SCUM: Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer

“scum” bedeutet eigentlich Abschaum oder Schmutz. Aber Valerie Solanas machte daraus das Akronym S.C.U.M.: Society for Cutting Up Men. Ihr “S.C.U.M. Manifesto” – so der Originaltitel – schrieb Geschichte, nicht zuletzt, weil dessen Autorin ihre Anliegen kurzerhand selbst in die Tat umsetzte. Sie erschoss am 3. Juni 1968 Andy Warhol.

scum: inspirative Lektüre

Andy Warhol, der die New Yorker Künstlerkommune “Factory” gegründet hatte, starb zwar erst runde 20 Jahre später an den Folgen des Attentats, aber dennoch wäre es wohl zu dem Ereignis geworden, wäre nicht wenige Tag später auch Robert Kennedy erschossen worden. Valerie Solanas wurde in eine Anstalt für abnorme Rechtsbrecher eingeliefert und starb nur ein Jahr später, 1988, nach Warhol. Ihr Manifesto wird seither dennoch mit Andy Warhol und seiner Factory verbunden und inspirierte eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren. Sogar Nick Cave findet auf dem Buchrücken der neuen Ausgabe des renommierten MÄRZ Verlages einfühlsame Worte für die Autorin. Der Originaltext in der deutschen Erstausgabe erschien übrigens erstmals bei MÄRZ, 1969. Damals noch mit der Autorin am Cover.

S.C.U.M.: Aufruf zur Satire?

Solanas kam aus einem sog. zerrütteten Elternhaus, wurde sowohl von ihrem Vater als auch Verwandten schon sehr früh missbraucht und landete schließlich wie alle Dropouts* jener Zeit in New York City, wo sie standesgemäß im Künstlerhotel “Chelsea Hotel” Unterkunft fand. Dort verkaufte sie ihr Manifest als Hektographie vorerst selbst auf der Straße, schaffte an und lernte die bekannte Drag Queen Candy Darling aus der Factory kennen, die sie auch mit Warhol bekannt machte. Als ihr Manuskript eines Drehbuchs mit dem vielversprechenden Titel “Up your Ass” aus dessen Büro spurlos verschwindet, macht Solanas Warhol persönlich für den Verlust ihres Textes verantwortlich. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Ein persönlicher Rachefeldzug, der die Veröffentlichung ihres Manifests in Buchform wesentlich beschleunigte und die Verkaufszahlen erhöhte.

Manifest zur Vernichtung der Männer

Das Manifest selbst liest sich wie eine moderne Satire, ist scheinbar auch an Jonathan Swifts “Modest Proposal” angelehnt, in dem die Kinder der Armen zu Wurst verarbeitet und verspeist werden. Solanas geht mit den “Herren der Schöpfung” zwar auch sehr streng ins Gericht, aber nicht ganz so weit wie Swift. Ihre Hasstiraden auf die Männer, die sie allesamt als Versager verflucht (sowohl Hippies als auch Durchschnittsmänner) sind durchwegs nachvollziehbar und lesenswert. Nicht nur aufgrund ihrer persönlichen Biographie. Denn der Text liest sich unterhaltsam und amüsant und gehört zur feministischen Pflichtlektüre, deren Thesen alle durchdiskutiert gehören.

scum-Neuausgabe mit umfangreichen Extras

Das besondere an der Neuausgabe des MÄRZ Verlages sind nicht nur die Faksimiles von Originalbriefen von Solanas an Jörg Schröder vom MÄRZ Verlag, den sie kurzerhand zum “contact man of the mob” erklärt hatte, sondern auch das informative Nachwort desselben, der über einige Eigentümlichkeiten der wilden Zeit, den Sechzigern, Aufschluss gibt. Anmerkungen im Anhang geben auch Auskunft darüber, was unter *Dropouts zu verstehen ist: “eine moderne Form des Klassenkampfes durch Vorenthalten der Ware Arbeitskraft“.

Valerie Solanas
Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer
(Originaltitel: S.C.U.M. Manifesto)
Aus dem amerikanischen Englisch von Nils Lindquist, mit einem Nachwort von Jörg Schröder,
hrsg. von Barbara Kalender.
2024, 132 Seiten, gebunden,
ISBN: 978-3-7550-0005-1
MÄRZ Verlag
18,– €


Genre: Feminismus, Politik und Gesellschaft
Illustrated by März

M.O.M. – Mother of Madness

„Game of Thrones“-Star Emilia Clarke: bekennende Feministin

„Game of Thrones“-Star Emilia Clarke ist nicht nur die Mutter der Drachen sondern auch Mutter ihres Comics „M.O.M.“ und bekennende Feministin. Herausgekommen ist der erste Teil eines Comics, der die Frauenfeindlichkeit unserer (auch westlichen!) Gesellschaft auf den Punkt bringt, aber auch Mut zur Weiblichkeit macht und dazu, die vermeintlichen Schwächen einer Frau als Stärke anzusehen. Hier ein paar Zitate zu ihrer Motivation, diesen Comic zu erschaffen, der Superheld*innen-Comics einmal kräftig durch den Fleischwolf der Vorurteile gegenüber Frauen dreht und nicht nur frauen-, sondern menschenfreundlich wieder neu zusammenfügt. „[…] aber mir blieb nicht erspart, dass ich durch MTV […] und die Zeitschriften, die ich las, mit mir selbst UNZUFRIEDEN wurde. Und so wurde ich zur Feministin.“ Zu Comics, zu denen sie aufgrund der männlich dominierten Comic-Welt erst spät Zugang fand, meint das „Superhelden-Fangirl“: „Während ich die Werke durchsah, fiel mir auch auf, dass das Verhältnis von Frauen und Männern leicht … unausgeglichen war, und so entstand der Keim von M.O.M. Hier ist also M.O.M., eine Frau, eine Mutter, die feststellt, dass alles, was sie am meisten an sich hasst, eigentlich Superkräfte sind. Dazu ein extrem kapitalistisches Setting, ein paar sehr reale Probleme, vor denen Frauen überall auf der Welt stehen […]“ Zu den Männern und der Männerrolle meint sie treffend: „[…] aber die Gesellschaft, in der wir heute leben, tut euch Jungs keinen Gefallen. Toxische Männlichkeit ist ein echtes Problem und schadet uns ALLEN. […] Wenn wir unsere Jungen von klein auf dafür sensibilisieren, haben wir eine Chance, das Übel an der Wurzel zu packen.“ Zur Wahl einer Mutter als Protagonistin: „Ich wollte eine Mutter in den Mittelpunkt stellen, weil WIR ALLE EINE HATTEN, und ich finde, sie verdienen ein Superheldinnen-Umstyling.“

Diese Frau spricht mir in allen Punkten sowas von aus der Seele! Und das kann ich nicht oft genug betonen!

Clarkes Mitautorin Bennet formuliert ihre Motivation für dieses drei Jahre lang ausgefeilte Projekt so: „Für mich ist Protagonistin Maya ein patriarchaler Alptraum, eine schwarze Komödie mit ansprechenden Proportionen. Wir haben jedes hässliche Klischee über Frauen – unsere Körper, unsere Emotionen, unsere Hormone – auf den Kopf gestellt und zu einer Superkraft gemacht, jede Metapher aufgegriffen und dann gesprengt, großartig oder absurd. Mir war es unheimlich wichtig, dass dieses Buch Frauen überall einschließt – trans und cis, queer und hetero, privilegiert und unterdrückt, von jeder Herkunft und Ethnie, jeder körperlichen Form und Fähigkeit, weltweit. Natürlich sind wir viel zu wunderbar vielfältig, um in eine einzige Geschichte hineinzupassen.“

Auch hier stimme ich zu. Nur in einem ist Bennet in die patriarchale Falle getappt: Warum müssen Protagonistinnen „ansprechende Proportionen“ haben? Die sind doch nur etwas für den männlichen Voyeurismus, aber entschieden Gift für das von Clarke angesprochene weibliche Selbstbewusstsein! Es wird Zeit, dass auch hier ein Umdenken hin zu Curvy-Models, älteren Frauen u.a. stattfindet.

