Eva schläft

Eva schläft. “Vielleicht ist es eines Tages gar nicht mehr so schlimm, ein Kind zu haben und unverheiratet zu sein”, hofft Gerda. Der Romanerstling “Eva schläft” der in Rom geborenen Autorin Francesca Melandri beschäftigt sich mit den sog. “Südtiroler Bummsern”, also den Separatisten, die in den Siebzigern Südtirol aus Italien zurück in ihr “Heimatland” Österreich bomben wollten. Aber auch eine Vater-Tochter Geschichte wird erzählt, die einmal mehr die Spannung zwischen dem Norden und dem Süden des Landes verdeutlicht. 1397 km trennen Vito und Eva.

Südtirols Befreiungskampf

Eva ist die Tochter von Gerda Huber und Vito. Nur, dass Eva ihren Vater gar nicht kennt. Sie macht sich auf die Suche nach ihm, reist nach Kalabrien und dazwischen wird in Rückblenden die Geschichte ihrer Mutter und der Provinz Alto Adige erzählt, die vor allem durch das weise Handeln von Silvius Magnago nach etlichen Konflikten zu einer gewissen Autonomie der Region führte. Die “Option” war eine zwischen Mussolini und Hitler ausgearbeitete Lösung, die die Südtiroler “heim ins Reich” holen sollte und Südtirol italianisieren sollte. Aus diesem Grund wurden auch aus dem Süden Italiens Menschen in den Norden umgesiedelt. Aber die, die blieben, ignorierte man, “man tat einfach so, als gäbe es sie überhaupt nicht”, Italienisch wurde zur Pflicht.

Die Suche nach einem (Landes-)Vater

Aus der “Los von Trient” Bewegung der Nachkriegszeit wurde bald eine “Los von Rom!” Bewegung, aber das gelang dann doch nicht ganz. Als Südtiroler war man ein Mensch zweiter Klasse im eigenen Land, die Behörden sprachen kein Deutsch, und als Südtirolerin wurde man zudem noch als “Matratze” diffamiert, besonders wenn man im Hotelgewerbe arbeitete. Die Männer schufteten in den Kalkwerken der Dolomiten und ruinierten sich ihre Gesundheit. Diejenigen die sich dagegen wehrten, wurden gefoltert, das kannte auch Silvius Magnago. “Dieser Mann war nicht nur ein erstklassiger Jurist, sondern ein echter Intellektueller“, schreibt Melandri. “Und vor allem war er jemand, dem, so erschöpft und zerstreut er sein mochte, nie ein Gemeinplatz über die Lippen kam“.

Duft von Stube und Heuboden

Si accusi bella ca si faciss’ nu pireto m’o zucass“, heißt ein sizilianisches Sprichwort, das Francesca Melandri dem Leser:in gerne ein paar Zeilen weiter übersetzt. Allein dafür lohnt es sich schon, diesen Romanerstling der Romanautorin zu lesen, die zuletzt mit einem sehr engagierten Essay, “Kalte Füße“, ebenfalls bei Wagenbach erschienen, auf sich aufmerksam machte. Sie erzählt vom Verbot der Mischehen, das bis 1971 bestand, den Grundfähigkeiten eines leidenschaftlichen Briefmarkensammlers und vom Duft von Stube und Heuboden, der aus einer handgeschnitzten Holzkiste strömt. Jedem Abschied wohnt ein Zauber inne, aber noch mehr dem Wiedersehen.

Eine Umarmung der Vergebung

Über 1397 km hinweg zelebriert sie das Wiedersehen zwischen Tochter und Vater, zwischen Eva und Vito, das durch ihr Mutter 30 Jahre lang hinausgezögert wurde. “Es ist ihre Schuld. Es ist alles ihre Schuld. Alles, aber wirklich alles ist ihre Schuld“. Aber wieviel Gnade und Wonne liegt im Vergeben und verzeihen: “Und jetzt umarme ich meine Mutter, denn nichts und niemand kann uns für das entschädigen, was wir verloren haben. (…) sich wieder umarmen zu können und nicht mehr länger und sei es nur für einen Augenblick, das große Glück zu vergessen, zu leben und zusammen sein zu dürfen.

Eine Roman zwischen Nord und Süd, zwischen Südtirol und Kalabrien. Die Streitbeilegungserklärung vom Juni 1992 zwischen Österreich und Italien und dem Schengener Abkommen von 1998, nach dem alle Schlagbäume am Brenner entfernt wurden, waren Ergebnisse eines langen Kampfes, den Melandri in bunten, duftenden Eindrücken voller poetischer Wendungen und sinnlichen Einwerfungen wie ihr eigenes Schicksal schildert. Wollen wir dieses vereinte Europa wirklich verlieren?

Francesca Melandri
Eva schläft. Roman
Aus dem Italienischen von Bruno Genzler
2025/2010, 440 Seiten, broschiert
ISBN 978-3-8031-2805-8
Wagenbach Verlag
16,– €


Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Wut und Liebe

Der neue Suter: Wut und Liebe

Wut und Liebe. Camilla ist 31 und Buchhalterin. Sie füttert ihren Freund Noah, einen Maler, durch und hofft auf bessere Zeiten. Doch dann will sie plötzlich mehr vom Leben. Ihre allerbeste Freundin Liz macht es ihr vor, sie leitet ein Unternehmen. Auch Camilla will einen sicheren Lebensabend und verabschiedet sich von Noah und der Liebe und wählt die Sicherheit eines reichen Mannes.

In der Liebe und im Krieg: Alles erlaubt

Doch dann kommt alles anders in diesem temporeichen Roman voller Plot Twists. Nichts ist so wie man es erwartet und alles voller Täuschungen. In der Blauen Tulpe lernt der enttäuschte Noah eine ältere Dame kennen, wie ihn auf eine verhängnisvolle Idee bringt. Wenn er reich wäre, würde Camilla ei ihm bleiben, also muss er so schnell wie möglich reich werden. Am schnellsten wird man wohl reich, wenn man jemanden anderen um seinen Reichtum bringt, oder…? Richtig! Durch einen Auftragsmord. Betty Haller, seine neue Bekannte, kennt da einen gewissen Zaugg, dem sie einiges nachträgt. Er wäre ein willkommenes Opfer. Zaugg & Partner zudem eine Firma, die sich mit schmutziger Geldwäsche befasst, also auch ethisch-moralisch vertretbar. Aber umbringen? “Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, mein Leben zu ändern“, sagt die über 60-jährige herzkranke Betty. Aber Noah? Der ist gerade einmal halb so alt wie sie und hat noch alles vor sich.

Keine Liebe ohne Lüge

In der Liebe ist das Ziel die Niederlage, die Selbstaufgabe. Auf beiden Seiten. Nicht die Eroberung“, belehrt Katy ihren Kurzzeitgefährten Noah, denn auch bei ihr findet der Künstler kurzfristig seinen Trost. “Bleib der du bist“, rät sie ihm, dann verliere er sie zwar als Frau, aber gewinne ihren Respekt, lautet ihre Lösung für den Konflikt mit Camilla. Guter Rat ist eben teuer, wenn es um die Liebe geht. Er trifft wieder Betty in der Blauen Tulpe und sie ist weise: “Ihr habt euch beide etwas vorgemacht. Das ist normal in der Liebe. Nicht schön, aber normal. Man will gut dastehen voreinander. In der Liebe ist die Lüge ein Liebesbeweis. Die Wahrheit ist für die vorbehelten, dein einem egal sind.” Ob Camilla vielleicht doch wieder zu Noah zurückkehren wird?

“Gegen Wut hilft Liebe”

Einen Einblick in die Absurditäten der Kunstwelt und die Welt der oberen 10.000 bietet dieser Roman des 1948 in Zürich geborenen Schriftstellers Martin Suter. Gekonnt spielt der Autor mit den Verästelungen der Liebe und zeigt, dass es die wahre Liebe wider Erwarten doch noch gibt. Das Motiv des Doppellebens, eine Vorstellung von weißen Männern aus den 70iger Jahren, verwendet Suter für eine rührende Geschichte aus dem Milieu der Mittelklasse, dessen größtes Dilemma darin besteht, zu viel zum Sterben aber zu wenig zum Leben zu besitzen. Seine beiden Protagonisten, Camilla und Noah, wollen beide nach oben, sie wollen dazugehören und auch ein besseres Leben führen. Das verbindet die beiden, auch wenn sie unterschiedliche Wege wählen, ihre Ziele zu verwirklichen. Aber dass das alles gar nicht so einfach ist und die vermeintlich Erfolgreichen ebenso ihre Problem haben, müssen sie eben an eigener Haut spüren, bevor sie sich eines besseren besinnen und wieder zur Vernunft kommen. Das gelingt allen am besten mit dem Unvernünftigsten, das es gibt: der Liebe. Notfalls kann sie einem sogar den erwünschten Reichtum ersetzen. Auch wenn man mit ihr die Miete nicht bezahlen kann: warm bleibt es trotzdem.

Martin Suters Romane (darunter ›Melody‹ und ›Der letzte Weynfeldt‹) und die ›Business-Class‹-Geschichten sind auch international große Erfolge. Seit 2011 löst außerdem der Gentleman-Gauner Allmen in einer eigenen Krimiserie seine Fälle, derzeit liegen sieben Bände vor. Er lebt mit seiner Tochter in Zürich.

Martin Suter
Wut und Liebe
Roman
2025, Hardcover Leinen, 304 Seiten
ISBN: 978-3-257-07333-1
Diogenes Verlag
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80

 


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Ralph Gibson. Photographs 1960–2024

Ralph Gibson. Eine Werkschau über sechs Jahrzehnte des in L.A. aufgewachsenen “Marines”-Fotografen Ralph Gibson bietet der vorliegende Fotoband des TASCHEN Verlages. Es entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler selbst und ist das Ergebnis von mehr als sechs Jahrzehnten des Bildermachens. Von Gibsons ersten Fotografien in San Francisco, Hollywood und New York in den 1960er-Jahren bis hin zur Gegenwart: die bisher umfassendste Sammlung eines Fotografen, der noch bei Dorothea Lange und Robert Frank sein Handwerk gelernt hatte.

