geschichten

Im Hauptheft wird in „Macht der Geschichten“ und welches Potential Geschichten oder überhaupt Kreativität für die Entwicklung der Menschheit hat, deutlich herausgearbeitet. „Geschichten beflügeln unsere Fantasie. Sie lassen uns die Welt mit anderen Augen sehen, sie bringen uns auf neue Ideen. Und jeder Fortschritt ist zuerst eine Idee, eine Erzählung, die dann Wirklichkeit wird. So können Geschichten die Welt verändern“, heißt es am Anfang. In der Geschichte selbst werden die Traumreich-Geschichten dazu benutzt, Frieden und Wohlstand in der Welt zu schaffen und Leute zu animieren, ihr Bestes zu geben und Träume zu verwirklichen. Literatur hat Macht. Das ist auch der Grund für Bücherverbrennungen in Diktaturen, denn die Macht des geschriebenen Wortes und die darin enthaltenen Ideen und klugen Gedanken sprengen Ungerechtigkeiten und werden deshalb von Diktatoren gefürchtet. Das sollten sich allerdings auch die Macher der Disney-Geschichten selbst zu Herzen nehmen, um Ungerechtigkeiten wie Frauenfeindlichkeit und die Zementierung der unguten Rollenklischees aus ihren Geschichten zu verbannen und stattdessen lieber mehr Geschichten mit Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit zu schreiben und dabei sowohl die bunte Vielfalt der Menschen als auch der Natur – ohne die kein Mensch leben könnte, Stichwort Umweltschutz -miteinzubeziehen!

Darüber und mehr noch über Habgier in Bezug auf konventionelle Energiegewinnung mit Erdöl geht es in „Der Wünschelruten-Finger“. Hier wird deutlich (und auch indirekt kritisiert), dass das vermeintlich Gute, das Öl, nur zu umfassendem Raubbau und Ausbeutung führt. Und Goofy, der vermeintliche Trottel, steht für die Stimme der Vernunft, indem er diesem Öl gegenüber keinerlei Habgier zeigt und im Gegenteil froh ist, dass sein Wünschelrutenfinger irgendwann nicht mehr funktioniert.

Fazit

Die Macher der Disney-Hefte und LTB sollten sich ihre eigene Geschichte „Die Macht der Geschichten“ mehr zu Herzen nehmen, um auch in ihren Geschichten eine Welt der Umwelt- und Tierrechte, der Frauenrechte und insgesamt der Menschenrechte zu erschaffen! All dies kommt zwar immer mal wieder vor, aber Frauenfeindlichkeit in den Comics ist leider immer noch vorhanden und über Umwelt- und Tierrechte wird zu wenig geschrieben, ebenso wenig über Menschen mit Handicap, Menschen mit anderen Hautfarben oder über die LGBTQ+-Szene. All dies, auch wenn gewisse Kräfte das gern ausblenden, gab es schon immer und gibt es auch weiterhin – die Natur in all ihrer unendlichen Vielfalt ist Vorbild, auch in Bezug auf menschliche Vielfalt.


Genre: Comic, Frauenrechte, Umweltrechte
Illustrated by Egmont Ehapa

Unser Deutschlandmärchen

Im Buch sprechen Dincer, Fatmas Sohn, und Fatma in Monologen über ihre Erlebnisse, ihre Sorgen und Nöte, ihre Träume und Hoffnungen. Dincer ist Fatmas große Hoffnung, was muss sie stolz gewesen sein, als er den Preis der Leipziger Buchmesse bekam! Bei der Preisverleihung, ich erinnerte mich, kam eine Frau mit auf die Bühne. Beim Lesen war ich mir sicher, dass das Fatma gewesen sein musste, als Mitautorin; aber es war seine Frau, stellvertretend für alle Frauen.

Dass Frauen in der Gesellschaft Unrecht geschieht, sagt uns auf der ersten Seite schon Hanife, Fatmas Mutter: „Es gibt in unserem Glauben eine Regel, die den Männerschwänzen dient: Ein obdachloses Weib zu behüten ist die Pflicht eines jeden Mannes. Die ersten Männer dieser Frauen waren im Krieg gefallen. Jetzt warteten hier die nächsten auf sie, mit ihren steifen Werkzeugen. Bekamen die Möglichkeit, das Gewissen ihrer Schwänze zu beruhigen.“

Auf gut 200 Seiten gibt es rund 60 Kapitel, bebildert mit Fotos der Familie, von 1962 bis 2022: da sitzt Fatma und Dincer steht neben ihr.

