Miserere. Drei Texte

Miserere. Ihr zweiter Roman, “Die Infantin trägt den Scheitel links“, ebenfalls beim Salzburger Verlag Jung und Jung erschienen, war bei Leser:innen und Kritik beliebt und löste ob dessen Sprachgewalt Begeisterung aus. Leider ist diese kräftige Stimme Anfang dieses Jahres verstummt. Helena Adler starb viel zu früh, mit vierzig Jahren.

Das Leben in seiner ganzen Pracht

Neben “Hertz 52“, ihrem Debütroman, der 2018 erschien, veröffentlichte Adler 2022 noch ihren dritten Roman “Fretten“, der im September 2022 auf Platz 10 und im Oktober 2022 schon auf Platz eins der ORF-Bestenliste rauschte. Die hier, in “Miserere“, vorliegenden letzten drei Texte, die noch zu Lebzeiten abgeschlossenen wurden, lesen sich als eine Liebeserklärung an das Leben. Alle drei Texte sind Erstveröffentlichungen. Der erste, “Unter der Erde“, war schon im Radio zu hören, die beiden anderen, “Ein guter Lapp in Unterjoch” und “Miserere Melancholia“, entstanden in Hinblick auf eine angestrebte Teilnahme beim Bachmann-Wettbewerb. Ihre Einladung ereilte sie schließlich für letzteren Text, aber ihre Teilnahme wurde durch einen Gehirntumor, der das Reisen nach Klagenfurt unmöglich machte, vereitelt, wie Thomas Stadler in der Nachbemerkung erläutert. Der Text liest sich wie ein Dialog mit der Acedia, der Trägheit, einer der sieben Todsünden. Diese verortet die Autorin im Umfeld der Melancholie, weil sie sich selbst oft fragte, warum sie so schwermütig sei. Aber sie fand darauf auch eine gute, stimmige Antwort: “Ich bin schwermütig, weil ich das Leben hier in seiner ganzen Pracht so liebe. Mit all den Menschen, die ich liebe“.

Schwermut der Provinz

Golem, Gnom, Mistkerl, Bastard, Widerling, Giftköder, Podsol, Creep, Pest, Ekel, Abscheu, Ausgeburt, Abort…” nennt sie ihren Gesprächspartner, den sie einerseits außerhalb anderseits symbiotisch in sich selbst verortet. Am Ende von Miserere löst sich der Dämon in einem Purgatorium in Licht auf und es folgt das Paradies. Das dunkelste Schwarz, ein Vantablack, ersteht aus dem Scheiterhaufen: “Wenn wir sterben, scheitern wir am Leben. Wären wir unsterbliche, scheiterten wir am Tod“. Aber wir finden auch solch wunderbar erbauliche Zeilen wie die folgende: “Dauer ist kein Kriterium für Intensität und Nähe“. Oder: “Ich rechne mit dem Schlimmsten, um im besten Fall positiv überrascht zu werden. Im Grund nennt man das einen optimistischen Realismus. Einer liegt auf der Lauer, ein anderer ist auf der Hut“. Im ersten Text dieses Bandes geht es um Josef aus Unterjoch, ein Maurer, aber auch Hochzeitslader. “Er rührt den Mörtel an, der Bürgermeister Joch seine Schwiegertochter.” Aber Josef ist ein guter Josef, einer, der die Pferde nicht stiehlt, sondern zurückbringt. “Das weiß ganz Unterjoch, darum nennen sie ihn Lapp.” Das Wirtshaus von Unterjoch wird zum Gerichtshof, wo jeder sein Fett abbekommt. Wer sich dem nicht aussetzen will, muss eben gehen.

