Ludwigshöhe

Der Tod als Programmfehler

Seinem Roman «Ludwigshöhe» hat Hans Pleschinski ein an den ‹Zauberberg› erinnerndes Setting zugrunde gelegt, eine in die Jahre gekommene, einst pompöse Jugendstil-Villa, die aber hier von keinen Patienten, sondern von Lebensmüden bevölkert wird. Der Autor benutzt sie für seine originelle Versuchs-Anordnung, Suizid-Kandidaten einen letzten Zufluchtsort zu bieten, an dem sie ohne bürokratische Hürden völlig ungehindert aus dem Leben scheiden können. Das Ganze wird durch eine riesige Erbschaft ausgelöst, die nur unter der Bedingung wirksam wird, dass die drei Erben dieses Hospiz ein Jahr lang ausschließlich zu diesem sehr speziellen Zweck betreiben.

Der reiche Onkel aus Brasilien hat diese Hürde für drei Geschwister aufgebaut. Sie alle sind wenig zufrieden mit ihren persönlichen Lebensumständen und träumen von dem Luxusleben, das sie erwartet, wenn sie unter den strengen Augen des Notars die makabre Erbauflage erfüllen. Aber wie an die Kandidaten kommen? Jede öffentliche Werbung wäre ja sittenwidrig und würde die Behörden auf den Plan rufen! Also stecken sie im Wartebereich von Arztpraxen und Arbeitsagenturen in die dort ausliegenden Zeitschriften und Broschüren diskret schwarze Visitenkarten, auf denen Folgendes geschrieben steht: «Reicht es? Reicht es wirklich? Und nicht mehr weiter? Kein Weg mehr? Aber prüfen Sie sich. Alles in Ruhe. Wenn Sie verstehen, verstehen Sie», gefolgt von einer Telefonnummer. Und es melden sich auch tatsächlich Interessenten für diesen notgedrungen so verklausuliert angebotenen Service. Nach und nach füllt sich die Villa mit fast zwanzig «Finalisten», wie die Kranken, Verbitterten, Enttäuschten, Gescheiterten und Mutlosen hausintern genannt werden. Da ist zum Beispiel die von ihrem Lover verlassene Domina, ferner eine abgehalfterte, ehemals bekannte Schauspielerin, die nervlich an ihren Schülern gescheiterte Lehrerin, ein bankrotter Verleger, eine vom Alltagsstress ausgebrannte Verkäuferin, die medikamentensüchtige Witwe, der verzweifelte Bühnenbildner und ein medienmüder Radioredakteur. Wie zu erwarten folgen aber, von zwei Ausnahmen abgesehen, die im Keller tiefgekühlt gelagert sind, die Moribunden kaum noch ihrem ursprünglichen Ziel. Es entwickeln sich neue Beziehungen in diesem seltsamen Mikrokosmos, das Leben scheint weniger unerträglich zu sein als ursprünglich angenommen.

Die alte Villa dient als Bühne für menschliche Verrücktheiten und als Laboratorium für Wege aus dem ewigen Dilemma allen Lebens, seiner unabweisbaren Endlichkeit. Kann man dem denn wenigstens mit passiver Sterbehilfe beikommen, weil die aktive ja doch nur theoretisch möglich ist? Will man ein Fazit ziehen aus all den Gedanken, die in diesem lebensprallen Gesellschafts-Roman angesprochen und oft auch durchdekliniert werden, so kommt man letztendlich auf die einfache Formel: Unsterblichkeit wäre ein Fluch!

Humorvoll nutzt Hans Pleschinski seine Satire zu einem Feuerwerk an herber Gesellschafts-Kritik und zu verschmitzt vorgetragenen, philosophischen Diskursen über ein im Kern ja durchaus ernstes Thema. Aber wie eine Finalistin im Roman es sich wünscht, nämlich tot zu sein ohne sterben zu müssen, das funktioniert leider auch auf der «Ludwigshöhe» nicht. Es sind solche Verrücktheiten, die bei der Lektüre dieses makabren Plots immer wieder ein Schmunzeln erzeugen, den Leser aber öfter auch laut auflachen lassen. Sprachlich nutzt der fabulierlustige Autor mit seinem ironischen Plauderton alle Register seines Könnens. Er bleibt auch im Fiktionalen dem Realismus verhaftet, überzeugt zudem mit vielerlei intellektuellen Betrachtungen, aber auch mit fundiertem Alltagswissen. Dabei verzeiht man ihm dann, dass er seinen Stoff derart über Gebühr ausgewalzt hat, weniger wäre hier mehr gewesen. Das Wichtigste an dieser Moralsatire aber ist die beißende Kritik an einem Zeitgeist der intellektuellen Verflachung, in welchem der Tod, wie es im Roman heißt, «zum Programmfehler heruntergekommen ist».

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Ghostly Things 3

Die Natur, das Jenseits und die Menschen

Yashios Freundin erinnert sich eines schönen Tags an ihren toten Bruder. Aber die Erinnerungen werden ihr von einem Spinnennaturgeist aus dem Kopf gezogen, weil er sich daraus ein Nest bauen will. Yashio erfährt, dass diese Geister den Kopf leeren, damit neue Erinnerungen Platz finden. Aber ihre Freundin hängt an ihrem toten Bruder, deshalb will sie ihr die Erinnerungen zurückholen. Außerdem wird ein neuer Torwächtergeist geboren, den Moro und sie in ihre Obhut nehmen, bis er am großen Fest zum Geleit ins Totenreich teilnehmen kann. Das Fest selbst muss noch vorbereitet werden, damit der Heimkehr der Naturgeister ins Totenreich nichts im Weg steht. Vorerst aber findet Yashio durch eine Art Unfall selbst den Weg ins Totenreich. Sie begegnet dem verschwundenen Professor, der das Jenseits erforscht, aber nicht mehr zurückkehren darf. Er gibt ihr den entscheidenden Rat für Yashios Suche nach ihrer Mutter.

Abschlussband

Der letzte Teil der Trilogie fühlt sich nicht wie ein Abschluss an. Er hört für meinen Geschmack zu abrupt auf, denn die Story hat durchaus noch das Potential fortgeführt zu werden: Wie will Yashio ihre Mutter finden, was passiert mit ihren Gegnern und wird Moro tatsächlich seinem Schicksal überlassen? Das wird alles nur zart angedeutet oder findet viel zu schnell und hastig statt, ohne dass man als Leser*in so recht weiß, was und wie einem gerade geschieht. Der Band vermittelt den Eindruck, unter Zeitdruck oder ungeduldig fertig gestellt worden zu sein, sodass am Schluss des Bandes nur noch grobe Storyskizzen möglich waren. Das ist schade, denn die ersten beiden Bände und auch die ersten Teile des Abschlussbandes sind qualitativ hochwertig in den Zeichnungen und der Gestaltung der Story. Ein vierter Band hätte die Geschichte in Würde zum Abschluss gebracht. Man könnte natürlich dafür plädieren, dass das Ende des Bandes ein offenes ist, aber es sprechen o.g. Gründe dagegen, denn selbst ein offenes Ende wird nicht hastig gestrickt. Schade, dass ein runder Schluss für diese wirklich schöne Geschichte fehlt.


Genre: Jenseits, Manga, Natur
Illustrated by Carlsen Manga!

Rauschzeit

Redundanter Lebensgefühls-Roman

Das Opus magnum des Büchner-Preisträgers Arnold Stadler mit dem Titel «Rauschzeit» ist ein Roman ohne Plot, der allein von seinem eigenwilligen Stil lebt und genau damit eine sehr konträre Rezeption in Feuilleton und Leserschaft erzeugt hat. Am Beispiel eines Paares in der Beziehungskrise wird hier resignierend eine illusionslose Weltsicht thematisiert, die ihr Vorbild in Jean Paul hat, auf den der Autor in seinem intertextuell reich ausgeschmückten Roman häufig Bezug nimmt.

