Sacred Sites

Sacred Sites. Die Reihe “Bibliothek der Esoterik”, die im TASCHEN Verlag verlegt wird, präsentiert “Orte der Andacht. Eine visuelle Erkundung der bedeutendsten Kultstätten“. Sacred Sites widmet sich dem menschlichen Bedürfnis nach Spiritualität durch eine visuelle Pilgerreise zu Bergen, Pyramiden oder Kathedralen. Mit vielen Essays, Interviews und mehr als 400 Bildern werden heilige Orte besucht. Darunter antike Tempel ebenso wie moderne Werke der Land Art.

Sakrale Geometrie und Architektur

Jessica Hundley, Autorin, Filmemacherin und Journalistin, erkundet in vorliegender Publikation Themen der Counterculture mit einem Fokus auf die metaphysischen, psychodelischen und magischen Aspekte. Hundley hat schon für die Vogue, Rolling Stone und die New York Times geschrieben, aber auch schon Bücher über Künstler wie Dennis Hopper, David Lynch und Gram Parsons veröffentlicht. Für Sacred Sites bekam sie Zugang zu Privatsammlungen, Bibliotheken und Museen aus aller Welt, die ihr Exponate zur Verfügung stellten. Werke der Moderne ebenso wie Archivbilder dokumentieren das Streben nach einem spirituellen Zugang zu unserer Welt, dem man natürlich auch durch (Tag-)Träume und Albträume auf die Spur kommen kann, um sich so selbst in Beziehung zum Göttlichen zu setzen.

Library of Esoterica: Sacred Sites

Faszinierend ist auch die Übereinstimmung vieler sakraler Gegenstände in den unterschiedlichsten Kulturen. So kommen etwa die Pyramiden, Monumente für eine Vielzahl von Göttern, sowohl in Afrika als auch Südamerika vor. Eine kosmische, sakrale Geometrie und Architektur ist aber auch in den marmornen Heiligtümern, die für die griechischen und römischen Göttinnen erbaut wurden, zu finden. Ebenso in windgepeitschten Bergklöstern des alten Asiens und in den Felsenwohnungen der Ureinwohner des amerikanischen Südwestens. Natur, Kunst, Schönheit stehen im Zentrum des fünften Bands der TASCHEN Reihe “Library of Esoterica” und zeichnet sich durch eine ästhetische sowie essayistische Annäherungsweise aus.

Ein spiritueller Ort des Rückzugs für jedermann

Your sacred space“, meinte Joseph Campbell in seinen Reflections on the Art of Living 1993, “is where you can find yourself again and again. You really don’t have a sacred space, a rescue land, until you find somewhere to be that’s not a wasteland, some field of action where there is a spring of ambrosia – a joy that comes from inside, not something external that puts joy into you – a place that lets you experience your own will and your own intention and your own wish so that, in small, the Kingdom is there. I think everybody, whether they know it or not, is in need of such a place.” Wer sich – zumindest auf den Seiten dieses Buches – auf eine spirituelle Reise zu Heiligen Stätten durch die Kontinente und Jahrhunderte begeben möchte, wird vielleicht sogar einen Hinweis finden, wo er/sie sich selbst so einen heiligen Raum einrichten könnte.

Spirituelle Inspiration aus der Welt

Für Inspiration sorgt die vorliegende reich bebilderte Publikation, die zu den Pyramiden Ägyptens ebenso führt wie nach Stonehenge oder ins mythische Indien. Die rätselhaften Nazca Lines werden besucht und abgebildet und interessante Texte erklären die Zusammenhänge. Faszinierende Orte, die es entweder tatsächlich gibt oder von der Fantasie eines Menschen erschaffen wurden. Jessica Hundley hat sich schon durch viele andere Publikationen beim TASCHEN Verlag profiliert und steht für gleich bleibende Qualität. Eine spirituelle Reise zu alten Kulturen und jenen Resten davon, die in jedem von uns noch vorhanden sind.

Jessica Hundley
Sacred Sites. The Library of Esoterica
2024, Hardcover, quarterbound, 17 x 24 cm, 1.77 kg, 520 Seiten
ISBN 978-3-8365-9060-0
TASCHEN
€ 30


Genre: Esoterik und Grenzwissenschaften, Sachbuch Esoterik
Illustrated by Taschen Köln

Set the Night on Fire

Set the Night on Fire. 1965, Venice Beach, California: vier illustre Gestalten gründen eine der aufsehenerregendsten Bands der Sechziger. Vor allem ihr Leadsänger Jim Morrison zieht die Aufmerksamkeit der sensationsgeilen Medien auf sich. 1967 ihr erster Durchbruch mit der Number 1 Hit Single Light My Fire. Geschrieben hat diesen Song Robby Krieger, der Gitarrist, der in vorliegender Autobiographie seine Sicht der Dinge darlegt.

Set the Night on Fire!

Nach den Autobiographien von Ray Manzarek und John Densmore, den beiden anderen Gründungsmitgliedern, ist nun auch mit großem zeitlichen Abstand auch Robby Kriegers Lebensbeichte erschienen. Denn es geht bei weitem nicht nur um die Doors, in seiner Autobiographie, Robby hatte auch ein Leben außerhalb und nach den Doors. Denn 1969, nur vier Jahre nach der Gründung der Band, war eigentlich alles schon wieder vorbei. Der Miami-Vorfall hatte die Band an den Rand ihrer Existenz gebracht und Jim Morrison wäre eventuell sogar im Gefängnis gelandet, wäre er nicht noch vor Prozessende am 3. Juli 1971 in Paris an einem Herzinfarkt in der Badewanne gestorben. Oder war es doch das Heroin, das seine Freundin und Langzeitlebensgefährtin Pamela Courson ihm verabreichte? Robby Krieger hält nicht hinter dem Berg, dass auch er die fatale Droge damals konsumierte. Genauso wie Kokain, Marihuana und LSD. Letztere, die sog. bewusstseinserweiternde Droge, war bei Gründung der Doors sogar noch legal. Alle hatten es damals probiert.

It was the sixties, man!

Für Jim Morrison war es laut Robby Krieger nur eine Möglichkeit seine Grenzen zu testen. Meistens testete er seine Grenzen aber an seinen Bandenmitgliedern, wie Robby verschmitzt bemerkt. “The worst hair in Rock’n’Roll” lautet seine bescheidene, selbstironische Selbstbeschreibung. Immerhin hatte Robby die größten Hits der Doors geschrieben, seinen süffisanten Humor beweist er auch in seiner Autobiographie. Etwa wenn er erzählt, dass es “Light My Fire” – immerhin der größte Hit der Doors – niemals ohne die Coverversion von José Feliciano “in den Orbit” geschafft hätte. Offene Worte findet Robby auch über seinen Zwillingsbruder Ronny, seine Eltern oder seine Beziehungen: “Or when I contracted crabs (Filzläuse, AP). What can I say? It was the sixties, man.”

Ship of Fools

Die Struktur von Robbys Doors Narrativ richtet sich lose nach den Studioalben der Band. Aber er öffnet auch den Zugang zu seinem öffentlichen und privaten Leben in Rückblenden und Meditationen zwischen dem Hier und Jetzt. Große Genugtuung brachten ihm die Tourneen der Doors nach Jims Tod, denn Robby spielte in den verschiedensten Formationen, u.a. auch mit Ray Manzarek in The Doors of the 21st Century mit Ian Ashbury (The Cult) als Morrison-Inkarnation. Allerdings brachten diesen Auftritte auch John Densmore und die Coursons und Morrisons auf den Plan, die das “Erbe der Doors” schützen wollten und Klage einreichten. Legal Battles waren die Folge, die vielleicht länger in Erinnerung bleiben als die guten Zeiten, die sie miteinander verbrachten. Aber spitzbübisch wie er nun einmal ist managte er auch diese eingefahrene Situation. So wie die Konzerte: Sie hätten nie mit einer Set List gespielt, erzählt Robby, denn das heute dem Konzert die Spontanität genommen und die Beziehung zwischen Band und Publikum zerstört.

Trauma Hochschaubahn

Was Oliver Stone in seinem Film aus Jim gemacht hätte? “He came across as a pretentious, obnoxious, stupid Druck who was a dick to everyone around him”, aber Jim war eher so: “He was a funny, and shy, and when he was out of line he knew it, and he was sorry. He hat a way of making everyone who mit him feel like he was their best friend.” Seine Zeit mit Jim Morrison bezeichnet er als “six year roller coaster ride“, und beschreibt die Zeit nach der Achterbahnfahrt dann so: “It was full of loops and corkscrew turns and Drops that suspended laws of gravity. We needed a Moment for our heart Rates to return to normal“. Man merkt trotz allem Humor und der vielen anderen Geschichten, dass Robby immer noch im Bann der Doors steht und irgendwie unter dem Schock des Verlusts. Man stelle sich vor, dass der wichtigste Mensch im Leben einfach von einem zum andern Tag verschwindet: “There was no one last Drink. There was no one last meal. A few days later he was just gone.” Erst nach Paris, dann in den Orbit.