Schule des Sehens in New York

In New York eröffnete Gibson schon bald sein eigenes Atelier. Später erhielt er Stipendien des NEA und der Guggenheim-Stiftung und wurde 2002 von der französischen Regierung zum Commandeur de l’Ordre des Arts et des Lettres ernannt. “Es ist weder gut noch schlecht, kultiviert zu sein, aber L.A. fand ich nun einmal ein wenig zu primitiv”, schreibt er über seinen Neubeginn 1967 an der Ostküste, in New York. Er quartierte sich gleich im berühmt-berüchtigten Chelsea-Hotel ein und blieb dort die ersten drei Jahre seines New Yorker Lebens. Im Max’s Kansas City sah er die Celebrities, aber seine Motive fand er mit dem Bus, mit dem er uptown und downtown fuhr. Denn Ralph Gibson wollte von Anfang an das wahre Leben zeigen, Menschen, Situationen, Akte, Porträts, Stillleben. Er schlief tagsüber und arbeitete nachts, atonale Musik, konkrete Poesie und Nouveau Romane zogen ihn an und seine Bilder hatten einen “surrealistischen Beigeschmack”, wie er selbst schreibt oder wie man neudeutsch bei uns sagen würde: Touch. Mit der Zeit wurde ihm klar, schreibt er, dass er einen Traumzustand fotografiert hatte. “The Somnambulist”, sein erstes Fotobuch entstand im Chelsea Hotel, nach drei harten Jahren des Kampfes hatte er es geschafft. Obwohl das Fotobuch nur 48 Seiten hatte machte es ihn schnell in Fotografenkreisen bekannt und es kam erstmals richtig Geld ins Haus. Damit finanzierte er sich seine ersten Reisen nach Europa. “Die kulturelle Tiefe dieser alten Länder schien jemandem, der in Los Angeles geboren wurde, so viel Stoff zu bieten.”

Von New York in die Welt

Der Rücken eines Pferdes, ein Mann, der sich in einen Baum hineinschneuzt oder Nebel- und Wasserschwaden finden sich auf seiner aus den 70igern stammenden Serie “Déjà vu”. Ein weiblicher Aktausschnitt vor einem Wolkenhimmel zeigt er in Spanien am Strand. “Days at Zea” spielt mit Formen, Händen und Steinformationen, aber auch nackter Haut. “Infanta” nennt sich das Kapitel, das mit Schatangetan zu haben, währen in “L’histoire de France” wieder mehr der Surrealismus dominiert. Die Liebe zur Frankreich sei fast schon eine uralte amerikanische Tradition, schreibt er bezugnend m Goldfisch in einem Wasserglas gewidmet. “Chiaroscuro”, eigentlich eine alte Technik, nennt sich ein Ausschnitt seines fotografischen Werks aus den Jahren 1972-1998, die ebenfalls Bilder zeigen, die in Europa gemacht wurden. “Quadrants” nimmt Bezug auf das Format einer Fotoserie, die er für eine Ausstellung in New York konzipierte.

Gotham Chronicles, eine Anspielung auf New York natürlich, will das Königreich des Oberflächlichen und das kulturelle Zentrum der Zivilisation des des Abendlandes gegenüberstellen. Beides stellt für Gibson Gotham dar, eine mittelalterliche Stadt, wo weise Männer sich als Narren ausgaben, um die Steuer zu umgehen. “Haiku”, “In Situ”, “Pharaonic Light” entführen uns nach Japan, Ägypten, Brasilien und Dakar und Korea. Am Ende findet sich auch ein Résumé sowie weitere Tipps zu Büchern von Ralph Gibson, die u.a. auch beim TASCHEN Verlag erschienen sind. Ralph Gibson hat seinen Fotografien kurze Texte beigefügt und stellt sich den Dingen, lichtet sie auf eine fast meditative Weise ab, wie es nur die Stille eines Bildes mag wiederzugeben. Weitere Werke von Ralph Gibson finden Sie hier!

Ralph Gibson. Photographs 1960–2024
Ausgabe: Mehrsprachig (Deutsch, Englisch, Französisch)
2025, Hardcover, 21 x 27.5 cm, 2.65 kg, 552 Seiten
ISBN 978-3-7544-0268-9
TASCHEN Verlag
€ 60

 


Genre: Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Eigentum

Eigentum. “Bist bes auf mi, Mutti?” Neu erschienen als Taschenbuch ist auch der (vor-)letzte Roman des Sprachkünstlers Wolf Haas. Der Erfinder der “Brenner”-Krimireihe fischt dieses Mal in ganz anderen Gewässern. Genauer gesagt in fremden “Lechn“, hochdeutsch: Lehen. Denn immer strebt der Mensch nach Besitz, nach Eigentum und selbst wenn es dann nur 1,7 m2 werden, ist zumindest etwas zum Vererben da.

Lehen und Leute

Teilweise im Dialekt seiner Mutter (der Autor ist in Maria Alm am Steinernen Meer geboren) verfasst, dann wieder umgangssprachlich, österreichisch, sogar hochdeutsch bereitet Wolf Haas Leserinnen und Lesern wieder eine ganz besondere Lektüre. Zwei Tage vor dem Tod seiner Mutter, will er noch das Wichtigste aufschreiben, aber was ist angesichts des Todes noch wichtig? Der Autor tut es in gebohnert Manier: mit viel Humor und witzigen Wendungen, Sprachakrobatik und viel Kunstfertigkeit. “Ich will das hinschreiben, solange sie noch lebt, danach möchte ich mich nicht mehr damit beschäftigen“, schreibt er, “(…)dann machte ich diese verdammten Geschichten auch endlich begraben, was geht es mich an, dass ein Mensch, den ich gekannt habe, sein kleines Lechn immer wieder gegen ein größeres Lehn getauscht hat.” Die ironische Verkürzung des Lebens seiner Verwandten am Land auf “Geschichten” ist natürlich nur eine Schmerzvermeidungsstrategie. Aber anders als der eingangs zitierte Liedtext vermuten lässt, war seine Mutter gar nicht böse und schon gar nicht böse auf ihn, den Wolf. Sie war böse auf die Leute. “La gente“, wie der Sohnemann beflissen hinzufügt. Denn eigentlich hätte sie sich gar nicht vor denen jahrzehntelang verstecken müssen. Im Dorf war ohnehin nur mehr am Friedhof was los. Dort begleitet er sie nun hin und verabschiedet sich von ihr.

Lass weg, Haas!

Seine Mutter hatte viele Jobs, als Servierkraft zum Beispiel. Oder bei der Briefzensur während des Krieges. Dann hat sie nach dem Krieg auch in der Schweiz gearbeitet. Acht Jahre. Aber das Geld, das sie nach Hause schickte wurde in ein Haus investiert, das sie dann nicht mehr bewohnen durfte. Ihr Vater starb 1956, der älteste Sohn 1957. Als sie Jahrzehnte später von der Raika aus ihrem Haus vertrieben wird, mit 89 Jahren, wird das Haus aber gar nicht abgerissen, sondern in ein Hotel integriert. Die geplante Poetikvorlesung muss der Autor dann aber doch absagen, als seine Mutter wirklich stirbt, in dem Haus, in dem sie ihre Kinder geboren hatte. Haas findet nur lakonische Worte, als er am Friedhof ein Grab für sie bestellt. “Unsere Mutter, die ihr Leben lang auf den ersten Quadratmeter hingespart hatte, sollte ihr schlussendlich 1,7 Quadratmeter angewachsenes Grundstück voll ausnützen. Die 1,7 Quadratmeter in bester Lage stand ihr zu, platzsparende Konzepte sollten andere umsetzten.” Nachdem sie ihren Traum, ein eigenes Grundstück zu erwerben, nicht verwirklichen konnte, hatte etwas von ihr Besitz ergriffen, schreibt ihr Sohn: “Niedergeschlagenheit“. Sie besaß nichts, aber sie war ein bißchen besessen, meint er, denn sie konnte eigentlich alles, nur nicht mit den Leuten. La gente. Die Hochzeiten und Taufen werden weniger und man sieht die Verwandtschaft schließlich nur mehr bei Begräbnissen, moniert der Sohn, das Gemeinsame der drei Ereignisse seien selbstverständlich die Tränen.

Wolf Haas
Eigentum
2025, Taschenbuch, Klappenbroschur, 160 Seiten, 12,5×18,7cm
ISBN: 978-3-328-11156-6
Pinguin Verlag
€ 14,00


Genre: Roman
Illustrated by Penguin

65 Karten über Kacke

Der Herausgeber Goldeimer ist ein gemeinnütziges Unternehmen aus Hamburg, das sich für den weltweiten Zugang zu Klos und für eine nachhaltige Sanitärwende einsetzt. In vorliegender Publikation werden Fakten auf den Tisch gelegt, die mit einschlägigen Grafiken, Karten und Bildern drastisch veranschaulichen auf welchem Holzweg sich unsere Zivilisation schon lange befindet. In 65 Karten über Kacke geht es nicht nur um die Wurst, sondern auch um lukrative Geschäfte, um Fäkalsprache im Bundestag und um gefrorenen Kot auf dem Mount Everest.

Kacke: Diktatur oder Demokratie?