Spiegelung von schädigendem männlichem Verhalten und Denkmustern in Form von Vorwürfen an Frauen

Zitate aus dem Comic

„It’s a boys‘ club and an man’s world., Maya. Was können wir da schon tun?“

„Sie ist völlig irrational.“

„Sie ist triebgesteuert.“

„Sie dreht durch.“

„Sie ist eine Schlampe.“

„Sie ist durchgeknallt.“

„Sie ist viel zu emotional.“

„Sie ist verrückt.“

Der Comic zeigt auf, worunter Frauen immer wieder leiden: Sie seien hysterisch, emotional, hormongesteuert, naiv usw. Nun, dazu lässt sich v.a. eines sagen: All diese Vorwürfe spiegeln männliches Verhalten. Emotional sind Männer auch, v.a. wenn es um die jahrtausendelang antrainierten und angezüchteten negativen, destruktiven Emotionen geht: Wut, Aggressivität – und das alles nach außen gerichtet, gern gegen Frauen und Kinder bis hin zu Femiziden/Morden. Frauenhäuser (von denen es viel zu wenige gibt), können ein trauriges Lied davon singen. Ganz zu schweigen von aggressiven Auto- und Motorradfahrern, die zu schnell fahren, drängeln und Unfälle bauen. Und da wird behauptet, Frauen könnten kein Auto fahren… Die Statistik sagt etwas anderes.

Hormongesteuert sind v.a. Männer, wenn „man“ bedenkt, wie und was sie alles versexualisieren. Ich habe oft genug das Gefühl, dass man als Frau kaum noch etwas sagen kann, ohne dass für Männer eine sexuelle Konnotation mitschwingt. „Man“ denke z.B. an Banane, Gurken usw., die frauenfeindlichen Blondinen-Witze, die Verharmlosung sexueller Übergriffe, die Witze darüber usw. Und „man“ denke an die unglaubliche Absurdität, dass Frauen sich verhüllen sollen, damit die Hormone des Mannes nicht verrückt spielen! Ich bin als Frau doch nicht dafür verantwortlich, dass der Mann seine Hormone nicht im Griff hat! Die Frau soll anziehen dürfen, was und wann sie will, ohne (sexuelle) Gewalt befürchten zu müssen! Geschweige denn die Kleidervorschriften für Frauen in diversen Religionen, die absolut verfehlt sind und dem Patriarchat auch in Sachen Hormone direkt in die Karten spielt…  Allein der Mann ist für seine Hormone verantwortlich, nicht und nie die Frau! Nochmal: Sie soll anziehen dürfen, was, wo und wann immer sie will, ohne Übergriffe befürchten zu müssen!

Der Comic macht dies sichtbar, indem er Maya folgerichtig nicht die „sexy“ Superheldinnenkluft verpasst, die in Superhelden-Comics wieder nur dem männlichen Voyeurismus dienen, sondern sie in praktische und völlig unsexy Superheldinnenkleidung und -schuhe hüllt, die tatsächlich die Heldin in mehrfacher Hinsicht schützt.

„Ver-rückt“: Maya wird, weil sie so ist, wie sie ist, als verrückt bezeichnet. Frauen im Allgemeinen werden leider immer wieder herabgestuft und ihre Verhaltensweisen und Reaktionen als „verrückt“ abgewertet, was der Comic sehr gut herausarbeitet. Aber Maya und ihre Freund*innen hinterfragen diese Sichtweise. Maya ver-rückt sie und sieht, dass sie diejenige ist, die gesund und „normal“ denkt und die Gesellschaft krank machende Ansichten darüber hat, wie Frauen und Männer zu sein haben. Ver-rückt bedeutet also in diesem Zusammenhang, dass Maya aus der „traditionellen“ Denkweise heraustreten und eine Beobachter*innenposition einnehmen kann, um hinter die Wahrheit zu kommen. Sie ver-rückt die Sichtweise auf die Realität und rückt so die Wahrheit wieder ins rechte Licht.

Irrational: Der Vorwurf, Frauen seien irrational, ist an sich schon irrational, wenn man bedenkt, wohin sich die Welt unter dem Patriarchat entwickelt hat. Diskriminierung, Unterdrückung, Vergewaltigungen, Umweltzerstörung, Kriege, Hunger- und Umweltkatastrophen, Folter, Massentierhaltung, konventionelle Landwirtschaft, Gewalt, Femizide usw. – wer handelt hier also irrational und umfassend schädigend? Frauen dagegen denken eher ganzheitlich, nachhaltig und sozial, Stichwort u.a. feministische Außenpolitik.

„Schlampe“: Allein schon der Umstand, dass es für Männer keine ähnlich abwertende Bezeichnung gibt, zeigt schon die Schieflage bzgl. Männern und Frauen. Das Patriarchat hat die steinzeitliche Praxis der Frauen, sexuell frei zu sein – und damit ein Netzwerk der Väterunterstützung für ihren Nachwuchs zu schaffen – gesprengt zugunsten der Ehe, in der die Frau treu sein muss (um dem Mann kein Kuckuckskind zu gebären), während der Mann sich Geliebte und Mätressen halten und so viele Kuckucksinder wie er will haben darf. Männer werden aufgrund dieser schreiend ungerechten Praxis als „tolle Hengste“ gefeiert, wenn sie viele Sexualkontakte zu Frauen haben, während Frauen als „Schlampe“ betitelt werden, sobald sie das Gleiche tun. Die Schieflage ist so exorbitant, dass Frauen früher und heute sogar getötet werden dürfen, wenn sie außerehelichen Sex haben. Da fragt „man“ und natürlich frau sich bei Licht betrachtet: Wer ist hier die eigentliche Schlampe?

Emotionen: Wie schon angedeutet, wird Frauen vorgeworfen, sie seien zu emotional. Auch das zeigt der Comic sehr schön auf. Und auch hier hilft eine ver-rückte Sichtweise, die die Realität wieder geraderückt: Emotionen sind gesund, sie werden zur Psychohygiene entscheidend benötigt. Trauer hilft bei Verlusten und heilt, wenn z.B. Tränen fließen und damit alles Aufgestaute abfließen kann. Wut stärkt und hilft, sich gegen andere durchzusetzen. Freude ist Ausdruck von purer Lebenslust. Außerdem ist sie ansteckend, so dass auch andere in der Umgebung sich mitfreuen. Aber Frauen und Männer werden in ihren Emotionen im Patriarchat amputiert. Frauen werden jegliche negativen Emotionen abgesprochen, weil man sie in den „schwachen“ Status hineinzwingen und dort auch festhalten will. Alles, was nicht dem Bild der fürsorglichen Frau und liebenden Mutter entspricht, wird sanktioniert. Männer dagegen werden in Bezug auf negative, aggressive, destruktive Emotionen regelrecht gepuscht und gezüchtet, um sie im Zweifelsfall zu nicht denkenden, aber widerstandslos handelnden Soldaten im Krieg zu machen. Alle positiven und damit sozialen Emotionen dagegen sollen weggezüchtet bzw. unterdrückt werden, weil sie der Sichtweise des willenlosen und asozialen Kanonenfutters im Kriegsfall widersprechen – man will keine Männer, die Dinge hinterfragen und Skrupel haben, andere zu verletzen und zu töten.