To me, its value lies in what it inspired“, meint Robby über seine verschollene Gibson SG mit der er Light My Fire komponiert hatte. Vielleicht gilt das auch für das Werk, das die Doors hinterlassen haben.

Robby Krieger
Set the Night on Fire
Living, Dying and Playing Guitar with the Doors
2021, 432 Seiten, 196 x 128mm
ISBN-13 978-1-4746-2418-3
White Rabbit Publishing
€ 20.-


Genre: Autobiografie, Kunst, Musik und Literatur, Sechziger
Illustrated by White Rabbit Publishing

Blutorangen – Eine Reise zu den Zitrusfrüchten Italiens

Blutorangen. Der Gastrosoph Peter Peter glänzte schon durch eine prämierte Kulturgeschichte der italienischen Küche sowie Literaturguides zu Sizilien und Neapel. In seinem neuen Werk, Blutorangen, widmet er sich ganz der wichtigsten Frucht des Südens: der Zitrone.

Kulturgeschichte der Blutorangen und Zitronen

Schon Goethe assoziierte mit Italien “das Land in dem die Zitronen blühen”. Aber es war nicht nur die Zitrone, sondern eine Vielzahl an Zitrusfrüchten, die ihm damals begegneten: Zitronen, Mandarinen, Blutorangen, Bergamotten, Pomeranzen, Zitronatzitronen. Kurz auch als “Agrumen” bezeichnet, vom lateinischen “acer” für „scharf, herb, sauer“, dabei sind Zitrusfrüchte alles andere als nur das. Peter Peter zeigt uns in seiner kulinarischen Kulturgeschichte, dass das Wort für Orange aus dem Sanskrit Naranga stammt und selbst Apfelsine sich auf den Orient bezieht. Der “Apfel aus China“, die Apfelsine, stammt vermutlich aus dem Himalaya, Burma oder dem südchinesischen Yunnan und vielleicht hat wirklich Marco Polo sie von dort mitgebracht. Aber schon in Pompejis Wandfresken waren Zitrusfrüchte abgebildet, somit kannten sie auch schon die alten Römer. Interessant für Züchter ist die Tatsache, dass Zitrusbäume Selbstbestäuber sind und “nicht unbedingt auf die Hilfe von Bienen angewiesen sind“, so Peter. Die ersten Zitronen der italienischen Halbinsel dürften im 10. Jahrhundert in Amalfi geerntet worden sein, die Seerepublik hatte eben privilegierte Orientbeziehungen, also noch lange vor Marco Polo über Zitronen verfügt. Da Zitronen aufgrund ihres Vitamin C Gehalts gut gegen Skorbut sind, verzeichnete die Frucht einen grandiosen Aufstieg im Europa der Seefahrt in den kommenden Jahrhunderten. Aber auch für arme Leute war die Zitrone nichts weniger als das Versprechen auf das Paradies: “Qui tocca anche a noi poveri la nostra parte di ricchezza. Ed è l’odore dei limoni“, wie es in einem zitierten Gedicht von Eugenio Montale heißt. Wer dabei an Limoncello denkt liegt auch nicht ganz falsch.

Allheilmittel Zitrone

Wenn Lucio Battisti seiner Geliebten verspricht, dass in seiner Brust eine Zitrone schlägt (“batte in me un limone giallo, basta spremerlo“) und damit unweigerlich die Aufforderung es auszupressen (spremerlo) verbunden wird oder Paolo Conto in seinem Chanson “gelato al limon” verspricht, dass Liebe keine Sache des Geldbeutels sei, wird auch den etwas weiter nördlich Geborenen unweigerlich klar, dass die Zitrone mehr ist als nur eine Frucht. Schon in Zeiten der Pest wurden ihr heilsame Fähigkeiten zugesprochen, weswegen die Dottori mit der langen Nase der Commedia dell’Arte stets getrocknete Exemplare darin aufbewahrten. Auch in unserem Jahrhundert wuchs der Verkauf der Zitrone ums Doppelte, da viele glaubten, die Zitrone helfe auch gegen Corona. Aber genug der Theorie, die Gelateria Mario Campanella im apulischen Badestädtchen Polignano a Mare kredenzt einen Caffè Speciale, den man sich nicht entgehen lassen sollte: er enthält Zesten (sehr feine Streifen der Schale einer Zitrusfrucht) von Zitronen und gilt als Hinweis, wie vielseitig verwendbar die Zitrusfrüchte doch sind. Das zeigen auch 12 Rezepte, die Peter Peter feinsinngerweise zusammengestellt hat und hier sogar mit Fotos präsentiert.

Zum Nachkochen dringend empfohlen! (Auch das Rezept für einen zünftigen Limoncello ist dabei.) Natürlich erfährt der Leser auch woher die besten Zitronen kommen und was ihre Unterschiede sind. Ob Gardasee oder Kalabrien, jede Region hat ihre eigenen Vorzüge und Zitronen, darauf spielt auch die Beuyssche Capri-Batterie an.

Peter Peter
Blutorangen
Eine Reise zu den Zitrusfrüchten Italiens
2024, SALTO [285], 144 Seiten, rotes Leinen, fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1384-9
Wagenbach Verlag
22,– €


Genre: Kulturgeschichte

Kafkas Familie. Ein Fotoalbum

Kafkas Familie. Ein Fotoalbum. Vor 100 Jahren starb Franz Kafka an einer Lungentuberkulose im Sanatorium in Kierling, Österreich, kurz vor seinem 41. Geburtstag. Zum traurigen Jubiläum erscheint eine Vielzahl an Kafka Publikationen in den unterschiedlichsten Verlagen und in vielen Ausführungen. “Kafkas Familie. Ein Fotoalbum” sticht heraus und zeigt den Einzelgänger als Familienmenschen, der er zwar nicht sein wollte, aber dennoch war.

Kafka, der (Anti-)Familienmensch?

…sonst hätte sich ja das gewöhnlichen Denken der Sache bemächtigt und mir auch andere Männer gezeigt, welche anders sind als Du (…) und doch geheiratet haben und darunter wenigstens nicht zusammengebrochen sind, was schon sehr viel ist und mir reichlich genügt hätte“, schreibt Franz über seinen Onkel Richard Löwy, nachdem er noch sehr viele andere Ähnlichkeiten zu ihm festgestellt hatte. In einer Tagebucheintragung vom 4. September 1912 bedauert der leidgeprüfte Autor: “Ich gehe nachhause und bedaure nicht geheiratet zu haben. Natürlich verwischt sich das wieder, sei es, daß ich es zu Ende denke, sei es daß sich die Gedanken verlaufen. Aber bei Gelegenheit kommt es wieder.“, fügt er kryptisch hinzu und meint sein Onkel Alfred Löwy in Spanien sei ihm “der nächste Verwandte, viel näher als die Eltern, aber natürlich nur in einem ganz bestimmten Sinn“. Aber Kafka ist zwar ebenso unverheiratet geblieben, aber an weiblicher Aufmerksamkeit fehlte es ihm dennoch nicht. Abgesehen von seinen drei Schwestern war da noch seine Mutter und seine Freundinnen Milena Jesenská, Felice Bauer, Dora Diamant u.a.

Lärm aus allen Räumen

Gewohnt hatte der Autor der Weltliteratur – bis auf die letzten Monate – aber immer bei seinen Eltern über die er sich gerne beschwerte: “Lärm aus allen Räumen” heißt es da über die gemeinsame Wohnsituation, in der er entweder versuchte einen Mittagsschlaf zu halten oder schlichtweg nachts, wenn er versuchte zu an seinen Werken zu arbeiten. Tagsüber war er in der Versicherung. Aber wie die vorliegende Erzählung bestätigt, war Franz Kafka durchaus auch viel auf Reisen. Bei einem dieser Ausflüge besuchte er auch den Wiener Prater, wovon eine abgedruckte Postkarte zeugt. Franz Kafka ist darauf in einem Kulissenflugzeug zu sehen. Neben ihm Albert Ehrenstein, Otto Pick und Lise Weltsch, im Hintergrund das Wiener Riesenrad. Das vorliegende Fotoalbum zeigt Kafka umrahmt von seiner Großfamilie. Das erste Kapitel widmet sich Julie und Hermann, dann Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen, die Familien der drei Schwestern, Kafka auf Ausflügen und Reisen, in der Sommerfrische und im Sanatorium.