Der Buchtitel spielt auf die begrenzte Paarungszeit der Wildschweine an, die ihre Entsprechung findet im Sexualverhalten von Alain und Mausi, die eigentlich Irene heißt. Das in Berlin lebende, kinderlose Ehepaar, beide vierzigjährig und als Übersetzer tätig, hat sexuell seine «vegetarische Zeit» erreicht, sie beschimpft ihn, nicht ganz zu Unrecht, als «Waldschrat». Die sich über zwei Mittsommer-Tage, den 25. und 26. Juni 2004, erstreckende Handlung ist schnell erzählt: Alain reist zu einem Symposium nach Köln und trifft dort zufällig nach langer Zeit erstmals wieder auf seine Jugendliebe Babette. Mausi hat von Freunden eine Karte für ‹Toska› geschenkt bekommen und fiebert schon dem Opernabend entgegen, die zweite Karte ging nämlich an einen ihr unbekannten Dänen, der dann ja neben ihr sitzen wird. Und wie vorauszusehen finden Alain und Babette wieder zueinander, und Mausi und der blonde Däne werden ebenfalls ein Paar. So weit, so profan, – denn mehr ist da nicht! Der Autor hält sich an Mark Twain, den er häufig mit dem bezeichnenden Satz aus «Huckleberry Finn» zitiert: «Persons attempting to find a plot in will be shot». Also Vorsicht, verehrter Leser!

Dem Roman ist mit «Wir wissen wenig voneinander» ein Zitat von Georg Büchner vorangestellt. Und Arnold Stadler selbst beginnt seinen sechsteiligen Roman mit den sinnigen Worten: «Was ist Glück? Nachher weiß man es», den er später immer wieder mal zitiert und variiert. In oft kurzen, mit ihrem Namen überschriebenen Kapiteln lässt er jeweils abwechselnd seine zwei Protagonisten zu Wort kommen, Alain als Ich-Erzähler, die Mausi-Kapitel werden auktorial erzählt. Nur im vierten Teil schildert Alain unter dem Titel «Ma vie» auf fast zweihundert Seiten ohne jede Gliederung sein Leben. Das Besondere daran sind jedoch nicht die Inhalte, die erzählerisch wenig hergeben, es ist der alle Konventionen negierende Stil, in dem da erzählt wird. Er ist, typisch für Stadler, gekennzeichnet durch eigenwillige Sprachbilder, häufige Selbstzitate und Wiederholungen, aphoristische Irrwege oder Sackgassen und oft ins Groteske verzerrte Figuren. Und deren ständiger Begleiter auf ihrer unentwegten Suche nach Glück und Lebenssinn ist der Schmerz, der in ständigen Vor- und Rückblenden und mit vielen, meist wörtlichen Wiederholungen thematisiert wird. Besonders der mutmaßliche Freitod von Mausis bester Freundin, der trucksüchtigen Fotografin Elfi Rauschzeit (oh wie sinnig, dieser Nachname!) wächst sich im Roman schon fast zu einer Art Totenklage aus.

Erzählt wird in einer an Neologismen reichen Sprache, in der das unbekümmerte Wortspiel tragendes Element ist sowie die ungehemmte Lust am Verschieben von Buchstaben oder das eifrige Variieren zusammengesetzter Wörter mit phonetisch ähnlichen. Ein gleichartiges Spiel wird auch mit ganzen Sätzen veranstaltet, was zu bestenfalls komischen, aber auch zu oft völlig sinnlosen Aussagen führt. Befremdlich wirken zudem viele der vom Autor eingestreuten Aphorismen aus eigener Feder, deren tieferer Sinn sich oft nicht erschließt. «Mein Leben war eine Vermeidungsstrategie, damit es glückte» wird da verkündet, oder, ebenso sinnig: « Ich? Ein Joint Venture aus Schmutzfink und Sprachgitter». Als alles beherrschendes Formschema aber bläht ausufernde Redundanz die Textmasse des Romans unnötig auf und ärgert den geplagten Leser. Als stilistisch holperiger Lebensgefühls-Roman spricht «Rauschzeit» allenfalls einen äußerst kleinen, esoterischen Leserkreis an!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Djamila

Djamila. Djamila stammt von dem kirgisischen Autor Tschingis Aitmatow. Die beliebte Illustratorin Kat Menschik hat Djamila mit ihren Zeichnungen veredelt und der Galiani Verlag beides in einem schmucken Büchlein herausgegeben. Eine Synthese aus gleich mehreren Dingen also, möchte man meinen, zumal Louis Aragon die Geschichte als eine der schönsten Liebesgeschichten pries. Jetzt eben noch schöner mit Illustrationen von Kat Menschik. Auch Aragon hätte das gefreut.

Djamila und Danijar

Die “Kraft und Wucht der Liebe” hat Kat Menschik schon als Kind in der Erzählung Djamila begeistert. So bedingungslos muss die Liebe sein, schreibt sie im Nachwort. “Man wünscht sich auch einmal so etwas erleben zu dürfen”. Vielleicht mache gerade das den Zauber der Erzählung aus. “Djamila” erzählt allerdings von einer vorerst unmöglichen Liebe. Denn sie selbst ist verheiratet und ihr Geliebter Kriegsinvalide. Djamilas Ehemann ist in den Großen Krieg gezogen, kurz nach der Hochzeit. Aber er hatte ohnehin kein Interesse an Djamila. Und so beginnt sie, völlig unabsichtlich, sich zuerst in die Lieder von Danijar zu verlieben. In seinen Liedern offenbaren sich tiefe Sehnsucht, Schmerz und die Liebe zur Welt. Eine sommerliche Augustnacht in den Bergen Kirgisiens verstärkt den Zauber der verbotenen Liebe und bald liegen sich die beiden in den Armen.

Liebe ohne Bedingungen

Said, der 15-jährige Schwager und ständigen Begleiter Djamilas ist der Erzähler der Geschichte. Denn er beobachtet schon seit längerem, was sich zwischen den beiden anbahnt. Er sieht die verbotene Liebe erwachsen, bewahrt aber das Geheimnis für sich. Er erzählt es niemandem, denn es würde gegen die strengen moralischen Sitten der Kirgisen verstoßen. Auch Said ist durch Danijars Gesang inspiriert und findet dadurch Zugang zu seiner künstlerischen Natur als Maler. Seinen Leinwänden kann er sein Geheimnis anvertrauen und so malt er ein Bild, das die beiden jung verliebten zeigt. Er verfolgt staunend mit, wie die Verliebten den von allen anderen für unüberwindbar gehaltenen Gesetzen der Tradition entgegentreten und tut sein bestes ihnen zu helfen. Doch ls Djamilas Ehemann zurückkehrt, muss das Liebespaar aus dem Dorf fliehen. Als sein Bild entdeckt wird, ist auch für den jungen Said der Moment des Abschieds und Aufbruchs in die Welt gekommen.

Die Illustrationen im zwölften Band von Kat Menschiks Reihe ihrer Lieblingsbücher sind zauberhaft, sehnsüchtig und sonnendurchtränkt wie ein Hochsommertag in der kirgisischen Landschaft. Im August. Louis Aragon (1897-1982) entdeckte die Erzählung und übersetzte sie ins Französische. Mit seiner Übersetzung machte er aber auch den kirgisischen Autor und seine Djamila weltberühmt. Für SchülerInnen in der DDR war „Djamila“ übrigens Pflichtlektüre.

