Juli, August, September

Juli, August, September. “Der Russe ist einer, der Birken liebt” war ihr Debüt, 2012, seither sind auch andere Bücher von dieser Autorin erschienen, die derzeit als Professorin an der Universität für angewandte Kunst in Wien unterrichtet. Die in Baku, Aserbaidschan Geborene lebt abwechselnd auch in Polen, Russland, der Türkei, den USA und Israel. Ihre Werke, ein Essay und vier Romane, wurden in 15 Sprachen übersetzt, fürs Radio und die Bühne adaptiert und verfilmt. In ihrem neuen Werk geht es um die liebe Familie und die Protagonistin Lou macht sich auf die Suche nach deren Geheimnissen. Zwischen Berlin, Gran Canaria und Israel.

Die Vergangenheit der Gegenwart

Tante Maya feiert ihren 90. Geburtstag. Sie lädt ausgerechnet auf die touristische Urlauberinsel Gran Canaria ein, weil sie dorthin ein Preisausschreiben gewonnen hat. Alle Familienangehörigen – oder zumindest jene die sich noch dazu zählen – müssen sich nun dort um sie versammeln und ihrer letzten Erzählung lauschen. Denn natürlich will sie sich in ihrem betagten Alter auch verabschieden. Und einiges zurechtrücken. Geschichte wird bekanntlich von den Siegern geschrieben und auch bei Familiengeschichten ist dies nicht anders. Dort schreiben die Überlebenden die Geschichte. Bald kommt Lou nämlich einem Familiengeheimnis auf die Schliche, die ihre andere Tante Rosa, nach der sie auch ihre Tochter benannt hat, betrifft.

Juli, August, September

Die beiden Schwestern Maya und Rosa durchlebten gemeinsam den Krieg und den Holocaust und ihre Nachkommen sollen nun endlich die Wahrheit erfahren, so, wie es wirklich war. Aber die Mutter von Lou ist damit gar nicht einverstanden. Lou selbst durchlebt auf Gran Canaria ihre erste Ehekrise, von der sie selbst nicht sicher ist, ob es sie nun wirklich gibt oder nicht. Denn Sergej ist einfach nur viel unterwegs, als Konzertpianist hat er keine andere Chance. Die Telefongespräche zwischen Salzburg und Gran Canaria verlaufen unbefriedigend. Und bald fragen sie alle, ob sie sich scheiden lassen wolle. Als dann noch ein Interview von Sergej erscheint, scheint das Fass überzulaufen. Lou fliegt nach Israel und begegnet dort ihrer Vergangenheit.

Ehe, Familie und Partnerschaft im 21. Jahrhundert

Es geht viel um die russisch-jüdische Identität, denn ihre Familie stammt eigentlich von Wolgadeutschen der Sowjetunion ab. Im Ausland werden sie dann abwechselnd als Russen oder Juden wahrgenommen, beides führt zu Komplikationen. An einer Stelle spricht sie auch über die “heritazniza”. Sie spreche die russische Sprache zwar nicht perfekt, aber sie löse sehr viel mehr Emotionen bei ihr aus als das Deutsche, so Lou. Besonders für die Kinder ist das Aufwachsen durch solche Zuschreibenden nicht gerade einfach. “In meiner Familie herrschte ein rigider Wettbewerb, wer die erfolgreichsten Kinder hatte. Denn der Erfolg der nächsten Generation war der Gradmesser gelungener Elternschaft.” Aber bald wird Lou konstatieren, dass sie alle versagt hatten. Und über allem liegt dieser feine Staub von Ironie.

Judentum als “kulturelle Performance”

Nicht nur weil sie ihr erstes Kind verloren hatte, sondern auch ihre erste Ehe, fühlt Lou, dass sie keineswegs zu den “Siegern” gehört. Ihr Judentum wäre ohnehin nur mehr eine “kulturelle Performance”, die nicht mal besonders gut sei. Als Lou schließlich entdeckt, dass Hannah, ihre Großmutter, ihre beiden Kinder Maya und Rosa während des Krieges im Stich gelassen hatte und ihr Ehemann als vermeintlicher Deserteur in ein sowjetisches Gefängnis gekommen war, spitzt sich die Handlung zu: “Als ich so alte geworden war, dass mein Erinnerungsvermögen einsetzte, hatte mein Großvater seines verloren“. Olga Grjasnowa erzählt in einer sympathischen, jugendlichen Sprache vom Schicksal aller jener, die durch den Krieg in alle Welt zerstreut wurden und seither versuchen, die verlorenen Teile wieder zusammenzufügen. “Juli, August, September” ist dafür ein guter Anfang.

Olga Grjasnowa
Juli, August, September
Roman
2024, Hardcover, 224 Seiten
ISBN 978-3-446-28169-1
Hanser Berlin
Deutschland: 24,00 €
Österreich: 24,70 €


Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Super einsam

Super einsam. “SO36”, die ehemalige Berliner Postleitzahl für einen ganz bestimmten Teil Kreuzbergs, wird in den Achtzigern zu einem Chiffre für politischen Widerstand und linksradikale Aktivitäten. “Mariannenplatz rot verschrien“, sangen damals Ideal. Für Vito, den Protagonisten von Anton Weils Roman, ist es vor allem seine Heimat. Denn in SO36 befindet sich die Wohnung seines Vaters, die er von ihm übernommen hat. Aber eigentlich will er nur raus hier, raus nach Südfrankreich. Oder wohin auch immer.

SO36 Heimat der Heimatlosen

Der Moment schien eben golden wie unser Bier“, meint Vito tröstend zu sich selbst, um ihn herum peitschen sich die Leute auf dem Klo Zeugs in die Nase oder konsumieren ganz offen, was es an legalen und illegalen Substanzen zu konsumieren gibt. Aber Vito ist nicht so, er besucht lieber einen IKEA Laden mit seinem Vater, denn dort gibt es eine “vorgegeben Route durch den Laden. Endlich etwas das Halt verspricht. Endlich Guidance“. Die Erkenntnis, dass er ob seiner Altersweitsicht eigentlich “Goethe-Augen” hätte, erfreut sein darbendes Gemüt, sein Vater jedenfalls ist sogar stolz darauf. Aber egal, denn jede Eskalation kann ja auch ein Bonding-Moment sein, gerade zwischen Vater und Sohn. Vielleicht sogar ein James-Bonding Moment. Solche Momente haben die beiden bitter nötig, denn Vito’s Mutter ist an Krebs gestorben und so sind beide Männer einsam. Super einsam. Aber Vitos Mutter hat ihm einen Koffer vererbt, den er erst an seinem 25. Geburtstag öffnen darf. Aber er ist noch nicht 25. Erschwerend hinzu kommt noch die Trennung von seiner Freundin Mia, was ihn noch viel super einsamer macht als seinen Vater. Aufgrund der Krisensituation lässt er sich auf einen Schwulenflirt ein, “seine Homophobie war durchwegs gay“, scherzt er vor sich hin, denn das tete a tete endet bei einem Sicherheitsbeamten.

Super einsam Retro-topie

Fuck, is das hell.” Anton Weil schreibt in kurzen, meist englisch übermittelten Kapiteln witzige Szenen aus dem Alltag seines Protagonisten und meist stellt man fest, dass man selbst noch in diesem Karussell hängt, von dem er hier schreibt. Denn die ganzen gesellschaftsverändernden Utopien der Achtziger oder Sechziger habe längst ausgedient und sind höchstens noch als Retro-topie denkbar. Wer würde denn schon freiwillig auf die 80m2 Wohnung des Vaters verzichten, wenn sie sich noch dazu in Kreuzberg SO36 befindet? Vito jedenfalls nicht. “Vielleicht ist es ein Hoffnungsschimmer, dann könnte ich hier wohnen bleiben. Halt frierend, aber immerhin habe ich eine Heimat.” Der Verlust seiner Mutter, die erst 49 war, traf den damals 17-jährigen wie eine Atombombe: “Ich wollte sehen, wie viel übrig bleibt von einem Menschen, der für mich die Welt, aber für die Welt nur ein Mensch war“, erklärt sich Vitolino sein Verhalten im Krematorium. Am Ende sieht er sie dann doch noch in 4K-Ultra-HD. Und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich zu bedanken. Denn sie war die ganze Zeit über da.