Kafkas Familie. Ein Fotoalbum

Jedes Kapitel wird vom Herausgeber eingeleitet und die Fotografien werden mit passenden Zitaten aus dem Werk oder aus Briefen Kafkas ergänzt. Das letzte Kapitel widmet sich dem wohl traurigsten Kapitel aus Kafkas Leben. In “Was aus Kafkas Familie wurde” werden die Lebensläufe der Verwandten nachgezeichnet, jene, die zur Flucht vor dem Nationalsozialismus gezwungen wurden und auch jene, die in Konzentrationslagern zu dessen Opfer wurden. Insgesamt sind es mehr als 100 Fotografien der Familie Kafka, von denen ein großer Teil bislang unveröffentlicht blieb. Die Fotos zeigen den Autor der “Verwandlung” und seine Verwandtschaft – in der Stadt, in der Sommerfrische aber auch fein zurechtgemacht im Fotoatelier. Die Nachkommen der Schwestern haben einige der Fotos aufbewahrt, die nun erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Der Herausgeber Hans-Gerd Koch hat im Verlag Klaus Wagenbach in der SALTO Reihe u.a. auch “Kafka in Berlin” veröffentlicht. Er gilt als Spezialist von Franz Kafka und der Prager deutschen Literatur.

Hans-Gerd Koch (Hrsg.), Franz Kafka
Kafkas Familie. Ein Fotoalbum
Mit Texten von Franz Kafka
2024, Sachbuch, 208 Seiten. Mit etwa 100 Fotografien
ISBN 978-3-8031-3738-8
Wagenbach Verlag
38,– €


Genre: Biographie, Deutsche Literatur, Fotobuch
Illustrated by Wagenbach

Natur auf dem Teller. Weil Pizza und Pommes nicht auf Bäumen wachsen

Natur auf dem Teller. Die Lausanner Illustratorin und Naturliebhaberin Lisa Voisard hat sich Gedanken darüber gemacht, was täglich vor uns auf unseren Tellern liegt. Obst, Gemüse, Gewürze, Getreide: wächst das alles auf Bäumen oder woher kommen unsere Lebensmittel eigentlich?

Vorhang auf: Lebensmittel im Fokus

Mehr als 150 Lebensmittel stellt die Grafikerin in den Mittelpunkt ihres Buches. Informationen über die Herstellung und Verarbeitung werden ebenso präsentiert wie einfache Rezepte zum Nachkochen und Aktivitäten: Parmesan mit Walnüssen, Schnee-Eis, Erdbeerpflücken, Kompostieren und so wird die Sensibilisierung für Ökologie, Food-Waste und Verschwendung auch inspiriert zum Nachahmen. Denn wer auf den Planeten acht gibt, gibt auch auf sich selbst acht und allein deswegen ist es gar nicht früh genug damit anzufangen. Das Buch richtet sich schon an junge Menschen ab 6 Jahren, aber auch ältere haben ihren Spaß damit. Denn wer hat schon mal eine blaue Banane gesehen? Sie wächst auf Java und ist neben ihren anderen Verwandten ebenso süß, aber zusätzlich mit einer Note Vanille zu genießen. “Banan” bedeutet im arabsichen eigentlich Finger und bezieht sich auf die Bananenstauden, die dann wie Hände aussehen. Auf den Philippinen gibt es sogar ein Bananen-Ketchup, das sicherlich gesünder ist, als das bei uns verbreitete Tomantenketchup. Apropos Tomate: sie gehört ebenfalls zu einer sehr großen Familie. Ihr Name leitet sich von der in Neapel gebräuchlichen Form “pomodoro” (goldener Apfel) ab. Waren Tomaten damals gelb? Jedenfalls gehören sie zur Gruppe des Obstes und nicht Gemüses, wie Voisard erklärt und gleich zu einem selbsgemachten Ketchup mit eigenem Rezept auffordert.

Manege frei: Natur auf dem Teller

Pesto Anti-Tonne ist eine weiteres spannendes Rezept, das die Illustratorin vorschlägt. Tatsächlich ist beim Gemüse nämlich alles essbar und kommt bei ihr nicht nur in den Mixer, sondern auch in den Kochtopf. Oder in den Zauberwagen von Charles Cretors, der als Erfinder des Popcorns gilt. Die rot-weißen Streifen der Popcorntüten erinnern heute noch an die Markisen der einstigen Verkaufswagen. Aber auch die Geburstagstorten haben eine abenteuerliche Vorgeschichte. Schon die Alten Griechen buken ihrer Mondgöttin Artemis zu Ehren runde Honigkuchen, die an den Vollmond erinnerten. Die kleinen Kerzen brachten diesen süßen Teigmond dann zum Erstrahlen. Das Ausblasen dieser Kerzen soll aber erst von Goethe selbst wieder popularisiert worden sein. Denn im Mittelalter feierte man gar keine Geburtstage, da man das eigene Geburtsdatum nicht einmal kannte. Vielleicht ein Schnee-Eis zum Selbermachen? Auch dieses Rezept finden wir in vorliegender anregender Lektüre, die auch gegen Lebensmittelvernichtung und -verschwendung mobil macht. Die vielen liebevollen und ansprechenden Illustrationen zeigen, dass Lernen auch Spaß machen kann. Für Jung und Alt.

Nach ihren drei erfolgreichen Naturbüchern “Ornithorama”, “Arborama” und “Insektorama”, ebenfalls bei Helvetiq erschienen, sensibilisiert Lisa Voisard mit “Natur auf dem Teller” Kinder ab sechs Jahren für Ökologie, Ernährung und Food-Waste und porträtiert die wunderbaren Pflanzen, die uns Tag für Tag ernähren und satt machen.

Lisa Voisard
Natur auf dem Teller. Weil Pizza und Pommes nicht auf Bäumen wachsen
Übersetzung: Silv Bannenberg
2024, 128 Seiten, Größe (cm) 18 x 25 cm, Alter: 6+
ISBN: 9783039640645
Helvetiq
SFr29.90


Genre: Kinderbuch, Kochen, Natur, Naturkunde

Good News und Lost + Found in Neuausstattung

David LaChapelle. Mit Good News und Lost + Found komplettiert der TASCHEN Verlag die auf fünf Bände angelegte David-LaChapelle-Anthologie. Die beiden neu aufgelegten Bände erweitern das knallbunte Portofolio des fantasievollen Pop-Fotografen aus Hartford, Connecticut, USA.

Fünfbändige Werkausgabe bei TASCHEN

Dass der Fotograf in der Musikvideobranche seine Wurzeln hat, merkt man auch seiner Fotografie an. Andy Warhol hatte ihm damals die Chance gegeben für seine Zeitschrift “Interview” ein Shooting zu machen. Gerne wird LaChapelle mit hyper-realen, subversiven, teilweise surrealistischen Fotosujets in Verbindung gebracht, was ihm auch den schmeichelhaften Spitznamen Fellini der Fotografie eingebracht haben soll. Eine Nähe zum Zirkus, der Manege und anderen ausgeflippten Randerscheinungen der Popkultur werden ihm ebenso attestiert wie Kitsch aus dem Kosmos der Religion, Apokalypse, Porno und Pop zu neuen schillernde Phantasien vermixt zu haben.

Porno, Pop und schrille Phantasien

Mit den beiden Bänden Lost + Found und Good News legt der TASCHEN Verlag die bereits produzierten Fotosammlungen erneut zu einem günstigeren Preis auf. Die vorliegenden Ausgaben kommen ohne die Schmuckkartons der Erstausgabe aus und sind eine ebenso schillernde Erweiterung einer auf Fotografie spezialisierten Bibliothek, wie die Vorgänger. Vom Bilderstürmer und Ausnahmefotografen David LaChapelle sind beim TASCHEN Verlag bereits LaChapelle Land (1996) sowie Hotel LaChapelle (1999) und später Heaven to Hell (2006) erschienen. Die beiden hier vorliegenden Bücher bilden somit den vierten und fünften Teil seiner fünfbändigen Anthologie beim TASCHEN Verlag. Auch wenn der Fokus darin von Titelseiten von Interview, Vanity Fair, i-D oder Vogue hin zu Galerien und Museen ver-rückt sind, ist die Promidichte bei LaChapelle auch in diesen beiden Bänden sehr hoch.

David LaChapelle Promi Liste Lost + Found

In Lost + Found sind u.a. zu sehen: Pamela Anderson, Julian Assange, Isabella Blow, David Bowie, Naomi Campbell, Hillary Clinton, Frances Bean Cobain, Miley Cyrus, Lana Del Rey, Lady Gaga, Sharon Gault, Daphne Guinness, Whitney Houston, Kris Jenner, Kendall Jenner, Bruce Jenner, Kylie Jenner, Dwayne Johnson, Khloe Kardashian, Kim Kardashian, Eartha Kitt, David LaChapelle, Amanda Lepore, Nicki Minaj, Katy Perry, Sergei Polunin, Keith Richards, Rihanna, Chris Rock, Amber Rose, Britney Spears, Uma Thurman, Andy Warhol, Kanye West, Pharrell Williams, Amy Winehouse und viele andere mehr.

David LaChapelle Promi Liste Good News

In Good News sind u.a. zu sehen: frühe Akte aus den 1980ern in NYC, Pamela Anderson, Lana Del Rey, Sharon Gault, Janet Jackson, Michael Jackson, Paris Jackson, David LaChapelle, Amanda Lepore, Miriam Makeba, Sergei Polunin, Tupac Shakur, Elizabeth Taylor und viele andere mehr. Good News steht eindeutig mehr im Zeichen des Sakralen, von frühen Aufnahmen nackter Engel und Liebender aus dem New York der 1980er bis zu ganz aktuellen Bildern, auf denen sich LaChapelles Refugium auf Hawaii in einen trippigen Garten Eden und Celebrities in Heilige verwandeln. Außerdem sind Beispiele aus anderen jüngeren Werkgruppen wie Earth Laughs In Flowers oder Awakened, die die vielen Facetten seiner Kunst widerspiegeln, zu sehen.