Schwäche: Die Frau soll weder körperlich noch psychisch stark sein, um die Vorrangstellung des Mannes nicht zu gefährden. Deshalb wird sie in Abhängigkeit gehalten (sie darf keinen Beruf haben oder wenigstens nicht so viel verdienen wie der Mann; sie soll „beschützt“ werden, obwohl es besser wäre zu wissen, wie sie sich selbst schützen kann; sie darf keine oder wenigstens weniger Rechte haben als der Mann – bevorzugt wird der Sklavenstatus der Frau), sie soll weder intelligent noch kritisch sein (dann könnte sie ja die Ungerechtigkeiten, die man ihr antut, hinterfragen, benennen und beheben wollen), sie darf nicht größer sein als der Mann (denn sonst fühlt er sich bedroht). Bei ihr wird Gaslighting betrieben, damit sie keinen Angriffspunkt hat und keinen Fuß auf den Boden der Realität bekommt. Sie wird ins Haus verbannt, damit sie keinen politischen und wirtschaftlichen Einfluss bekommt. Sie soll Kinder erziehen, und zwar möglichst viele, weil ihr dann mit absoluter Sicherheit die Zeit fehlt, sich auch anderweitig, z.B. politisch, zu betätigen. Und wenn man(n) Glück hat, ist sie durch Haushalt, Gebären und Kindererziehung so beansprucht, dass sie verbraucht ist und er sich in Ruhe der Politik, der Wirtschaft und seinen Geliebten widmen kann. Mit noch mehr Glück stirbt sie bald und er kann sie durch eine andere Frau ersetzen. Die Mehrfachbelastung der Frau hat also als Hauptziel, die Frau aus den „wichtigen“ Sachen wie Politik und Wirtschaft nachhaltig rauszuhalten – sie soll keinerlei Zeit dafür haben und auch keine Zeit, um über ihre Situation nachzudenken. Sie soll sich immer hinterfragen, ob sie eine „gute“ Frau ist, sie soll permanent kritisiert und durch Beschämungen, Verharmlosungen („Stell dich nicht so an!“, „Bist du aber zickig!“), Lächerlichmachen und Kritik beschäftigt gehalten werden usw. Sie soll also umfassend körperlich und psychisch geschwächt werden, um die Vorrangstellung des Mannes nicht zu gefährden. Das bedeutet aber nicht, dass sie schwach ist, wie Geschichte und Gegenwart zeigen – ganz im Gegenteil: Durch diese jahrtausendealte permanente Extrembelastung und Lebensbedrohung der Frau ist sie zu genau dem geworden, was er nicht will: einer extrem starken, ausdauernden und zähen Frau! Maya lässt grüßen.

Unrealistische Forderungen an Frauen und keinerlei Wertschätzung für das, was sie ist und tut

„[…] Und nach alledem warst du immer noch nicht genug. Verrückt. Schwach. Verbraucht. Als Frau musst du alles sein, und noch mehr. Übermenschlich, während du unmenschlich behandelt wirst.“

Diskreditierung und Verobjektivierung der Frau: Auch hier bringt der Comic das auf den Punkt. „Ähm… Ich kriege meine Tage.“ „Ahhhhh. Die große Schande. Evas Fluch. Zeit, für ein paar Tage auf Moos zu sitzen.“ „Ach, Tiff… Sind unsere Körper einfach schlecht? Wir lachen zu laut, haben Haare, wo wir keine haben sollen, wir sind triebgesteuert, emotional, verrückt…“ „Nein. Schluck das nicht einfach. Solche Gedanken sind Gift.“ „Vielleicht wäre ich dann glücklicher. Wenn ich es einfach akzeptiere, mich anpasse. Mich kleiner mache, Stiller. Ordentlicher. Gefälliger. Sie wirken so glücklich, weißt du?“ „Maya… Das eine ist eine Machtfantasie, das andere Objektifizierung. Wenn du dir vorstellst, dieser Kerl zu sein, fühlt es sich gut an. Die Mächtigen sehen: ‘Du bist toll, du verdienst es.‘“ (Bild eines jungen, muskulösen Mannes) „Wenn du dir vorstellst, diese Frau zu sein, fühlst du dich schlecht. Du verlierst deine Persönlichkeit und Handlungsfähigkeit. Du wirst zu einem Objekt und bestimmst nicht, wie andere dich sehen.“ (Bild einer jungen, „sexy“ Frau, die lasziv ein Eis schleckt) „Aber wenn du die Bilder machst – wenn du deine Geschichte erzählst -, hast du die Macht.“

Amputation der männlichen positiven Gefühle: „Und sogar die Kerle leiden unter dem Scheiß! Dieselbe patriarchale Ordnung, die uns zwingt zu gehorchen, verbietet ihnen, jegliche Gefühle zu haben! Sie dürfen nie schwach wirken, nie um Hilfe bitten oder sanft oder zärtlich oder schön oder nett sein… Sie leiden auf andere Weise darunter, aber sie leiden auch.“

Im Comic wird das u.a. durch Harvey symbolisiert, der seine Machtposition gegenüber Maya immer wieder missbraucht. Ihm wurden von Lucille – der Frau, die sich im Patriarchat zu ihrem Vorteil eingenistet hat – die Tränendrüsen (!) entfernt.

Rollenklischees: „Das mit den Geschlechtern ist Beschiss. Ein schlauer Trick, damit die Leute sich fügen und tun, was man ihnen sagt… Wenn sie gehorchen, fühlen sie sich gut, wenn nicht, werden sie todunglücklich. Zuerst einmal gibt es auch irgendeinem Grund nur zwei Optionen. Wir sind besessen von binären Kategorien. Wir glauben, Schoko ist das Gegenteil von Vanille., Katze das von Hund. ‚Als Mädchen wirst du geliebt, solang du hübsch und lieb und brav und ordentlich bist und auf diesem wackeligen, brüchigen Podest stehst… Aber eine falsche Bewegung reicht, und du fällst runter und stirbst – und hast es verdient.‘“

Bodyshaming: „Sag allen, ihre Körper sind falsch. Ihre Haut ist falsch. Ihre Titten sind falsch, ihre Bäuche sind falsch, ihre Schwänze sind falsch. Schäm dich für deinen Körper, gib Geld dafür aus, und wenn wir dich nicht mehr zum Ficken oder Putzen brauchen … verpiss dich und kratz ab.“

Patriarchales System: „Dieses System stellt eine Handvoll Leute an die Spitze, und alle anderen sollen sich gegenseitig hassen und verletzen und überwachen. Und bis auf sehr wenige Ausnahmen kommt auch niemand mehr in den Club rein. […] Dieser Scheiß schadet uns allen.“

Ausweg: „Und während wir dagegen kämpfen, dürfen wir alle hier unten nicht vergessen: wir brauchen einander. Wir müssen gut zueinander sein.“ „Ja. So kitschig es klingt, Liebe ist am Ende die Antwort auf alles.“ „Ich habe Liebe gegeben und empfangen. […] ich habe gelernt, meine Kräfte zu kontrollieren, weil ich gelernt habe zu lieben, wer ich bin.“

Und genau das führt der Comic weiter aus. Die zerstörten Netzwerke der Frauen erstarken erneut, die nicht-konformen Männer, die der Gesellschaft im Gegensatz zu den toxischen Männern nützen, schließen sich an – für eine bessere, sozialere, liebevollere Welt. Denn Frauen und Männer egal welcher Nation, Hautfarbe, sexueller Orientierung u.a. – sie sind letzten Endes die überwältigende Mehrheit der Menschheit. Und eben nicht die Minderheit der toxischen Männer, die Vorteile aus dem Patriarchat ziehen. Der Comic unterstreicht das durch den Zusammenschluss all dieser sogenannten „Minderheiten“, „Unterdrückten“ usw., die schon allein durch ihre Mehrheit und Verschiedenheit diesen patriarchalen Mist regelrecht überrollen.