Helene Adler hat die Alptraumidylle der österreichischen Provinz mit viel Humor und Witz auf die Schippe genommen und zeigt auch in ihren letzten drei Texten, dass sie bleibt: als Aufforderung zur steten Veränderung, Weiterentwicklung und Auflösung dieser Sturheit, die uns alle das Leben kostet, statt es uns kosten zu lassen…

Helena Adler
Miserere. Drei Texte
2024, 72 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-99027-407-1
Verlag Jung und Jung
€ 16,-


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Jung und Jung

Die Infantin trägt den Scheitel links

Man wird doch noch träumen dürfen

In Zeiten, in denen der Dorfroman fröhliche Urständ feiert, hat Helena Adler mit «Die Infantin trägt den Scheitel links» eine autobiografisch inspirierte Anti-Idylle thematisiert, die Geschichte «eines Aschenputtels, das anstatt gläserner Schuhe dreckige Stallstiefel trägt», wie sie erklärt hat. Die Figur der Infantin, hinter der sie sich versteckt und deren Leben sie in ihrem zweiten Roman erzählt, charakterisiert sie als «eine kratzbürstige Alice im Hinterland, die gelernt hat, sich zu wehren». In 21 Kapiteln, die quasi als narrativer Sidekick jeweils Bilder aus Museen rund um den Globus zitieren, entwickelt die Autorin ein wahres Erzählfeuerwerk um Kindheit und Adoleszenz ihrer wehrhaften Infantin und demaskiert ironisch die verlogene Idylle vom Landleben als erstrebenswertem Ideal.

Die namenlose Heldin, die sich selbst als Infantin bezeichnet, wächst als jüngstes Kind auf einem österreichischen Bauernhof in der Nähe von Salzburg auf. Man solle, so heißt es gleich im ersten Satz, ein Gemälde von Pieter Bruegel nehmen, – gemeint ist der Ältere, der Bauernbruegel. «Nun animieren Sie es», fordert Helena Adler dann den Leser auf, denn was sie nachfolgend beschreibt gleicht in der Tat dem kruden Geschehen auf den bäuerlichen Gemälden des Niederländers, ein deftiges, literarisches Wimmelbild sozusagen. Die Großfamilie, in der die Infantin heranwächst, besteht aus den Urgroßeltern, denen der Hof gehört, der dementen Großmutter, dem trinksüchtigen Vater, der frömmelnden Mutter und den bösartigen, älteren Zwillingsschwestern, von denen sie unentwegt gepiesackt wird. Aber sie weiß sich zu wehren, wovon schon der Romantitel zeugt, sie trägt den Scheitel links! Und so ist sie es denn auch, die den Hof abfackelt, ohne dass ihr daraus wirklich Ungemach entsteht, die Erwachsenen sehen es mit einem weinenden und einem lachenden Auge, die Versicherung zahlt ja. Standhaft weigert sie sich, in den Kindergarten zu gehen, gehört in der Schule zu den auffälligen Schülern, feiert in der Adoleszenz wilde Partys mit der Dorfjugend und ist plötzlich unversehens erwachsen.

Die schweißtreibende, dreckigen Stallarbeit, das Schlachten der Tiere, die unsäglichen hygienischen Bedingungen auf dem heruntergekommenen, überschuldeten Hof begleiten sie ebenso wie die ständigen, rüden Anfeindungen ihrer Schwestern, denen sie wenig entgegenzusetzen hat. Trotz all dieser Zumutungen behält sie den Kopf oben, sucht ihnen durch ihre Träume zu entkommen oder stemmt sich ihnen beherzt entgegen so gut sie kann. Dabei ist es insbesondere der Vater, der in allen Lagen zu ihr hält, auch gegen die wüsten Gewaltexzesse der bigotten Mutter. In diesem ungewöhnlichen Roman wird ein fast archaisches Landleben in einer Diktion beschrieben, die weitgehend allein steht als narrativer Benefit. Der Plot selbst nämlich vermag niemanden wirklich mitzureißen, zu profan ist das Geschehen. Aber wenn die Infantin zum Beispiel erzählt, «zum Abendessen servieren sie mir Rindermilch mit Rindenmulch», dann bekommt man eine Vorstellung von der überschäumenden Sprachwucht der Autorin, denn so tönt es immerfort in dieser Geschichte. Sie würzt den Zorn der aufrührerischen Infantin Pointe für Pointe mit einem köstlichen, stets ironischen Humor und verwandelt ihn mit permanenten Zuspitzungen zuweilen in beißende Satire um.