Lost + Found und Good News werden einzeln verkauft. Beide Bände zeigen insgesamt mehrere hunderte Arbeiten des Künstlers, in denen LaChapelle Versatzstücke aus Religion, Porno, Kunst- und Popgeschichte zitiert. Diese verschmelzen zu einer unverwechselbaren, hochartifiziellen Ästhetik, wie es sonst keiner kann. In seinen teilweise fast surrealen Inszenierungen und knallbunten, opulenten Arrangements sind auch zeitgenössische Trigger-Themen wie Konsum- und Körperfetischismus, Genderfragen und Spiritualität neu arrangiert und inszeniert. Perspektivenwechsel inklusive.

David LaChapelle.
Good News
2024, Hardcover, 24.6 x 31.4 cm, 1.67 kg, 284 Seiten
ISBN 978-3-8365-9965-8

David LaChapelle.
Lost + Found
2024, Hardcover, 24.6 x 31.4 cm, 1.68 kg, 286 Seiten
ISBN 978-3-8365-9964-1

Jeweils € 40, TASCHEN Verlag


Genre: Bildband, Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Franz Kafka: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen

Franz Kafka: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen. Seit 2016 erscheint bei Galiani die liebevoll gestaltete Ausgabe der Illustrierten Lieblingsbücher. Band 1 war damals Franz Kafka’s Landarzt, der – längst vergriffen – nun aus Anlass des 100. Kafka Jubiläums vom Verlag neu aufgelegt wurde. Abgesehen von den zahlreichen Illustrationen von Kat Menschik befinden sich neben dem Landarzt auch viele andere bekannte Kurzgeschichten Kafkas in dieser farbenfrohen Lektüre. Werke der Weltliteratur und andere Lieblingstexte, in Szene gesetzt von Kat Menschik.

Das Bunte aus Kafka herausholen

Odradek, vielleicht von dem tschechischen Verb “odradit” abgeleitet für “abraten” oder “widerraten”. Das hauptwörtliche Odradek wäre dann ein Abrater oder Meckerer, wie Max Brod erläutert. Aber in der Geschichte seines Schützlings, Franz Kafka stellt sich der Erzähler selbst die Frage, was aus dem Odradek einmal werden soll, wenn er nicht mehr ist. “Alles was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben”, klagt der Erzähler, aber ein Odradek? Zumindest is eines sicher: der Odradek wird ihn überleben. Kat Menschik hat natürlich auch diesen Odradek abgebildet, für alle die sich darunter noch nichts vorstellen können. Noch viel bunter wird es in der Geschichte “Elf Söhne”, denn Menschik hat den Ehrgeiz entwickelt gleich alle elf auf einer Doppelseite unterzubringen. Der Vater ist auch drauf, aber der steht abseits, fast deplatziert, an den Rand gedrängt. Der elfte Sohn weiß Bescheid, er ist der letzt dem er vertraut, aber wenigstens der Letzte. Auch das ein Privileg. Denn er wird noch leben, wenn alles gut geht, wenn alle anderen schon das zeitliche gesegnet haben. Um einiges brutale geht es dann schon in der nächsten Geschichte “Ein Brudermord” weiter. Hier blitzt gleich das blanke Messer noch bevor die Erzählung richtig los geht, gruselt es schon.

Franz Kafka modern illustriert

Der Affe weiß es in seinem Bericht an die Akademie am besten: “Nebenbei: mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzu oft. Und so wie die Freiheit zu den erhabensten Gefühlen zählt, so auch die entsprechende Täuschung zu den erhabensten.” Von seinen Lehrern erhofft er nicht diese Erhabenheit, sondern einfach nur, dass sie nicht selbst “äffisch werden, bald den Unterricht aufgeben und in eine Heilanstalt gebrach werden”. Wenn es drauf ankommt, empfiehlt der Affe, “sich einfach in die Büsche zu schlagen”. Am besten mit einer Lektüre aus der Bibliothek der Illustrierten Lieblingsbücher. Bisher sind 18 Exemplare erschienen. “Im übrigen will ich keines Menschen Urteil, ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Herren der Akademie, habe ich nur berichtet.” Weitere Geschichten von Kafka in diesem Band sind u.a. “Auf der Galerie”, “Vor dem Gesetz”, “Sorge eines Hausvaters”, “Ein Traum”, insgesamt sind es vierzehn, die alle von Kat Menschik illustriert sind.

Kat Menschik
Franz Kafka: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen
Illustrierte Lieblingsbücher, Band 1
2016/2024, Hardcover, 112 Seiten
ISBN: 978-3-86971-132-4
Galiani Berlin
22.-€


Genre: Bildband, Erzählungen, Illustrationen, Literatur

Robert Doisneau. Paris

Robert Doisneau. Paris: Das ikonische Foto am Cover dieser Monographie zum Werk des französischen Fotografen Robert Doisneau “Paris” dürfte vielen bekannt sein, da es gerne auch zitiert wird. Unlängst sah ich es in einer Reprise des Werks des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski. Aber auch in anderen Zusammenhängen taucht es immer wieder gerne auf. Es gilt als ikonisch und episch zugleich, denn das Motiv, der Kuss, ist aus der Kunst nicht wegzudenken. Ebensowenig das andere Werk von Robert Doisneau aus Paris, das dieser Tage die Olympiade beherbergt, wegzudenken ist.

Porträtist des alten Paris

Autor und Herausgeber Jean Claude Gautrand war ein langjähriger Freund Doisneaus und durfte deswegen auf das umfangreiches Bildarchiv des Jahrhundertfotografen zurückgreifen. Der “Poet der Straße“, wie er gerne wegen seiner improvisierten und nicht inszenierten Fotografie genannt wird, hatte auch einen Sinn für die Sorgen und Nöte der Menschen, weswegen er auch als Vertreter der “Photographie humaniste” gefeiert wird. Die große Zeit dieses Genre waren sicherlich die 1950er-Jahre in der Doisneau die meisten seiner beseelten Bilder von Paris aufnahm. Alltägliche Begebenheiten, die ihm in Paris vor die Linse kamen, machen auch seine eigenen Emotionen sichtbar. Das menschliche Leben in all seiner Pracht und Widersprüchlichkeit steht im Zentrum seines fotografischen Schaffens, das in vorliegender Monographie in seiner ganzen Bandbreite präsentiert wird. Abgesehen von diesen Hauptwerken, die es bereits zu einiger Berühmtheit gebracht haben, bemüht sich der Bildband aber auch um eine Retrospektive seines spektakulären Œuvres von weniger bekannten Aufnahmen. „Ganz normale Handlungen ganz normaler Menschen in ganz normalen Situationen“ umschreibt es wohl am besten und entbehrt auch nicht seines Humors, der stets voller Empathie für die Welt und ihre Bewohner war. Zitate entrücken die Fotografien in jenes himmlische Pantheon an dem wir Sterblichen selbst gerne teilnähmen.

Raritäten wie Farbfotos und Archivaufnahmen

Robert Doisneau zeigt uns die tristen Vorstädte seiner Jugend, die Welt der Arbeiter, die er liebte, sein Atelier und die Ateliers vieler Künstler seiner Zeit. Darüber hinaus finden sich auch einige weit weniger bekannte Farbaufnahmen, die uns in die Banlieue von heute führen und in denen uns ein ganz anderer, kritischerer Robert Doisneau begegnet, in vorliegender Publikation des Taschen Verlages zu Leben und Werk Robert Doisneaus ihre Abbildung. TASCHEN Autor und Freund Doinseaus, Jean Claude 8autrand, durfte wie anfangs schon erwähnt auf Doisneaus umfangreiches Bildarchiv zurückgreifen. Er ist Experte für Fotografie, war selbst als Fotograf tätig und veröffentlichte auch als Historiker, Journalist und Kritiker. Für TASCHEN verfasste er die Bücher Brassaï, Paris. Porträt einer Stadt, Robert Doisneau und Eugène Atget. Das Vorwort wurde von Doisneaus Töchtern Francine Deroudille und Annette Doisneau verfasst und zeigt, dass Tradition nicht bedeutet die Asche anzubeten, sondern die Glut zu entfachen…

Jean Claude Gautrand
Robert Doisneau. Paris
2024,Hardcover, XL, 556 Seiten
ISBN 978-3-8365-9948-1
English, French, German
TASCHEN
€ 50


Genre: Fotobuch, Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort

Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort. “Sie erinnerte mich an alles, was ich nie zu vergessen hoffte.” Zum 100. Geburtstag von James Baldwin erscheint bei dtv eine Neuauflage seiner Werke. Sein vierter Roman, der hier in gebundener Ausgabe vorliegt, erschien 1968, ein Jahr, das auch große politisch Bedeutung erhielt. Der Protagonist, Leo Proudhammer, wächst in den Straßen Harlems auf und schafft es als Schauspieler auf die Bühnen der Welt.