Der Rohstoff Phosphor spielt bei der Welternährung eine wesentliche Rolle. Nur dumm, dass hauptsächlich Diktaturen über die größten Phosphorreserven der Welt verfügen. Nichtzuletzt deswegen müssen spätestens ab 2032 alle Kläranlagen, di das Abwasser von mehr als 50.000 Anwohner:innen behandeln, auch den darin enthaltenen Phosphor zurückgewinnen. In Belgrad wird dies schwierig, ist doch die serbische Hauptstadt die einzige Europas, die über keine Kläranlage verfügt. Weswegen der Schwimmer und Chemieprofessor Andreas Fath es auf seiner jährlichen Donauwassertestreise (vom Schwarzwald zum Schwarzen Meer) auch vermeidet, durch Belgrad zu schwimmen. Aber das Problem der Kläranlagen ist in der ganzen Welt als ein soziales bekannt. In Indien zum Beispiel aber auch Afrika und Indonesien gibt es nicht einmal genügend öffentliche Toiletten, was zu Krankheiten und Vergewaltigungen führt.

65 Karten über Kacke

In Nordkorea hingegen muss jede/r Staatsbürger:in seine Fäkalien sogar sammeln. Eine sog. Fäkalsteuer ist allerdings in der ganzen Welt einzigartig, so die Autoren. Urin ist tatsächlich nützlich zur Gewinnung, so er von den Exkrementen getrennt aufgefangen wird. Städte die ihren Urin sammeln können ihre Treibhausemissionen um bis 47 Prozent, ihren Energieverbrauch um bis zu 41 Prozent und ihren Frischwasserverbrauch um etwa 50 Prozent reduzieren. Die Nähstoffbelastung der Abwässer (Stichwort: Ammoniak) könnte sogar um 64 Prozent reduziert werden. Ein Gamechanger, der leider immer noch sehr tabubelastet ist, könnte die Welt tatsächlich verändern. Zum Guten.

Tabu oder To Do: Kacke

Die Länge des deutschen Kanalisationsnetzes ist länger als der Weg zum Mond. 384,400km ist der Abstand zum Erdumkreiser, 619,291 die Länge der Kanäle, die sowohl Regenwasser, Schmutzwasser als auch Mischwasser auffangen und wohin leiten? Richtig, in die Flüsse. Aber noch schlimmer ist es, am Gipfel des Mount Everest zu stehen und dem Geruch menschlicher Ausscheidungen ausgeliefert zu sein. Laut einer Statistik Befinden sich bereits 3 Tonnen Kacke am “Dach der Welt”, das wohl bald zum höchsten Örtchen der Welt wird. Besucher:innen müssen seit 2024 ihre Abfälle aber ohnehin wieder runtertragen und bekommen eigens dafür präparierte Säckchen mit einem Pulver, das die Ausscheidungen trocknet. Im Basislager des Everest sind es bereits 21,7 Tonnen die davon abgegeben wurden.

Ein Furz geht um die Welt

Aber kommen wir zu unterhaltsameren Fakten und Karten: ein Elefant kackt etwa 50kg am Tag, der Mensch im Vergleich dazu nur 128g. Ein Elefant und eine Katze brauchen für ihr Geschäft nur jeweils 20 Sekunden, ein Mensch immerhin 120. Mit den Fürzen ist es vielleicht sogar noch lustiger: 0,5 Liter/Tag, das sind bei 84 Millionen Deutschen immerhin 42 Millionen Liter, mit denen man 12 Heißluftballons füllen könnte. Wenn das Montgolfiere gewusst hätte! Grauslich wird’s mit dem “Monster von Whitechapel”. So wurde der riesige Fettberg aus Speiseöl und anderen Ölen im Londoner Kanalsystem genannt. Darin enthalten: Klopapier, Binden, Kondome, Drogen, Windeln, Wattepads u.ä. Eine Playlist zum Buch zeigt die Vielseitigkeit der Unterhaltsamkeit der Thematik und lädt zum fröhlichen Mitsingen ein.

Und wo wir schon einmal beim Thema sind, hier noch eine andere passende Publikation des Katapult Verlages: Kochen für den Arsch

Goldeimer
65 Karten über Kacke.
Über unbekannte Unterwelten, große Geschäfte und unangenehme Wahrheiten
ISBN: 978-3-68972-001-8
2025, Hardcover, 245mmx195mm, 128 Seiten
KATAPULT-Verlag GmbH
24.-€


Genre: Entwicklung der Landwirtschaft, Ökologie, Wirtschaft, Wissenschaft
Illustrated by Katapult

Playlist zum Glück

Playlist zum Glück. 99,5 Songs zum glücklich werden. Michael Behrendt hat sie ausgewählt und erklärt warum gerade diese Musik ihn inspiriert, getröstet und vielleicht sogar therapiert hat. Ein Tempo von 100 bis 120 bpm scheint ideal für den Takt, den eine Herzmassage ab und zu einfach braucht!

Playlist zum Glück

Als wissenschaftlich erwiesen gilt auch die Vermutung, dass Musik Endorphine ausschüttet, anders ausgedrückt: Glückshormone wie Dopamin sorgen für ein Lächeln und Schmunzeln um die Mundwinkel und zaubern einen positiven Ausdruck in jede noch so müde Morgenmiene. “Auch den plötzlichen Optimismus und die Euphorie, die ein rauschhaftes Musikerlebnis wecken können,” schreibt Behrendt, “werden leidenschaftliche Musikfans nur zu gut kennen”. Jede verlorene Chance scheint wieder greifbar, wenn man nur die richtige Musik dazu hört. Oft sind es “bittersweet symphonies” die es laut einer kanadischen Studie schaffen, die Stimmung anzuheben, also eine Verbindung von Trauer und Glück, auch Pathos könnte man es nennen. Aber auch Ambient Musik erfüllt diesbezüglich ihren Zweck. Brian Eno lässt grüßen. Was oft als Muzak verschrieen wird, also Kaufhaushintergrundmusik, kann auf lange Frist durchaus positive Auswirkungen auf das Gemüt, wie auch Behrendt als eingefleischter Fan dieser Musik gesteht. Hätten Sie aber gewusst, dass Billie Eilish ein ASMR-Phänomen ist? ASMR steht für den neuesten musikalischen Trend: Autonomous Sensory Meridian Response. Das ist Musik die sowohl Ambient Geräusche als auch Flüstern u.ä. zu einer Soundcollage verbindet und so das Unterbewusstsein aktiviert.

99 ½ Songs für ein erfülltes Leben

Folgerichtig enthält die von Michael Behrendt hier vorgelegte Playlist zum Glück nicht nur fröhliche, positive Songs, sondern auch “nachdenkliche, traurig, sogar düstere Stücke”, wie er in seiner Einleitung schreibt. Auch “das Krachige, Schräge” könne eine eigene Schönheit, eine eigene konstruktive Wirkung entfalten. Songs stiften einfach Sinn und helfen bei der Persönlichkeitsentwicklung nicht nur von Jugendlichen. Songs sind ganz einfach Lebensbegleiter, entfalten eine positive Dynamik und können mitunter sogar für Ausgeglichenheit und mehr Zufriedenheit sorgen, sie fungieren als Ventil für Tränen ebenso wie Aggression. Michael Behrendt hat seine Playlist zum Glück nach bestimmten Gesichtspunkten strukturiert und in die Kapitel Das Universum und wir; Haltungen die das Leben erleichtern; Liebe und Partnerschaft; Resilienz; Veränderung managen und last not least Getting Started gegliedert. Zu jedem Kapitel sind es rund 20 Songs, die er vorstellt und mit weiterführenden stimmungsähnlichen Liedern ergänzt. So entsteht ein Rundumblick durch die Rock und Popgeschichte der letzten 70 Jahre, die sich natürlich allesamt in einer Playlist durchhören lassen. Den Link dazu finden Sie auf der Verlagsseite des Reclam Verlages!

Michael Behrendt
Playlist zum Glück.
99 ½ Songs für ein erfülltes Leben
Mit umfangreicher Playlist zum Buch
Originalausgabe
2025, Klappenbroschur. Format 13,5 × 21,5 cm, 272 S.
ISBN: 978-3-15-011508-4
Reclam Verlag
18,00 €


Genre: Kunst, Musik und Literatur
Illustrated by Reclam Verlag

E.M. Cioran, der Ketzer

E.M. Cioran. Um den 1911 in Rasinari bei Hermannstadt in Siebenbürgen als Sohn eines griechisch-orthodoxen Priesters geborenen rumänischen Schriftsteller ist es ruhig geworden. 2024, zum 30. Jahrestag seines Todes, erschien beim Suhrkamp Verlag eine Biographie mit dem Titel “Cioran, der Ketzer” von Patrice Bollon, die ihn ausgehend von dem verhängnisvollen Irrtum seiner Jugendzeit bis hin zu seinem bedeutenden Werk als Schriftsteller und Stilisten der französischen Sprache zeigt.

Läuterung eines Skeptikers

Am besten lässt sich der existentialistische Skeptiker anhand zweier anderer Bücher beim Suhrkamp Verlag entdecken. Mit “Vom Nachteil, geboren zu sein” (1979) und “Syllogismen der Bitterkeit” (1952) lässt sich der Verfasser zahlreicher Aphorismen als Meister der Klarheit, der Eleganz und der Gelassenheit erkennen, der frei von seinen Jugendsünden voller antisemitischer und hitlerfreundlicher Äußerungen vor allem den späteren Philosophen entdecken lässt. Cioran hatte von 1928 bis 1931 das Studium der Philosophie an der Universität Bukarest belebt, bis 1939 waren schon fünf Bücher in rumänischer Sprache von dem erst 28-Jährigen erschienen.

Cioran, der Ketzer

1937 kam Cioran als Stipendiat nach Paris, wo er als freier Schriftsteller lebte und ab 1945, dem Endes Krieges, begann, auf Französisch zu schreiben. Er starb am 20.6.1995 in Paris. Seine Bewunderung für Hitler und teilweise menschenverachtenden Aussagen stehen in einer Reihe anderer zeitgenössischer Schriftsteller wie etwa Louis Ferdinand Celine oder Curzio Malaparte, müssen allerdings von seinem Werk getrennt werden. Daran arbeitet sich auch die Biographie von Patrice Bollon ab, die den “Ketzer” im kulturellen und politischen Umfeld seiner Zeit porträtiert. Ballon zeigt, wie Cioran sich von seinen frühen Artikeln sowie jene verhängnisvolle Schrift über die “Verklärung Rumäniens” in einer lebenslangen Auseinandersetzung mit ebendiesem Irrtum von den “blutigen Possen” der Utopie und von jedem Glauben zu befreien suchte.