Ein Roman über einen schmerzlichen Verlust, der sich verdoppelt. Schön, dass Vito uns daran teilhaben lässt und so vielleicht auch jenen hilft, die ähnliches durchmachen. Nur den Kopf nicht hängen lassen, irgendwann kommt von irgendwoher wieder ein Lichtlein daher. Meistens wenn man es am wenigsten erwartet…

Anton Weil
Super einsam. Roman
2024, gebunden, 240 Seiten, 12.5 x 19 cm
ISBN: 978-3-0369-5042-6
Kein&Aber Verlag
EUR 22.70


Genre: Roman
Illustrated by Kein & Aber Zürich

Wien. Architektur und Kunst

Wien. Architektur und Kunst. Wien wird regelmäßig zur lebenswertesten Stadt wiedergewählt. Gerade im Herbst lohnt sich ein Besuch der Mitteleuropametropole, da ein Festival das andere abwechselt, sei es Musik, Kunst oder Mode. Der vorliegende Reclam Städteführer für Kunst- und Architekturliebhaber wirft sein Augenmerk aber auf die wichtigsten Profan- und Sakralbauten und den bedeutendsten Museen, also dem “Vienna Gloriosa”. Ein Stadtporträt, das die Stadtgeschichte in Daten und Besichtigungsvorschlägen für ein- und mehrtägige Aufenthalte in sich versammelt.

Vienna Gloriosa: barocke Moderne

Farbige Innenstadtpläne in den Umschlagklappen, zahlreichen Abbildungen, Stadtteilpläne, Grundrisse, ein Register sowie weiterführenden Literatur- und Internethinweisen zeichnen die neuen Reclam Städteführer aus. So auch dieser, der sich ganz Österreichs Hauptstadt widmet und sogar noch mit einem praktischen Farbleitsystem im Innenteil ausgestattet ist und so eine schnelle Übersicht ermöglicht. Die Autorin Hildegard Kretschmer, stammt zwar aus Salzburg, worüber sie bei Reclam auch einen Städteführer veröffentlichte, kennt sich aber in Wien genauso gut aus. Die Stadt, die einst nach ihrem Wienflussgerinnsel, der dieses Jahr während des Hochwassers erstmals zu einem reißenden Fluß wurde, benannt wurde, war einst ein römisches Militärlager, Vindobona, das eigentlich erst Bedeutung erhielt, als das Lösegeld für Richard Löwenherz in die Schatzkammer eintrudelte.

Stadterweiterung durch Lösegeld

Mit diesem Geld wurde die Stadt erweitert und ein Mauerring errichtet. Die Habsburger folgten auf ein kurzes Zwischenspiel der Böhmen und 1365 stiftete Rudolf IV. endlich eine Universität. Zu Vienna Gloriosa wurde Wien vor allem während des Barock. Eine Schrift von P. Ignatius Reiffenstuel SJ wurde so betitelt und zeigte das ruhmreiche Dörfl als Trutzburg des Katholizismus und der Gegenreformation. Selbst von der Französischen Revolution und Napoleon blieb die Wiener Bürgerschaft unbeeindruckt. Erst nach der Revolution von 1848 wandelte sich Wien schließlich endlich zur Großstadt, wie wir sie heute kennen.

Wien. Architektur und Kunst

Neben der Innenstadt zeigt Kretschmer aber auch die noblen Villenbezirke Hietzing, Währing, Döbling oder die Weindörfer Grinzing, Nussdorf und Heiligenstadt, die seit Ende des 19. Jahrhunderts zum Stadtgebiet gehören, da sie eingemeindet wurden. Seither hat Wien 23 Bezirke, die allesamt in vorliegendem Städteführer vorgestellt werden. Die Stadtgeschichte in Daten, dann ein Spaziergang durch die sog. Innere Stadt, die als einzige der 23 Bezirke keinen anderen Namen hat, wird gefolgt von einem Ausflug über die Ringstraße in den Dritten Bezirk, “Landstrasse”. Im Anhang befindet sich ein eigenes Kapitel zu den unzähligen Museen sowie praktische weiterführende Informationen mit Telefonnummern und Internetadressen. Der Reclam Städteführer hat in jeder Jackentasche platt und ist ideal für unterwegs und unentbehrlich für Architektur- und Kunstaficionados.

Von Hildegard Kretschmer
Reclams Städteführer Wien. Architektur und Kunst
4. durchges. und aktual. Auflage von Maximilian Hartmuth
2024, 220 S., 18 Farbabb., 10 Karten, Klappenbroschur. Format 9,6 × 14,8 cm
ISBN: 978-3-15-014632-3
Reclam Verlag
15,00 €


Genre: Stadtführer
Illustrated by Hildegard Kretschmer, Reclam Verlag

Newman: Bilder aus Amerika

Marvin E. Newman blickt auf das Amerika 1951-2023

Newman. Der vor einem Jahr verstorbene “Sports and Street Photographer”, wie ihn die New York Times in ihrem Nachruf vom September 21, 2023
nannte, huldigt in vorliegendem XL Bildband vor allem der Metropole New York, wo er 1927 auch geboren wurde. Newman wurde 95 Jahre alt.

Originelle Tableaus und neue Perspektiven

Als Straßenfotograf bezeichnet man einen Fotografen, der fähig ist auf die Impulse eines Moments adäquat zu reagieren und einen bestimmten Augenblick mit seiner Linse zu erhaschen. Rund 170 Fotos zeigen in vorliegendem Prachtband, dass Newman eine unbestechlich makellose Technik und einen Blick für Menschen in New Yorker Stadtansichten, Sportaufnahmen und Impressionen aus anderen Teilen der USA hatte. Die erste große Retrospektive der Karriere dieses bemerkenswerten Straßenfotografen, der außerhalb eines namhaften Sammler- und Galeriekreises weitgehend unentdeckt blieb. Lyle Rexer ist ein in New York ansässiger Schriftsteller, Kurator und Kunstkritker, der das Vorwort geschrieben hat. Herausgeber Reuel Golden, ehemaliger Chefredakteur des British Journal of Photography, ist Editor für Fotografie bei TASCHEN. Für TASCHEN hat er unter anderem den spektakulären Titel Mick Rock: The Rise of David Bowie herausgegeben.

Amerika 1951-2024: R.I.P.

Die beiden zeigen Marvin E. Newman, der bei Institutionen wie dem Eastman House, dem MoMA und dem International Photography Center einen exzellenten Ruf genoss, als Porträtisten der „Greatest City in the World“, New York City, vom Times Square bis zur Wall Street. Auch wenn der Fotograf am Chicagoer Institute of Design (Ex New Bauhaus Chicago) sein Studium (“Master of Science in Fotografie”) absolvierte, kehrte er doch gerne wieder in die Weltstadt zurück, um ihre Entwicklung zum Inbegriff des Weltkulturerbes und Kosmopolitismus fotografisch zu begleiten. Im Unterschied zu seinen Vorgängern wählte Newman erstmals die Farbfotografie als bevorzugtes Medium. Damit wollte Newman die lebendige Atmosphäre des grünen Apfels noch besser eingefangen, als dies zuvor schon gelungen war.

Newman: Bilder für Herz&Hirn

New ways of perceiving and representing reality“, sei die Aufgabe von Fotografie, wie es der Emigré László Moholy-Nagy, ein Lehrer Newmans ausdrückte. Ein Bild mit “Chicago South Side 1950” betitelt zeigt drei Kinder, ein schwarzes, ein weißes und in der Mitte eines mit Maske. Ein anderes die ganz in Schwarz gehüllte Jackie Kennedy neben ihrem Schwager Robert vor dem Sarg ihres Mannes. Die ersten Fotos zeigen seinen Studienort Chicago, dann Fotos aus seinen Sommern in New York, wo er etwa das San Gennaro Festival in Little Italy porträtierte. Der Strand von Coney Island 1953, wo Leute noch in Liegestühlen lagen, um sich zu bräunen, was heute nicht mehr möglich ist, war damals en vogue.

Newman’s Land: von New York nach Kalifornien

Die Lichtspiele des Broadways in Reflexion, darauf ein Spieltisch aus Las Vegas und ein Übergang zum Zirkus als Sujet. Sogar in Alaska hat Newman seine Kamera ausgepackt und die ersten Inuits fotografiert, was damals noch nicht oft passierte. Vom Heartland an die Wall Street zum Sport, wo auch einige Bilder des jungen Muhamed Ali gezeigt werden. Schließlich noch nach Kalifornien, das 1966 bereits als gelobtes Land gefeiert wurde. Wenn du zu Fuß gegangen wärst, hätten sie dich aufgehalten, schmunzelt Newman über die Motorisierung der damaligen Jugend. Aber auch die Schattenseiten lichtete Newman ab.