Erschütternder Realismus als Ausweg

Der Schauspieler überlebt einen Herzinfarkt und kommt dank seiner Freunde gleich ins Spital. Aus dieser Perspektive erzählt er dem Leser sein Leben, das an Aufregungen nicht arm war. Als Sohn eines Lagerarbeiters und einer Heimarbeiterin in Harlem, New York gehört seine Familie nicht gerade zu den Privilegierten. Sein Vater stammt von einer Insel, aber nicht Manhattan. Sie sind schwarz und Leo zudem noch bisexuell oder homosexuell, das wird ihm selbst erst im Laufe des Romans klar. Vorerst kann er es gemeinsam mit Hilfe der weißen Schauspielerin Barbara King und ihren Kontakten zu den besseren Kreisen zu einem Engagement in der “Werkstatt” schaffen, die von zwei reichen Weißen geführt wird. Wir lernten gerade wie Pirandello es ausdrückt “unser Spiel zu leben und unser Leben zu spielen”, als der unvermeidbare Bruch mit seinem älteren Bruder Caleb und seinen Eltern Leo den notwendigen Freiraum verschafft, sein eigenes Leben zu leben. In einer fesselnden Sprache und dramaturgisch klug konstruiert erfahren wir in Rückblenden immer mehr über die Genese des Leo Proudhammer, der als Schauspieler von allen bewundert wird, als Mensch aber immer etwas vermisst. Einerseits geht es um die Beziehung zu seinem älteren Bruder, den er liebt und verehrt, andererseits auch um den alltäglichen Rassismus im Amerika der 1940er Jahre. Mit viel Einfühlungsvermögen beschreibt Baldwin, wie sich Leo fühlt, wenn er in dem weißen Viertle von Barbara angestarrt wird und wenig später als Einbrecher verhaftet wird. Ein “Spaziergang” mit Barbara wird zu einem Hürdenlauf, da sie auf der Straße nicht nur von Augen fixiert, sondern auch von Mündern bespuckt und beschimpft werden.

Identifikationsfigur der Intersektionellen

“Eigentlich wollte ich aber sagen, egal wie dramatisch die erwähnten Grenzen auch sind, die dramatischste, abstoßendste bleibt jene unsichtbare Grenze, die amerikanische Städte teilt, Weiß von Schwarz.” Treffende Worte und tolle sprachliche Bilder machen den vorliegenden Roman zu einem Lesehighlight, der nicht nur Shakespeare’s Othello zitiert, sondern auch in die innersten Winkel einer Seele blicken lässt, die auf der Suche nach Wahrhaftigkeit sogar bereit ist, sich selbst zu opfern. “Meine Ehre, mein Verstand und meine Erfahrung sagten mir allesamt, dass Freiheit, nicht Glück, der Edelstein war.” James Baldwin lotet alle Möglichkeiten der Liebe aus und beschreibt anhand der Biographie Leo Proudhammers auch seinen eigenen Leidensweg. Als “Son of a Preacher Man” gehörte auch er zu den schwarzen Predigern, die sich nicht auf den kirchlichen Raum beschränkten, sondern auch jene miteinschlossen, die sich außerhalb in ihren eigenen Räumen versperrten. Zwischen Malcolm X und Martin Luther King oszillierend befanden sich damals viele schwarze Amerikaner, denen die Black Panther zu radikal waren. Schwarze Virilität galt damals als die Antwort auf einen sozialen Inferioritätskomplex. Vielleicht ist gerade deswegen die Lektüre von Baldwin so spannend, da er in der Zärtlichkeit des eigenen Geschlechts die Radikalität findet, die das gesellschaftliche Ganze wirklich umzuwälzen vermochte. “Schwarz, bisexuell, Künstler und glaubenslos”, zitiert Elmar Kraushaar eine zeitgenössische Spiegel-Rezension im lesenswerten Nachwort, hätten ihn zum vierfachen Außenseiter gemacht, als “Martin Luther Queen” sei er verspottet worden, aber niemand konnte seinen Stolz brechen. Heute, ein halbes Jahrhundert später ist James Baldwin längst Kult und sein Konterfei auf vielen Black Lives Matter T-Shirts zu sehen.

James Baldwin
Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort. Roman
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Miriam Mandelkow
Mit einem Nachwort von Elmar Kraushaar
2024/1965, Hardcover, 672 Seiten
ISBN : 978-3-423-28402-8
dtv
EUR 28,00 [DE] – EUR 28,80 [AT]

 

 

 


Genre: Homosexualität, Rassismus, Roman
Illustrated by dtv München

Miserere. Drei Texte

Miserere. Ihr zweiter Roman, “Die Infantin trägt den Scheitel links“, ebenfalls beim Salzburger Verlag Jung und Jung erschienen, war bei Leser:innen und Kritik beliebt und löste ob dessen Sprachgewalt Begeisterung aus. Leider ist diese kräftige Stimme Anfang dieses Jahres verstummt. Helena Adler starb viel zu früh, mit vierzig Jahren.

Das Leben in seiner ganzen Pracht

Neben “Hertz 52“, ihrem Debütroman, der 2018 erschien, veröffentlichte Adler 2022 noch ihren dritten Roman “Fretten“, der im September 2022 auf Platz 10 und im Oktober 2022 schon auf Platz eins der ORF-Bestenliste rauschte. Die hier, in “Miserere“, vorliegenden letzten drei Texte, die noch zu Lebzeiten abgeschlossenen wurden, lesen sich als eine Liebeserklärung an das Leben. Alle drei Texte sind Erstveröffentlichungen. Der erste, “Unter der Erde“, war schon im Radio zu hören, die beiden anderen, “Ein guter Lapp in Unterjoch” und “Miserere Melancholia“, entstanden in Hinblick auf eine angestrebte Teilnahme beim Bachmann-Wettbewerb. Ihre Einladung ereilte sie schließlich für letzteren Text, aber ihre Teilnahme wurde durch einen Gehirntumor, der das Reisen nach Klagenfurt unmöglich machte, vereitelt, wie Thomas Stadler in der Nachbemerkung erläutert. Der Text liest sich wie ein Dialog mit der Acedia, der Trägheit, einer der sieben Todsünden. Diese verortet die Autorin im Umfeld der Melancholie, weil sie sich selbst oft fragte, warum sie so schwermütig sei. Aber sie fand darauf auch eine gute, stimmige Antwort: “Ich bin schwermütig, weil ich das Leben hier in seiner ganzen Pracht so liebe. Mit all den Menschen, die ich liebe“.

Schwermut der Provinz

Golem, Gnom, Mistkerl, Bastard, Widerling, Giftköder, Podsol, Creep, Pest, Ekel, Abscheu, Ausgeburt, Abort…” nennt sie ihren Gesprächspartner, den sie einerseits außerhalb anderseits symbiotisch in sich selbst verortet. Am Ende von Miserere löst sich der Dämon in einem Purgatorium in Licht auf und es folgt das Paradies. Das dunkelste Schwarz, ein Vantablack, ersteht aus dem Scheiterhaufen: “Wenn wir sterben, scheitern wir am Leben. Wären wir unsterbliche, scheiterten wir am Tod“. Aber wir finden auch solch wunderbar erbauliche Zeilen wie die folgende: “Dauer ist kein Kriterium für Intensität und Nähe“. Oder: “Ich rechne mit dem Schlimmsten, um im besten Fall positiv überrascht zu werden. Im Grund nennt man das einen optimistischen Realismus. Einer liegt auf der Lauer, ein anderer ist auf der Hut“. Im ersten Text dieses Bandes geht es um Josef aus Unterjoch, ein Maurer, aber auch Hochzeitslader. “Er rührt den Mörtel an, der Bürgermeister Joch seine Schwiegertochter.” Aber Josef ist ein guter Josef, einer, der die Pferde nicht stiehlt, sondern zurückbringt. “Das weiß ganz Unterjoch, darum nennen sie ihn Lapp.” Das Wirtshaus von Unterjoch wird zum Gerichtshof, wo jeder sein Fett abbekommt. Wer sich dem nicht aussetzen will, muss eben gehen.

Helene Adler hat die Alptraumidylle der österreichischen Provinz mit viel Humor und Witz auf die Schippe genommen und zeigt auch in ihren letzten drei Texten, dass sie bleibt: als Aufforderung zur steten Veränderung, Weiterentwicklung und Auflösung dieser Sturheit, die uns alle das Leben kostet, statt es uns kosten zu lassen…

Helena Adler
Miserere. Drei Texte
2024, 72 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-99027-407-1
Verlag Jung und Jung
€ 16,-


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Jung und Jung

HR Giger: The Oeuvre Before Alien 1961–1976

HR Giger: The Oeuvre Before Alien 1961–1976. Vor zehn Jahren verstarb der Createur der Aliens-Figuren. Der Schweizer Künstler HR Giger (1940–2014) wird im vorliegenden Werk aber ob seines Frühwerkes geehrt, das zeigt, dass er schon lange vor Ridley Scotts Science-Fiction-Klassiker Alien Adaptation ein gefragter internationaler Künstler mit Tiefgang war.