Rausch der Ausweglosigkeit

Bei Cioran ist ohnehin alles Lug und Trug. Selbst das Denken: “Alles ist Trug, ich habe es immer gewußt…” Auch das Denken selbst noch, das den Trug zu entlarven sich bemüht, entpuppt sich früher oder später als (Selbstbe-)Trug. Wer Nietzsche oder Georges Bataille gelesen hat, wird auch Cioran lieben, denn er verletzt und verstört ebenso alles, was uns bis vor kurzem noch als hoch und heilig galt. Der Geist ist stets “Indiskretion, Übergriff, Profanierung. Er `arbeitet´ nicht, er zersetzt. Die Spannung, die sein Vorgehen verrät, beweist Brutalität und Unerbittlichkeit. Ohne eine kräftige Dosis Grausamkeit könnte man keinen einzigen Gedanken zu Ende führen.” Harter Tobak also, wenn man seine Gedanken nicht mehr zensiert und sie so kreisen lässt, wie sie es wollen, wie es Cioran auch getan hat.

E.M. Cioran, der radikale Skeptiker

In seinen Aphorismen hat Cioran stets eine Position bezogen, die er selbst als die des Zweiflers, des radikalen Skeptikers bezeichnet. Darin kann er – jenseits aller intellektuellen weltanschaulichen Lager – sicherlich als Vorbild dienen, denn der Geist sollte keinen Tabus oder Beschränkungen ausgesetzt sein. Anders verhält es sich da schon mit der Tat. “Die Ideen”, schreibt er in “Vom Nachteil, geboren zu sein“, “eignen sich schlecht zur Agonie; sie sterben, das versteht sich, aber sie wissen nicht zu sterben, während ein Ereignis nur in Hinsicht auf sein Ende existiert. Das ist ein zureichender Grund, um die Gesellschaft der Historiker derjenigen der Philosophen vorzuziehen”, sagt der, der Philosoph.

Syllogismen der Bitterkeit

In der gleichnamigen Sammlung (im Französischen Original: Syllogismes de l’Amertume) widmet sich Cioran Themen die mit den Überschriften “Atrophie des Worts”, dem “Zirkus der Einsamkeit”, dem “Taumel der Geschichte” oder den “Quellen des Leeren” zusammengefasst wurden. Er schreibt auch “Über Musik”, den “Sog der Geschichte” oder den “Okzident”. “Wie sehr liebe ich die Geister zweiten Ranges, die aus Taktgefühl im Schatten des Genies der anderen lebten und ihr eigenes aus reiner Scheu ablehnten”, schreibt Cioran da einen Gedanken auf, der seine eigenen “stummen Tiefen” schon erahnen lässt. Im mit “Zirkus der Einsamkeit” übermittelten Kapitel geht es in seinen Aphorismen schon konkreter zur Sache: “Ich lebe nur, weil es in meiner Macht steht zu sterben, wann es mir belieben wird: ohne die /Idee/ des Selbstmords hätte ich mich schon längst getötet.” Die Verzweiflung bleibt für ihn Reportage, die Hoffnung Fiktion. Dennoch ziehe man aus dieser Fiktion die Nahrung zu leben. “Ohne Gott ist alles nichts; und Gott?”, schreibt der bei Priestern aufgewachsene Cioran, “Höchstes Nichts”.

Vitalität der Liebe

Schmeichelei betrachtet er als Waffe unsere Mitmenschen zu “knechten, demoralisieren und zu korrumpieren“. “Eine Liebe, die aufhört ist eine so reichliche philosophische Erfahrung, dass sie aus einem Friseur einen Konkurrenten des Sokrates macht“, in “Vitalität der Liebe”. Kurzum zu jedem Thema das uns wichtig erscheint, sind hier Gedanken und Aphorismen Cioran zusammengefasst, die uns in Unruhe versetzen können und die alteingesessenen Komfortzonen verlassen lassen. Das mag für manche unbequem sein, für andere die Essenz des Lebens. Oder wie sagt es Cioran: “Offen gestanden, kann man von irgendetwas anderem reden als von Gott oder von sich selber?

E. M. Cioran
Vom Nachteil, geboren zu sein
Aus dem Französischen von François Bondy
1979/2023, Broschur, 176 Seiten
ISBN: 978-3-518-37049-0
Suhrkamp Verlag
10,30.-€

Syllogismen der Bitterkeit
Bibliografische Angaben
1980/2016, Broschur, 90 Seiten
ISBN 978-3-518-371
Suhrkamp Verlag
11,00.-€


Genre: Aphorismen, Literatur
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Südtirol. Eine literarische Einladung

Südtirol oder auch Alto Adige und Trentino ist ein ganzjähriges Paradies. Schifahren in den Dolomiten, Baden im Kälterer See. Die Region zwischen Italien und Österreich, die auf eine konfliktreiche Geschichte zurückblickt, stellt sich in vorliegender Sammlung einheimischer Schriftsteller:innen vor. So genießen auch Leser:innen Schlutzkrapfen und Canederli, tauchen nach dem Kirchturm im Reschensee, treffen auf eine schöne Welt und böse Leut’, erleben Berg und Breakfast, singen launige Oden auf Bruneck oder erinnern sich an die erzwungene Italianità im Faschismus.

Die Felsen, die die Welt bedeuten

Das “schönste Bauwerk der Welt”, die Dolomiten, so nannte immerhin Le Corbusier die “elfenbeinweiß, graugrün, mitunter rötlich-gelb leuchtenden Kalkfelsen”. Aber es geht auch anders: als “kolossale Raumverschwendung” verunglimpfte Eve Gräfin Baudissin die Steinkolosse. Die Marmolada, die Brenta-Gruppe, der Rosengarten sowie die Bletterbachschlucht, die Drei Zinnen bilden die nach Déodat de Dolomieu benannten Dolomiten, die wesentlich die Region Südtirol mitgestalten. In “Berg und Breakfast” apeliert die Autorin Selma Mahlknecht an unsere archaische Seele, die das Wandern als Unruhe im Herzen und Sehnsucht nach dem Anderswo definiert. Ihr Heimweh richtet sich demnach nicht nach Südtirol, sondern nach den Bergen an sich aus. Dem Bild des starrsinnigen Hutzelmännchens widerspricht sie, denn gerade wer in den Bergen lebe, müsse sich bewegen. So ist jedes Heimweh auch gleichzeitig ein Fernweh.”Manchmal bedeutet Freiheit bereits einfach nur das Weglassen des Unnötigen”, schreibt Maxi Obexer in “Der rote Kontrapunkt”. Denn der Berg rufe nicht, er wolle nicht erobert werden, wie manche immer wieder behaupten. Er sei auch nicht römisch-katholisch wie die hineinbetonierten Gipfelkreuze weismachen wollen. Obexer wehrt sich gegen die völkische Vereinnahmung der Berge durch die Dirndl- und Lederhosenträger:innen. Ganz dem Begriff Südtirol widmet sich hingegen Alessandro Banda, er bezeichnet Alto Adige als pirandellische Provinz, als pessoanische sogar. Das Tirolo meridionale sei zwar Italienisch für Südtirol, Alto Adige aber in Wirklichkeit ein Gallizismus. “Haut-Adige” stammt aus den napoleonischen Kriegen und bezeichnete 1810 ein Gebiet das bald zum Königreich Italien gehörte, aber Meran noch beim Königreich Bayern verortete. Südtirol an sich bezog sich wiederum auf das was heute Trentino genannt wurde.

Italiansierung: politisch und kulinarisch

Ein dunkles Kapitel ist auch die von Ettore Tolomei durchgeführte Italiansierung der Region, die während Mussolini für das gesamte Südtirol durchgeführt wurde. Die Italianità wurde einfach behauptet, Orts-, Familien- und Vornamen italianisiert und sogar Grabsteine “umbenannt”. Aus Maier wurde etwa Massari, aus Raffeiner Rovina oder Dallarovina. Aus Pixner Armaroli, aus Tappeiner Depino, aus Urthaler Giudici usw. usf. Maddalena Fingerle erzählt in “Bozen” von ihrem Vater, der Aphasie hat oder ist es Mutismus? Die Tochter, die Erzählerin, hat Asthma und vermutet hinter den Worten dreckig und sauber etwas ganz anderes als die Erwachsenen. Auch der große Schriftsteller Stefan Zweig widmet sich in einem Gedicht dem so betitelten “Bozner Berg”. Ein Gedicht an einen herrlichen Morgen in den Bergen, der ihm “im Herzen klingt”. Aberauch kulinarische Aspekte werden in dieser literarischen Einladung berücksichtigt. “Ohne Knedl hosch nie gessn”, heißt es in Südtirol, wo Mehl, Milch, Butter, Topfen und Käse eben zu dem gehörten was man als Selbstversorger hauptsächlich hatte und daraus ließen sich vortrefflich Knödel rollen. Canederli, Ravioli, Mezzelune, Schmarren oder Schulter, eine weiße Küche, in der die Tomate keine Rolle spielte. Aber die alpine und die mediterrane Küche verbanden sich alsbald zu einer köstlichen Mischung.