Tschingis Aitmatow/Kat Menschik
Djamila
Illustrierte Lieblingsbücher, Band 12
Übersetzt von: Gisela Drohla
2022, Hardcover, illustriert, 112 Seiten
ISBN: 978-3-86971-253-6
Galiani-Berlin


Genre: Illustrationen, Kirgisien, Liebesgeschichte, Märchen
Illustrated by Galiani

Vom Endzeit-Blues zurück ins Leben

Turbulente Lebensgewässer

Vom bewegten Leben eines ganz normalen Bürgers erzählt die Autobiografie „Vom Endzeit-Blues zurück ins Leben“. Als eines von mehreren Geschwistern wächst der Autor zunächst bei seinen Eltern und später bei Onkel und Tante auf, die sich mit dem Kind wohl ihren Kinderwunsch erfüllt haben. Zunächst läuft es für den Jungen ganz gut; er ist begeistert von den Freiheiten, die er jetzt genießt. Aber das Leben bei Onkel und Tante hat nicht nur gute Seiten, sodass er als Teenager zurück zu seinen Eltern zieht. Dort macht er eine Lehre zum Schriftsetzer, muss aber quasi als Mädchen für alles vielerlei andere Arbeiten verrichten. Aus mehreren Gründen heiratet Ranstädt früh. Seine Frau bringt einen Sohn mit in die Ehe, zwei weitere Kinder folgen. Ein paar Jahre später muss der Autor seinen ersten Schicksalsschlag verkraften, denn der erste Sohn erkrankt schwer. Weitere Schicksalsschläge folgen in Form von Trennungen, schwierigen Beziehungen zu den Kindern und turbulenten Arbeitsstellen, bis Ranstädt sein stürmisches Lebensschiff in ruhigere Gewässer steuern kann.

Nach dem Ab folgt ein Auf

Die Autobiografie liest sich flüssig, schnell und spannend. Ich habe als Mutter nur ca. 3 Abende gebraucht, um sie zu lesen. Das verdankt sich nicht nur der flüssigen Schreibweise mit Appetizern am Ende der Kapitel, sondern auch der recht großen Schrift, die das Lesen angenehm gestaltet. Das Buch entfaltet sich als Lebensrückschau vor den Augen der Leser*innen und beweist, dass auch und gerade die Geschichte ganz normaler Leute interessant sein kann.

Der Autor will den Leser*innen Mut machen, indem er sagt, dass nach jedem (Jammer-)Tal auch wieder frohes Gipfelstürmen folgen kann. Das Leben erfolgt in Wellen; es gibt immer ein Auf und Ab. Und wie ein Stehaufmännchen soll man sich von den Tiefen nicht unterkriegen lassen, denn irgendwo kommt immer wieder ein Lichtlein her. Es ist wirklich faszinierend zu sehen, wie ein solches Lichtlein just in dem Moment um die Ecke biegt, wenn alles am Boden zu liegen scheint. Da beneide ich Ranstädt, denn in meinem Leben kam mal nicht eben ein Lichtlein vorbei, ich musste mir solche Lichter stets selbst erarbeiten. Das ist aber auch das einzige Beneidenswerte, denn ansonsten wurde dem Autor in seinem Leben kaum etwas erspart. Das ermöglicht ihm aber eine Weitsicht und Reife, die auch im Nachwort des Buches zu spüren ist.

Ich persönlich finde es schade, dass das Buch für meinen Geschmack zu sehr an der Oberfläche geblieben ist, denn ich wäre gern noch tiefer in seine Geschichte eingetaucht. Kaum angefangen war das Buch schon ausgelesen. Ich kann mir aber vorstellen, dass es sehr schwer sein muss, sein Leben derart offen darzulegen und Wunden wieder aufzureißen. Das geht wohl nur bis zu einem gewissen Grad. Hin und wieder tauchen Tippfehler auf, die evtl. für eine zweite Auflage angegangen werden könnten. Ansonsten habe ich aber an dem Buch nichts auszusetzen. Eigentlich könnte es ruhig mehr Biografien von „ganz normalen Leuten“ geben – sie lesen sich zumindest für mich spannender als so manche Promi-Biografie und beweisen, wie vielfältig der „ganz normale Alltagswahnsinn“ sein kann.

 


Genre: Autobiografie
Illustrated by BoD Norderstedt

Brooklyn soll mein Name sein

Kontemplative Hochliteratur

Als Roman eines Romans ist «Brooklyn soll mein Name sein» von Eduardo Lago, der nun erstmals auch auf Deutsch vorliegt, ein typisch selbst-referenzielles Werk, das insbesondere auch die Lust und den Frust beim Schreiben thematisiert. Der in Deutschland weitgehend unbekannte, in Madrid geborene und in New York lebende Schriftsteller und Hochschullehrer gewann für seinen kritischen Vergleich dreier spanischer Übersetzungen des «Ulysses» den ältesten und prestige-trächtigsten spanischen Literaturpreis, den ‹Premio Nadal›. Er ist zudem Gründungs-Mitglied des ‹Order of Finnegans›, kein Wunder also, dass sein grandioser erster Roman als intellektuelle Hochliteratur in manchem an James Joyce erinnert.

Mit «Die Toten leben einzig in uns» als Begleitzitat von Marcel Proust beginnt der Roman am ‹Fenners Point›, einem längst aufgelassenen Friedhof von dänischen Matrosen, die einst an dieser gefährlichen Steilküste des Atlantiks zu Tode kamen. Nur mit einer Sonder-Genehmigung darf der Schriftsteller Gal Ackerman dort, seinem Wunsch entsprechend, bestattet werden. Ich-Erzähler des Romans ist sein bester Freund, der von seinen Freunden nur Ness genannte Journalist Néstor Chapman. Er hat Gal versprochen, dessen unvollendeten Lebens-Roman an Hand des hinterlassenen Materials unter dem Titel «Brooklyn» fertig zu schreiben. So wollte Gal post mortem erreichen, dass seine seit Jahren verschollene, große Liebe, die in Sibirien geborene Pianistin Nadja Orlov, ihn als Einzige lesen kann. Es gibt mehrere Erzählstränge in diesem Roman, einer davon ist die Amour fou mit der deutlich jüngeren, geheimnisvollen Nadja, ferner die Herkunfts-Geschichte von Gal, die er erst mit 14 Jahren erfährt und die ein düsteres Geheimnis birgt. In einer Bar in Brooklyn, dem Oakland, laufen viele weitere Handlungsfäden zusammen. Dort ist quasi der Lebens-Mittelpunkt nicht nur für den Ich-Erzähler, sondern auch für eine illustre Schar von Stammgästen verschiedenster Couleur. Unter ihnen viele Seeleute, kaputte Typen, Getriebene, Aussteiger und Gestrandete, die untereinander ein enges Gefecht von Beziehungen und Abhängigkeiten verbindet, – und ein unbändiger Durst auf Alkohol, der nicht selten in Trunkenheits-Exzessen endet. Weitere Episoden beschäftigen sich zum Beispiel mit dem Chelsea, einem legendären Hotel mit berühmten Gästen, oder mit Coney Island und seinen Attraktionen, einst «Insel der Träume» für den jungen Gal.

Quelle für all diese Episoden ist die «letzte Ruhestätte», Gals unerschöpfliches Archiv direkt über der Bar, wo er geschrieben hat und woher nun all die Tagebücher, Briefe, Notizen und Zeitungs-Ausschnitte stammen, die Ness als sein Testaments-Vollstrecker in den Roman einbringt. Mit einer ausgeprägten Intertextualität verbunden sind hier außer den Schriftsteller- auch viele Künstler-Geschichten. Gal hat Thomas Pynchon und Dylan Thomas im Chelsea getroffen, und er berichtet zum Beispiel auch vom Freitod des manisch-depressiven Mark Rothko in seinem Atelier.