Newman: “it’s a crazy word to use…romantic”

Ein Besuch der Mustang Ranch für seinen Auftraggeber Look zeigt Prostituierte von ihrer romantischen Seite. Newman fiel auf, wie sie ihre Zimmer “it’s a crazy word to use…romantic” gestalteten oder vor einer Jukebox ohne Schuhe tanzten. Fotos des Times Square, der 42nd Street, schließt den Band ab: Jeder war nur dort, um zu sehen, was am Times Square so passiert. Originelle Tableaus und neue Perspektiven auf vertraute New Yorker Wahrzeichen aber auch Impressionen aus anderen Regionen der USA.

Impressionen Amerika 1951-2023

unter anderem aus Chicago und Kansas, von einem alten Zirkus aus den Fünfzigerjahren, aus einem Bordell in Reno Nevada, aus Las Vegas, Alaska und dem Kalifornien des 20. Jahrhunderts, sowie Aufnahmen aus seinem Sportfotografie-Portfolio mit Ikonen wie Cassius Clay und Pele werden in vorliegendem Band gezeigt. Ein Essay des Kritikers und Wissenschaftlers Lyle Rexer würdigt die erste chronologische Retrospektive eines herausragenden Talents und liefert denkwürdige Bilder für das Auge und viel Nahrung für das Gehirn . Bei TASCHEN ist auch “New York: Portrait of a City” von Newman erschienen.

Marvin E. Newman, Lyle Rexer, Reuel Golden
Marvin E. Newman
2024, Hardcover, XL (25 x 36 cm), 2.66 kg, 240 Seiten
ISBN 978-3-8365-9912-2
Ausgabe: Englisch
TASCHEN Verlag
€ 60


Genre: Amerika, Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Die Erstgeborenen: Wie sie ihre Kindheit den Geschwistern opfern

Die Erstgeborenen. Wer (ältere) Geschwister hat, wird das weitverbreitete Klischee kennen, dass diese es schwerer gehabt hätten. Wegen der Zeit, der Gesellschaft, der Eltern. Sie hätten vorgekämpft, wovon die jüngeren nun profitieren würden. Aber oft ist genau das Gegenteil der Fall: die Jüngeren müssen das Kreuz der Älteren tragen.

Auf dem Thron: der Erstgeborene

Der deutsche Psychologe, Psychoanalytiker und Schriftsteller Wolfgang Schmidbauer, Jahrgang 1941, ist ein Zweitgeborener. Als sein Bruder, der Erstgeborene, diese Welt verließ, begann sich der Autor mit dem Thema zu beschäftigen, das ihn offensichtlich auch mit 83 noch zu interessieren scheint. Wie so oft in seinen Büchern wird auch der vorliegende Text durch Fälle aus der Praxis des Therapeuten mit eigenen Erfahrungen angereichert. So entsteht ein komplexeres Bild einer ohnehin vielseitigen Situation, die sicherlich nicht immer gleich verläuft. “Der Eindruck, den das Geschehene auf mich gemacht hatte, mischte sich mit der aktuellen Trauer über Ernsts Tod. Jedenfalls traf mich der tragische Aspekt der Geschichte des Erstgeborenen wie ein Schlag. Ich war unschuldig und doch Täter. Ich hatte ihm etwas kaputt gemacht.” Da der Vater der beiden Söhne im Krieg gefallen war, wuchsen sie bei ihrer Mutter auf. In so einer Situation werden Erstgeborene oft in “die Rolle des Vorbilds gedrängt und geben sich dann auch Mühe, diese auszufüllen”, so Schmidbauer. Die Jüngeren würden dann oft als “ansprüchlich und undankbar” von den Älteren empfunden.

Böser Ackerbauer vs guter Hirte

Der eine teilt, der andere wählt. So hätten sie es als Kinder oft gehandhabt, wenn es etwa um das Teilen einer Schokolade ging: ersterer bemüht sich dann natürlich möglichst gleich und gerecht zu teilen, weil zweiterer sonst ja das größere Stück bekommt. Aber was, wenn der eine Ackerbauer ist, dem die Schafe des Hirten alles wegfressen? So geschehen BC als der Erstgeborene Kain genau deswegen seinen jüngeren Bruder Abel kurzerhand erschlug. Trotz der gemeinsamen Haltungen (“Sparsamkeit, Liebe zur Natur, Abneigung gegen Pathos und Geschwätz“) hätten die beiden Schmidbauer-Brüder als Erwachsene aber nie mehr richtig zusammen gefunden. Den Grund dafür zu finden mag auch eine Motivation gewesen sein, dieses Buch zu schreiben. Im dritten Kapitel, “animalische und narzisstische Dimension” betitelt, definiert der Autor den Begriff Wahrnehmung auf eine interessante Weise. “Wahrnehmung ist generell kein passiver Prozess, sondern ein aktives, schöpferisches Geschehen in dem wir Reize entlang unserer Erwartungen und Wünsche interpretieren“, in der Psychologie auch als Attribution bezeichnet. So bezeichnet sich der jüngere Sohn des britischen Königs als “spare“, Ersatzteil, der ältere als “heir“, Erbe. Aber diese Vorstellung stammt aus einer Zeit, als das Leben noch kurz und kriegerisch war. Heutzutage stehen wir vor ein gänzlich anderen Situation.

Aggression, Progression, Regression

Anhand des berühmten Briefes Kafkas an seinen Vater, Tolkiens Hobbit oder der Konflikte zwischen Sigmund Freud (ein Erstgeborener) und seinen Jüngern sowie Ludwig van Beethoven und Greta Thunberg exemplifiziert Schmidbauer, dass die familiäre Rolle auch große Auswirkungen auf das gesellschaftliche und soziale Auftreten einer Person haben. Wer aber immer voller Sanftmut alles richtig mache, keine eigene Bosheit kenne und sich vor seinen Mitmenschen fürchte, werde nicht glücklich, sondern depressive, schreibt Schmidbauer über die Aggression. Progression wiederum ist bei ihm die “Freude an der aktiven Bewältigung des Lebens” und Regression der kindliche Genuss der Abhängigkeit. Oft wird das eine erreicht, aber das andere ersehnt. Und was das Verhältnis der beiden Brüder betrifft, bleibt Schmidbauer bis zum Ende des Buches offenherzig und nachdenklich. Sicherlich eines der persönlichsten Bücher des großen Psychologen, der sich nicht länger den Kopf drüber zerbrechen möchte, warum etwas “nicht” passiert ist. Manchmal liegt zwischen einem Gedanken und seiner Ausführung eben ein ganzes Leben. Die Dynamiken zwischen Geschwistern sind oft sehr unterschiedlich und nur unter Umständen vergleichbar. Modelle wie “Der Erstgeborene” spielen dabei eine Rolle, aber sicher nicht die einzige. Die Lektüre von Schmidbauer ist wie immer eine äußerst inspirierende und bietet Raum zur Interpretation. Was übrigens, wenn die Erstgeborenen ihre Rolle gar nicht übernehmen wollen? Wie man an Kain sieht, sind das gar nicht so tolle Gesellen, diese Erstgeborenen…

Wolfgang Schmidbauer
Die Erstgeborenen: Wie sie ihre Kindheit den Geschwistern opfern
2024, Hardcover, 176 Seiten
ISBN-10 3987900555
Bonifatius Verlag
€ 18,5.-


Genre: Psychologie, Ratgeber
Illustrated by Bonifatius

Junge aus West-Berlin

Junge aus West-Berlin. Der Mauerfall ist auch schon wieder 35 Jahre her. Die Politik feierte sich selbst, aber wie war das damals eigentlich für die Menschen? Maxim Leo hat eine Liebesgeschichte geschrieben, die vor dem Systemwechsel beginnt und mit demselben endet. Marc und Nele erzählen abwechselnd
Was sie damals erlebten und die Illustratorin gibt ihren Gedanken Gestalt in inspirierenden Bildern.