HR Giger: Der “Hieronymus Bosch des 20. Jahrhunderts”

Mit seinem Phantastischen Realismus nahm er eine eigenständige Position in der Nachfolge des Surrealismus ein und etablierte sich damit in der europäischen Kunstszene der 1960er- und 1970er-Jahre. 2007 erschien vorliegende Präsentation erstmals und präsentiert HR Gigers Zeichnungen aus seinem Frühwerk, die ersten Airbrush-Bilder mit teilweise ebenso beklemmenden Environments wie später seine Aliens. Das Bündner Kunstmuseum in Chur zu dessen Anlass diese Publikation erstmals erschien zeigte damals die gleichnamige Ausstellung “The Oeuvre Before Alien 1961–1976”, mit “Schächte“, “Passagen“, “Nasszellen“, “Hautlandschaften“. Die Publikation untersucht Gigers Schaffen von den Ursprüngen her und ordnet es in eine “Kunstgeschichte des Grauens” ein. Denn natürlich gibt es selbst für einen Giger gewisse Vorläufer und Vorbilder, die ebenso beachtenswert sind: Gigers Werk tritt in den Dialog mit Arbeiten von Giovanni Battista Piranesi, Francisco de Goya, Johann Heinrich Füssli, Max Klinger oder James Ensor gezeigt. Als seine früheste Inspiration nannte der Künstler einmal die Mumie von Ta-di_isis aus Ägypten, die in seiner Kindheit im Rätschen Museum in Chur zu sehen war. Die wenigsten wissen, dass Giger bis zu seinem Tod in seinem Ruderhaus in Oerlikon und nicht in einer Villa in Los Angeles lebte und das HR seines Vornamens eigentlich für Hansruedi steht. Der “Hieronymus Bosch des 20. Jahrhunderts” erfuhr und erfährt in vorliegender Ausstellung(skatalog) endlich die Würdigung, die ihm vorschwebte, denn als er den Oskar für Visual Effekts 1980 erhielt, war er alles andere als erfreut, wünschte er sich doch vielmehr eine Anerkennung für sein Werk als Künstler denn für einen Hollywood-Film.

Vom Chur in den Kosmos des internationalen Showbiz

Giger is one of the few artists who have left the galaxy of art in order to service the needs of the twilight zone between showbiz and the underground between Gothic and Tattoo“, schrieb damals Beat Wyss, der vom Herausgeber Beat Stutzer in seiner Einleitung zitiert wird. Die interessanten Ausführungen des Herausgebers führen die fantastische Kunst u.a. auf Füssli’s Sommernachtstraum, Böcklins Krieg oder Pest und Welti’s Geizhals zurück. Im Prolog werden Reproduktionen einflussreicher Künstler und Vorläufer Gigers abgebildet. Carlos Arenas definiert “fantastischen Realismus” als vom Künstler akzeptierte Flucht und metaphorischen Ausdruck des modernen Lebens einerseits, aber andererseits als unbegrenzte Möglichkeit: “whether as puzzle, utopia, fairy tale or …nightmare“. Die Monster werden aus der Vernunft geboren (Goya) schreibt er, aber die Hölle wird in unserer Seelen lokalisiert und nicht im Afterlife. Gigers Arbeitsweise sei in Anlehnung an die Surrealisten eine “écriture automatique” mit dem Malerpinsel, denn er malte z.B. mit Airbrush oft ohne konkrete Vorstellungen, sondern ließ sein Unterbewusstsein schalten und walten. Abgebildet wird auch die Serie Atomkinder, 1963, Gigers wohl politischstes Werk. Aber auch die Skulpturen seiner Biomechanoiden, etwa das “Kofferbaby” oder “Bettler” und “Blutuhr mit Wachskopf” sind zu sehen. Fritz Billeter weist auf das Defizit der Menschheit hin, ihren Instinkt verloren zu haben und beschreibt das mit Kafkas Satz, Schreiben (oder jeder andere künstlerischer Akt) sei “das Zögern vor der Geburt“. Ein weiteres beeindruckendes Essay stammt von Kathleen Bühler. Sie schreibt über die unsterbliche Liebe zu dem Gemälde Li II (1973-74) resp. wohl Li Tobler, die Lebensgefährtin Gigers, die viel zu früh den Freitod wählte (ein Ausschnitt des Bildes befindet sich am Cover). Zwischen 1966 und 1975 hatte Giger sie immer wieder porträtiert. Dass Giger sie als ägyptische Pharaonin Nefertiti porträtierte war wohl kein Zufall, wenn wir an den Ursprung dieses Textes zurückgehen und uns an die Ausstellung im Rätischen Museum erinnern. Aber auch die Medusa blickt aus dem Gemälde, wie Bühler aufarbeitet und anhand von Beispielen erklärt.

Kindheit und Jugend eines Schweizer Künstlers von internationalem Format

Im Anhang befinden sich eine Bio- und Bibliographie sowie eine Liste der ausgestellten Werke der Ausstellung zu der dieser Katalog erschienen ist. Ein faszinierendes Werk, das auch heute noch viele andere Künstler:innen inspiriert, nicht wegen den Aliens…Wer sich noch mehr für die frühen Jahre des Hansruedi interessiert, dem sei auch die im selben Verlag erschienene Publikation “Die frühen Jahre” (gebunden,192 Seiten, 82 farbige und 153 s/w-Abbildungen, 21 x 27 cm, ISBN 978-3-03942-196-1) ans Herz gelegt, die sich Gigers Kindheit und Jugend bis 1962 widmet. Ein Familienalbum von Charly Bieler, das 2024 in einer mehrsprachigen Ausgabe (Deutsch, Englisch, Französisch) erschienen ist.

HR Giger
The Oeuvre Before Alien 1961–1976
Herausgegeben von Beat Stutzer
2024, Broschiert, 168 Seiten, 117 farbige und 17 s/w-Abbildungen, 20 x 26.5 cm, Sprache: Englisch
ISBN 978-3-03942-136-7
Scheidegger & Spiess
CHF 49.00


Genre: Kunst, Malerei, Musik und Literatur, Science-fiction, Zukunftsvision
Illustrated by Scheidegger & Spiess

Die deutschen Anarchisten von Chicago oder wie der 1. Mai entstand

1. Mai:  “Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden, was wir wollen!” Natürlich verdanken wir den 1. Mai nicht einer oder mehrerer Personen, sondern einer Bewegung. Denn die Bewegung für den Acht-Stunden-Tages war international und bestand aus Anarchisten, Sozialisten, Kommunisten und christlichen Sozialreformern. Einige davon standen in Folge der Ereignisse des 4. Mai von 1886 in Chicago vor Gericht und wurden für etwas verurteilt, das sie nicht verbrochen hatten. Die anderen bekamen seither den 1. Mai dafür.

Die sog. Haymarket-Riots und ein fatales Urteil

Auf Grundlage des Buches von Horst Karasek arbeitet Friederike Hausmann die Ereignisse von Haymarket auf. Zum ersten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten explodierte eine Bombe auf dem Haymarket in Chicago und tötete einen Polizisten sofort, sechs weitere in Folge ihrer Verletzungen. Siebzig Polizisten wurden verletzt. Für den Tod verantwortlich gemacht wurden acht Anarchisten, deren exemplarische Lebensläufe in vorliegendem Buch abgedruckt sind sowie eine Vielzahl von Flugblättern, Fotos und Manifesten, die die Lektüre zusätzlich vorantreiben. Aber keinem von ihnen konnte wirklich anhand von Beweisen der Prozess gemacht werden, was dazu führte, dass nicht ihnen, sondern einer ganzen Bewegung der Prozess gemacht werden sollte, wie auch die Verteidigungsrede von August Spies, einem der Angeklagten, die ebenfalls hier abgedruckt ist, hervorarbeitet. Geschildert wird aber auch das soziale Milieu im Chicago der 18Achtziger Jahre (Stichwort: “Porkopolis“), wie sich unterschiedliche Ethnien trotz gleicher Diskriminierungen auch gegenseitig und untereinander bekämpften und später in die Bedeutungslosigkeit abspalteten. Etwa katholische Iren und protestantische Deutsche, die sich über die Auslegung der Sonntagsheiligkeit stritten: die einen wollten beten, die anderen lieber trinken.