Es ist nicht leicht, sich in diesem Mikrokosmos des Autors zurechtzufinden, weil eine Überfülle von Motiven, Szenen und Gedanken auf den Leser einstürzt und zum Verständnis dessen volle Konzentration fordert. Ein wenig hilft dabei das angeschlossene Register, das in der Reihenfolge ihres Erscheinens nicht weniger als 148 Personen verzeichnet, womit sogar Tolstois «Krieg und Frieden» in den Schatten gestellt wird. Hilfreich ist auch eine Chronologie der Ereignisse in Kurzform sowie ein siebenseitiges Glossar mit erläuternden Anmerkungen, so zum Beispiel zu Sacco und Vanzetti, die ebenfalls ihren Platz finden in diesem labyrinthischen Roman. Was Dublin im Ulysses ist, ist New York in diesem fragmentiert angelegten Exil-Roman, dessen Protagonist den ‹Big Apple› rastlos durchstreift und seine Wege und Beobachtungen minutiös beschreibt. Wer sich darauf einlässt als Leser, der wird hier kontemplativ herausgefordert, aber literarisch auch überreich belohnt.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Kröner Verlag

Kazimira

Baltisches Epos

Der neue Roman von Svenja Leiber weist mit dem slawischen Frauennamen «Kazimira» als Titel auf eine starke Frau als Protagonistin hin. Auf dem Umschlag ist Bernstein abgebildet, ein einst beliebter Schmuckstein, in dessen Abbaugebiet an der Kurischen Nehrung die Handlung räumlich angesiedelt ist. Der zeitliche Rahmen der Geschichte reicht von der Reichsgründung 1871 über beide Weltkriege bis 1945, und ergänzend ist dann auch noch ein Handlungsstrang im Jahre 2012 mit eingebaut.

Die mit einem Bernstein-Schnitzer verheiratete Titelheldin hat eine geniale Idee. Man könnte doch, erklärt sie ihrem Mann, das mühsame und verlustreiche Säubern der landeinwärts geförderten, aber stark verschmutzten Steine mit Hilfe einer künstlich erzeugten Brandung erledigen. In der würden sie dann automatisch ebenso sauber gewaschen werden wie die Zufallsfunde am Strand ja auch. Der jüdische Unternehmer Hirschberg greift diese Idee gerne auf und begründet damit in Weststrand, dem heutigen russischen Jantarny, eine lukrative Bernstein-Förderung im großen Stil, die ihm und auch seinen Arbeitern einigen Wohlstand bescheren. Neben diesem primären Handlungsstrang erzählt die Autorin im Rahmen einer breit angelegten Familiengeschichte über vier Generationen hinweg auch vom Ringen ihrer Heldin um Anerkennung und ein frei bestimmtes Leben. Sie will partout «kein Kindchen» und bekommt doch eins. Auch eine lesbische Episode wird erzählt, in der Kazimira die in ihr schlummernden, männlichen Anlagen entdeckt und mit einer Freundin auslebt. Als sie sich aber die Haare kurz schneidet und Hosen trägt, löst das einen Skandal aus, sie wird fortan von allen geächtet. Und auch der zunehmende Antisemitismus in Ostpreußen wird thematisiert. Die Unternehmer-Familie wird immer öfter angefeindet, verkauft schließlich den Betrieb und flieht in das vermeintlich weltoffenere Berlin, – bis die Nazis an die Macht kommen.

Es gibt als Binnenhandlungen etliche weitere Geschichten, von denen am meisten bedrückend die von Kazimiras Urenkelin mit Down-Syndrom ist. Eines Tages wird das Kind unter falschen Versprechungen zu einem Heimaufenthalt abgeholt. Sie kommt nie wieder, denn in Wahrheit fällt sie für die Nazis in die Kategorie «lebensunwertes Leben». Auch ein SS-Massaker kurz vor Kriegsende wird thematisiert, die greise Kazimira ist hilflose Zeugin des Mordens. Und die nachrückenden Russen bringen bald wieder neues Unheil. Ein weiterer Handlungs-Strang im Jahre 2012 berichtet von einem plötzlichen Boom für Bernstein. Nachdem dieser Anfang des Jahrhunderts völlig aus der Mode gekommen war und die Förderung eingestellt wurde, entstand durch die hohe Nachfrage aus China ein neuer Markt mit hohen Profiten. An denen wollen auch Kazimiras Ururenkelin und ihr Mann beteiligt sein, sie werden dabei aber in kriminelle Machenschaften hinein gezogen.

Das Leben in diesem abgelegenen Landstrich Ostpreußens wird sehr anschaulich, detailliert und teilweise in geradezu poetischen Sätzen beschrieben, man fühlt sich mittendrin im Geschehen. Allerdings ist es ein gewagtes Unterfangen, eine Familiengeschichte über mehr als ein Jahrhundert in all den gravierenden historischen Umbrüchen zu spiegeln. Zumal eine kaum noch überschaubare Anzahl von Figuren in immer neuen Episoden und unterschiedlichen Handlungs-Strängen auftritt. Die werden für sich genommen alle einfühlsam erzählt und sind zudem bereichernd, in Summe aber ist der Plot dadurch deutlich überfrachtet. Nicht zuletzt stören auch die vielen Zeitsprünge, sie tragen nicht gerade zu einem angenehmen Lesefluss bei und erfordern immer wieder ein lästiges gedankliches Umschalten. Svenja Leiber erzählt in weiten räumlichen und zeitlichen Bögen eine Geschichte, die in Teilen von Grausamkeiten berichtet und dann wieder, fast schon lyrisch, eine scheinbar heile, ländliche Welt beschreibt, die in eine raue Natur eingebettet ist. Leider ist es ihr nicht gelungen, ihre überbordende Stofffülle  zu einem stimmigen Ganzen zu fügen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Miss Merkel. Mord in der Uckermark

Frechheit kommt weiter. Und wer in seinem Roman die gerade im Ruhestand angelangte Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel als Protagonistin einsetzt, der darf damit rechnen, weiterzukommen. David Safier hat die coole Ausgangskonstellation mit »Miss Merkel« als Detektivin gewählt, die zu allem Überfluss auch phonetisch noch an die literarische Kunstfigur »Miss Marple« von Agatha Christie erinnert. Angela Merkel kann sich gegen eine derartige Vereinnahmung kaum wehren, da sie als Person der Zeitgeschichte natürlich auch in die Kriminalliteratur eingehen kann. Weiterlesen


Genre: Komödie, Kriminalromane
Illustrated by Kindler Berlin

Abby – Auf der Seite des Gesetzes (Band 3)

Von Outlaws zu gesetzestreuen Bürger*innen

Abigail Clearwater Williams, genannt Abby, hat sich mit ihrem Mann Butch Cassidy, jetzt bekannt unter dem Namen Robert Williams, eine Ranch gekauft. Beide wollen nach ihrem Dasein als Outlaws ein ruhiges, gesetzestreues Leben führen. Deshalb geht Robert seiner zweiten Leidenschaft, dem Hegen und Pflegen von Tieren, nach: Er züchtet und verkauft Pferde. Ihre gemeinsame Tochter Elisabeth, kurz Betty, liebt Tiere ebenfalls und liegt ihren Eltern schon seit geraumer Zeit mit eigenen Pferden und Hunden in den Ohren. Betty weiß nichts von der Outlaw-Vergangenheit ihrer Eltern und das soll nach dem Willen von Abby und Robert auch so bleiben. Sie haben extra ihre Spuren verwischt, damit man ihren ruhigen Lebensabend nicht gefährden kann. Das bedeutet aber auch, dass Abby auf ihre erste Tochter Alison verzichten muss, denn diese kennt die Vergangenheit ihrer Mutter. Alison lebt mittlerweile in dem Glauben, Butch Cassidy und Abby seien gestorben. Aber durch Abbys und Roberts Freunde Mary und Elzy, die mit Alison in Kontakt stehen, ist Abby immer über ihre Tochter informiert, sodass sie zumindest aus der Ferne an Alisons Leben teilhaben kann. Dann aber erleidet Alison einen lebensbedrohlichen Unfall und Abby beschließt, sie im Krankenhaus zu besuchen. Das ist leider nicht das einzige Unheil, dass den Frieden der Familie gefährdet: Auch Betty, die mit ihrer lebhaften Art ihrer Mutter nachschlägt, erleidet einen Unfall, der sie an den Rand des Todes bringt. Außerdem müssen sich Abby und Robert gegen einen Pater wehren, der Kinder missbraucht. Ihr Leben gestaltet sich also weiterhin alles andere als ruhig.