Die Message an die Leser*innen: Frauen allein stellen schon die Mehrheit der Menschheit. Zusammen mit allen queeren Menschen und den sozialtauglichen Männern hat das Patriarchat keine Chance. Es hat nur dann eine Chance, wenn diese „Minderheiten“ sich untereinander uneins sind, z.B. durch weißen Feminismus, Aversionen von Frauen untereinander, Streitigkeiten in der Bubble, Ausschluss von unterstützenden Männern durch fehlgeleiteten Feminismus usw. All das spielt dem Patriarchat in die Hände und unterstützt dieses. Aber was das Patriarchat und seine Unterstützer*innen (ja, auch Frauen unterstützen es, solange sie Vorteile daraus schlagen können) gern verdrängen: Außenseitertum und Unterdrückung, v.a. wenn sie jahrtausendelang andauern, bringen eine äußerst zähe, widerstandsfähige und umfassend starke Mehrheit hervor, denen die durch ebenso jahrtausendelange Verhätschelung Überprivilegierten letztlich nichts entgegenzusetzen haben!

Die dem Patriarchat vordergründig treu ergebene Frau

Sie vertritt oberflächlich die Prinzipien des Patriarchats, z.B. die Perfektion und Unterordnung der Frau. Was dabei anscheinend gern übersehen wird, aber eigentlich offensichtlich ist: Diese Art von Frau, die die Unterdrückung ihrer Geschlechtsgenossinnen propagiert, steht selbst außerhalb dieser Rollenklischees: Sie werkelt eben nicht hinter dem Herd, zieht eben nicht selbst oder nur sporadisch Kinder groß, verfolgt dagegen ihre Karriere eisern und steht in genau derselben Öffentlichkeit, aus der sie die anderen Frauen verbannen will. Sie lebt also all das vor, was andere Frauen ihrer Ansicht nach nicht tun sollen – ein schlechtes Vorbild! Man denke nur an Karrierefrau Eva Habermann, die in einer öffentlichen Fernsehsendung (!) anderen Frauen vorschreiben will, was diese zu tun oder zu lassen haben – ohne selbst genau diese Dinge vorzuleben.

Aber selbst wenn sie nicht offensichtlich gegen die Prinzipien verstößt, die sie anderen Frauen aufdrücken will, wehrt sie sich anders gegen die Unterdrückung. Sie setzt z. B. ihren Körper als Waffe ein, um voranzukommen – Stichwort „triebgesteuert“: Sie nutzt die sexuellen Triebe des Mannes aus. Da sie komplexer denkt, kann sie Männer sehr gut und subtil manipulieren, sodass sie letztlich doch ihren Willen bekommt. Eigentlich tut sie umfassend alles, um ihre Nische im System zu finden und dort nicht nur zu überleben, sondern auch zu leben.

Selbst Frauen, die sich dem System tatsächlich unterordnen, weil sie das aus der Tradition kennen und nicht hinterfragen, sind trotzdem keine „guten“ Frauen: Sie sind unterschwellig immer unzufrieden, weil sie nicht benennen und fassen können, was ihnen fehlt. Das bekommt die Familie und die Gesellschaft früher oder später auf die ein oder andere Weise zu spüren, denn in ihren Möglichkeiten amputierte Frauen sind keine gesunden Frauen – das dem Menschen angeborene Gerechtigkeitsempfinden schlägt permanent Alarm. Gute Mütter und Frauen sind sie also nicht, da sie nur funktionieren und das Frauenbild nicht aus dem Herzen heraus unterstützen.

Andere nutzen das System in der Weise, dass sie vordergründig dem Bild der Hausfrau und Mutter entsprechen: Sie rechnen sich aus, was für sie günstiger ist und wählen nüchtern betrachtet anstatt der Dreifachbelastung (Beruf, Haushalt, Kinder) „nur“ die Doppelbelastung (Haushalt, Kinder) und schicken den Mann arbeiten. Der muss dann aber wirklich ranklotzen, um die weiblichen Bedürfnisse in finanzieller Hinsicht zu erfüllen.

Wie „man“ sieht: Letztlich gibt es immer Möglichkeiten, unterdrückende, tyrannische Systeme zu unterwandern und auszuhebeln.

Im Comic ist das Mayas Gegenspielerin Lucille. Weißhäutig und arisch blond hat sie folgende Nische im patriarchalen System gefunden: Sie beutet ihre Geschlechtsgenossinnen auf jede erdenkliche Art aus und manipuliert die Männer. Sie wendet die Prinzipien des Patriarchats zu ihrem eigenen Vorteil an – was auch bedeutet, dass Männer in ihrem System keine oder nur eine untergeordnete, dienende Rolle spielen. Das sieht dann in dieser ungesund ver-rückten Sichtweise so aus: „Und ich weiß, welcher Druck auf Frauen lastet, nett, sportlich und hübsch zu sein. Chefin und Hausfrau, das coole Mädchen, #girlboss und Mama zugleich. Ich weiß, dass sie zahlen, was immer es kostet, diesen Traum zu leben. Die Welt ist krank. Alle kämpfen, alle haben Ängste, alle wollen das glamouröse Covergirl oder der starke Actionheld sein. Vergiss alle Positivitäts- und Akzeptanzbewegungen. Die Leute wollen immer noch dasselbe wie immer: dazugehören. Gehorchen, abgesichert und zufrieden in der Rolle, die die Gesellschaft ihnen diktiert. Und ich kann ihnen das verkaufen. Welche Ressource ist erneuerbarer, ewiger als die menschliche Unsicherheit? Ich kann’s mir nicht leisten, dass du Leuten zeigst, es wäre ok, ein Freak zu sein. Sobald ich die Kräfte in deinem Blut korrigiert und patentiert habe, bin ich perfekt… und mächtig. Kein Mann kann mich kontrollieren, keine Frau herausfordern. Ich muss mehr als menschlich sein… ohne Emotionen, die mich schwächen, ohne Bindungen, die mich bremsen. Und ich muss besser als besser sein… Perfekt. Und perfekt ist das einzig Richtige für eine Frau.“

Was Lucille in ihrer Ansprache nicht merkt: Sie ist längst zu einem patriarchal-kapitalistischen Monster mutiert (wobei sie bald darauf im Comic tatsächlich monströs aussieht) und hängt gänzlich in dieser Falle fest. Bildlich wird dieses schiefe Denken mit der schiefen (und damit wackligen) Krone auf ihrem Kopf symbolisiert.