«Lass mich ein Kind sein, sei es mit!» lautet ein dem Roman vorangestelltes Motto aus Schillers ‹Maria Stuart›. Was da aus kindlicher Perspektive so zynisch, vulgär, brutal, böse, eklig und stets aggressiv beschrieben wird, ist eine surrealistische Coming-of-Age-Geschichte ohnegleichen. Im Jaguar XK, «mein neuer Roman, der gerade zum Weltkulturerbe ernannt wurde, auf dem Beifahrersitz» brause ich «auf dem «Weg zu meiner Nobelpreisrede» durch New York, hat Helena Adler träumerisch auf die Frage geantwortet, was sie so treibe, wenn sie gerade nicht schreibe. Na und, man wird doch noch träumen dürfen!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Jung und Jung

Die Infantin trägt den Scheitel links

Die Infantin trägt den Scheitel links: Die Demontage eines Heimatidylls in den Salzburger Bergen ist einer neuen, jungen und auch experimentellen Sprache verfasst, die man gerne als Expressionismus bezeichnen würde, wäre da nicht schon diese Malerei. Immerhin Nitsch und Pollock kommen auch vor, aber eigentlich geht es um eine ganze andere Familie, die Anti-Trapp Familie vielleicht. Helena Adler stellt Klischees ihrer Heimat auf den Kopf und sie hat dabei (auch noch) sichtlich Spaß. Denn in der Rolle ihres kleinen Mädchen-Ichs lassen sich leicht ein paar Tabus brechen. Ein Wimmelbild nach Pieter Bruegel?

Anti-Trapp-Idylle einer Anti-Alpen-Heidi

Da wäre einmal ihr unbändiger Hass gegen ihre beiden älteren Zwillingsschwestern und ihre Abneigung gegen ihre frömmelnde, bigotte Mutter und einen Vater mit einem fatalen Hang zu Alkohol. Selbstverständlich ist diese Konstellation nur eine sprachliche Verdichtung ihrer tatsächlichen Kindheit, denn natürlich war alles eigentlich gar nicht so schlimm. Damals. Immerhin gab es Bechertelefone, die man jederzeit unterbrechen konnte, denn man muss ja nicht immer erreichbar sein, wenn man gebraucht wurde. „Es ist die Zeit, als Jeanny im Radio rauf und runter gespielt wird. Quit livin’ on dreams.“, schreibt Adler, aber auch sonst erwähnt sie viel Kram aus den Neunzigern, etwa Schwarzenegger oder Knight Rider und natürlich MacGyver. „Der Lauf der Filmgeschichte entspricht der Chronologie der Filmgeschichte“, schreibt Adler an einer Stelle. Was konnte man am Land auch anderes tun, als den eigenen „Staubmagneten“ und „Versorger des Herzens“ zu lieben?

Infantin: Arabeske und Attitüde

Ihre Eltern konnten ihr wohl nicht genug Unterhaltung sein: „Meine Mutter rastet nicht, habe ich immer geprahlt. Und wenn sie rastet, dann rastet sie aus.“ Da hilft es manchmal, aufgeblasene Luftballons als Sauerstoffspender unter dem Bett aufzubewahren. Früher wohnten da noch Krokodile. „Der Unterschied zwischen dem und Holz ist der, dass Holz arbeitet“, meint der Vater. Die zitierten Kalendersprüche, die wir alle aus unserer Kindheit kennen, werden von Adler mit viel Sprachwitz und Situationskomik konterkariert. Es geht mehr um das Vergnügen an der Sprache und am Lesen als um eine Handlung. Und die richtigen Eltern müssen auch nicht wirklich beleidigt sein. Die rasante Abhandlung ihrer Kindheit strotzt manchmal vor banalen Obszonitäten, dann wieder wird Absurdes gereicht: Die Schwarze Anna führt eine offene Beziehung mit Prinz Valium, den sie als ihre Mätresse bezeichnet. Sie sucht einen Mann, der ihr keine Toblerone reicht, sondern die Pyramiden mit Schokolade überzieht. Ahja und für die Bildungsbürger ist auch etwas dabei: jedes Kapitel des gerade mal 150 Seiten starken Büchleins ist mit Zwischenüberschriften übertitelt, die von malerischen Werken europäischer Künstler stammen. Tatsächlich keine Frau dabei, deswegen kein –innen.

Helena Adler

Roman
2020, 176 Seiten, gebunden mit SU

ISBN: 978-3-99027-242-8

€ 20,-

Jung und Jung


Genre: Jugend, Kindheitserinnerungen, Roman
Illustrated by Jung und Jung