Wahre Begebenheiten

Ich bin erst mit Band 3 in die Reihe eingestiegen. Schon erhältlich sind die Bände „Abby – Mit Butch Cassidy auf dem Outlaw Trail“ und „Abby – Totgesagte leben länger“. Ein 4. Band ist geplant. Mir ist der Einstieg in die Reihe leichtgefallen, da kurze Rückblicke an gegebener Stelle einiges erklären, was sonst unklar geblieben wäre.

Die Autorin hat sich mit dieser Reihe dem Western verschrieben, und zwar aus Frauensicht. Ihre Protagonistin Abby ist zwar eine Fantasiefigur, aber Fischer lehnt ihre Geschichte an wahre Begebenheiten an. Butch Cassidy und Elzy Lay z.B. waren reale Outlaws, über die sich die Autorin mithilfe von Büchern informierte, wie sie im Nachwort schreibt. Ihr ist es auch wichtig, zwischen Realität und Fiktion zu trennen und aufzuzeigen, wo bei ihr die Fiktion beginnt. Sie weist aber auch darauf hin, dass sie behutsam ihre Fiktion mit der Realität verbunden hat, um ein rundes Ganzes zu schaffen. Das ist ihr gelungen. Die Geschichte liest sich spannend, man kann gut in die Story eintauchen und mit den Figuren mitfühlen. Die Figuren selbst hat Fischer lebendig und sympathisch gestaltet.

Frauenbild

Um noch einmal auf das Genre “Western” aus Frauensicht zurückzukommen: Meist sind Western aus Männersicht geschrieben oder verfilmt. Frauen kommt dabei eher die Rolle von Nebendarstellerinnen zu, die entweder die gute Hausfrau mimen, in Salons den männlichen Voyeurismus bedienen oder als „schwaches“ Geschlecht z.B. als evtl. zu rettendes Opfer herhalten müssen. Kurz: Die Rolle der Frau in einer solchen Sicht des Westerns hat zumindest bei mir als Mädchen und später als Frau keine Begeisterungsstürme ausgelöst. Ich konnte mich aus guten Gründen mit keiner dieser negativ und einseitig besetzten Frauenrollen identifizieren, sodass mir dieses Genre weitgehend fremd geblieben ist. Mit einer selbstbestimmten und gleichwertigen Frau als Hauptfigur sieht das aber schon ganz anders aus. Abby ist selbstbestimmt; sie lässt sich auch in sexueller Hinsicht nichts sagen und macht das, was ihr richtig erscheint. Sie steht ihren Mann, ohne dabei ihre Form der Weiblichkeit aufzugeben. Letztlich ist sie es, die entscheidende Richtungswendungen veranlasst. Auch ihre Töchter Alison und Betty lassen sich in kein Rollenklischee pressen und machen das, was ihnen gut dünkt. Gerade Alison eckt damit regelmäßig bei ihrem konservativen Vater an. Aber das macht sie bewusst, um ihn zu ärgern und vielleicht auch, damit er über seinen engen Tellerrand hinaussieht. Betty hat das Glück in einer Familie aufzuwachsen, die ihr die für sie so notwendigen Freiheiten gibt, damit sie sich gesund entwickeln kann.

Die anderen Frauen in dem Roman entsprechen allerdings dem Rollenklischee und scheinen damit auch zufrieden zu sein. Das ist in Ordnung, solange sie dazu nicht gezwungen sind und anderen keine Vorhaltungen machen, wie sie zu leben haben. Das tun die Frauen in dem Roman nicht, sie unterstützen sich gegenseitig und ergänzen sich. Damit entsprechen sie den matriarchalen Netzwerken, die für Frauen sehr vorteilhaft sind, wenn sie funktionieren. Das Patriarchat versucht nicht umsonst, starke Frauennetzwerke zu zerstören. Ein Wehrmutstropfen für mich ist allerdings, dass Abby dem Klischee der Rothaarigen entspricht: Sie ist so feurig wie ihre Haarfarbe. Sieht man sich die historischen Begebenheiten an, leiden Rothaarige und v.a. rothaarige Frauen unter Klischees. Die Haarfarbe ist bei anderen Menschen nicht sehr beliebt und führte in der Vergangenheit sogar zu Tötungen von gerade weiblichen Rothaarigen (Hexenverbrennungen). Auch eine meiner Kindheitsfreundinnen, die rothaarig war, litt immer wieder unter Repressalien wegen ihrer Haarfarbe. Deshalb finde ich es besser, Klischees zu durchbrechen, anstatt sie weiter zu bedienen. Frauen müssen auch nicht immer impulsiv sein, um Stärke zu zeigen, zumal Frauen, die impulsiv sind, oft die Vernunft und das analytische Denken abgesprochen werden (was nicht stimmt, es geht auch beides). Analytisches Denken, kühle Überlegtheit wird oft nur Männern zugestanden, was ebenso falsch ist. Wenn man bedenkt, was Frauen egal welchen Charakters durch die Mehrbelastung leisten müssen und dass das nur mit durchgetaktetem Tagesablauf und damit nur mit strategischer Planung und Organisation geht, dann ist dieses Klischee schon millionenfach widerlegt.

Positive Grundhaltung

Der Roman hat trotz aller Schwierigkeiten, die die Figuren meistern müssen, immer einen positiven Grundton. Er liest sich flüssig und leicht. Die Figuren meistern die Schwierigkeiten mit Entschlossenheit, verbergen aber auch ihre Bedenken und ihre Ängste nicht, was sie realer wirken lässt. Durch die positive Grundhaltung gesunden Abby und die anderen wieder und versinken nicht in Depressionen. Was meinen Lesefluss ein wenig gestört hat, ist die Angewohnheit der Autorin, ganze Sätze nicht mit einem Punkt, sondern nur mit einem Komma abzutrennen. Dadurch werden die Sätze zu lang und bekommen etwas Hastiges, Unruhiges im Satzduktus. Die kleine Lesepause durch den Punkt fehlt mir. Aber insgesamt finde ich den Roman gelungen, denn aus o.g. Gründen ist er gut durchdacht und spannend geschrieben.


Genre: Roman, Western
Illustrated by Bogner

Lavaters Maske

Die Nöte eines Schreiberlings

Der Titel «Lavaters Maske» von Jens Sparschuh verrät, dass es um die Maskerade des Lebens geht, um Physiognomik, hier im Roman speziell um die wissenschaftliche Methode, aus den Gesichtszügen auf den Charakter eines Menschen zu schließen. Johann Caspar Lavater war im achtzehnten Jahrhundert Begründer und wichtigster Vertreter dieser Lehre, heftig angefeindet von Lichtenberg, später auch von seinem Jugendfreund Goethe. Das Thema des 1999 erschienenen Romans ist insoweit hochaktuell, als China die heutigen technischen Ressourcen radikal nutzt, um einen lückenlosen Überwachungs-Staat zu realisieren. Dieses totalitäre Regime kontrolliert seine Bürger auf Schritt und Tritt mit modernster Software zur Gesichts-Erkennung, um Rückschlüsse auf ihre seelische Verfasstheit zu ziehen. Die Orwellsche Dystopie «1984» ist also doch noch Realität geworden.