Die Hierarchie der Verachtung untereinander

Die New York Times hatte damals eine beeindruckende Liste von Charakterisierungen für Streikende zusammengestellt. Die “Hierarchie der Verachtung” ließ auf die jeweils anderen Ethnien aber auch auf “roughs, hoodloms, rioters, mob, thieves, blacklegs, looters, rabble, labor-reform agitators, tramps, gangs, bummers, ruffians, loafers, bullies, vagabonds, brigands, robbers, riffraff, felons, idiots” herabblicken – hier wurden nur die vornehmsten aus der genannten Liste zitiert. Dabei taten die Streikenden ja nichts anderes als für 50 Cent mehr Lohn oder den Acht-Stunden-Tag zu “bummeln”. Aber die andere Seite des Klassenkampfes hatte sich schon im Vorfeld des 4.Mai 1886 schwer bewaffnet, während dem “armen Mann” nur mehr das Dynamit blieb. So standen sich zum Beispiel beim 1877er Eisenbahnstreik die Citizen Association mit 3 x 500 Mann, die Polizei mit mehreren Tausend, einige Kavallerieschwadrone, also die gesamte “gesetzmäßige Autorität” einem proletarischen Lehr- und Wehrverein von gerade einmal 1000 Mann gegenüber. Zudem verfügten erstere über die sog. Gatling Gun, den Vorläufer des Maschinengewehrs. “Aus der desillusionierenden Distanz des ausgehenden 20. Jahrhunderts wirkt der unerschütterliche Optimismus und die romantische Revolutionsbegeisterung geradezu naiv”, schreibt Hausmann/Karasek, “mit der die Chicagoer Sozialisten, alle großen Umwälzungen des Jahrhunderts für sich reklamierten”.

Der 1.Mai: Kampftag der internationalen Arbeiterschaft

Der Acht-Stunden-Tag wurde als Teil des New Deal von Franklin D. Roosevelt 1938 schließlich zum Gesetz. Der 1. Mai wird seit 1889 als Internationaler Kampftag der Arbeiter gefeiert. In den USA allerdings erst am Labor Day im September, wohl um gänzlich alle Erinnerungen an den Justizirrtum des 4. Mai 1886 zu tilgen. Denn die noch lebenden Verurteilten wurden sechs Jahr nach Urteillsspruch freigelassen und alle acht 1893 rehabilitiert. Sie waren unschuldig. Die Haymarket-Urteile gelten auch heute noch als Beispiel von Klassenjustiz wie auch die Urteile gegen Sacco und Vanzetti 1927.

Friederike Hausmann
Die deutschen Anarchisten von Chicago oder wie der 1. Mai entstand
WAT [862]
2023, 208 Seiten. Broschiert. Mit vielen Abbildungen.
ISBN 978-3-8031-2862-1
Wagenbach Verlag
15,– €


Genre: Anarchismus, Geschichte
Illustrated by Wagenbach

Die Doppelte Frau und das Rätsel Betty Steinhart

Die Doppelte Frau und das Rätsel Betty Steinhart. “Ach, das ist so lange her. Ich weiß es nicht mehr.” Das Foto-Atelier Carl Ellinger hat die harten Zeiten des Ersten Weltkriegs überlebt und reüssiert zum Porträtstudio der neu erstehenden Salzburger Festspiele. Seit den 20er Jahren der Inbegriff österreichischer Wesensart und Kultur sind die Festspiele mit ihren Stars zahlkräftige Kundschaft im Atelier. Aber wer machte eigentlich die Fotoporträts? Beate Thalberg weiß es!

Roman mit realer Vorlage

Regisseurin Beate Thalberg hatte sich schon im österreichischen Rundfunk ORF mit Betty Steinhart, der „Geschäftsfrau in Männertarnung“, erzählt von ihrer Enkelin und als Doku-Fiction-Serie beschäftigt. Die berühmten Fotografien seit dem Beginn der Salzburger Festspiele, die mit dem Namen Carl Ellinger signiert sind, wurden aber vielleicht von einer Frau gemacht: Betty Steinhart. Max Reinhardt, Sigmund Freud, Marlene Dietrich, alle will Ellinger vor der Linse gehabt haben, aber es war Steinhart. Viele der historischen Fotoaufnahmen von den Anfangszeiten der Salzburger Festspiele zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind signiert mit dem Namen Carl Ellinger. In der Schwarzstraße hatte der Fotograf sein Atelier. Doch Ellinger war bereits seit 1916 – im Ersten Weltkrieg – verschwunden. Betty Steinhart führte mit gerade einmal 24 Jahren das Geschäft unter seinem Namen weiter, während Ellinger im Krieg war. Als Frau hätte sie in dieser Branche wahrscheinlich keine Chance gehabt und so musste sie so tun, als ob alles so wäre wie gehabt.

Ein Noir aus der Festspielstadt Salzburg

Betty Steinhart führte das Geschäft 59 Jahre lang, später auch gemeinsam mit ihrer Tochter Ruth. Stets arbeiteten sie unter dem Namen Ellinger. Die vorliegende Noir Geschichte als Roman baut auf den tatsächlichen Ereignissen um Betty Steinhart auf und machte die Festspielstadt zu einem Schauplatz à la Der Dritte Mann. Die Szenerie und Atmosphäre und das Setting halten sich streng an die Formalien des Crime Noir oder auch Film Noir, einem besonders geglückten Genre in der Krimiwelt, die sich vor allem durch verzweifelte Männer und starke Frauen (Femmes fatales) charakterisieren lässt. Die Aussichtslosigkeit allen menschlichen Strebens nach dem Ende zweier Weltenbrände, die Ohnmacht gegenüber den Institutionen des Staates und die Verlorenheit in einer zerstörten Welt machten das Genre berühmt. Aber nun kommt eine weibliche Version, die von Beate Thalberg erzählt und von Lily Ammann illustriert wurde. Ein viel hoffnungsvollere Interpretation einer Epoche, die zwar das Leben der Männer für immer erschütterte, das Leben der Frauen aber durchaus bereicherte und in ihrer Rolle bestärkte.

Gelüftet: Ein jahrzehntelanges Geheimnis

Eine mysteriöse, verdächtig selbstbewusste Frau, ein Detektiv mit Vergangenheit und ein Zug voller Nazi-Gold stehen im Mittelpunkt der Romanadaption der Mini-Serie und Doku. Der vorliegende Krimi-Noir entfaltet vor der Kulisse der Festspielstadt eine rasante Story, die eine dunkle Welt zeigt, allerdings mit Licht am Ende des Tunnels. Geschickt wird Fiktion und Realität zu einer Geschichte verwoben, die die Salzburger Festspiele einmal von einer ganz anderen Seite zeigen. Betty Steinharts Geschichte blieb lange unbekannt, sie war auch von den Nazis inhaftiert worden. Das Geheimnis um ihre Fotografien stellt Beate Thalberg nun in den Mittelpunkt dieses reich illustrierten Krimi-Noirs im Stil des „Dritten Manns“. Im Anhang befinden sich neben dem üblichen Bild- und Quellenregister, einem Zitatenschatz auch Fotografien von Betty Steinhart. Die Illustration im Graphic Novel Stil von Lily Ammann sind ebenso bemerkenswert wie die Geschichte und Person der Betty Steinhart selbst.

Raus der Enge des Ateliers!

Dass das Werk und die Urheberschaft viele Fotografien des Ateliers Ellinger nach so vielen Jahren endlich ans Licht kommen ist ein großes Verdienst der Regisseurin Thalberg. Das eingangs erwähnte Zitat wird auch im Buch verwendet und stammt aus “Casablanca“, so wie einige andere Zitate, deren Quelle im Anhang erläutert wird. Zudem ergänzt auch ein Lebenslauf der Betty Steinhart aka Steinhardt aka Hvizdalek aka Platter das Leben der Pionierin, die auch vielen nachfolgenden Generationen von Frauen zeigte, dass sie es nicht nur genauso sondern sogar besser als die Männer können. Denn ihre Fotografien zeigen einen neuen, unmittelbaren Stil, künstlerischen Mut, das Spiel mit Licht und Bewegung sowie ein “Raus aus der formalen Enge des Ateliers“, so die Autorin treffend. Raus aus der formalen Enge des Ateliers und hin zum Menschen.

Beate Thalberg
Die Doppelte Frau und das Rätsel Betty Steinhart
2024, Hardcover mit SU, 13,5 x 19 cm; 192 Seiten
ISBN 978-3-222-15121-7
Molden Verlag
€ 26,00


Genre: Crime noir, Film Noir, Frauenbild, Geschichte, Krimi, Noir, Weltkrieg
Illustrated by Molden

Voyage, Voyage. Eine Reise durch die französische Popmusik

Voyage, Voyage. Sommerlektüre für den Sommer 2024: voyage, voyage. Der Kulturjournalist und Buchautor André Boße widmet sich darin auf mehr als 300 Seiten der französischen Pop- und Rockmusik. Von den Hits der Yéyé-Jahre über French Pop und Nouvelle Chanson bis hin zu Rock, Electro, Hip-Hop, und Raï. Mit dabei sind u.a. Jane Birkin, Jacques Dutronc, Mylène Farmer, Serge Gainsbourg, Françoise Hardy, MC Solaar, Vanessa Paradis, Zaz und viele andere mehr.