Romeo/Julia zwischen West/ Ost

Das zudem Besondere an diesem 18. Band der Lieblingsbuch-reihe von Kat Menschik sind nicht nur die vierfarbigen Illustrationen, die Hoch- und Tiefprägung, der Farbschnitt und das Lesebändchen, sondern auch der alte, imprägnierte DDR-Stempel am Pappcover. Da werden Erinnerungen sogar haptisch wach, ein unglaubliches Erlebnis. Marc, der Junge aus West-Berlin, fährt an den Wochenenden gerne in den Osten. Dort ist er jemand, er fällt auf, weil er Geschenke wie Bücher, Platten, Musikzeitungen mitbringt und Dinge weiß, von denen keiner je etwas gehört hat. So lernt er auch Nele kennen mit der er Sartre liest, Weinbergschnecken isst und von Paris träumt. Eines versichert ihm Nele, dass “wir nie von München oder Hamburg geträumt haben. Dafür umso mehr von Montmartre, Picasso, der Provence und Alain Delon“. Auch wenn die Westdeutschen später etwas anderes behaupten würden. Nele zeigt Marc wie man in Ostberlin ganze Straßenzüge von Dach zu Dach springen konnte, über Flachdächer, auf denen man geradezu flanieren konnte, wie sie französisch betont. Über die Liebe zu Nele sagt Marc, dass er sehr schnell begann Vertrauen zu entwickeln, “In uns. Das mag vielen banal erscheinen, für mich war es revolutionär“. Aber als sich das Ende der Mauer abzeichnet, befürchtet er, dass sie ihn nicht mehr lieben wird, wenn sie herausfindet, dass er eigentlich ein Niemand ist. Denn er ist gar kein erfolgreicher Tourmanager, sondern ein einfacher Roadie. “Ich hatte das Gefühl, ohne meine Legenden, ohne diese Mauer, ein Niemand zu sein.” Also hofft er, dass alles so bleibt wie es ist. Doch dann kommt die Nacht der Nächte. Der Mauerfall. Nele bemerkt, dass sie schwanger ist, aber Marc ist verschwunden. Werden sie sich in den Wirren der politischen Ereignisse wiederfinden?

Junge aus West-Berlin in Not

Die herzzerreißende Liebes-geschichte zwischen Marc aus Westberlin und Nele aus Ostberlin wird voller Liebe und Hingabe erzählt und zeigt, dass es oft nicht die Worte sind, die einen verbinden, sondern das, was man spürt. “Möglicherweise hätten wir dieses tiefe Verständnis, das wir füreinander hatten, sogar aufs Spiel gesetzt, wenn wir versucht hätten, es mit Worten zu ergründen.” Der Sommer 1989 war auch der Sommer der Liebe zwischen Marc und Nele. Rebellion und Aufbruch überall, fröhlich-bunte Anarchie im grauen Schattenland diesseits der Mauer. Autor Maxim Leo und Kat Menschik verarbeiten in ihrem gemeinsamen Buch auch ähnliche Erfahrugen, die sie damals gemacht hatten. Maxim Leo ist 1970 in Ostberlin geboren und dort aufgewachsen. Er ist Journalist und Autor. Er hat zahlreiche Bestseller geschrieben, darunter seine autobiografischen Romane. Kat Menschik hat ihre Jugend wie Maxim Leo in Ostberlin verbracht und den Sommer 1989 in der Ostberliner Künstler- und Punkszene miterlebt. Heute ist sie namhafte Illustratorin. Verblüffend, dass sich die beiden damals gar nicht kennengelernt haben, meint Menschik, denn sie verkehrten in denselben Freundeskreisen und hatten ähnliche Interessen. PS: Das Mauergrau ist Absicht!

Maxim Leo, Kat Menschik
Junge aus West-Berlin. Mit Illustrationen von Kat Menschik
2024, 77 Seiten, vierfarbige Illustrationen, Hoch- und Tiefprägung, Farbschnitt, Lesebändchen
ISBN 978-3-86971-304-5
Galiani Berlin
23 € (D) / 23,70 € (A)


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Galiani

Die Glückseligen

Die Glückseligen. In insgesamt vier in ungleiche Längen unterteilte Kapitel erzählt Gustav Ernst die Geschichte von Ulrich und Rosanna, wobei letztere vielleicht gar nicht so heißt. Eine Satire voll bittersüßer Ironie, die die menschlichen Abgründe wie in Platons Höhlengleichnis hell ausleuchtet.

Surreale Groteske in Wiener Vorstadtvilla

Ulrich bekommt Freitag abends eine Einladung zu einer Geburtstagsfeier eines ehemaligen Schulfreundes. Aber da sie sich schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben ist er so unschlüssig, dass er erst im Taxi bemerkt, sein Handy vergessen zu haben. So kann er seine Frau Emma nicht informieren, aber es wird ja auch nicht so lange dauern, denkt er sich noch. Außerdem ist sie ja sowieso auf Kur. Nach Jahrzehnten als Angestellter rechnet er ohnehin mit seiner Kündigung und da kommt es ihm gerade recht, sich einfach mal so treiben zu lassen. Bei strömendem Regen steigt er in einem Wiener Randbezirk aus dem Taxi und betritt das Wohnhaus an der genannten Adresse. Schon beim Eingang verwickelt ihn ein Herr in ein Gespräch, der den Herrn Kohout, den Gastgeber gar nicht zu kennen scheint. Am Buffet sind auch andere Gäste sehr geschwätzig und Ulrich wundert sich über das üppig ausgefallene pompöse Fest, das er seinem alten Mitschüler gar nicht zugetraut hätte. “Denn sie müssen wissen, weinende Männer sind das Letzte” haucht ihm eine Dame zu und bevor es richtig hitzig wird, siedelt der “harte Kern” der Party in ein Hotel um. Oder ist es eine Villa? Ulrich versucht dort seine Rosanna wiederzufinden, die ihm jäh während eines Dialoges entrissen wurde. Vielleicht war da auch die Zunge im Spiel? “80 Millionen Bakterien werden beim Küssen getauscht, stäbchenförmige, kugelförmige, spiralförmige sowie alle möglichen Herpesviren, Myzel- und Hefepilze“, klärte Rosanna ihn zuvor noch auf. Ob er sie jetzt deswegen suchte? Oder wegen seiner Maxime: Nie Terrain aufgeben. (Eigentlich der Tipp eines 92-jährigen in der Villa.)

Eine Party mit den Glückseligen

Und dann gibt es da noch die Dame mit Korallenhalskette, den Herr Knobloch und am Ende den Eric. Alle schweifen sie ziellos auf den Gängen dieser Villa umher, wo sie sich doch eigentlich schon stapeln. Ein Gast vergibt sogar Wartenummern, weil sich vor der Villa eine Warteschlange bildet. Nicht einmal bei Peter Sellars “Partyschreck“-Party ging es so zu. Aber wie sagt Rosanna so schön: “Nur als lebenslanger Künstler kann man wirklich ein Künstler sein.” Auch wenn der Gastgeber sich nicht blicken lässt, wird die Pointe am Ende doch überraschend und mit Understatement serviert. Gustav Ernst hat einen unterhaltsamen Roman voller pointierter Dialoge und Schlüpfrigkeiten geschrieben, der einerseits abstrus verwirrend, andererseits die menschliche Tragikomödie so treffend abbildet, dass es über 250 Seiten beinahe keine Verschnaufpause gibt, wären da nicht die leeren Seiten der Kapitelunterteilungen. Es wird nicht jedem gefallen wie der Autor seine männlichen Protagonisten über die Frauen sprechen lässt oder sexuelle Vorlieben ausplaudern, aber auch die Frauen sind ähnlich vulgär, schließlich bleiben sie sich nichts schuldig. Die dekadente Gesellschaft der “Glückseligen” hat nichts zu verlieren, denn sie haben bereits alles gewonnen. Das Leben ist ein unendlicher Monolog in dem sie ihren Ennui auf Partys zudröhnen, wo keiner dem anderen zuhört. Ulrich mag da eine Ausnahme sein. Denn er hört Rosanna sehr gerne zu. Vielleicht sogar etwas zu gerne, für einen verheirateten Mann.

Unentbehrlich ehrlich

Der Autor spricht von einer “inneren Dystopie“, wen er über seinen rasanten und doch sehr schonungslos erzählten Roman resümiert. Drastik und Realitätstreue sind nicht unbedingt widersprüchliche Stilmittel, wenn sie genau den Zweck erreichen. Die Glückseligen tanzen ihren Tango, ohne Umarmungen. Denn jeder ist nur mit sich selbst beschäftigt. Oder mit seiner Selbstdarstellung. Ulrich wirkt dabei wie der Elefant in der zitierten Blake Edwards Party-Komödie, fehl am Platz, aber unentbehrlich ehrlich.

Gustav Ernst
Die Glückseligen
2024, 240 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-85449-659-5
Sonderzahl Verlag
€25,00


Genre: Humor und Satire, Roman
Illustrated by Sonderzahl

A Vicious Circle – Ein Teufelskreis 1/3

A Vicious Circle: Die neue Serie von Lee Bermejo (Batman Damned) im Album-Format und Autor Mattson Tomlin (“The Batman”) spielt in der Kreidezeit, im Tokio des 22. Jahrhunderts und dem New Orleans der 1950er, also auf verschiedenen Zeitebenen. Denn jedesmal wenn  Shawn Thacker, eine Attentäter aus der Zukunft, jemanden tötet verschlägt es ihn in ein anderes Jahrhundert.