Ich-Erzähler des Romans ist ein ehemaliger Germanist und wenig erfolgreicher Schriftsteller, dem für sein letztes Buch das «Wühlischheimer Ehrenstipendium» zugesprochen worden war, damit er eine Zeit lang in ländlicher Ruhe schreiben kann. Er führt nun ein mit Residenzpflicht verbundenes, ziemlich langweiliges Stadtschreiber-Dasein. Ausgerechtet jetzt aber leidet er an einer Schreib-Blockade, ihm fällt partout kein neues Thema ein. Auf telefonische Nachfrage seines Agenten, woran er denn derzeit arbeite, antwortet er ohne lange zu überlegen mit einer Notlüge: Er schreibe über Lavater. Er hat das gar nicht vor, aber daraus wird dann tatsächlich Ernst, als sich nämlich auch noch ein Filmboss für den eher ungewöhnlichen Stoff interessiert. Da winken ihm ja schließlich dringend benötigte Vorschüsse. Er beginnt also, über seinen Protagonisten zu recherchieren, und stößt dabei schon bald auf eine Selbstmord-Geschichte. Enslin, der jugendliche Sekretär von Lavater, hatte sich mit einem Gewehr erschossen, ein mysteriöser Suizid, der bis heute viele Fragen aufwirft.

Die Recherchen zu dem Exposé für den geplanten Film nehmen breiten Raum ein in diesem Roman, unterbrochen nur von gelegentlichen Lese- und Vortragsreisen, mit denen der Ich-Erzähler zwischendurch seine notorisch klamme Kasse wieder auffüllt. Dieser ergänzende Erzählstrang ist witzig und zeugt davon, dass der Autor wohl vertraut ist mit den Gegebenheiten und Ritualen, denen sich heute ein Schriftsteller unterziehen muss als Promoter seiner eigenen Werke. Weniger lustig ist allerdings, was man in Form von historischen Briefen, Lexikonbeiträgen und zeitgenössischen Zitaten über Lavater und seinen Schreiber Enslin erfährt. Dieser eigentliche Haupt-Strang des Romans ist äußerst langweilig zu lesen, er führt zudem mit den wilden Spekulationen des Ich-Erzählers, was denn nun wirklich passiert ist in der Causa Enslin, ins Leere. Ebenso ins Leere führen auch die wirren Versuche des schreibenden Romanhelden, seinem Exposé eine tragfähige, glaubhafte und zündende Idee als Handlungsgerüst zu Grunde zu legen. Das Ganze wird nur immer wirrer, er macht die aberwitzigsten Erfahrungen, trifft auf die merkwürdigsten Leute und scheitert letztendlich auch im privaten Bereich, das Zwischenmenschliche ist nicht seine Stärke.

Ähnlich ergeht es auch Jens Sparschuh, es ist ihm nämlich nicht gelungen, das Lavater-Thema mit dem seiner Romanfigur, des Schriftstellers in der Identitäts-Krise, stimmig zu verbinden, beides steht in dieser doppelbödigen Geschichte unabhängig voneinander für sich. Da passt es dann auch, dass der eher trottelige, gleichwohl aber sympathische Protagonist am Ende des Romans in einer Festrede zum Thema Physiognomik kläglich scheitert. Gerade diese fachspezifischen Passagen wirken als Störfaktor, sie sind einfach nicht stimmig in ein erzählerisches Werk zu integrieren. Insoweit ist dieser anekdotenreiche Roman allenfalls wegen seiner gekonnt erzählten, amüsanten Einblicke in die Nöte eines mittelmäßigen Schreiberlings zur Lektüre zu empfehlen, als Ganzes aber ist er leider misslungen.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Begrünen was geht: Kleine und große Pflanzideen für Wände, Zäune, Dächer und graue Ecken. #machsnachhaltig

Das Buch Begrünen was geht ist für eine junge Zielgruppe verfasst, der Tag #machsnachhaltig blinkt auf den Umschlagseiten, die Informationen sind kurz und knackig, viele Ausrufezeichen, zwischendurch Kästchen mit Zahlen und Fakten: “Let’s make the world green again!“

Anfangs habe ich als Gartenoma etwas gefremdelt, vielleicht, weil ich geduzt wurde? Aber dann sah ich, dass hier Fachwissen vermittelt wird. Es kommen als Einleitung die guten Gründe, für mehr Grün, gerade in der Klimakrise, etwa, weil es durch Verdunsten kühlt, es ist ein Feinstaubfilter und es bricht Schallreflexionen und macht so „den Lärmpegel mess- und hörbar geringer.“

Dann wird vorgeschlagen, mehr für Bienen zu tun, was sind Bienen-Stauden, was Bienen-Gehölze? Sie haben nur ein Fenstersims zu Verfügung? Dann kann es ein Töpfchen mit Kräutern sein. Geländer und Zäune werden begrünt, hier kommen Tipps vom Fachmann, welche Pflanzen in welchen Kübel, soll es schnell wachsen oder nicht? #machsnachhaltig gilt dann für Vogelhäuschen, Mülltonnenboxen oder den berankten Zaun. Es liest sich gut und gibt auch Tipps für grüne Daumen, die erst im Wachsen sind.

Die gebündelte Kompetenz der Verfasser zeigt sich beim nächsten Kapitel: Wände begrünen ist eine Sache für den Profi. Es gibt eine Checkliste mit den Fragen: Passt die Befestigung der geplanten Kletterhilfe zum Wandaufbau? Passt die Kletterhilfe zur gewünschten Pflanze? Will ich Blüten und Früchte, will ich Herbstfärbung? Will ich eine immergrüne Pflanze? Ist es eine Nord-, eine Südseite? Wie ist der Boden, wird es trocken?

Dann kommen Themen, hier Feature genannt, die auch für eine Gartenoma lesenswert sind: die Kletterstrategien der Pflanzen. Wenn ich das doch schon damals, vor Jahrzehnten gewusst hätte, wäre mir einige Pflanzen weniger eingegangen!

Es gibt Selbstklimmer, Schlinger und Ranker, die jeweils andere Rankhilfen brauchen. Selbstklimmer, wie Efeu und Parthenocissus können gedämmte Wände zerstören, weil sie aufgrund des negativen Phototropismus in kleine, auch dunkle Ritzen wachsen und damit Oberflächen zerstören.

Nun weiß ich auch, was ein Wärmedämmverbundsystem ist, eine Wärmebrücke, vor allem aber, dass es zu Dämm-Maßnahmen unbedingt eines Profis bedarf.

Sie hätten es lieber kleiner, dann ist „Beton raus, Leben rein“ oder „Fugen und Ritzen werden Lebensräume“ oder „Schottergärten beleben“ im Angebot. Viele Abbildungen, Bezugsadressen und weitere Tipps runden das empfehlenswerte Buch ab. Zum Schluss noch etwas Nachhaltiges: Wenn Du das Buch ausgelesen hast, dann vergiss es doch in der Bahn, damit ein anderer es lesen kann. Ich will meins aber lieber behalten!


Genre: Garten
Illustrated by Verlag Eugen Ulmer

Il libraio di Venezia

Il libraio di Venezia. “Siamo tempre sul punto di mollarci, ma alla fine non ci molliamo mai. C’è qualcosa di profondo che ci lega.” Giovanni Montanaros siebter Roman spielt vor dem Hintergrund der großen Flut von 2019. Der Wasserstand in Venedig erreichte damals beinahe das bisher höchste Niveau von 1966: 187 cm. Nur mehr mehr 8 cm haben also zu einem neuen (negativen) Rekord gefehlt. Der große Unterschied: 2019 hätte das von Korruption und Skandalen seit 2003 in Bau befindliche MOSE die Stadt vor eben diesem Pegelstand schützen sollen.