Superheldin auch ohne Superkräfte

Allein die Mehrfachbelastung der Frau prädestiniert sie als Superheldin – ohne dass ihr je dafür gedankt wird, schon gar nicht in finanzieller Hinsicht. Im Gegenteil: Stattdessen erfährt sie Verachtung, wird beschämt, wird systematisch durch ein unrealistisches und im Übrigen den Nazis geschuldetes Mutterbild in den Wahnsinn getrieben. Ebenso das Frauenbild: Die unrealistischen und sich ständig widersprechenden Erwartungen an die Frau treiben reale Frauen an den Rand des Ertragbaren und darüber hinaus. Sehr deutlich wird das nicht nur in diesem Comic, sondern auch im aktuellen „Barbie“-Film, der bzgl. des gründlichen Aufräumens und Absurdumführens des Patriarchats und den damit einhergehenden Rollenklischees und Rollenerwartungen eine eigene ausführliche Analyse und Interpretation verdient hätte.

Aber keine „Schwäche“ hat nicht auch ihre Stärken. Und genau das zeigt der Comic: die vermeintlichen Schwächen der Frau, die eigentlich nur Spiegelungen der männlichen Schwächen sind (s.o.), verwandelt er in pure Stärke.

„Aber natürlich dachte ich nicht an ‚Superkräfte durch die P-E-R-I-O-D-E‘.“

Die Periode der Frau, die zu Unrecht den Status des Ekligen, am besten nicht zu erwähnenden Übels hat, wird zur Stärke. Denn die Periode ist wie der Jahreszeitenrhythmus zyklisch, ist wie die Natur insgesamt zyklisch und sie garantiert das Stärkste überhaupt: das Gebären von Leben. Ohne Frauen und weibliche Tiere und Pflanzen kein Leben! Die Periode gehört also wie in früheren Zeiten gefeiert und verehrt, anstatt sie unsichtbar und zu etwas Negativen zu machen. Im Comic ist sie der Höhepunkt von Mayas Kräften und führt ihre anderen Kräfte zu einem Maximum.

Weitere Kräfte Mayas, die aus angeblichen Schwächen resultieren: Wut verwandelt sich zu (körperlicher) Stärke und Schnelligkeit. Angst verleiht ihr (wie in der Realität) erhöhte Wachsamkeit, in diesem Fall ein Überschallgehör. Einschüchterung macht sie unsichtbar – damit wird die reale Unsichtbarkeit der Frau in einem patriarchalen System umgekehrt, denn Mayas Unsichtbarkeit garantiert ihr ungeahnte neue Möglichkeiten, weil sie nicht entdeckt werden und so frei agieren kann. Traurigkeit verleiht die Fähigkeit fast augenblicklich zu heilen: Trauer zuzulassen ist tatsächlich der beste Weg, die eigene Psyche zu heilen. Lautes Lachen ist nicht nur Ausdruck von purer Lebensfreude (Lautsein wird der Frau immer negativ ausgelegt), sondern in Mayas Fall kann sie damit Dinge zerbrechen. Damit wird auch die Zweiseitigkeit angesprochen: Lachen bedeutet nicht nur Positives, sondern auch Negatives wie Auslachen, auf das auch Frauen einen Anspruch haben. Denn negative Emotionen werden im Gegensatz zum Mann bei Frauen immer noch systematisch unterrückt, obwohl und wohl gerade deshalb, weil z.B. Zorn Stärke verleiht – die man(n) bei der Frau nicht haben will. Wenn Maya glücklich ist, kann sie sich endlos biegen und strecken. Glück verleiht Flügel, macht die Welt schöner und es dehnt das eigene Ich über die sonst „normalen“ Grenzen aus. Auch das nicht gewollt, denn Unglücklichsein der Frau macht sie schwach. Maya dagegen dehnt sich aus und kann sich verbiegen, ohne dass sie sich für sich schädlich in ihrem Ich und Frausein verbiegen muss. „Wenn sie an der SPITZE ihrer Kräfte ist und alle Emotionen fließen, leuchten ihre Augen golden. Das ist …. DER HÖHEPUNKT.“ Und zwar der ihres umfassenden (und eben nicht beschnittenen) Frauseins, das sich endlich entfalten darf.

Im Übrigen kenne ich keine von Männern ersonnene Superheldin, die sich direkt nach ihren Heldentaten sofort der Kindererziehung und dem Haushalt stellen muss. Es ist Realität, dass Frauen zwischen verschiedenen Situationen switchen müssen und – egal, wie es ihnen gerade geht und was sonst noch Wichtiges ansteht – immer auch Haushalt und Kind(er) im Griff haben sollen. Wie gesagt: Jede Frau ist im Alltag, ob sie will oder nicht, durch die Mehrfachbelastung Superheldin… Und Keimzelle der Gesellschaft, ohne die alles zusammenbrechen würde.

Zitat aus dem Comic: „Schon seit Monaten läuft es gut. Alf hält mich im Gleichgewicht, Henrietta macht mich kugelsicher, und Boone forscht nach meinem biologischen Hintergrund, um mich zu tunen wie einen Buick. Ich habe immer mehr Kontrolle über meine Kräfte – ein Traum! Und wie es sich erst anfühlt, Freunde zu haben! Um Hilfe bitten zu können, wenn man sie braucht, statt auf ein eindimensionales ‚grrr sexy Lady mit Waffe‘-Postergirl reduziert zu werden?!“

Die eigenen, weiblichen Kräfte erforschen, try and error, alles ein Prozess – auch das macht der Comic deutlich. Da die weiblichen Kräfte nach Kräften im Patriarchat unter Verschluss gehalten werden sollen, ist es umso wichtiger, sie wiederzuentdecken und sich ihrer zu bedienen. Auch das zeigt der Comic. Ebenso zeigt er, dass Freund*innen und überhaupt ein Netzwerk diese Kräfte um ein Vielfaches verstärken können, v.a. bei Alleinerziehenden, wie Maya eine ist (weshalb sie ebenfalls von einem patriarchalen System nicht gewollt sind; die systematische Zerschlagung von Frauennetzwerken hatte immer Priorität).

Lebensbaum und Familie im erweiterten und geheilten Sinn

Der Baum ist in vielen Traditionen, auch der germanischen, ein Sinnbild für Leben und eine Verbindung zwischen Ober-, Mittel- und Unterwelt. Er steht für Standfestigkeit und Verwurzelung mit Mutter Erde, für vielfältige Wege (Verzweigung der Äste), für die Verbindung zwischen Himmel und Erde. Der Stammbaum symbolisiert die Familienlinie, die Verbindung zwischen den Ahnen und den Nachkommen und die Entwicklung der Familie.

Im Comic verbindet der Baum Vergangenheit und Zukunft von Maya und zeigt auf, wie sie zu dem geworden ist, was sie ist. Am Anfang – symbolisch auf die Wurzeln gebettet – steht die Geburt. In diesem Fall die Geburt von Billy, Mayas Sohn. Maya begrüßt ihn mit den eindrucksvollen Worten: „Ich hab dich lieb, Billy. Ich werde die Welt verbessern, so gut ich kann. Für dich. Für uns, für das hier.“ Maya betont, dass sie da war und ist.  Das gibt Sicherheit. Die Wurzeln für die Geburt, auch für die Geburt von Ideen und Entscheidungen. Maya will nicht mehr Opfer eines patriarchalen Systems sein, sondern aktiv für die Verbesserung der Welt eintreten. Und nimmt sich das nicht nur vor, sondern setzt sich aktiv ein, wie die Bilder, die sich zwischen den Ästen befinden, zeigen. Sie bekämpft Unrecht an Frauen und erzieht ihren Sohn zu einem verantwortungsvollen, kritischen und menschlichen Mann, der damit sich und anderen guttut.