Schöne Welt, böse Leut

Joseph Zauderer erzählt von der “Walschen”, wie man die Italiener in deutschen Kreisen nannte und ihr Vater, der stets für Toleranz plädiert hatte, musste schließlich doch an die Front um eine deutsche Heimat zu verteidigen, die es gar nicht mehr gab. “Schöne Welt, böse Leut” ist der Titel von Claus Gatterers Beitrag, in dem er uns in die Schulzeit entführt. Die Lehrerin tut sich mit den deutschen Namen schwer, “als hätte sie einen Igel verschluckt”, aber nicht mit allen. Denn wie überall zählte auch hier der Klassenunterschied. Die Kinder der besseren Familien hatten aussprechbare Namen, die der Bauerntölpel lohnte sich nicht zu lernen. Marco Balzano legt in “ich bleibe hier” einen erschütternden Bericht über die Enteignung vor: “Weiter bleibt nichts von dem was wir waren. (…)Niemand kann verstehen was sich unter den Dingen verbirgt. Niemand hat Zeit, stehen zu bleiben und um das zu trauern, was gewesen ist, als wir nicht da waren. Vorwärts gehen, wie Mutter zu sagen pflegte, das ist die einzige Richtung, die erlaubt ist. Sonst hätte Gott uns die Augen seitlich gemacht. Wie den Fischen.”

Im Anhang befinden sich Biographien der Autor:innen und Quellenverzeichnisse der zitierten Ausschnitte. Mit deutschsprachigen Texten und Übersetzungen aus dem Italienischen wie Ladinischen von Marco Balzano, Roberta Dapunt, Oswald Egger, Maddalena Fingerle, Claus Gatterer, Lilli Gruber, Francesca Melandri, Maxi Obexer, Joseph Zoderer und vielen anderen. Gaby Wurster ist auch die Herausgeberin der ebenfalls bei Wagenbach erschienen literarischen Einladungen nach Genua und Ligurien, Triest und Lissabon.

Gaby Wurster (Hrsg.)
Südtirol
Eine literarische Einladung
SALTO [284]. 15.8.2024
144 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1383-2
Wagenbach Verlag
22,– €


Genre: Literatur, Reisen
Illustrated by Wagenbach

Joan Didion’s Verlust und Trauer

Joan Didion’s Verlust und Trauer. Die amerikanische Journalistin, Schriftstellerin und Drehbuchautorin widmet sich in zwei Romanen ihres Spätwerks den Themen Verlust und Trauer auf eine unnachahmliche, ganz feinsinnige Art und Weise. Während ihre Tochter Quintana auf der Intensivstation liegt, verstirbt ihr Ehemann, der Schriftsteller John Gregory Dunne, an einer Herzerkrankung. Ein doppelter Verlust, der von Normalsterblichen nicht zu bewältigen ist. Von Schriftstellern vielleicht durch das Schreiben.

Das Jahr magischen Denkens

Das Jahr magischen Denkens” legt seinen Schwerpunkt auf den überraschenden und abrupten Verlust ihres Ehemannes. Auch wenn 16 Jahre zuvor eine Herzerkrankung festgestellt wurde, kommt der Tod mit 71 irgendwie doch ohne Vorankündigung, bei Tisch, in der gemeinsamen Wohnung, beim Abendbrot. Ein Kappa 900 SR Herzschrittmacher befand sich in seiner Brust als er starb. 1987 beim Kardiologen sagte er, jetzt wüßte er wenigstens, woran er einmal sterben würde. Die linke Herzkranzarterie wird von Ärzten auch als “Witwenmacher“, wie Didion erwähnt. Den beiden fehlten gerade noch einunddreißig Tage bis zum vierzigsten Hochzeitstag. Zeit ihres Lebens waren sie füreinander der Mensch, dem man vertraute. Das, was sie erlebte, wollte sie immer sogleich mit ihm besprechen und alles mit ihm teilen. Auch die gemeinsame Tochter Quintana. Für andere Schriftstellerehepaare waren die beiden fast ein Vorbild, so gut funktionierte die Beziehung und die Zusammenarbeit. Als er stirbt, gab es eine Weile lange eine Ebene, bei der sie glaubte, es rückgängig machen zu können. Deswegen musste und wollte sie zuerst unbedingt allein sein. “Ich musste allein sein, damit er zurückkommen konnte. So begann mein Jahr magischen Denkens.

Die Ra(s)tlosigkeit der Hinterbliebenen

Da die Wirklichkeit des Todes noch nicht ins Bewusstsein vorgedrungen ist, erscheinen Hinterbliebene oft so, als könnten sie die Verlust relativ gut akzeptieren“, spricht Didion wohl allen Hinterbliebenen der Welt, die einen ähnlichen Verlust zu beklagen haben, aus dem Herzen. Sie unterscheidet zwischen Trauer und Leid: letztere sei vor allem passiv, Leid geschah, aber trauern, die Auseinandersetzung mit Leid, verlange Aufmerksamkeit. Hinterbliebene sehen, wenn sie zurückblicken, Omen, Botschaften, die ihnen entgingen, erklärt sie. Strudel tun sich auf und der Betroffene vermeidet Orte, die ihn an die verlorene Person erinnern könnten, zunächst zumindest. “Jetzt versuchte ich nur noch, den Aufprall zu rekonstruieren, den Sturz des erloschenen Sterns.” Man wisse noch nicht, dass die Beerdigung schmerzstillend sei, eine Art narkotischer Regression, “wo wir in der Fürsorge anderer und in der Schwere und Bedeutung des Anlasses aufgehoben sind“, schreibt sie.

Halluzinatorische Wunschpsychosen

Später dann wird einem sichtbare Trauer quasi vorgeworfen, sie erinnere an den Tod, es werde als unnatürlich empfunden, als “Unvermögen, die Situation zu meistern“. Ein einziger Mensch fehle dir und man habe nicht einmal mehr das Recht, das auch laut zu sagen, wie sie Philippe Ariès paraphrasiert. Auffallend sei auch das Festhalten an Objekten (des Verstorbenen) Festhalten durch eine “halluzinatorische Wunschpsychose“. In Blaue Stunde schreibt sie über denselben Aspekt und fügt hinzu: “Eine Zeit in der ich glaubte, Menschen lebendig und bei mir halten zu können, indem ich ihre Andenken aufbewahrte, ihre `Sachen´, ihre Totems.” (..) Theoretisch dienen diese Andenken dazu, den Augenblick zurückzurufen. Tatsächlichen dienen sie nur das, mir zu verdeutlichen, wie wenig ich den Augenblick genoss, als er da war.”

Blaue Stunden und eine neuer Morgen

In manchen Breitengraden gibt es vor der Sommersonnenwende und danach eine Zeitspanne, nur wenige Wochen, in der die Dämmerungen lang und blau werden. Während der blauen Stunden glaubt man, der Tag wird nie enden. Wenn die Zeit der blauen Stunden sich dem Ende nähert (und das wird sie, sie endet), erlebt man ein Frösteln, eine Vorahnung der Krankheit: das blaue Licht verschwindet, die Tage werden schon kürzer, der Sommer ist vorbei.“ Das Ende des Versprechens, das Joan Didion hier so poetisch anspricht, bezieht sich auf die kürzer werdenden Tage, aber natürlich auch das kürzer werdende Leben, das allzu schnell an einem vorbeifliegt wie ein nichts. Erst erzählt sie von ihrem Haus in Brentwood Park, Kalifornien, wo die geborene New Yorkerin mit ihrem Mann und ihrer Tochter wohnte, bevor sie nach rund 20 Jahren (1988) nach New York rückübersiedelte.

Das Unsagbare aufschreiben

Es ist grausam, sich sterben zu sehen ohne Kinder“, zitiert sie Napoleon Bonaparte, aber noch grausamer ist es wohl, wenn die Kinder vor einem sterben. Damals glaubte sie noch die Zeit würde nie vergehen, ebenso wenig wie die blauen Stunden. Damals, glaubten wir das alle. Auch die Buschfeuer standen damals schon an der Tagesordnung und es war nicht die Frage, ob sie ausbrachen, sondern wann. “Relaxin’ in Camarillo” wie es in dem Eagles Song Hotel California heißt, bekommt eine andere Bedeutung, wenn man diese Zeilen von Joan Didion liest, denn Camarillo war eine Klapse. Und der härteste Satz in “Blaue Stunden” trifft exakt wie ein Torpedo: “Erinnerungen sind das, woran man sich nicht länger erinnern möchte.

Notes to John

Joan Didion ist es in ihren beiden Werken, “Blaue Stunden” und “Das Jahr magischen Denkens”, gelungen, das Persönliche exemplarisch zu machen und es so auch anderen Menschen zugänglich zu machen. In ihrer bewundernswerten Resilienz zeigt sie, dass Aufgeben keine Option ist und das Leben wert ist, jeden Atemzug gelebt zu werden. Joan Didion überlebte die beiden größten Katastrophen ihres Lebens, den Verlust von Geliebtem und Tochter, um beinahe 20 Jahre. Sie starb im Dezember 2021. Demnächst – 2025 – erscheint auch ein Buch aus dem Nachlass mit dem Titel “Notes to John“.

Joan Didion
Das Jahr magischen Denkens
(Originaltitel: The Year of Magical Thinking)
Aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel
2021, Broschur, 256 Seiten,
ISBN: 9783548065588
Verlag Ullstein Taschenbuch
14,99 €


Genre: Autobiografie, Roman, Trauer
Illustrated by Ullstein

Das Liebespaar des Jahrhunderts

Das Liebespaar des Jahrhunderts. Was mit drei Worten beginnt kann auch mit drei Worten enden. Vom “Ich liebe dich” zum “Ich verlasse dich” führt dieser Roman über drei Dekaden hinweg. Ein unglaublich persönliches Stück Literatur, das jede und jeden von uns betrifft. Julia Schoch fasst das in Worte, was sich die wenigsten von uns zu denken trauen. Und am Ende siegt doch die Liebe. So oder so. Ein Roman vielmehr noch als nur eine Geschichte: ein Manifest der Liebe.