MOSE + das Versagen der Politik

So erinnert der vorliegende Roman, eine Liebesgeschichte, also nicht nur an die schmerzlichen Versäumnisse der (italienischen) Politik, sondern auch an die des Protagonisten Vittorio, den Buchhändler. Denn Vittorio braucht die Fürsprache und Vermittlung der 86-jährigen Rosalba, der Erzählerin, um Sofia seine Liebe zu gestehen. Dazu sei hinzugefügt, dass der Altersunterschied zwischen beiden immerhin 20 Jahre beträgt. Aber abgesehen von diesem doch etwas obszönen und antiquierten Hindernis, ist der hier vorliegende Roman eine wunderschöne Huldigung an die Literatur und Venedig, vor allem aber an seine Bewohnerinnen und Bewohner. Ihrer “capacità di rinascere” ist es zu verdanken, dass es die einstige Hauptstadt der Welt überhaupt noch gibt. Denn ohne seine Bewohner wäre Venedig nicht mehr Venedig. Die einzigartige und wunderbarste Stadt der Welt wird heute nur mehr von 52.000 Menschen bewohnt und die Politik tut alles, um auch diese noch zu verscheuchen. Sie wollen aus jedem Haus ein Airbnb machen, um noch mehr aus der Schönheit herauszupressen. Vittorio soll plötzlich das Doppelte der Miete für sein “Moby Dick” bezahlen. Auch Rosalba schmerzt es jedesmal als ob es Krieg wäre, wenn wieder ein Geschäft einer Herberge weicht. Die Boote, die denn Müll von Venedig abholen, nennen sich tatsächlich “Le barche VERITAS“, also die “Schiffe der Wahrheit” und zeigen das nackte Elend unseres Planeten anschaulich: wir werden an unserem Müll und unserer Profitgier eingehen. Aber es gibt immer noch Nester des Widerstands. Als solche gelten auch Buchhandlungen. Denn neben der fiktiven Buchhandlung Moby Dick des Romans gibt es tatsächlich noch eine ganze Menge unabhängige Buchhandlungen in Venedig, Ulrike Zanatta, hat sie im Nachwort dankenswerterweise alle aufgelistet. “Il libraio di Venezia” ist also auch ein Buch über Literatur mit vielen Buchtips, nicht nur eine Liebesgeschichte und nicht nur ein Katastrophenroman. Und dass es am Ende ein Happy End für alle gibt, das mag man sich ebenso in der Realität wünschen. Eines Tages, wer weiß… Der Tag wird kommen!

Untergang + Auferstehung aus Acqua alta

Als Referenzwert für das Hochwasser wird seit 1897 übrigens das “medio mare” herangezogen, das sich in Punta della Salute, dem dreieckigen Bereich zwischen dem Canal Grande und dem Canale della Giudecca befindet. Je nach Sestiere resp. genauem Standpunkt, kann man durchschnittlich 80 cm vom bekannt gegebenen Pegelstand abziehen. Das bedeutet, wenn etwa 110cm (bei dem 12% Venedig unter Wasser steht) bekanntgegeben wird, steht man am Markusplatz, dem tiefsten Punkt Venedigs auf 80 Meter mit 30 cm kniehoch im Wasser. Bei 140 cm – der durchschnittliche Höchstwert – stehen dann schon 59% Venedigs unter Wasser. Das Modulo Sperimentale Elettromechanico (Mose) ist längst zu einem Symbol für “politische Gleichgültigkeit, Korruption und bürokratischen Wahnsinn” (Tagesspiegel) geworden. Zudem ist der ganze versenkte Beton inzwischen selbst zu einem Problem für die Lagune geworden, da der Boden deswegen weiter absinkt. Wenn die Katastrophe vom November 2019 eines gezeigt hat, dann, dass die Menschen immer noch zusammenstehen und sich nicht unterkriegen lassen. Das steht so auch im Eröffnungssatz dieser bescheidenen Rezension, die zeigen will, was Solidarität bewirken kann. Denn was wirklich zählt, das müssen die BewohnerInnen Venedigs nach jedem Hochwasseralarm immer wieder schmerzlich feststellen. Aber die Liebe zu Venedig ist stärker als jede Vernunft. Mai mollarare!

Giovanni Montanaro
Il libraio di Venezia
Ital. Hrsg. von Ulrike Zanatta
Niveau B1 (GER)
2022, Broschur, 165 S. 1 Abb.
ISBN: 978-3-15-014132-8
6,00 €
Reclam Verlag


Genre: Erzählung, Katstrophenroman, Liebesroman
Illustrated by Reclam Verlag

Just because I love you

Rowdy trifft Schönling

Auf Takeru Totoki trifft der Satz „Harte Schale, weicher Kern“ zu: Immer wieder in Raufereien verwickelt und deshalb als Rowdy gebrandmarkt, will er eigentlich nur ein normales Leben führen. Aber Takeru hat inzwischen keine Hoffnung mehr, dass er aus diesem Teufelskreis herauskommt – bis sich eines Tages Schulschönling Teo Yoshizawa nach einer Schlägerei um ihn kümmert. Ab diesem Zeitpunkt freunden sich die beiden unterschiedlichen Jungen immer mehr an und Takeru merkt, dass ihm der Kontakt mit dem beliebten Schüler guttut, denn er führt jetzt ein merklich ruhigeres Leben. Als Teo ihn auch noch für die Prüfungen in der Schule fit macht, erhält er zum ersten Mal in seinem Leben gute Noten. Alles läuft prima – aber was werden die anderen sagen, wenn sie merken, dass Takeru und Teo mittlerweile mehr sind als nur gute Freunde?

Klischees kritisch hinterfragt

Der BL-Manga (Boys-Love-Manga) thematisiert Homosexualität in einer eher beiläufigen Art. Die beiden Protagonisten verheimlichen zwar ihre Neigung und ihre Beziehung, aber sie machen sich ansonsten kaum Gedanken um ihre Homosexualität und leben sie einfach. Allerdings steht das im Widerspruch zur Wirklichkeit v.a. in Japan, in der Homosexualität tabuisiert wird und man sich deshalb automatisch viele Gedanken machen muss. Ansonsten aber ist gerade die Figur Takerus sehr schön herausgearbeitet: Durch seine körperliche Größe und sein eher wildes Aussehen wird er gleich in eine Schublade gesteckt, in die er von seinem liebenswürdigen Wesen her überhaupt nicht passt. Hier wird indirekt kritisiert, dass die Gesellschaft nur auf Äußerlichkeiten schaut und sich nicht die Mühe macht, hinter die Fassade zu blicken bzw. das Innere einer Person zu ergründen. Ausgerechnet der Schulschönling Teo, dem man aufgrund seiner Beliebtheit eher Oberflächlichkeit zutrauen würde (hier wird also ebenfalls mit Klischees gespielt), interessiert sich für die Person Takeru selbst und verurteilt Takeru nicht von vorneherein. Mit expliziten, aber nicht pornografischen Sex-Szenen. Der Verlag empfiehlt den Manga daher erst ab 18 Jahren, aber ich denke, ab 15 oder 16 Jahren ist das auch in Ordnung. Mich wundert sowieso, warum Gewaltszenen, die für die Psyche schädlicher sind, schon ab jungem Alter freigegeben werden, während einvernehmlicher Sex so tabuisiert wird. Da wirkt wohl noch die Leibfeindlichkeit der Kirche nach.


Genre: Homosexualität, Manga
Illustrated by Carlsen / Hayabusa

Lichte Stoffe

Psychedelisches Palaver

Für ihren Roman «Lichte Stoffe» hat Larissa Boehning den hochdotierten Mara-Cassens-Preis als bestes deutschsprachiges Debüt des Jahres 2007 verliehen bekommen. Sie beschreibt darin die Suche einer jungen Frau nach dem Schlüssel für ihre eigene Herkunft und verwebt in ihrer Geschichte Themen wie Raubkunst, Besatzungskinder, deutsch-amerikanische Animositäten, Familien-Geheimnisse und persönliches Scheitern. «Geheimnisse sind der Motor zum Erzählen» hat die Autorin im ZEIT-Interview erklärt, ihre Figuren spiegelten einzeln das Hauptthema des Romans wider, «weil jede Figur ihre eigene Lüge mitbringt oder verarbeitet». Worauf sich der Buchtitel bezieht, erfahren wir in der Mitte des Buches, als die Protagonistin nach der Trennung von ihrem Mann sinniert: «Aber die Liebe? Lichter Stoff.»