Damit hat sie sich auf den Weg der Heilung gemacht – ihrer eigenen, der ihrer Nachkommen, der der Welt. Denn wie ein Baum auch zeigt: Alle und alles sind miteinander verbunden, miteinander vernetzt – das zeigt die Natur immer wieder durch ihre Netzwerke und Nahrungsketten – sodass ein Dominostein im Guten wie im Schlechten eine Kettenreaktion auslösen kann. Maya hat sich für die Heilung entschieden und damit den Stein im guten Sinn ins Rollen gebracht. Die Geburt zeigt auch, dass der Weg der Heilung schmerzhaft ist und das viele Hindernisse überwunden, viele Kämpfe gekämpft werden müssen. Aber es lohnt sich, und das weiß Maya. Die Wurzeln und das Fundament der Heilung: Gleichberechtigung, soziales Denken, das Vorbild der Natur mit all ihrer natürlichen Vielfalt/Diversität. Nichts ist so divers und vielfältig wie Mutter Natur! Und der angeborene Gerechtigkeitssinn der Menschen wird immer wieder dafür sorgen, dass Unterdrückung, Gewalt, Ungerechtigkeit, Sexismus, Rassismus usw. erkannt und dagegen angegangen wird, sodass die Dinge wieder ins Lot kommen.

Sexismus im Beruf und Alltag

Der Comic zeigt sehr gut den Sexismus im Alltag auf, auch dort, wo eigentlich gegen ihn angegangen werden sollte. Gleich zu Anfang der Geschichte trifft man Maya bei einer After-Work-Party als Initiative zur „Stärkung von Frauen am Arbeitsplatz“. Sie bezeichnet diese Party als „mein persönlicher Alptraum“. Warum? Wegen Bigotterie.

Diese Veranstaltung mutiert zur Farce, wenn man sich die Rede und die Kommentare und Reaktionen der Männer anschaut. Typische Verhaltensmuster werden auf dieser Party offen weiter gepflegt: Die Unterstellung der Dummheit der Frau, wenn sie bei Geschäftsgesprächen mitreden will – und ihre guten Ideen von einem anderen Mann geklaut werden. Das Lächerlichmachen von sexistischen Sprüchen und #metoo sogar vom Moderator (keine Moderatorin!). Aktzeichnungen und -fotografien, wo die Männer die weiblichen Körper beurteilen, Frauen auf ihren Körper reduzieren und Weiblichkeit lächerlich gemacht wird: „Schön, dass bei einem Event ‚zu Ehren der Frauen‘ tatsächlich ihre ‚besten Seiten‘ gezeigt werden, hahaha.“ Dass Frauen übergriffiges Verhalten als „Kompliment“ sehen sollen. Oder wenn eine Frau sogar mit Fachausdrücken darauf hinweist, dass ihr männliches Gegenüber sexistisch, homophob usw. spricht, damit abgespeist wird, dass sie „runterkommen“ und „nicht gleich so emotional“ reagieren soll. Zur Krönung sagt er noch: „Schenk mir ein Lächeln.“ Da geht bei Frauen gleich ein ganzer Strauß an negativen, wütend machenden Assoziationen und Triggern auf: Dass ihre Bedürfnisse nicht zählen, dass sie den Mund halten soll, dass sie immer nett und gefällig sein soll, dass sie als ultimative (aber nicht befriedigende) Lösung immer alles, was ihr angetan wird, weglächeln soll.

Und Maya steht zu ihrer Periode und dass sie sie nicht mit Binden o.ä. unsichtbar macht – was gleich einen ganzen Strauß an negativen Kommentaren und Gedanken mit sich zieht, sowohl von Männern als auch von unreflektierten Frauen (die so kräftig zu ihrer eigenen Unterdrückung beitragen): „Ekelhaft.“ „Schlampe.“ „Widerlich.“ „Oh Gott, wie peinlich.“ „Was meinst du mit natürlich?“ „Unprofessionell und unhygienisch.“ „Gott, ich würde mich umbringen.“ „Das Kleid ist ruiniert.“ „Bestimmt vergisst sie auch, ihr Kind von der Schule abzuholen.“ „Keine meiner Freundinnen würde so etwas tun.“ „Es gibt einfach Dinge, die Frauen tun müssen, Marlene! Sich pflegen, Kinder kriegen, eine Familie großziehen…“ Als die Frau dagegen hält mit „Auch die Ehemänner?“ wird sie gleich mundtot gemacht mit: „Das war jetzt aber sexistisch, Marlene. Man muss sich um andere kümmern. Das ist das Richtige für eine Frau.“ All dies zeigt sehr gut, mit was sich Frauen immer wieder rumschlagen müssen: keinerlei Selbstreflexion von patriarchal denkenden Männern, Sexismus in Dauerschleife, Mundtotmachen der Frau allenthalben. Und Maya reagiert sehr symbolisch darauf, indem ihre hohen Absätze (die durchaus auch als Waffen genutzt werden können), den (patriarchalen) Boden, auf dem sie geht, beim (Weiter-)Gehen (ihres eigenen Weges) zertrümmert und die „schöne“ Scheinwelt in Form eines Glases zerbricht. Comics können sehr gut in Bildsprache/Metaphern Dinge verdeutlichen, und dieser Comic schöpft diese Möglichkeiten voll aus. Er zeigt sehr klar auf, in was für einer pervertierten und völlig verdrehten Welt Frauen leben, in der u.a. umfassend und immer wieder Opferblaming, Grenzüberschreitung, Gewalt und Gaslighting betrieben wird. Bis hin zum (systematisch verharmlosten) Femizid.

Die Schöne und das Biest

Biester sind in diesem Comic Männer und Frauen, die das Patriarchat unterstützen. Allen voran Lucille Caldwell, die durch den tragischen Tod ihrer Familie durch Giftpilze zur Millionärin wurde. Der Tod an sich ist schon zweideutig: Lucilles Mutter hatte eine Kochshow ganz im traditionellen, hausfraulichen Sinn, bei sie Frauen zeigte, wie sie als liebe- und aufopferungsvolle Mutter ihre Familie umsorgt und bekocht. Die giftigen Pilze, mit der sie sich und fast ihre ganze Familie außer Lucille aus Versehen tötete, bescherte der einzig überblenden und ehrgeizigen Tochter einen genialen Einfall und die dazu gehörigen Millionen. Sie predigt seitdem die „traditionellen“ Tugenden der Frau, ohne sich selbst daran zu halten.

Lucille tritt ein für folgende Tugenden, von denen sie allerdings auch weiß, dass sie die Frauen belasten: Nettigkeit, Sportlichkeit, Schönheit, Frau als Chefin und Hausfrau, als cooles Mädchen und Mama zugleich. Sie nutzt diese Sehnsucht, die den Frauen vom Patriarchat eingepflanzt wurde, dazu aus, Gewinn aus dieser Sehnsucht und den daraus folgenden Produkten zu schlagen. Sie nutzt es aus, dass Mensch irgendwo dazugehören wollen. Frauen, aber auch Männer sollen gehorchen und zufrieden sein mit der ihnen zugewiesenen Rolle. Die menschliche Unsicherheit, v.a. die der Frauen, sieht sie als ewig erneuerbare Ressource, um daraus Profit zu schlagen.