Die Liebe: französische Filme, Revolution und Aufbruch

Die Protagonistin und Ich-Erzählerin in diesem verblüffenden autofiktionalen Roman wuchs im Osten auf und wurde wie so viele andere ihrer Generation von der deutschen Revolution überrascht und überrollt. Sozialisiert im linken Milieu warten sowohl ihr Partner als auch sie auf die nächste, die “zweite” Revolution und praktizieren in ihrer Liebe doch genau das, worauf sie warten: Liebe ohne Bindung. “Wir dachten über Freiheit und Anarchie nach, über die Irrationalität des Kleinbürgers, über die Sinnlosigkeit von Utopien oder die Trägheit der Masse.” 31 Sommer haben sie zusammen erlebt und gelebt, sechs davon wurden sogar als “Jahrhundertsommer” bezeichnet. Von Anfang an fand sie ihn “stattlich” und himmelte ihn an, mit ihrem Bekenntnis zu ihm konnte sie auch in gewisser Weise ihre Herkunft tilgen.

Etui der Liebe

Als sie sich beruflich geografisch trennen müssen, packt er ihr seine Pyjamajacke ein, “Etui der Liebe“, schrieb er auf einen beigelegten Zettel. “Unsere Liebe fing dort an, wo die Filme aufhörten“, leidenschaftlich gern trafen sie sich zu französischen Filmen in den Kinos ihrer Städte, sie arbeitete stets nur, um die Zeit zu überbrücken, wieder bei ihm zu sein. Arbeit war nur ein Zeitvertreib, “es kam mir logisch vor, alles aufzugeben für dich“. Gesetzmäßigkeiten stellen sich erst ein, wenn man länger zusammenbleibt, also lohnt sich das warten. “Ich habe einen Wimpernschlag gebraucht, mich in dich zu verlieben, und dreißig Jahre, um Gründe dagegen zu sammeln.”

Möglichkeiten eines Lebens (ohne dich)

Julia Schoch hat ein unglaubliches Buch geschrieben. Sie formuliert Fragen, die sich wahrscheinlich jeder stellt, der es länger als einen Wimpernschlag in einer Beziehung aushält. Denn nicht immer ist das Bekenntnis zueinander leicht und gleicht oft einem Wunder. “In was verwandelt man sich, wenn der andere aufhört, einen zu lieben? Verwandelt man sich in sich selbst zurück? Ist man, wenn man aus einer Liebesbeziehung entlassen wird, noch immer der Mensch, in den der andere sich einst verliebt hat?” Was wären die Möglichkeiten eines Lebens (ohne dich)? Die bittere Erkenntnis lautet am Ende des Tages: “Jeder wohnt in seiner eigenen Vergangenheit.” Aber dennoch kann man sich abends beim Einschlafen schon auf den gemeinsamen Kaffee in der Frühe freuen.

Das Liebespaar des Jahrhunderts

Die “Wahrheit” liege nicht in Bildern oder Vergleichen. Sie liegt im Körper des andren, seiner Anwesenheit, seiner Stimmen, seinem Geruch, schreibt Julia Schoch und trifft damit wohl den Nagel auf den Kopf. Vielleicht liege das Geheimnis des Zusammenbleibens ja darin, dass man voneinander abrückt. Zumindest von Zeit zu Zeit Abstand gewinnt und sich seiner selbst versichert. “Frei seine ist nichts, ich wollt ich wäre dein”, zitiert sie St. Vincent Millay und wer diesen Satz verstehen will, der versteht die Liebe. “Die erzählen Geschichten führten mir vor Augen, wie intensiv und groß und einmalig das Leben ist, wenn man liebt.

Wenn das “Liebesobjekt” zum “Studienobjekt” wird, bedeutet das nicht das Ende der Liebe. Immerhin weiß man (dann), was gemeint ist, wenn von Liebe die Rede ist. Die “blinde Liebe” weicht dann vielleicht der “Lust auf Dauer”. Das Wesentliche: unsere Geschichte.

Julia Schoch
Das Liebespaar des Jahrhunderts
Roman
ISBN : 978-3-423-44178-0
2025, 2. Auflage, 192 Seiten

dtv
EUR 10,99 [DE]

 


Genre: Frauen, Liebe, Roman
Illustrated by dtv

In der Ruhe liegt der Wahnsinn

In der Ruhe liegt der Wahnsinn. Der sympathische 39-jährige Engländer mit inzwischen deutscher Staatsbürgerschaft veröffentlichte schon mehrere Bücher im Beck Verlag. Mit seinem neuen vielversprechenden Buchtitel legt er ein sehr persönliches Zeugnis ab, das mit englischem Humor und deutscher Gründlichkeit eine Beziehungsachterbahnfahrt schildert. Konfliktpotential: die Babyfrage.

In der Ruhe liegt der Wahnsinn

Wer länger in einer Beziehung ist setzt sich früher oder später unweigerlich der Babyfrage aus. Dies gilt sowohl für homo- wie heterosexuelle Paare. Aber was, wenn die Babies einfach nicht kommen wollen? Adams Freundin Evelyn schickt ihren Partner auf ein zehntägiges Vipassana-Retreat. Sie hat alles schon organisiert und gibt ihm 50 Minuten Bedenkezeit. Allerdings fährt in 40 Minuten sein Zug. Adam überlegt kurz und packt nicht nur die von Evelyn vorbereitete Tasche, sondern auch eine günstige Gelegenheit beim Schopf. Seit das mit der Befruchtung nicht so richtig klappt befindet sich ihre erst einjährige Beziehung ohnehin in der Krise und da kommt eine Auszeit für beide recht.

Vollkörner und andere Freunde

Aber zehn Tage in einem Schweigeretreat? Mit lauter “Vollkörnern”? Kann das gut gehen? Adam Fletcher verfügt über einen ausreichend amüsanten Humor, dass nicht nur seine Reise, sondern auch die Lektüre seines Bekenntnisses so unterhaltsam wird, dass sich der Plot sogar zu einer absoluten Hyperbel steigert. Denn das er am Ende seiner Achterbahnfahrt in einem Flugzeug nach Adamistan sitzt in dem lauter andere, jüngere Ausgaben von ihm selbst sitzen, Adams eben, das kann ihm so schnell niemand nachmachen. Daran kommt auch die Abschiedsszene von seiner Ex Sarah gut ran. Ein echter Knüller für jede/n Leser/in.

Vipassana: die Dinge sehen, wie sie wirklich sind

Zehn Tage Schweigen, zehn Tage Meditieren, zwölf Stunden am Tag. Ohne Bücher, ohne Handy, ohne Internet. Kann man sich das heute wirklich noch vorstellen? Wahrscheinlich ist das, was Adam macht, eines der letzten Abenteuer, die wirklich Mut erfordern. Denn bei seinem Roadtrip ohne Reiseversicherung gibt es eines ganz sicher nicht: ein Rückfahrticket. Wer sich einmal auf sich selbst einlässt, wird wissen, dass er sein Leben lang damit zu tun haben wird. Adams Reise ins eigene Innere offenbart ihm die wesentlichsten Momente seines bisherigen Lebens und damit schließlich auch das Glück das er sucht. Er lernt, sich selbst zuzuhören, aber auch wieder hinaus, zu den Menschen und zur Liebe seines Lebens, zu treten. Die “Festung seines Denkens” zu verlassen und neues auszuprobieren verdient in jedem Fall Respekt. Man schafft sich seine Verhältnisse ohnehin selbst. Adam lernt als erstes richtig zu atmen und worum es dabei geht: die Gegenwart. Falsche Glaubenssätze werden von ihm hinterfragt und zu Irrglaubenssätze, falschen Welterklärungsmodellen und Weisheiten.

Wrack aus Wut, Weh und Wirrnis

Aus dem “Wrack aus Wut, Weh und Wirrnis” wird alsbald ein Wurmfresser, der für andere lustige Spitznamen wie Grill Bill, Apfelficker, Rotkappe, Saubär et al erfindet. “Was ist der Sinn von Nihilismus?“, ist eine durchaus berechtigte Frage. Bald lernt Adam den Unterschied zwischen Philtrum und Masturbatorium doch noch schätzen und findet mit Hilfe seiner Frau eine Antwort auf seinen Satz der alle anderen Sätze beenden sollte. Wenn es beim ersten Mal nicht klappt, …

Ein unterhaltsamer Ratgeber voller britischem Humor, der gängige Klischees über Rollenbilder aufbricht und ihnen eine neue Dimension verleiht. Eine amüsante. “Bist du jetzt Happy Meal du McMotherfucker?” Okay. Das war jetzt der deutsche Anteil am Humor.

Fletcher, Adam,
In der Ruhe liegt der Wahnsinn.
WIE ICH IN EINEM 10-TÄGIGEN SCHWEIGE-RETREAT DEN VERSTAND VERLOR, ABER MEIN GLÜCK UND ALLES ANDERE FAND.
Aus dem Englischen von Ingo Herzke
ISBN: 978-3-406-82438-8
2025, Hardcover, 270 S.
C.H.Beck Verlag
20,00 €


Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München

Der Meister und Margarita

Der Meister und Margarita. Gebunden, mit Farbschnitt, Prägung, Lesebändchen und 25 beeindruckenden, ganzseitigen Illustrationen von Alexander Fedorov: das ist eine Festausgabe des russischen Kultbuchs von Michail Bulgakow. Der am 15. Mai 1891 in Kiew geborene und am 10. März 1940 in Moskau – vor bald 85 Jahren – gestorbene Autor beschäftigt die Literaturgeschichte seit mehr als 100 Jahren. Ebenso sein Hauptwerk, das nun in einer bibliophilen Ausgabe beim Anaconda Verlag erschienen ist. Weitere ähnlich gestaltete Neuauflagen seiner anderen Werke finden sich auf der Verlagsseite.