Die Großmutter von Nele Niebuhr hatte nach dem Zweiten Weltkrieg einen farbigen GI kennen und lieben gelernt. Er war als Bewacher eines Lagerstollens für Nazi-Beutekunst zufällig in einer Nische auf ein rahmenloses Ölgemälde gestoßen und hat es heraus geschmuggelt. Das Bild von Degas zeigt eine Frau mit Hut, und da die Großmutter eine Hutmacherin war, hatte der Besatzungs-Soldat es ihr geschenkt. Als sie schwanger wurde, endete die Liaison mit dem Ami, sie gab ihm das Bild zurück, bevor er sich auf Nimmerwiedersehen davongemacht hat. Dieses Trauma, alleingelassen zu werden mit einem Mischlingskind, hat sie niemals überwunden, aber solange sie lebte hat sie auch nie darüber gesprochen. Eva, die Tochter der Alleinerziehenden, lebt mit ihrem Mann in einer Reihenhaus-Siedlung, sie ist konsumsüchtig und hat ständig Besuch vom Gerichtsvollzieher. Ihr Mann Bernhard wurde nach dreißig Jahren als Sicherheitschef einer Großbäckerei entlassen, von schnöseligen Unternehmens-Beratern einfach wegrationalisiert. Er traut sich nicht, das seiner Frau zu sagen, und geht jeden Morgen ‹zur Arbeit›, um den Schein zu wahren. Die inzwischen dreißigjährige Nele, Tochter der Beiden, ist in Chicago mit dem Verkaufsleiter eines Herstellers ausgeflippter Sportschuhe verheiratet. Sie steht vor den Trümmern ihrer Ehe und dem Ende ihrer Karriere als Designerin in der gleichen Firma. Nach dem Tod der Großmutter stößt sie auf Ton-Kassetten, auf denen die Oma von dem Degas-Gemälde erzählt, das inzwischen Millionen wert sein muss. Nele macht sich auf, diesem Familien-Mythos auf den Grund zu gehen, den verschollenen Großvater und das Bild zu finden.

Erzählerischer Rahmen des Romans ist ihr Rückflug nach Deutschland, sie hat einen älteren Herrn im Tweedsakko als Sitznachbarn, der sich in der Malerei auskennt und ihr viel zu erzählt weiß. Neles Besuch beim Großvater hat sich als Fiasko erwiesen, sie hatten sich nichts zu sagen, das Bild bei ihm an der Wand könnte allerdings tatsächlich der Degas sei. Mit dieser Beutekunst-Geschichte legt die Autorin eine falsche Fährte, wohl um Spannung zu erzeugen. In Wahrheit geht es ihr offensichtlich um andere Themen wie zum Beispiel das deutsch-amerikanische Verhältnis oder der Konsum-Fetischismus, den sie karikaturhaft übertreibend in der Turnschuh-Episode an den Pranger stellt. Und völlig unverständlich bleibt der Sinn einer Episode, in der Neles Vater Bernhard sich kurz entschlossen dem Nachbarn anschließt, als der sich für drei Wochen mit 100 Euro pro Tag bei Manövern als Darsteller einer feindlichen Zivilbevölkerung anheuern lässt. Wenig überzeigend sind vor allem die Animositäten den Amerikanern gegenüber, die hier recht schablonenhaft artikuliert werden.

Diese Geschichte vom Leben der Frauen dreier Generationen einer Familie, bei denen fast alles schiefgeht, wird in verschiedenen Rückblenden metaphernreich erzählt. Immer wieder artet allerdings die Erzählweise in ein psychedelisches Palaver aus, was schon bald ziemlich nervt. Man grübelt dann zum Beispiel, was unter «Zahnpastasuburbs» zu verstehen sei oder was denn ein «kaugummifadenzartes Streichorchester» für eine Musik zu erzeugen vermag.

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Eichborn Verlag

Per Anhalter durch die Galaxis

EINE ETWAS ANDERE REZENSION

Viele der literaturaffinen Leser werden sofort wissen worum es sich handelt. Dabei ist 42 doch nur eine ganz gewöhnliche Zahl. Weder eine Primzahl noch eine Quadratzahl. Und doch hat sie eine ungewöhnliche Berühmtheit erlangt. Wer nichts damit anfangen kann, braucht die Zahl nur in Google eingeben oder einfach hier weiterlesen.

Mein Sohn hat das Buch im Original, also in englischer Sprache gelesen und war begeistert. Obwohl ich nicht unbedingt ein Freund von Science-Fiction-Romanen bin, habe ich die Empfehlung aufgenommen. Allerdings wollte ich mir das Original nicht antun und besorgte mir die deutsche Ausgabe des bereits 1979 entstandenen Romans „Per Anhalter durch die Galaxis“ des britischen Autors Douglas Adams. Also ein Klassiker!

Den Engländer Arthur Dent trifft es ziemlich hart: Zuerst soll sein Haus abgerissen werden und dann soll auch noch die Erde gesprengt werden, um einer Hyperraum-Expressroute Platz zu machen. Den Ausweg aus der Misere hat sein exzentrischer Freund Ford Prefect parat, der witzigerweise nach einem alten britischen Ford-Model benannt ist und ursprünglich von einem kleinen Stern in der Nähe von Beteigeuze stammt. Der Ausweg ist der in diesem Fall überlebensbringende Reiseführer „Per Anhalter durch die Galaxis“. Notgedrungen machen sie sich auf den Weg, um die Wunder des Weltraums zu entdecken. Bei Wikipedia wird das Buch als „Mischung aus Komödie, Satire und Science-Fiction“ beschrieben. Unbedingt lesenswert!

Wie komme ich nun gerade auf die Zahl 42? Auslöser war die Lektüre des Romans „Die Anomalie“ von Hervé le Tellier, worin die berühmte Episode um die Zahl 42 zitiert wird. Die beiden Protagonisten Dent und sein Freund dringen während ihrer Reise durch die Galaxis zum zweitgrößten Computer aller Zeiten vor, der von seinen Erschaffern zur Beantwortung der Frage aller Fragen programmiert wurde, die „große Frage des Lebens, des Universums und des ganzen Rests“ (“life, the universe and everything”). Um das unglaublich wichtige Ergebnis ja nicht zu verpassen, wurde der Computer „Deep Thought“ rund um die Uhr observiert und das über siebeneinhalb Millionen Jahre. Nach dieser exorbitanten Rechenzeit gibt er endlich die Antwort bekannt. Die Antwort auf die „Frage des Lebens, des Universums und des ganzen Rests“ lautete zur Überraschung aller ganz simpel „42“. Trotz intensiver Bemühungen verschloss sie sich jeglicher Interpretationsmöglichkeit.

Als ich das Zitat in Telliers Roman las, das dort übrigens sehr gut verpackt wurde, war ich etwas konsterniert, weil ich es nicht auch schon in meinem etwas anderen biografischen Roman „August und ich“ verwendet habe. Er ist zwar schon mit mehreren Zitaten aus der Musik, Literatur und Cineastik versehen, doch die zugehörige Episode aus meinem Leben ist mir damals nicht eingefallen.

Denn in meiner Zeit als Technischer Leiter in einem mittelständigen Unternehmen hatte ich in der Entwicklungsabteilung einen der besten Ingenieure, den ich je kennenlernen durfte. Martin ist nicht nur in seinem technischen Metier brillant, sondern ich konnte mich insbesondere auch über kulturelle Themen mit ihm austauschen: ob Musik oder Kabarett und eben auch Literatur. Deshalb war es auch nicht verwunderlich, dass er „Per Anhalter durch die Galaxis“ bereits kannte, als ich ihm eine entsprechende Empfehlung aussprechen wollte. Und natürlich war ihm die Zahl „42“ ein Begriff.

Immer wieder, wenn wir gemeinsam mit Managern zu tun hatten, die gerne dazu neigen, auf sehr komplizierte und schwierige Fragen einfache Antworten zu fordern, sahen wir uns an und entgegneten ganz ernsthaft und im Chor: „42“.


Illustrated by Heyne München