Attentate in Zeitreisen

Shawn Thacker sinnt auf Rache an dem Mann, der ihm näher ist als alle anderen. Beide Männer verwickeln sich in einen Kampf auf Leben und Tod, der sich anschickt, den Lauf der Geschichte zu verändern. Im ersten Albumband wird die Zeit der Bürgerrechtsbewegung thematisiert, als ein Teil der amerikanischen Bevölkerung für ihre bloße Hautfarbe gehasst wurde. Die Zeichnungen sind sehr dokumentarisch und fotografisch, in S/W und erzählen von einer dunklen Zeit als das Leben eines Bürgers nichts wert war. Aber dann passiert etwas Schreckliches, dass den Protagonisten in die Zukunft schleudert, die sich in Farbe abspielt. “Willst du in bessere Zeiten zurück? Die guten alten Tage?“, trägt ihn ein computeranimiertes Schulmädchen-Manga. “Das war vor Jahren, oder liegt Jahre in der Zukunft. Ich hab den Überblick verloren.

A Vicious Circle: Artwork und Stildiversität

A Vicious Circle bewegt sich auf verschiedenen Leseebenen. In einem Interview im Anhang erzählt Lee Bermejo, wie er seinen Autor fand. Mattson hatte in seinen Posts auf insta hervorragende Einzelbilder von Filmen geteilt, die auch Lee liebt. Sein gutes Auge für Momente und Kompositionen sorgte für die Annäherung der beiden schon während der Pandemie. Damals beschlossen sie schon, etwas gemeinsam auf die Beine zu stellen. Was sich nun in den vorliegenden drei Bänden realisierte ist die Geschichte von Thacker, die sich im Laufe der drei Alben zu Ferris verschiebt. So viel darf – was den Plot angeht – verraten werden. Allerdings ist das Artwork und die Zeichnungen an sich schon so bestechend, dass es gar keines genauen Plot bedarf, um schon nach Band 1 zu wissen, dass sich diese Geschichte noch zu einem echten Highlight der bisherigen Comicgeschichte entwicklen wird. Dazu reicht schon ein Blick auf die Verlagsseite von Panini. Die einzelnen Jahrhunderte oder manchmal Jahrzehnte werden in jeweils unterschiedlichen Stilen präsentiert und sorgen so für maximale Diversität und superdiverse Abenteuerdichte.
Mattson Tomlin/Lee Bermejo
Original Storys: A Vicious Circle 1
2024, Hardcover, 60 Seiten, Album Format mit den Maßen ca. 21 x 32 cm
ISBN:  9783741638206
Panini
16,00 €

Genre: Comic
Illustrated by Panini Comics

Sacred Sites

Sacred Sites. Die Reihe “Bibliothek der Esoterik”, die im TASCHEN Verlag verlegt wird, präsentiert “Orte der Andacht. Eine visuelle Erkundung der bedeutendsten Kultstätten“. Sacred Sites widmet sich dem menschlichen Bedürfnis nach Spiritualität durch eine visuelle Pilgerreise zu Bergen, Pyramiden oder Kathedralen. Mit vielen Essays, Interviews und mehr als 400 Bildern werden heilige Orte besucht. Darunter antike Tempel ebenso wie moderne Werke der Land Art.

Sakrale Geometrie und Architektur

Jessica Hundley, Autorin, Filmemacherin und Journalistin, erkundet in vorliegender Publikation Themen der Counterculture mit einem Fokus auf die metaphysischen, psychodelischen und magischen Aspekte. Hundley hat schon für die Vogue, Rolling Stone und die New York Times geschrieben, aber auch schon Bücher über Künstler wie Dennis Hopper, David Lynch und Gram Parsons veröffentlicht. Für Sacred Sites bekam sie Zugang zu Privatsammlungen, Bibliotheken und Museen aus aller Welt, die ihr Exponate zur Verfügung stellten. Werke der Moderne ebenso wie Archivbilder dokumentieren das Streben nach einem spirituellen Zugang zu unserer Welt, dem man natürlich auch durch (Tag-)Träume und Albträume auf die Spur kommen kann, um sich so selbst in Beziehung zum Göttlichen zu setzen.

Library of Esoterica: Sacred Sites

Faszinierend ist auch die Übereinstimmung vieler sakraler Gegenstände in den unterschiedlichsten Kulturen. So kommen etwa die Pyramiden, Monumente für eine Vielzahl von Göttern, sowohl in Afrika als auch Südamerika vor. Eine kosmische, sakrale Geometrie und Architektur ist aber auch in den marmornen Heiligtümern, die für die griechischen und römischen Göttinnen erbaut wurden, zu finden. Ebenso in windgepeitschten Bergklöstern des alten Asiens und in den Felsenwohnungen der Ureinwohner des amerikanischen Südwestens. Natur, Kunst, Schönheit stehen im Zentrum des fünften Bands der TASCHEN Reihe “Library of Esoterica” und zeichnet sich durch eine ästhetische sowie essayistische Annäherungsweise aus.

Ein spiritueller Ort des Rückzugs für jedermann

Your sacred space“, meinte Joseph Campbell in seinen Reflections on the Art of Living 1993, “is where you can find yourself again and again. You really don’t have a sacred space, a rescue land, until you find somewhere to be that’s not a wasteland, some field of action where there is a spring of ambrosia – a joy that comes from inside, not something external that puts joy into you – a place that lets you experience your own will and your own intention and your own wish so that, in small, the Kingdom is there. I think everybody, whether they know it or not, is in need of such a place.” Wer sich – zumindest auf den Seiten dieses Buches – auf eine spirituelle Reise zu Heiligen Stätten durch die Kontinente und Jahrhunderte begeben möchte, wird vielleicht sogar einen Hinweis finden, wo er/sie sich selbst so einen heiligen Raum einrichten könnte.

Spirituelle Inspiration aus der Welt

Für Inspiration sorgt die vorliegende reich bebilderte Publikation, die zu den Pyramiden Ägyptens ebenso führt wie nach Stonehenge oder ins mythische Indien. Die rätselhaften Nazca Lines werden besucht und abgebildet und interessante Texte erklären die Zusammenhänge. Faszinierende Orte, die es entweder tatsächlich gibt oder von der Fantasie eines Menschen erschaffen wurden. Jessica Hundley hat sich schon durch viele andere Publikationen beim TASCHEN Verlag profiliert und steht für gleich bleibende Qualität. Eine spirituelle Reise zu alten Kulturen und jenen Resten davon, die in jedem von uns noch vorhanden sind.

Jessica Hundley
Sacred Sites. The Library of Esoterica
2024, Hardcover, quarterbound, 17 x 24 cm, 1.77 kg, 520 Seiten
ISBN 978-3-8365-9060-0
TASCHEN
€ 30


Genre: Esoterik und Grenzwissenschaften, Sachbuch Esoterik
Illustrated by Taschen Köln

Set the Night on Fire

Set the Night on Fire. 1965, Venice Beach, California: vier illustre Gestalten gründen eine der aufsehenerregendsten Bands der Sechziger. Vor allem ihr Leadsänger Jim Morrison zieht die Aufmerksamkeit der sensationsgeilen Medien auf sich. 1967 ihr erster Durchbruch mit der Number 1 Hit Single Light My Fire. Geschrieben hat diesen Song Robby Krieger, der Gitarrist, der in vorliegender Autobiographie seine Sicht der Dinge darlegt.

Set the Night on Fire!

Nach den Autobiographien von Ray Manzarek und John Densmore, den beiden anderen Gründungsmitgliedern, ist nun auch mit großem zeitlichen Abstand auch Robby Kriegers Lebensbeichte erschienen. Denn es geht bei weitem nicht nur um die Doors, in seiner Autobiographie, Robby hatte auch ein Leben außerhalb und nach den Doors. Denn 1969, nur vier Jahre nach der Gründung der Band, war eigentlich alles schon wieder vorbei. Der Miami-Vorfall hatte die Band an den Rand ihrer Existenz gebracht und Jim Morrison wäre eventuell sogar im Gefängnis gelandet, wäre er nicht noch vor Prozessende am 3. Juli 1971 in Paris an einem Herzinfarkt in der Badewanne gestorben. Oder war es doch das Heroin, das seine Freundin und Langzeitlebensgefährtin Pamela Courson ihm verabreichte? Robby Krieger hält nicht hinter dem Berg, dass auch er die fatale Droge damals konsumierte. Genauso wie Kokain, Marihuana und LSD. Letztere, die sog. bewusstseinserweiternde Droge, war bei Gründung der Doors sogar noch legal. Alle hatten es damals probiert.

It was the sixties, man!