Die letzten Gerechten: Meister und Margarita

“Der Meister und Margarita” wurde von Bulgakow zwischen 1928 und März 1940 verfasst. Die letzte Fassung wurde von ihm persönlich seiner Frau quasi am Totenbett diktiert. Das Werk erschient aber erst November 1966, 26 Jahre nach dem Tod des Autors, in Fortsetzungen in der Literaturzeitschrift Moskwa. Er war von der Zensur um rund ein Achtel gekürzt worden. Die Zeitschrift hatte eine Auflage von immerhin 150.000 Exemplaren und war binnen weniger Stunden ausverkauft. Die von der Zensur herausgekürzten Textteile wurden sogar handschriftlich vervielfältigt und als Samisdat heimlich im Untergrund weiterverbreitet, so beliebt war die Geschichte. Viele Menschen lernten ganze Passagen sogar auswendig, um sie weitergeben zu können. Aber was regte die stalinistische Zensur damals eigentlich so auf? Der Plot spielt hauptsächlich in der immer noch existierenden Wohnung Nr. 50 in der Sadowaja 302b, in der der Autor von 1921 bis 1924 ein Zimmer bewohnte. Inzwischen sei die Wohnung längst zu einem beliebten Ausflugsziel von Bulgakow-Verehrern geworden, so diverse Quellen. Im Moskau zu Beginn der 30er-Jahre sucht der Teufel höchstpersönlich die Stadt heim und stürzt ihre Bewohner:innen mit tatkräftiger Unterstützung seiner Zauberlehrlinge in ein Chaos aus Hypnose, Spuk und Zerstörung. Die verdiente Strafe für Heuchelei, Korruption und Mittelmaß trifft alle gleichermaßen, bis auf die letzten zwei Gerechten. Der im Irrenhaus sitzende Schriftsteller, genannt “Meister” und Margarita, dessen einstige Geliebte.

Der Liebe zum Durchbruch verhelfen

Die Biographie des Pontius Pilatus ist die eine Geschichte, die von Bulgakow als „Roman im Roman“ erzählt wird und darin verwendet er nicht nur die alten gräzisierten oder hebräischen Formen. Er weist darauf hin, in welchen Sprachen damals gesprochen wurde, neben Latein auch in Griechisch, aber vor allem Aramäisch. „Golgatha“ (aramäisch) wird nicht „Ort der Stirn“ (russisch: lobnoe mesto) genannt, sondern als Begriff der slawischen Folklore: Kahler Berg („Lysaja Gora“). Der berüchtigte Treffpunkt der Hexen, der im Westen durch Modest Mussorgskis „Noc’ na Lysoj Gore“ bekannt wurde. Zum Ausgangspunkt seines Romans wählt Bulgakow aber die Moskauer Patriarchenteiche, die wie der Name schon andeutet, einst dem Patriarchen, also der russischen Kirche, gehörten. Der Roman, der eine Dekade nach der Revolution begonnen wurde, zeigt wie der „Ziegensumpf“, der volkstümliche Name der Teiche, schon das Dämonische anklingen lässt: „Koz’e boloto“. Denn bei Ziege denkt man gleich an den Bocksfüßigen, der überall seine Hände im Spiel hat. „I was around when Jesus Christ had his moment of doubt and pain/Made damn sure that Pilate washed his hands and sealed his fate“, sangen die Rolling Stones und weiter: „I stuck around St. Petersburg, when I saw it was a time for a change…”. Nun, bei Bulgakow kommt der Teufel bis Moskau und zettelt zwar keine Revolution, aber doch ein ziemliches Chaos an. Im Zweiten Teil taucht dann endlich auch Margarita auf, der Leser spürt es schon im ersten Satz: „Wer hat dir erzählt, es gebe auf der Welt keine echte, wahrhafte, ewige Liebe? Möge dem Lügner seine schändliche Zunge abgetrennt werden!“

Faust lässt grüßen: Meister und Margarita

Ist es also allein dem Charme dieser Margarita zu verdanken, dass Woland (Professor W) mit Hilfe seiner Kumpanen, dem Kater Behemoth, dem wienernden Korowjew, Azazello und der Dienerin Gella, der Liebe zu ihrem Durchbruch verhilft, auch wenn er die Liebenden dann – wie bei Tristan und Isolde – zunächst Gift trinken lässt? „Und Sie bleiben auch ganz bestimmt auf dem Teppich?“ Neben den Patriarchenteichen und einem Theater spielt der vorliegende russische Jahrhundertroman des fantastischen Realismus auch in der Wohnung des verunglückten Berlioz, Nr. 302 Block B Wohnung 50, und der besagten Irrenanstalt. „Nun gut, der Liebende hat das Geschick des Geliebten mitzutragen“, heißt es am Ende der Schleife, in der Margarita und der Meister sich finden und die illustren 5 nicht gefasst werden können. 2023 erschien in Russland die Verfilmung von “Der Meister und Margarita” von Michael Lockshin (157 min, mit August Diehl, Yulia Snigir, Evgeniy Tsyganov). Kinostart Deutschland/Österreich ca. 1.5.2025

Michail Bulgakow
Der Meister und Margarita. Schmuckausgabe mit Illustrationen von Alexander Fedorov,
Mit Farbschnitt, Leseband, geprägtem Cover, übersetzt von Alexandra Berlina
2024, Hardcover, Pappband, 512 Seiten, 13,5×21,5cm, SW-Illustrationen
ISBN: 978-3-7306-1425-9
Anaconda Verlag
€ 18,00


Genre: Roman
Illustrated by Anaconda

Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste

Wie Grischa. “Frühling kann sich sehr kalt anfühlen.” Psychiater und SPIEGEL-Bestsellerautor Jakob Hein hat zuletzt gemeinsam mit Kat Menschik auch das illustrierte Kompendium der psychoaktiven Pflanzen veröffentlicht. Bekannt geworden ist er auch durch Mein erstes T-Shirt (2001), Herr Jensen steigt aus (2006), Wurst und Wahn (2011), Kaltes Wasser (2016) und Die Orient-Mission des Leutnant Stern (2018) oder Hypochonder leben länger und andere gute Nachrichten aus meiner psychiatrischen Praxis (2020).

Import Export Geschäfte der “Bruderländer”

Der etwas sperrige Titel des hier neu vorliegenden absurd-abgedrehten Romans über ein bisschen Gras, einen genialen Coup und das Wunder von Bayern entführt die Leserinnen in die Achtziger Jahre als noch FJS in Bayern herrschte, Afghanistan von der Sowjetunion besetzt war und die Mauer gerade noch so stand. Wenn auch etwas wackelig schon. Aber ausgerechnet durch eine fette Finanzspritze aus Bayern konnte das Überleben der DDR noch ein paar Jahre gesichert werden. Wie es dazu kam, dass ausgerechnet Bayern den bankrotten Sozialismus finanzierte, erzählt die hier vorliegende herrlich abgedrehte Geschichte. Der “Held der Arbeit” ist in diesem Fall der Titelheld Grischa, der nicht nur Filmliebhaber ist, sondern auch für den Staatsdienst arbeitet, Assistent der Plankommission.

Als lebten sie schon im Sozialismus

Als solcher macht er sich Gedanken über die Finanzsituation seines Landes und überlegt sich, was das Bruderland Afghanistan, die DR Afghanistan, der D-DR im Austausch für ihre Güter anbieten könnte. Da das Land für klassische Landwirtschaft nicht so gut geeignet sei, bauten die Bauern dort vor allem Opiate und Cannabis an. Unter Einfluss des letzteren fühlten sich die Menschen, “als lebten sie schon im Sozialismus”, beschreibt ein wissenschaftlicher Kollege den Cannabis-Rausch. Was als spreche gegen eine Import-Export-Deal mit dem Bruderland am Hindukusch?

Schelmenstück mit viel trockenem Humor

Im Deutsch-Afghanischen-Freundschaftsladen im Grenzgebiet West-Berlins und der DDR wird alsbald das Harz des Cannabis im Zehnerpack verkauft, neben Wollschals und anderen Gewürzen. Frau Dr Frühling, die etwas seiner Lieblingsschauspielerin Jelena Metjolkina aus dem Film “Die Frau aus dem All” ähnelt, assistiert Grischa bei seinem Unternehmen, auch wenn sie wenig davon überzeugt ist. “Es ist das Gefühl einer großen Verbindung mit der Jugend der Welt im Geiste des Sozialismus“, so Genosse Burg poetisch über das fernöstliche Kraut, das sich bald wie warme Semmeln verkauft. Und genau der Erfolg des “Produkts” wird dann zu einem so großen Problem, dass es auch die Westdeutsche Regierung auf den Plan ruft.

Wie Grischa beinahe…

Denn die Käufer des landestypischsten Produkts Afghanistans, das Cannabis, ist hauptsächlich die westdeutsche Jugend, die aufgrund der hohen Qualität sogar aus fernen Bundesländern extra anreist. Bei einem Gulasch mit Extra-Würze entscheidet sich alsbald das Schicksal der DDR und Grischa und Frühling spielen dabei so gut zusammen, dass zumindest für den einen der beiden ein Orden abfällt: Held der Arbeit fürs Nichtstun. Aber wer würde 1 Milliarde DM nicht als Gewinn ansehen? Vordergründig ging es 1984 zwar um den Abbau der Selbstschussanlagen an der deutsch-deutschen Grenze, aber Grischa und Frühling wissen es besser.

Ein lesenswerter Schelmenroman, der die historische Tatsache des FJS eingefädelten Kredits für die DDR durch die Bong raucht. Witzig und lesenswert, voller versteckter Pointen und mit viel trockenem deutschen Humor.

Jakob Hein
Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste
2025, Hardcover mit Schutzumschlag, 256 Seiten
ISBN: 978-3-86971-316-8
Galiani-Berlin
€ 23,00


Genre: Roman
Illustrated by Galiani

Wild nach einem wilden Traum

Wild nach einem wilden Traum. Nach “Das Vorkommnis” und “Das Liebespaar des Jahrhunderts” nun der letzte Teil der Trilogie “Biographie einer Frau“. Die beiden ersten erscheinen zeitgleich auch schon als Taschenbuch und die Autorin geht auf Lesereise durch Deutschland West und Ost.