Voyage, Voyage: Nicht nur Chanson(s)

Der Musiktitel auf den der Buchtitel anspielt stammt von “Desireless”, zweifellos einer der beliebtesten französischen Popsongs in Deutschland, wie Boße anmerkt. Es geht darin um nichts anderes als eine Reise, eine Reise zu sich selbst. Ganz so wie der Autor auch in seine eigene Vergangenheit abtaucht, denn damals, als der Hit rauskam, war er gerade 13 und – natürlich – im Frankreich-Urlaub. “Das Herz von `voyage, voyage´ schlägt in Moll“, schreibt er und trifft damit den Punkt, was genau die französische Popmusik so speziell macht: die Melancholie. Fishbac, eine Sängerin dieser Szene drückte es in einem Interview mit dem Autor einmal so aus: “Die Melancholie ist ein bestimmendes Moment unserer kulturellen Identität, das zeige sich auch im französischen Kino und in der Literatur. Während im deutschen Schlager der Trost und bei den Songs des `Great American Songbook´ Träume vermittelt werden.” Einer der herausragendsten Vertreter des Genres ist zweifellos Serge Gainsbourg, sozusagen der Gran Maestro des französischen Pops, auf den sich einige Jahrzehnte auch der Rapper MC Solaar bezog: “Il était une fois dans l’Ouest encore sauvage/Un peintre armé de lettres, un vrai tueur-à-gage…“. Von Pop zu HipHop, Rai, Folk, Chanson, Pop, Rock und Punk reicht auch das Repertoire der vorliegenden Monographie zur Musik des liebsten deutschen Nachbarlandes, Frankreich. Natürlich stehen diese Musikrichtungen nicht ausschließlich für Melancholie, sondern im Gegenteil, auch für sehr viel gute Laune, Sonne, Strand und Meer. Nicht zuletzt wegen des “savoir vivre” wird Frankreich ja auch weltweit so bewundert.

Schmelztiegelsound der Vororte und mehr

Unvergesslich sind natürlich auch die Beiträge von Vladimir Cosma. Mit der Filmmusik zu “Alexandre, der Lebenskünstler” reüssiert er, um dann mit “La Boum – die Fete” durchzustarten und: abzuheben. Die beiden Lieder der ersten zwei Teile werden zu echten Gassenhauern und ohne sie hätte es wohl auch keine La Boum Génération gegeben, wie Boße betont. Immerhin 27 Millionen mal haben sich “Reality” und “Your Eyes” verkauft, allerdings – möchte man bemerken – wohl vor allem darum, weil sie auf englisch und nicht auf französisch gesungen werden. Die Geschichte der deutschen Singlecharts spricht dafür eine andere Sprache. Drei Lieder schafften es dort auf Platz eins: das bereits erwähnte titelgebende “Voyage, Voyage“, “Alors en danse” von Stromae und “Ella, elle l’a” von France Gall. Wer es lieber düsterer hat, wird sich bei Alain Bashung (“Novize”) oder Arno wohlfühlen, dem französischen Tom Waits. Sehr lebensbejahend und freundlich sind auch Les Negresses Vertes oder Les Rita Mitsouko, vor allem aber der Senkrechtstarter Manu Chao. Der Sänger von Mano Negra/Manu Chao wurde 1961 in Paris geboren. Der Sohn eines Intellektuellen, der vor dem Franco-Regime in Spanien nach Frankreich geflüchtet war, singt in “Patchanka”, dem Schmelztiegelsound der Vororte, also auf Französisch, Englisch, Spanisch. Eines der Schlusskapitel widmet sich auch den elektronischen Popphänomenen Daft Punk und Air. Mit “The Virgin Suicides” einem Soundtrack zu einem Coppola Film sei Air genau das gelungen, was die Kernkompetenenzen der französischen Musikkultur enthalte: “die verträumte, verschwommene Schwermut, in der trotz aller Traurigkeit auch ein wenig Hoffnung mitschwingt. Und sei es die Hoffnung auf den Tod“. Womit wir wieder bei der Melancholie wären, die offensichtlich ebenso zum Savoir Vivre gehört wie Sonne, Strand und Meer…

Boße, André:
Voyage, Voyage. Eine Reise durch die französische Popmusik
Originalausgabe
Klappenbroschur. Format 12,5 × 20,5 cm
2024, 352 S. · 27 Abb.
ISBN: 978-3-15-011468-1
Reclam Verlag
20,00 €


Genre: Biographie, Frankreich, Kunst, Monographie, Musik und Literatur, Popkultur
Illustrated by Reclam Verlag

Nirvana. 100 Seiten.

Nirvana. 100 Seiten

Nirvana. 100 Seiten

Nirvana. 100 Seiten. Am 8. April 1994 wurde die Leiche von Kurt Cobain in seinem Haus gefunden. Sein Todesdatum wurde auf 5. April vordatiert. Er hatte sich mit seiner Browning-Auto-5-Selbstladeflinte in den Mund geschossen. Im Abschiedsbrief zitierte er Neil Young: “It’s better to burn out than to fade away.”

Nirvana: Smells like …deodorant

Auch drei Dekaden nach dem Ende von Nirvana werden ihre Songs fleißig zitiert. Zuletzt etwa “Something in the Way” in The Batman (2022), “Rape Me” in der Erfolgsserie Succession (2018-2023) oder “Come as you are” in Captain Marvel (2019) und nochmals “Something in the Way” in der Serie Yellowjackets (2021ff). Der Leadsänger, der Sohn eines Automechanikers und einer Kellnerin, wuchs in Aberdeen, Washington, einem Kaff mit 20.000 Einwohnern auf, das hauptsächlich von der Holzwirtschaft lebte. Die Autorin beschreibt aber nicht nur den Hintergrund des Leadsängers und Texters von Nirvana, sondern auch jenes der anderen Mitglieder, denn wie sie betont, ist ihre Biographie eine der Band und nicht allein die des Sängers. Außerdem gibt es eigene Features zu den vier wichtigsten Alben von Nirvana, Fotos und nicht zuletzt eine Graphik, die zeigt, wie einflußreich Frauen für die Grunge-Band der Neunziger waren.

30 Jahre Todestag: Nirvana. 100 Seiten

Autorin Caldart unterstellt wiederum Kurt Cobain eine gewisse “Geschlechtsdysphorie”, die ihn auch zur Identifikationsfigur der späteren Queer-Bewegung macht.Immerhin trug er auch Frauenkleider, schminkte sich oder lackierte sich die Fingernägel. Das hatten – mit Verlaub – allerdings schon ein Mick Jagger oder David Bowie in den Siebzigern gemacht. In jedem Fall richtete sich Kurt’s Bestreben gegen den klassischen Rockdudemacho, der sich für ihn z.B. in Axl Rose verkörperte, worauf auch der Disput der beiden gründete. Vor allem das Verhalten von Rocktstars gegenüber Frauen störte Cobain. Böse Zungen behaupten zwar, dass er unter dem Pantoffel von Courtney Love, der Sängerin von Hole, stand, andere wiederum das Gegenteil. Verbürgt ist jedenfalls, dass Nirvana’s größter Hit einer Frau zu verdanken ist: Tobi Vail (Bikini Kill), die damals ein Deo namens “Teen Spirit” verwendete.

Grunge: zwischen Punk und Metal

Am 11. Januar 1992 geschah schließlich das Unmögliche. Das Album Nevermind verdrängte Michael Jacksons “Dangerous” von Platz eins er Billboard-Charts. Das war noch keiner Rockband gelungen, schon gar nicht einer, die in zerschlissenen Jeans und Holzfällhemden auftrat und sich um Konventionen wenig schiss. Dass “Smells like Teen Spirit” auf einem Riff von Bostons “More than a Feeling” beruhte, zeigte nur auf welchen Größen auch eine Band wie Nirvana aufbaute. Beim Reading Auftritt 1992 machten sie sich daraus einen Spaß und verarschten sich selbst mit einer gelungenen Persiflage. Auch das ist in Caldarts Biographie nachzulesen, die die Band zwar nie LIVE gesehen hat, dafür aber ein lebendiges Bild der Grunge-Ikonen in ihrer Reclam 100 Seiten Biographie auferstehen lässt. Nirvana waren so viel mehr als nur eine Band, denn sie veränderten nicht nur das Rockbusiness, sondern auch das Leben von Millionen von Jugendlichen. Umso fataler war wohl die Botschaft, die Kurt Cobain am 5. April 1994 aussandte: “It’s better to burn out than to fade away.

Man sollte sich seine Vorbilder eben mit sehr viel Bedacht aussuchen. Mir gefiel ein Zitat aus seiner eigenen Feder viel besser: “Youth has to challenge things“. Und dafür stand auch Grunge: ein Lebensgefühl zwischen Punk und Metal, between a rock and a hard place…

Caldart, Isabella
Nirvana. 100 Seiten
2024, broschiert. Format 11,4 × 17 cm, 100 S., 13 Abb. und Infografiken
ISBN: 978-3-15-020711-6
Reclam Verlag
12,00 €


Genre: Biographie, Rock
Illustrated by Reclam Verlag