Für Jim Morrison war es laut Robby Krieger nur eine Möglichkeit seine Grenzen zu testen. Meistens testete er seine Grenzen aber an seinen Bandenmitgliedern, wie Robby verschmitzt bemerkt. “The worst hair in Rock’n’Roll” lautet seine bescheidene, selbstironische Selbstbeschreibung. Immerhin hatte Robby die größten Hits der Doors geschrieben, seinen süffisanten Humor beweist er auch in seiner Autobiographie. Etwa wenn er erzählt, dass es “Light My Fire” – immerhin der größte Hit der Doors – niemals ohne die Coverversion von José Feliciano “in den Orbit” geschafft hätte. Offene Worte findet Robby auch über seinen Zwillingsbruder Ronny, seine Eltern oder seine Beziehungen: “Or when I contracted crabs (Filzläuse, AP). What can I say? It was the sixties, man.”

Ship of Fools

Die Struktur von Robbys Doors Narrativ richtet sich lose nach den Studioalben der Band. Aber er öffnet auch den Zugang zu seinem öffentlichen und privaten Leben in Rückblenden und Meditationen zwischen dem Hier und Jetzt. Große Genugtuung brachten ihm die Tourneen der Doors nach Jims Tod, denn Robby spielte in den verschiedensten Formationen, u.a. auch mit Ray Manzarek in The Doors of the 21st Century mit Ian Ashbury (The Cult) als Morrison-Inkarnation. Allerdings brachten diesen Auftritte auch John Densmore und die Coursons und Morrisons auf den Plan, die das “Erbe der Doors” schützen wollten und Klage einreichten. Legal Battles waren die Folge, die vielleicht länger in Erinnerung bleiben als die guten Zeiten, die sie miteinander verbrachten. Aber spitzbübisch wie er nun einmal ist managte er auch diese eingefahrene Situation. So wie die Konzerte: Sie hätten nie mit einer Set List gespielt, erzählt Robby, denn das heute dem Konzert die Spontanität genommen und die Beziehung zwischen Band und Publikum zerstört.

Trauma Hochschaubahn

Was Oliver Stone in seinem Film aus Jim gemacht hätte? “He came across as a pretentious, obnoxious, stupid Druck who was a dick to everyone around him”, aber Jim war eher so: “He was a funny, and shy, and when he was out of line he knew it, and he was sorry. He hat a way of making everyone who mit him feel like he was their best friend.” Seine Zeit mit Jim Morrison bezeichnet er als “six year roller coaster ride“, und beschreibt die Zeit nach der Achterbahnfahrt dann so: “It was full of loops and corkscrew turns and Drops that suspended laws of gravity. We needed a Moment for our heart Rates to return to normal“. Man merkt trotz allem Humor und der vielen anderen Geschichten, dass Robby immer noch im Bann der Doors steht und irgendwie unter dem Schock des Verlusts. Man stelle sich vor, dass der wichtigste Mensch im Leben einfach von einem zum andern Tag verschwindet: “There was no one last Drink. There was no one last meal. A few days later he was just gone.” Erst nach Paris, dann in den Orbit.

To me, its value lies in what it inspired“, meint Robby über seine verschollene Gibson SG mit der er Light My Fire komponiert hatte. Vielleicht gilt das auch für das Werk, das die Doors hinterlassen haben.

Robby Krieger
Set the Night on Fire
Living, Dying and Playing Guitar with the Doors
2021, 432 Seiten, 196 x 128mm
ISBN-13 978-1-4746-2418-3
White Rabbit Publishing
€ 20.-


Genre: Autobiografie, Kunst, Musik und Literatur, Sechziger
Illustrated by White Rabbit Publishing

Blutorangen – Eine Reise zu den Zitrusfrüchten Italiens

Blutorangen. Der Gastrosoph Peter Peter glänzte schon durch eine prämierte Kulturgeschichte der italienischen Küche sowie Literaturguides zu Sizilien und Neapel. In seinem neuen Werk, Blutorangen, widmet er sich ganz der wichtigsten Frucht des Südens: der Zitrone.

Kulturgeschichte der Blutorangen und Zitronen

Schon Goethe assoziierte mit Italien “das Land in dem die Zitronen blühen”. Aber es war nicht nur die Zitrone, sondern eine Vielzahl an Zitrusfrüchten, die ihm damals begegneten: Zitronen, Mandarinen, Blutorangen, Bergamotten, Pomeranzen, Zitronatzitronen. Kurz auch als “Agrumen” bezeichnet, vom lateinischen “acer” für „scharf, herb, sauer“, dabei sind Zitrusfrüchte alles andere als nur das. Peter Peter zeigt uns in seiner kulinarischen Kulturgeschichte, dass das Wort für Orange aus dem Sanskrit Naranga stammt und selbst Apfelsine sich auf den Orient bezieht. Der “Apfel aus China“, die Apfelsine, stammt vermutlich aus dem Himalaya, Burma oder dem südchinesischen Yunnan und vielleicht hat wirklich Marco Polo sie von dort mitgebracht. Aber schon in Pompejis Wandfresken waren Zitrusfrüchte abgebildet, somit kannten sie auch schon die alten Römer. Interessant für Züchter ist die Tatsache, dass Zitrusbäume Selbstbestäuber sind und “nicht unbedingt auf die Hilfe von Bienen angewiesen sind“, so Peter. Die ersten Zitronen der italienischen Halbinsel dürften im 10. Jahrhundert in Amalfi geerntet worden sein, die Seerepublik hatte eben privilegierte Orientbeziehungen, also noch lange vor Marco Polo über Zitronen verfügt. Da Zitronen aufgrund ihres Vitamin C Gehalts gut gegen Skorbut sind, verzeichnete die Frucht einen grandiosen Aufstieg im Europa der Seefahrt in den kommenden Jahrhunderten. Aber auch für arme Leute war die Zitrone nichts weniger als das Versprechen auf das Paradies: “Qui tocca anche a noi poveri la nostra parte di ricchezza. Ed è l’odore dei limoni“, wie es in einem zitierten Gedicht von Eugenio Montale heißt. Wer dabei an Limoncello denkt liegt auch nicht ganz falsch.

Allheilmittel Zitrone

Wenn Lucio Battisti seiner Geliebten verspricht, dass in seiner Brust eine Zitrone schlägt (“batte in me un limone giallo, basta spremerlo“) und damit unweigerlich die Aufforderung es auszupressen (spremerlo) verbunden wird oder Paolo Conto in seinem Chanson “gelato al limon” verspricht, dass Liebe keine Sache des Geldbeutels sei, wird auch den etwas weiter nördlich Geborenen unweigerlich klar, dass die Zitrone mehr ist als nur eine Frucht. Schon in Zeiten der Pest wurden ihr heilsame Fähigkeiten zugesprochen, weswegen die Dottori mit der langen Nase der Commedia dell’Arte stets getrocknete Exemplare darin aufbewahrten. Auch in unserem Jahrhundert wuchs der Verkauf der Zitrone ums Doppelte, da viele glaubten, die Zitrone helfe auch gegen Corona. Aber genug der Theorie, die Gelateria Mario Campanella im apulischen Badestädtchen Polignano a Mare kredenzt einen Caffè Speciale, den man sich nicht entgehen lassen sollte: er enthält Zesten (sehr feine Streifen der Schale einer Zitrusfrucht) von Zitronen und gilt als Hinweis, wie vielseitig verwendbar die Zitrusfrüchte doch sind. Das zeigen auch 12 Rezepte, die Peter Peter feinsinngerweise zusammengestellt hat und hier sogar mit Fotos präsentiert.

Zum Nachkochen dringend empfohlen! (Auch das Rezept für einen zünftigen Limoncello ist dabei.) Natürlich erfährt der Leser auch woher die besten Zitronen kommen und was ihre Unterschiede sind. Ob Gardasee oder Kalabrien, jede Region hat ihre eigenen Vorzüge und Zitronen, darauf spielt auch die Beuyssche Capri-Batterie an.

Peter Peter
Blutorangen
Eine Reise zu den Zitrusfrüchten Italiens
2024, SALTO [285], 144 Seiten, rotes Leinen, fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1384-9
Wagenbach Verlag
22,– €


Genre: Kulturgeschichte

Kafkas Familie. Ein Fotoalbum

Kafkas Familie. Ein Fotoalbum. Vor 100 Jahren starb Franz Kafka an einer Lungentuberkulose im Sanatorium in Kierling, Österreich, kurz vor seinem 41. Geburtstag. Zum traurigen Jubiläum erscheint eine Vielzahl an Kafka Publikationen in den unterschiedlichsten Verlagen und in vielen Ausführungen. “Kafkas Familie. Ein Fotoalbum” sticht heraus und zeigt den Einzelgänger als Familienmenschen, der er zwar nicht sein wollte, aber dennoch war.