Sie ist eine Kapitalistin in Reinform und damit das Gegenteil der von ihr propagierten aufopferungsvollen Frau. Um ihren Gewinn und ihre Machtposition, die sie sich im patriarchalen System geschaffen hat, nicht zu gefährden, will sie – ebenfalls sehr patriarchalisch – alle „Freaks“ aus der Welt schaffen – denn die sind ihr zu individuell, zu kritisch, zu eigensinnig, zu selbstbewusst: „Freaks“ gefährden die allgemeine Dummheit und die allgemeine Unsicherheit. Das will Lucille nicht zulassen. Sie selbst dagegen will immer mächtiger werden und letztlich perfekt. Deswegen entführt sie andere Frauen, die jeweils gewisse Stärken haben, und will diese Stärken abstrahieren und in sich selbst vereinen. „[…] ‚perfekt‘ ist das einzig Richtige für eine Frau“, so ihr Credo. Dass sie damit letztlich doch in die frauenfeindliche Falle des Patriarchats getappt ist, bemerkt sie nicht. Stattdessen verwandelt sie sich in ein abstoßend hässliches Biest, als sie den von ihr entwickelten chemischen Cocktail trinkt – der damit ihre innere Hässlichkeit äußerlich zum Ausdruck bringt. Allerdings zeigt sie auch wie oben dargestellt, dass sich das Patriarchat höchstselbst gegen Männer und deren größte Angst wendet: dass Frauen mächtig sind, sogar wenn sie das Patriarchat vordergründig vertreten.

Harvey, der gewalttätige Drogendealer und Ex von Maya, ist jetzt Lucilles Handlanger. Äußerlich noch schöner und perfekter als früher agiert er, der einst die Macht in seiner Gruppe und über Maya innehatte nur noch als Lucilles Marionette. Er hat keinerlei eigene Befugnisse mehr. Lucille hat sich das Patriarchat also so zunutze gemacht und ihr selbst so angepasst, dass Männer keine Chance mehr haben, ihre eigenen perfiden Strukturen zu leben – sie sind jetzt selbst Opfer derselben.

Die Männer rund um Maya dagegen sind individuell, reflektiert, fürsorglich, sozial und um Ganzheitlichkeit bemüht. Sie bringen wieder Licht und Freude in die Welt und unterstützen Maya in ihrem Kampf gegen das ungerechte, ausbeuterische System, das Frauen, Männer und überhaupt alle Menschen und Lebewesen ausbeutet und diskriminiert. Diese Männer sind von innen her schön und transportieren diese innere Schönheit nach außen.

Damit sind auch Maya und ihre sie umgebenden Frauen, sowie die Frauen insgesamt schön. Jede hat ihre Stärken, die sie in den Kampf gegen das Patriarchat und gegen Lucille einbringt. Dabei sind Frauen entgegen des Klischees verantwortungsvolle Wissenschaftlerinnen, weise Beraterinnen, muskulöse Sportlerinnen – all die Vielfalt, die ihnen im Patriarchat verwehrt wird, die aber dennoch immer da ist. Homosexualität spielt ebenfalls eine Rolle, denn zwei Freundinnen Mayas sind lesbisch. Diese Vielfalt ist es letztlich, die dem monotonen Einheitsbrei der Rollenklischees den Garaus macht.

Maya selbst ist das Gengenteil einer vom Patriarchat gewünschten Frau: alleinerziehend, ihren Sohn nach ganzheitlichen Werten heranbildend, selbstständig, Freak und eigenständig denkend. Dabei ist sie aber auch eine Frau, die sich wie alle Frauen in den Jahrtausenden vor ihr behaupten muss, um überleben zu können. Und um zu überleben und ihre Familie durchzubringen, hat sie wie all die Frauen um sie herum und vor ihr enorme Stärken entwickelt in einer Welt, die sie diskriminiert und ihr Selbstbewusstsein und den Selbstwert permanent infrage stellt und letztlich rauben will, damit die Frau nur noch nach den Wünschen des Mannes funktioniert. Das gelingt weder in der realen Welt noch im Comic, der diese spiegelt und ganz klar das ans Tageslicht zerrt, was man(n) lieber im Dunkeln gelassen hätte: Benennung und Entschleierung der patriarchalen Taktiken.

In Maya jedenfalls finden sich wohl sehr viele Frauen irgendwie wieder, die wie sie mit der Dreifachbelastung Haushalt, Job und Kindererziehung kämpfen. Alltägliche Frauen sind Superfrauen mit Superkräften (auch wenn diese nicht unbedingt freiwillig, sondern eher durch schwere Lebensverhältnisse kommen – in der Psychologie nennt man das nicht umsonst „diamantene Fähigkeiten“), das zeigt der Comic deutlich. Sie sind Superfrauen auch oder gerade weil sie nicht perfekt sind, Fehler und sich Gedanken machen. Und die sich für ihre Periode schämen, weil diese im Gegensatz zu früheren Zeiten diffamiert anstatt als Zeichen des Lebens und der Fruchtbarkeit gefeiert wird. Maya hat aber beschlossen, all den Selbstzweifeln und der Verunsicherung den Kampf anzusagen, um sich eben nicht mehr von sexistischen Kollegen, gewaltbereiten Männern und den Diffamierungen all dessen, was Frauen ausmacht, unterkriegen zu lassen. Deswegen verwandelt sie die vermeintlichen Schwächen in Stärken und geht konsequent gegen Diskriminierungen vor. Haben Frauen erst einmal ihre Stärken erkannt und realistisch ihre Schwächen eingeschätzt, kann sie nichts mehr aufhalten…

Schönheit ist also ganzheitliche und v.a. charakterliche Schönheit, nämlich sozial, ganzheitlich, umweltbewusst, offen denkende und handelnde Männer und Frauen.

Fazit

Der Comic ist unglaublich vielschichtig, tiefsinnig und verdichtet in harmonischer, sich unterstützender Wort-Bild-Kombination, welche diskriminierenden Methoden das Patriarchat entwickelt hat und permanent bedient und welche Schäden dieses unheilvolle System bei Frauen UND Männern anrichtet – aber auch, wie frau/man sich daraus wieder befreien kann… Prädikat wertvoll!

 


Genre: Feminismus, Ganzheitlichkeit, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Gleichwertigkeit, Kapitalismus, Menschenrechte, Menschlichkeit, Natur, Natürlichkeit, Patriarchat
Illustrated by Carlsen Comics

100 Jahre Bukowski: Short Stories

100 Jahre Bukowski

100 Jahre Bukowski. Der Meister der Kurzgeschichte wäre dieses Jahr, am 16. August, 100 Jahre alt geworden. Warum er es nicht schaffte, erzählen u.a. seine hier vorliegenden Short Stories, die in den Siebziger Jahren auch in Deutschland veröffentlicht wurden. Die beiden hier vorliegenden Bukowski Short Story Sammlungen „Pittsburgh Phil & Co. Stories vom verschütteten Leben“ und „Ein Profi. Stories vom verschütteten Leben“ erschienen 1973 erstmals im amerikanischen Original unter dem Titel „South of North“ bei Black Sparrow Press. 1977 wurden sie auf Deutsch bei Zweitausendeins als „Das ausbruchsichere Paradies. Stories vom verschütteten Leben“ veröffentlicht. Der Deutsche Taschenbuchverlag dtv hat 1983 die Zweiteilung vorgenommen, die bis zur 18. Auflage 2016 beibehalten wurde.