Verwandlung im Namen der Liebe

Julia Schoch stammt aus Mecklenburg und lebt heute in Potsdam. 2022 wurde ihr die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen, 2023 der Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen, 2024 der Mainzer Stadtschreiber-Literaturpreis. Die ersten beiden Bände sind sowohl Leser:innen- als Kritiker:innenlieblinge und standen auf der SWR- wie der ORF-Bestenliste. Während es im ersten Band um die Ursprungsfamilie und im zweiten um die Partnerbeziehung ging wird in “Wild nach einem wilden Traum” sowohl die Literatur als auch die Liebe in’s Zentrum der Erzählung gerückt. “Die Erinnerung an eine Liebe kann intensiver sein als diese Liebe selbst“, schreibt sie etwa, als sie fern von zu Hause einen Mann kennenlernt, den sie stets schlicht als “Katalanen” bezeichnet. Namen sind ohnehin Schall und Rauch und so bleibt auch die Ortschaft A., wo die beiden eine “artists in residence”-Beziehung in einer Künstlerkolonie eingehen, im Dunkeln. Ebenso ihr Ehemann, der stets nur der Mann ist, ohne Namen, ohne Alter, auch ihre zwei Kinder.

Wild nach einem wilden Traum

Der Katalane kommt aus einem Land, das sich abspalten will, die Erzählerin aus einem Land, das sich gerade wiedervereinigt hat. Offen bleibt, ob nicht auch Deutschland bald gewissen Auflösungstendenzen anheim fallen wird, denkt sie und verwirft den Gedanken sogleich. “Vielleicht passiert die Liebe, dieses Gefühl, wenn wir uns zu jemandem hingezogen fühlen, immer nur so: stellvertretend für etwas viel Früheres, Älteres, das uns verloren gegangen ist und das wird zurückverlangen wollen. Alle Liebe ist nur ein Ersatz-Haltegriff, habe ich irgendwo gelesen“, schreibt sie und reißt damit einen Graben auf, der sich nicht mehr zuschütten lässt. “Wahrscheinlich geschieht es nur einmal, dass man sich voller Begeisterung für jemanden aufgibt. Diese Verwandlung im Namen der Liebe. Später braucht man sich nicht mehr. Später: wenn man wieder man selbst geworden ist.” Und was heißt denn schon zurückkommen? “Wer weiß denn schon, ob das, was zurückkehrt, auch das ist, was verschwunden war?

Einer das Vehikel des andern

Künstler seien keine glücklichen Menschen, sie taugen nichts fürs Leben, offenbart ihr ein älterer Freund, der Soldat, von dem sie auch den Titel ihres Romans ausgeborgt hat. “Man muss wild danach sein. Wild nach einem wilden Traum.” Das sind starke Sätze, die die Autorin da findet: “Wir bewohnen unsere Vergangenheit, wie man Träume bewohnt“. Verblassenden Erinnerungen oder nachlassendem Gedächtnis kann sie etwas positives abgewinnen. Denn auf das Vergessen sei Verlass und ohne es gebe es keine Geschichten. “Sie sind das, was übrig bleibt.” Auch in der Liebe benutzt man einander, ist “Vehikel“, wie sie schreibt, für einander und bringen fernere, frühere, dunklere Bereiche ans Licht. Oder man lebt in einem “glücklichen Irrtum“.

Maske der Ehrlichkeit

Mit einem Mal gebe es dann keinen Unterschied mehr zwischen Erinnerung und Erzählung. Schließlich sei auch nur die Ehrlichkeit eine Maske. Das sitzt tief. Schriftsteller würden die vergangene Zeit spüren, die Zukunft und das, was noch kommt. Sie hätten eine intensivere Verbindung zu den Toten und eine bessere Verbindung zum Schmerz in der Welt, sagt er, der Katalane. Und obwohl sie diese Meinung für überzogen und pathetisch hält, stimmt sie ihr insgeheim zu. “Bücher sind beinahe magische Objekte. Schon das Lesen war eine Art heilige Handlung, ganz zu schweigen vom Schreiben.

Einspruch gegen die Unmöglichkeit der Liebe

Und lesen kann tatsächlich bessere Menschen aus uns machen, davon sind wir alle überzeugt, alle die lesen natürlich nur. Am allerschönsten finde ich die Stelle in der sie über das Jung-sein schreibt. “Ich habe den Glauben, man könne den Menschen befreien ja vielleicht sogar Die Welt retten, in den Jahren danach immer wieder vermisst. Ich vermisse ihn noch immer.” Das große Seufzen verbindet uns alle, nicht nur die Mütter, die dadurch die Brücken zum Rest der Menschheit schlagen. “Man sollte Einspruch erheben gegen das Gerede von der Unmöglichkeit der Liebe.” Das ist Julia Schoch in jedem Fall gelungen.

Mehr zu den drei Bänden hier

Julia Schoch
Wild nach einem wilden Traum
Roman.
2025, Hardcover, 160 Seiten
ISBN: 978-3-423-28425-7
dtv
23,00 €


Genre: Frauen, Liebe, Literatur, Roman
Illustrated by dtv

Die Verdorbenen

Die Verdorbenen. Eine klassische Ménage-à-trois ist die Beziehung zwischen Johann, dem Protagonisten und dem Paar Tommi und Christiane. Eigentlich beginnt alles ganz harmlos, doch dann gesellt sich zu Liebe, Lust und Spiel auch das Böse.

Des Vaters Liebe zum Leben

Einmal im Leben möchte ich einen Mann töten“, sagt der junge Johann zu seinem Vater, der alles liebte. “Aber es war etwas das man nicht sagen, das man nur denken darf.” Und so schweigt Johann lieber und hofft, das sein Vater die Frage wieder vergisst. Der Dolmetscher, der mit einer Engländerin verheiratet ist, schreibt selbst und liebt das Leben über alles. “Er liebte die Bücher, er liebte die Vögel, er liebte die Musik, den Sternenhimmel, den Föhn im Frühling, frische Honigsemmeln zum Frühstück, er liebte seine Frau und er liebte seinen Sohn – er liebte, und wenn er nicht liebte, war er nicht.” Wie konnte dieser Vater einen so missratenen Sohn zeugen oder aufziehen? Lag es an der Frage, ob er jemanden habe, dass dies alles auslöste?

Liebe zu dritt: “Das ist Hippieshit

Denn Johann fühlt sich unter Druck, eine Freundin zu haben und dringt so in die Paarbeziehung zwischen Tommi und Christiane. Aber eigentlich ist es Christiane, die sich vor ihm auszieht. Ein harmloser Spaziergang um einen Teich wird zum Beginn einer einseitigen Liebesgeschichte und der Zerstörung einer anderen. Mit 22 Jahren studiert Johann in Marburg an der Lahn und lernt, dass Freud einen Mangel an Scham als ein Zeichen von Schwachsinn bewertet habe. Dass ihm die “prächtige Herrschaft” über sein Leben entgleiten könnte, das wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Aber als er entdeckt, dass Tommi und Christiane ihre “Doktorspiele” schon seit sie neun sind spielen, braucht er ein Ventil und reist per Anhalter an die Nordsee. “I shot a man in Reno just to watch him die“, zitiert der Autor Johnny Cash’s Folsom Prison Blues. Gut gepasst hätte aber auch Stereo Total: Liebe zu dritt, das ist Hippieshit.

Hänsjes Krankheit

Dort geschieht plötzlich das Unbeschreibliche. Köhlmeier beschreibt es. “Wo das Leben nur mehr aus Langeweile besteht, ersetzen die Erinnerungen die Taten.” In einer Mischung aus Selbsthass, Wut aber auch Langeweile und dem existentialistischen Ennui tötet er tatsächlich einen Menschen, auch wenn es wie Notwehr erscheint. “Manchmal mitten am Tag, ergriff mich ein ungewisses Entsetzen vor dem Tod. (…) Dann Resignation, und hinter mir wartete die Langeweile.” In drei Kapiteln und einem Epilog vierzig Jahre später erzählt Michael Köhlmeier die Geschichte des unschuldigen, aber verdorbenen Johann, der sich durch die Liebe von Christiane so eingeengt fühlt, dass er einen verzweifelten Ausbruch sucht. Stets seinen “Zarathustra” in der Tasche und mit klassenkämpferischer Miene und schwarzer Lederkleidung hat er in den vom Kommunismus und der Ölkrise inspirierten Siebzigern keine Ahnung vom Klassenkampf oder von der Liebe.

Obsessive Liebe als Brutstätte des Bösen

Zu selbstbezogen und immer mit seiner eigenen Nabelschau beschäftigt, verliert er den Boden unter den Füßen und die Augen im purpurnen Meer. Michael Köhlmeier hat mit “Die Verdorbenen” einen autofiktionalen Roman geschrieben, der die Frage stellt, was aus ihm geworden wäre, wenn er der Obsession einer anderen Frau nachgegeben hätte. Eine Miniatur über die Liebe, ihre Besitzansprüche, Auswüchse und nicht zuletzt auch ihre Nestwärme der Brutalität. Denn oft erwächst das wirklich Böse aus schlecht kommunizierter Liebe. Oder Lust. Meisterlich geschrieben regt auch dieser Roman von Michael Köhlmeier zum Nachdenken an und verführt zur Rekapitulation seiner Erinnerungen. Zwischen “Die Träumer” und “Der Fremde” eine Erkundung des Bösen.

Michael Köhlmeier
Die Verdorbenen. Roman
2025, Hardcover, 160 Seiten
ISBN 978-3-446-28250-6
Hanser Verlag
23,00 €

 

 


Genre: Roman
Illustrated by Hanser