Kafka, der (Anti-)Familienmensch?

…sonst hätte sich ja das gewöhnlichen Denken der Sache bemächtigt und mir auch andere Männer gezeigt, welche anders sind als Du (…) und doch geheiratet haben und darunter wenigstens nicht zusammengebrochen sind, was schon sehr viel ist und mir reichlich genügt hätte“, schreibt Franz über seinen Onkel Richard Löwy, nachdem er noch sehr viele andere Ähnlichkeiten zu ihm festgestellt hatte. In einer Tagebucheintragung vom 4. September 1912 bedauert der leidgeprüfte Autor: “Ich gehe nachhause und bedaure nicht geheiratet zu haben. Natürlich verwischt sich das wieder, sei es, daß ich es zu Ende denke, sei es daß sich die Gedanken verlaufen. Aber bei Gelegenheit kommt es wieder.“, fügt er kryptisch hinzu und meint sein Onkel Alfred Löwy in Spanien sei ihm “der nächste Verwandte, viel näher als die Eltern, aber natürlich nur in einem ganz bestimmten Sinn“. Aber Kafka ist zwar ebenso unverheiratet geblieben, aber an weiblicher Aufmerksamkeit fehlte es ihm dennoch nicht. Abgesehen von seinen drei Schwestern war da noch seine Mutter und seine Freundinnen Milena Jesenská, Felice Bauer, Dora Diamant u.a.

Lärm aus allen Räumen

Gewohnt hatte der Autor der Weltliteratur – bis auf die letzten Monate – aber immer bei seinen Eltern über die er sich gerne beschwerte: “Lärm aus allen Räumen” heißt es da über die gemeinsame Wohnsituation, in der er entweder versuchte einen Mittagsschlaf zu halten oder schlichtweg nachts, wenn er versuchte zu an seinen Werken zu arbeiten. Tagsüber war er in der Versicherung. Aber wie die vorliegende Erzählung bestätigt, war Franz Kafka durchaus auch viel auf Reisen. Bei einem dieser Ausflüge besuchte er auch den Wiener Prater, wovon eine abgedruckte Postkarte zeugt. Franz Kafka ist darauf in einem Kulissenflugzeug zu sehen. Neben ihm Albert Ehrenstein, Otto Pick und Lise Weltsch, im Hintergrund das Wiener Riesenrad. Das vorliegende Fotoalbum zeigt Kafka umrahmt von seiner Großfamilie. Das erste Kapitel widmet sich Julie und Hermann, dann Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen, die Familien der drei Schwestern, Kafka auf Ausflügen und Reisen, in der Sommerfrische und im Sanatorium.

Kafkas Familie. Ein Fotoalbum

Jedes Kapitel wird vom Herausgeber eingeleitet und die Fotografien werden mit passenden Zitaten aus dem Werk oder aus Briefen Kafkas ergänzt. Das letzte Kapitel widmet sich dem wohl traurigsten Kapitel aus Kafkas Leben. In “Was aus Kafkas Familie wurde” werden die Lebensläufe der Verwandten nachgezeichnet, jene, die zur Flucht vor dem Nationalsozialismus gezwungen wurden und auch jene, die in Konzentrationslagern zu dessen Opfer wurden. Insgesamt sind es mehr als 100 Fotografien der Familie Kafka, von denen ein großer Teil bislang unveröffentlicht blieb. Die Fotos zeigen den Autor der “Verwandlung” und seine Verwandtschaft – in der Stadt, in der Sommerfrische aber auch fein zurechtgemacht im Fotoatelier. Die Nachkommen der Schwestern haben einige der Fotos aufbewahrt, die nun erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Der Herausgeber Hans-Gerd Koch hat im Verlag Klaus Wagenbach in der SALTO Reihe u.a. auch “Kafka in Berlin” veröffentlicht. Er gilt als Spezialist von Franz Kafka und der Prager deutschen Literatur.

Hans-Gerd Koch (Hrsg.), Franz Kafka
Kafkas Familie. Ein Fotoalbum
Mit Texten von Franz Kafka
2024, Sachbuch, 208 Seiten. Mit etwa 100 Fotografien
ISBN 978-3-8031-3738-8
Wagenbach Verlag
38,– €


Genre: Biographie, Deutsche Literatur, Fotobuch
Illustrated by Wagenbach

Natur auf dem Teller. Weil Pizza und Pommes nicht auf Bäumen wachsen

Natur auf dem Teller. Die Lausanner Illustratorin und Naturliebhaberin Lisa Voisard hat sich Gedanken darüber gemacht, was täglich vor uns auf unseren Tellern liegt. Obst, Gemüse, Gewürze, Getreide: wächst das alles auf Bäumen oder woher kommen unsere Lebensmittel eigentlich?

Vorhang auf: Lebensmittel im Fokus

Mehr als 150 Lebensmittel stellt die Grafikerin in den Mittelpunkt ihres Buches. Informationen über die Herstellung und Verarbeitung werden ebenso präsentiert wie einfache Rezepte zum Nachkochen und Aktivitäten: Parmesan mit Walnüssen, Schnee-Eis, Erdbeerpflücken, Kompostieren und so wird die Sensibilisierung für Ökologie, Food-Waste und Verschwendung auch inspiriert zum Nachahmen. Denn wer auf den Planeten acht gibt, gibt auch auf sich selbst acht und allein deswegen ist es gar nicht früh genug damit anzufangen. Das Buch richtet sich schon an junge Menschen ab 6 Jahren, aber auch ältere haben ihren Spaß damit. Denn wer hat schon mal eine blaue Banane gesehen? Sie wächst auf Java und ist neben ihren anderen Verwandten ebenso süß, aber zusätzlich mit einer Note Vanille zu genießen. “Banan” bedeutet im arabsichen eigentlich Finger und bezieht sich auf die Bananenstauden, die dann wie Hände aussehen. Auf den Philippinen gibt es sogar ein Bananen-Ketchup, das sicherlich gesünder ist, als das bei uns verbreitete Tomantenketchup. Apropos Tomate: sie gehört ebenfalls zu einer sehr großen Familie. Ihr Name leitet sich von der in Neapel gebräuchlichen Form “pomodoro” (goldener Apfel) ab. Waren Tomaten damals gelb? Jedenfalls gehören sie zur Gruppe des Obstes und nicht Gemüses, wie Voisard erklärt und gleich zu einem selbsgemachten Ketchup mit eigenem Rezept auffordert.

Manege frei: Natur auf dem Teller

Pesto Anti-Tonne ist eine weiteres spannendes Rezept, das die Illustratorin vorschlägt. Tatsächlich ist beim Gemüse nämlich alles essbar und kommt bei ihr nicht nur in den Mixer, sondern auch in den Kochtopf. Oder in den Zauberwagen von Charles Cretors, der als Erfinder des Popcorns gilt. Die rot-weißen Streifen der Popcorntüten erinnern heute noch an die Markisen der einstigen Verkaufswagen. Aber auch die Geburstagstorten haben eine abenteuerliche Vorgeschichte. Schon die Alten Griechen buken ihrer Mondgöttin Artemis zu Ehren runde Honigkuchen, die an den Vollmond erinnerten. Die kleinen Kerzen brachten diesen süßen Teigmond dann zum Erstrahlen. Das Ausblasen dieser Kerzen soll aber erst von Goethe selbst wieder popularisiert worden sein. Denn im Mittelalter feierte man gar keine Geburtstage, da man das eigene Geburtsdatum nicht einmal kannte. Vielleicht ein Schnee-Eis zum Selbermachen? Auch dieses Rezept finden wir in vorliegender anregender Lektüre, die auch gegen Lebensmittelvernichtung und -verschwendung mobil macht. Die vielen liebevollen und ansprechenden Illustrationen zeigen, dass Lernen auch Spaß machen kann. Für Jung und Alt.

Nach ihren drei erfolgreichen Naturbüchern “Ornithorama”, “Arborama” und “Insektorama”, ebenfalls bei Helvetiq erschienen, sensibilisiert Lisa Voisard mit “Natur auf dem Teller” Kinder ab sechs Jahren für Ökologie, Ernährung und Food-Waste und porträtiert die wunderbaren Pflanzen, die uns Tag für Tag ernähren und satt machen.

Lisa Voisard
Natur auf dem Teller. Weil Pizza und Pommes nicht auf Bäumen wachsen
Übersetzung: Silv Bannenberg
2024, 128 Seiten, Größe (cm) 18 x 25 cm, Alter: 6+
ISBN: 9783039640645
Helvetiq
SFr29.90


Genre: Kinderbuch, Kochen, Natur, Naturkunde

Good News und Lost + Found in Neuausstattung

David LaChapelle. Mit Good News und Lost + Found komplettiert der TASCHEN Verlag die auf fünf Bände angelegte David-LaChapelle-Anthologie. Die beiden neu aufgelegten Bände erweitern das knallbunte Portofolio des fantasievollen Pop-Fotografen aus Hartford, Connecticut, USA.