Bukowski und die Frau des Lebens

Finanziell gesehen war man mit einer Möse eindeutig besser dran als mit einem Schwanz. Um das zu verdienen, was sie ihn zehn Minuten anschaffte, mußte ich einen ganzen Tag arbeiten und noch einige Überstunden dranhängen.“ (In. Zwei Trinker) Schon in der ersten Story, „Die Stripperinnen von Burbank“, macht Bukowski klar wo der Hammer hängt. Acht Stunden lang schlägt er auf einen Konkurrenten ein, bis auch er begreift, dass „wenn man acht oder neun Stunden lang aufeinander eingeschlagen hat“, sich ein ganz „eigenartiges Gefühl der Verbundenheit“ entwickelt. Zumal es eigentlich um gar nichts geht, denn wer verliebt sich schon in eine Stripperin, die Rosalie heißt? Bukowski macht sich Gedanken über das Zusammeleben mit Frauen oder beschreibt den Größenwahnsinn des Halbschwergewichtlers Jack, der nach seinen Kämpfen trinkt und raucht, obwohl seine Ann ihn belehrt, es nicht zu tun. Zumeist hat sich ohnehin alles gegen seine Protagonisten verschworen: „Frauen, Jobs, keine Jobs, das Wetter, die Hunde“. In „Das ausbruchsichere Paradies“ hält eine Frau, Dawn, sich vier Homuncoli, die sie auf einem Bartresen kopulieren lässt, wovon sie selbst so angetörnt wird, dass sie mit der Barbekanntschaft, dem Erzähler, mit nach Hause nimmt. In „Liebe für 17,50“ wendet sich Robert von seiner Flamme Brenda ab und verliebt sich in eine Schaufensterpuppe, Stella, die er einem alten Juden abluchst und in seine Bude mitnimmt. „Eine gute Frau, das ist das Größte auf der Welt“, lässte er einen seiner Protagonisten sagen. Aber wo soll Henry Chinaski so eine finden?

Im Ring mit Hemingway

100 Jahre Bukowski

Egal in welche Rolle Charles Bukowski schlüpft, es sind immer sympathische Verlierer, die er beschreibt und die sein Herz erwärmen, denn er hält nichts von dem „gutrasierten Boy mit der Krawatte und dem guten Job“, wie er in „Mumm“ freimütig bekennt. In dem zweiten Band „Ein Profi. Stories vom verschütteten Leben“ befreit er den leibhaftigen Teufel aus einem Käfig, bis er merkt, dass dieser ihm seine Frau ausspannt. Aber Chinaski schlägt selbst dem Teufel ein Schnippchen. „Ich interessiere mich mehr für Perverse als für Heilige“, schreibt er, „Ich kann relaxen in Gesellschaft von Pennern, denn ich bin selber einer. Ich habe nichts übrig für Gesetze, Moral, Religion, Vorschriften. Ich mag mich nicht von der Gesellschaft trimmen lassen.“ Mit Worten wie diesen machte Charles Bukowski sich in den Siebzigern zum Anti-Helden einer ganzen Generation. Er erzählt von seinen Lesereisen und was Dylan Thomas umgebracht hat. Oder steigt mit Ernest Hemingway in den Ring. Innerhalb eines Absatzes schreibt er sich vom Grashüpfer zum unbestrittenen King, um dann wieder in Selbstmordgedanken zu versinken. Oft geht er mit dem Gefühl ins Bett, das alle Säufer kennen, schreibt er an einer Stelle: „Ich hatte mich lächerlich gemacht, aber zum Teufel damit.

Charles Bukowski
Pittsburgh Phil und Co. Stories vom verschütteten Leben
Zusammengestellt und ins Deutsche übertragen von Carl Weissner
ISBN: 978-3-423-12391-4
dtv
7,90 EURO

Charles Bukowski, Carl Weissner (Hrsg.)
Ein Profi. Stories vom verschütteten Leben
Zusammengestellt und ins Deutsche übertragen von Carl Weissner
ISBN: 978-3-423-10188-2
dtv
8,90 EURO


Genre: Feminismus, Literatur, Short Stories
Illustrated by dtv München

Das Frausein in den Sechzigern

ferrante3Sich zu entscheiden, heißt jemandem wehtun“. Lena befindet sich in einem außergewöhnlichen Transformationsprozess, ganz so wie die bewegten Siebziger Jahre um sie herum. Es wird viel demonstriert und diskutiert und die Frauen werden sich ihrer unterdrückten Rolle im Patriarchat bewusst. Aber nicht nur die Arbeiter befinden sich im Ausstand, auch Studenten kommen zu ihren Prüfungen mit einer geladenen Pistole, um ein besseres Prüfungsergebnis zu erzielen. So ergeht es zumindest Pietro, dem Ehemann Lenas, der an der Hochschule in Florenz als Professor arbeitet. Der dritte Teil der Neapolitanischen Saga hat es in sich: privat und politisch.

Frausein unter Freundinnen

Mit dem Vorwurf konfrontiert „Liebesgeschichtchen“ zu schreiben räumt Lena in „Die Geschichte der getrennten Wege“ endgültig auf, denn sie zeigt sich zunehmend politisiert und wird sich ihrer Rolle als Frau in der Gesellschaft bewusst. Ihr zweiter Roman, den Lena während ihrer Ehe und zwei Schwangerschaften zu schreiben versucht, entpuppt sich zwar als Flopp, dafür thematisiert sie im dritten Buch ihr Frausein und die Rolle der Frauen in der (italienischen) Nachkriegsgesellschaft und davor: „Die Reduzierung meiner Person auf eine gedeckte Tafel für den sexuellen Appetit des Mannes, auf ein gut gekochtes Gericht, damit ihm das Wasser im Mund zusammenläuft.“ Und dennoch unterwirft sie sich der klassischen Stutenbissigkeit als sie ihrer Konkurrentin, Eleonara, der Frau ihrer Jugendliebe Nino, begegnet und misst sich mit ihr, um nicht gerade schöne Worte über sie finden. Aber das beruht bekanntlich auf Gegenseitigkeit.

Sprache der Klasse

Schöne sprachliche Bilder wie „Ich legte den Hörer auf, als hätte ich mich an ihm verbrannt“ oder „Mein Kopf war ein Tränenquell wie der des rasenden Rolands“ wechseln sich mit Überlegungen zur eigenen Sprachfindung ab. Denn der „Rione“ – das Viertel Neapels in dem Lena geboren wurde – nötigte ihr immer wieder dann seine Sprache auf, wenn sie nervös und unzufrieden war und das beeinflusste auch ihr Denken, obwohl sie längt in die höheren Sphären der Gesellschaft aufgestiegen ist und in Florenz lebt, mit einem hochangesehenen Ehemann, zwei Kindern und den Ariostas, einer einflussreichen Familie, im Hintergrund. Reife bestehe darin, denkt sich Lena, sich nicht zu sehr aufzuregen und die Wende zu akzeptieren, die das Leben nehme, „einen Weg zwischen der Praxis des Alltags und theoretischem Erkenntnissen einzuschlagen, zu lernen, sich anzusehen, sich zu erkennen, während man auf große Veränderungen wartete“. Mit einem gekonnt arrangierten Cliffhanger leitet Elena Ferrante zum vierten Teil der Neapolitanischen Erfolgssaga über, der aber auf Deutsch bei Suhrkamp erst am 5. Februar 2018 – mit dem Titel „Die Geschichte des verlorenen Kindes“ – erscheinen wird. Man(n) kann es gar nicht mehr erwarten.

Elena Ferrante
Die Geschichte der getrennten Wege – Band 3 der Neapolitanischen Saga (Erwachsenenjahre)
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
D: 24,00 € /A: 24,70 € /CH: 34,50 sFr
2017, gebunden, 540 Seiten
ISBN: 978-3-518-42575-6


Genre: Belletristik, Biographien, Briefe, Emanzipation, Erfahrungen, Erinnerungen, Feminismus, Frauenliteratur, Gesellschaftsroman, Memoiren
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main