Nonbinäre Selbstfindung
Die unter dem Pseudonym Kim de l’Horizon schreibende Person nichtbinärer Geschlechts-Identität hat mit dem Debütroman «Blutbuch» den Deutschen Buchpreis 2022 gewonnen. In der Begründung der Jury heißt es: «Welche Narrative gibt es für einen Körper, der sich den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entzieht? […] Jeder Sprachversuch, von der plastischen Szene bis zum essayartigen Memoir, entfaltet eine Dringlichkeit und literarische Innovationskraft, von der sich die Jury provozieren und begeistern ließ.» Nicht so begeistert dürften viele Leser von den analsexuellen Exzessen sein, die diesen sprachlich innovativen, die Postmoderne parodierend hinter sich lassenden Bildungsroman in vielerlei abstoßenden Passagen – bereichern?
Diese einfach nur als eklig empfundenen Szenen suchen ihresgleichen in der gehobenen Literatur, und vergleichbar Verstörendes dürfte auch in den Leselisten «normaler» Romanleser kaum zu finden sein. Mir ist in fünf Jahrzehnten eifrigen und begeisterten Lesens derartig Abstoßendes jedenfalls noch nicht untergekommen! Muss man sich das antun, fragt man sich da? Bei einem mit dem bedeutendsten deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman sollte man sich das schon antun, er markiert ja schließlich einen von Experten ausgeloteten, aktuellen literarischen Höhepunkt. Hoffentlich, so wird Mancher nach der Lektüre denken, markiert «Blutbuch» nicht etwa die Richtung, in die sich die Literatur des 21ten Jahrhunderts entwickeln wird!
Dem derzeitigen Trend zum autofiktionalen Erzählen folgend hat auch dieser Roman einen nonbinären Ich-Erzähler namens Kim, der/die? seinerseits schreibt. Die Großmutter ist an Demenz erkrankt, und Kim beginnt sich zunehmend eifriger mit der familiären Vergangenheit auseinander zu setzen. Besonders die ungeklärte weibliche Blutslinie steht im Mittelpunkt der Recherchen, die durch unzählige Briefe und Notizen, vor allem aber durch Dialoge mit den weiblichen Bezugspersonen von Kim, der Mutter und der Großmutter, vorangetrieben werden. Ziel aller dieser Bemühungen ist die Selbstfindung von Kim, seine/ihre Ich-Werdung im falschen Körper. Dabei dient ihm/ihr die Blutbuche, die einst der Großvater im Garten gepflanzt hat, als botanische Metapher für den familiären Stammbaum. Der Historie dieser Baumart ist ein breiter Raum im Roman gewidmet, der, wenngleich biologisch durchaus interessant und den Horizont erweiternd, nun nicht gerade zum romangemäßen Lesevergnügen beiträgt.
«Es sollte ein queerer Text sein», hat Kim de L’Horizon im Interview erklärt. Folglich ist dieser als radikaler Befreiungsakt anzusehende Debütroman stilistisch nichtlinear angelegt, er oszilliert vielmehr, völlig ohne Plot auskommend, unkonventionell in diversen Erzählformen, sprachlichen Varianten, Neologismen und anderen Stilmitteln. Das geht so weit, dass der 33seitige letzte Teil des fünfteiligen Romans, ein Brief an die «Grandma», in Englisch verfasst ist. In einer Fußnote wird darauf hingewiesen, dass am Ende des Buches eine deutsche Übersetzung zu finden sei. Die dann wiederum, man vermutet einen Fehldruck, auf dem Kopf steht, die Nummerierung der Seiten beweist aber: Alles richtig, es ist so gewollt, – warum auch immer! Muss denn ein Roman, der sich mit der bestimmt nicht einfachen Ich-Werdung einer nichtbinären Person beschäftigt, derart manieriert geschrieben sein? Bis zum Layout hin unkonventionell? Soll das die Andersartigkeit eines Paradiesvogels namens Kim symbolisieren? Jedenfalls gibt dieser experimentelle Roman keine Antworten auf die schwierigen Fragen, mit denen sich Kim herumplagt auf der Suche nach seinem wahren Ich. Insoweit ist «Blutbuch» auch für den Leser nicht hilfreich, jedenfalls nicht für den heterosexuellen! Zweifellos aber, das muss man ihm lassen, ist dieser Roman ein literarischer Beitrag zu dem hochaktuellen Diskurs über diese schwierige Thematik. Aber reicht denn das, um alle literarischen Konventionen so radikal über Bord zu werfen, fragt man sich irritiert als Leser.
Fazit: miserabel
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