Fünfbändige Werkausgabe bei TASCHEN

Dass der Fotograf in der Musikvideobranche seine Wurzeln hat, merkt man auch seiner Fotografie an. Andy Warhol hatte ihm damals die Chance gegeben für seine Zeitschrift “Interview” ein Shooting zu machen. Gerne wird LaChapelle mit hyper-realen, subversiven, teilweise surrealistischen Fotosujets in Verbindung gebracht, was ihm auch den schmeichelhaften Spitznamen Fellini der Fotografie eingebracht haben soll. Eine Nähe zum Zirkus, der Manege und anderen ausgeflippten Randerscheinungen der Popkultur werden ihm ebenso attestiert wie Kitsch aus dem Kosmos der Religion, Apokalypse, Porno und Pop zu neuen schillernde Phantasien vermixt zu haben.

Porno, Pop und schrille Phantasien

Mit den beiden Bänden Lost + Found und Good News legt der TASCHEN Verlag die bereits produzierten Fotosammlungen erneut zu einem günstigeren Preis auf. Die vorliegenden Ausgaben kommen ohne die Schmuckkartons der Erstausgabe aus und sind eine ebenso schillernde Erweiterung einer auf Fotografie spezialisierten Bibliothek, wie die Vorgänger. Vom Bilderstürmer und Ausnahmefotografen David LaChapelle sind beim TASCHEN Verlag bereits LaChapelle Land (1996) sowie Hotel LaChapelle (1999) und später Heaven to Hell (2006) erschienen. Die beiden hier vorliegenden Bücher bilden somit den vierten und fünften Teil seiner fünfbändigen Anthologie beim TASCHEN Verlag. Auch wenn der Fokus darin von Titelseiten von Interview, Vanity Fair, i-D oder Vogue hin zu Galerien und Museen ver-rückt sind, ist die Promidichte bei LaChapelle auch in diesen beiden Bänden sehr hoch.

David LaChapelle Promi Liste Lost + Found

In Lost + Found sind u.a. zu sehen: Pamela Anderson, Julian Assange, Isabella Blow, David Bowie, Naomi Campbell, Hillary Clinton, Frances Bean Cobain, Miley Cyrus, Lana Del Rey, Lady Gaga, Sharon Gault, Daphne Guinness, Whitney Houston, Kris Jenner, Kendall Jenner, Bruce Jenner, Kylie Jenner, Dwayne Johnson, Khloe Kardashian, Kim Kardashian, Eartha Kitt, David LaChapelle, Amanda Lepore, Nicki Minaj, Katy Perry, Sergei Polunin, Keith Richards, Rihanna, Chris Rock, Amber Rose, Britney Spears, Uma Thurman, Andy Warhol, Kanye West, Pharrell Williams, Amy Winehouse und viele andere mehr.

David LaChapelle Promi Liste Good News

In Good News sind u.a. zu sehen: frühe Akte aus den 1980ern in NYC, Pamela Anderson, Lana Del Rey, Sharon Gault, Janet Jackson, Michael Jackson, Paris Jackson, David LaChapelle, Amanda Lepore, Miriam Makeba, Sergei Polunin, Tupac Shakur, Elizabeth Taylor und viele andere mehr. Good News steht eindeutig mehr im Zeichen des Sakralen, von frühen Aufnahmen nackter Engel und Liebender aus dem New York der 1980er bis zu ganz aktuellen Bildern, auf denen sich LaChapelles Refugium auf Hawaii in einen trippigen Garten Eden und Celebrities in Heilige verwandeln. Außerdem sind Beispiele aus anderen jüngeren Werkgruppen wie Earth Laughs In Flowers oder Awakened, die die vielen Facetten seiner Kunst widerspiegeln, zu sehen.

Lost + Found und Good News werden einzeln verkauft. Beide Bände zeigen insgesamt mehrere hunderte Arbeiten des Künstlers, in denen LaChapelle Versatzstücke aus Religion, Porno, Kunst- und Popgeschichte zitiert. Diese verschmelzen zu einer unverwechselbaren, hochartifiziellen Ästhetik, wie es sonst keiner kann. In seinen teilweise fast surrealen Inszenierungen und knallbunten, opulenten Arrangements sind auch zeitgenössische Trigger-Themen wie Konsum- und Körperfetischismus, Genderfragen und Spiritualität neu arrangiert und inszeniert. Perspektivenwechsel inklusive.

David LaChapelle.
Good News
2024, Hardcover, 24.6 x 31.4 cm, 1.67 kg, 284 Seiten
ISBN 978-3-8365-9965-8

David LaChapelle.
Lost + Found
2024, Hardcover, 24.6 x 31.4 cm, 1.68 kg, 286 Seiten
ISBN 978-3-8365-9964-1

Jeweils € 40, TASCHEN Verlag


Genre: Bildband, Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Franz Kafka: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen

Franz Kafka: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen. Seit 2016 erscheint bei Galiani die liebevoll gestaltete Ausgabe der Illustrierten Lieblingsbücher. Band 1 war damals Franz Kafka’s Landarzt, der – längst vergriffen – nun aus Anlass des 100. Kafka Jubiläums vom Verlag neu aufgelegt wurde. Abgesehen von den zahlreichen Illustrationen von Kat Menschik befinden sich neben dem Landarzt auch viele andere bekannte Kurzgeschichten Kafkas in dieser farbenfrohen Lektüre. Werke der Weltliteratur und andere Lieblingstexte, in Szene gesetzt von Kat Menschik.

Das Bunte aus Kafka herausholen

Odradek, vielleicht von dem tschechischen Verb “odradit” abgeleitet für “abraten” oder “widerraten”. Das hauptwörtliche Odradek wäre dann ein Abrater oder Meckerer, wie Max Brod erläutert. Aber in der Geschichte seines Schützlings, Franz Kafka stellt sich der Erzähler selbst die Frage, was aus dem Odradek einmal werden soll, wenn er nicht mehr ist. “Alles was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben”, klagt der Erzähler, aber ein Odradek? Zumindest is eines sicher: der Odradek wird ihn überleben. Kat Menschik hat natürlich auch diesen Odradek abgebildet, für alle die sich darunter noch nichts vorstellen können. Noch viel bunter wird es in der Geschichte “Elf Söhne”, denn Menschik hat den Ehrgeiz entwickelt gleich alle elf auf einer Doppelseite unterzubringen. Der Vater ist auch drauf, aber der steht abseits, fast deplatziert, an den Rand gedrängt. Der elfte Sohn weiß Bescheid, er ist der letzt dem er vertraut, aber wenigstens der Letzte. Auch das ein Privileg. Denn er wird noch leben, wenn alles gut geht, wenn alle anderen schon das zeitliche gesegnet haben. Um einiges brutale geht es dann schon in der nächsten Geschichte “Ein Brudermord” weiter. Hier blitzt gleich das blanke Messer noch bevor die Erzählung richtig los geht, gruselt es schon.

Franz Kafka modern illustriert

Der Affe weiß es in seinem Bericht an die Akademie am besten: “Nebenbei: mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzu oft. Und so wie die Freiheit zu den erhabensten Gefühlen zählt, so auch die entsprechende Täuschung zu den erhabensten.” Von seinen Lehrern erhofft er nicht diese Erhabenheit, sondern einfach nur, dass sie nicht selbst “äffisch werden, bald den Unterricht aufgeben und in eine Heilanstalt gebrach werden”. Wenn es drauf ankommt, empfiehlt der Affe, “sich einfach in die Büsche zu schlagen”. Am besten mit einer Lektüre aus der Bibliothek der Illustrierten Lieblingsbücher. Bisher sind 18 Exemplare erschienen. “Im übrigen will ich keines Menschen Urteil, ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Herren der Akademie, habe ich nur berichtet.” Weitere Geschichten von Kafka in diesem Band sind u.a. “Auf der Galerie”, “Vor dem Gesetz”, “Sorge eines Hausvaters”, “Ein Traum”, insgesamt sind es vierzehn, die alle von Kat Menschik illustriert sind.

Kat Menschik
Franz Kafka: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen
Illustrierte Lieblingsbücher, Band 1
2016/2024, Hardcover, 112 Seiten
ISBN: 978-3-86971-132-4
Galiani Berlin
22.-€


Genre: Bildband, Erzählungen, Illustrationen, Literatur