Fatmas Mutter wird, in Anatolien, früh Witwe, die beiden Brüder sind behindert, die Hoffnung der Familie liegt auf Fatma, also muss sie Yilmaz, „dem mit dem großen Kopf“, nach Deutschland folgen, als er um ihre Hand anhält. Das Leben dort ist schwer, am schlimmsten ist: Fatma muss über ein Jahrzehnt warten, bis sie schwanger wird, sie lässt kein ihr bekanntes Hilfsmittel aus, betet sogar zu Maria …

Da sie keine eigenen Kinder versorgt, bittet sie Yilmaz, ob sie arbeiten darf, und wird Fabrikarbeiterin (Akkordbrecherin!), und hat Nebenverdienste als Erntehelferin, die die Familie ernähren.

Als Yilmaz eine Kneipe aufmacht, putzt sie und unterstützt im Hintergrund. Aber die Kneipe bringt kaum Geld ein, denn die Kunden lassen anschreiben. Yilmaz ist ein liebenswerter Loser, der viele scheinbar gewinnbringende Ideen hat, die dann scheitern, der Schuldenberg wächst und Fatma arbeitet immer daran, ihn abzutragen. Aber: Als Dincer geboren ist, gibt es eine Woche lang Freigetränke, so hat es, da es nach ihm geht, zu sein.

Als der Vater zusammenbricht, wird die Kneipe geschlossen, die Schulden sollen gepfändet werden. In der größten Not kommt das Rettende in der Person von Herrn Hoeke, Richter am Amtsgericht. Er bekommt am nächsten Tag eine Vollmacht, regelt alles. Als er erfährt, dass Dincer schreibt, kommt er freitags „nach der Schicht“, liest alles, „bringt Bücher mit: Novalis, Rilke, Eichendorff, Fried, Lasker-Schüler. Bespricht mit mir alle Texte.“ Jahre später wird er anregen, „Dincer, deine Zeit kommt langsam, du musst vor Menschen lesen, die müssen deine Gedichte hören.“ Nach der Lesung in der Stadtbibliothek im Nettetal steht in der Westdeutschen Zeitung: „Jedes Jahr gibt Nettetal mit Martin Walser, Elke Heidenreich … an, wird das nicht langweilig? Endlich konnte man gestern Abend eine junge Stimme hören, die viel spannender klingt.“

Das Kapitel geht weiter: „Die Figur Hans Hoeke gibt dem schweigenden Märchen eine Hand, das Märchen beginnt, seine zukünftige Stimme zu suchen.“

Soweit der Plot. Ihn zu erfassen dauert etwas, in den vielen Kapiteln kommen einzelne Mosaiksteinchen. Das macht das Lesen zu einem spannenden Erlebnis, denn es besteht aus vielen Stimmen, in Lyrik und auch Prosa, die mit Offenheit und Zuversicht die Entwicklungen der Familie beschreibt.

Andere Stimmen sind in Anatolien zu hören, die der Eidechsen, Kräuter und der Steine. Und wie klingt Dincers Ablehnung bei seinen Arbeitskollegen? Da ist er, weil er Bücher liest, die Schwuchtel. Oder wie er als Arbeiter neben den StudentInnen in der Theatergruppe gesehen wird. Wie geht es der gut integrierten Gastarbeiterfamilie mit Solingen und Hanau?

Ausführlich beschrieben ist Dincers Abnabelungsprozess von Fatma, die lange hoffte, Dincer könnte als Mann ihre Enttäuschungen über Yilmaz heilen.

Besonders beeindruckt hat mich die Begegnung mit Bernd, „der Kollege, der immer die Gießformen auseinandergebaut hat.“ Er beglückwünscht ihn, dass er „den Sumpf“ hinter sich gelassen hat. Sumpf? Für ihn war es die Schule des Lebens, die ihn zu dem gemacht hat, was er heute ist. „Hätte ich mir damals diese robuste Art nicht zu eigen gemacht, wäre ich heute auch in der Theater- und Literaturszene verloren … Hab Jahre später Gedichte geschrieben und diese der Drehmaschine mit der Nummer 630, dem Schraubstock, der Bandsäge gewidmet.“

Und in der Danksagung kommen nach seinen Nächsten „alle, die mit Körperkraft und Schweißperlen auf der Stirn, mit Verstand und Gewissen versuchen, das Leben für sich und alle erträglicher zu gestalten.

Euer Dincer“


Genre: Frauenrechte, Gastarbeiter, Literatur als Elixier
Illustrated by mikrotext