Masse und Komplexität als Manko
Der mit einigem Abstand ‹gewichtigste›, für den diesjährigen Deutschen Buchpreis nominierte Roman ist «Die Projektoren» von Clemens Meyer, acht Jahre habe er daran gearbeitet, lies er verlauten. Dass Masse nicht vor Klasse steht konstatierten die Juroren überdeutlich, indem sie Martina Hefters vergleichsweise «schmalbrüstigen» Roman gegenüber den 1041 Seiten von Meyers Epos literarisch höher bewertet und folglich auch mit dem Preis bedacht haben. Was dann zum Eklat bei der feierlichen Preisverleihung im Frankfurter Römer führte, wo Meyer lautstark den Preis für sich reklamierte, eine höchst peinliche Szene von Unbescheidenheit, die bei ihm aber nicht ganz ungewöhnlich ist. Schade, denn die Feuilletons sind sich im Lob einig wie selten. Man konnte lesen, dass der Roman «Die Projektoren» das Zeug zum Klassiker habe, ja sogar eine Wegmarke der deutschen Literatur dieses Jahrzehnts darstelle. Ist er darin gar dem «Zauberberg» vergleichbar, wie ein Kritiker euphorisch geschrieben hat?
Der Roman umfasst die Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis in die Jetztzeit hinein. Örtlich ist er im Balkan angesiedelt, in Novi Sad im damaligen Jugoslawien, in dessen Kino sich die titelgebenden Projektoren befinden, die erzählerisch wiederum zu den dort gezeigten Filmen und deren Darstellern hinleiten. Die Eingangs-Szene bildet ein Gespräch in einer Leipziger Irrenanstalt, an dem ein Patient namens Dr. May beteiligt ist, dessen Romane und Verfilmungen wiederum auf die deutsch-jugoslawischen Western verweisen, die an dortigen Schauplätzen gedreht wurden, Winnetou lässt grüßen! Dazu passt denn auch, dass sich der Haupt-Erzählstrang um die Figur eines immer nur «Cowboy» genannten, ehemaligen Partisanen dreht, der den Widerstands-Truppen des späteren Präsidenten Josip Broz Tito angehört hat. Zusammenfassend geht es in diesem ungewöhnlich vielschichtigen Roman um das Thema Gewalt, um deren Kontinuität vor allem. Erkennbar ist dies auch in Ostdeutschland, wo sie mit dem beängstigenden Erstarken der politischen Rechten eine Rolle spielt, und brutaler noch auch im Irak zur Zeit des Islamischen Staates.
Alles greift ineinander in diesem ungewöhnlichen, immer für Überraschungen sorgenden Roman, der alle Dimensionen des Schreibens zu sprengen scheint. Zeiten und Orte überlappen sich ständig, Figuren tauchen unerwartet wieder auf, sorgen für neue Impulse in dem turbulenten Plot und verschwinden dann ebenso unerwartet wieder, geben Raum für neue Akteure. Das Figuren-Ensemble des Autors besteht zum Teil aus sehr skurrilen Typen wie den geistig zurück gebliebenen Schäfer, bei dem der Cowboy sich ungefragt einquartiert. In seiner Komplexität übertrifft dieser Roman so ziemlich alles, was derzeit im Fokus des lesenden Publikums steht. Und er überfordert es unübersehbar, Gesetze von Zeit und Raum außer Kraft setzend, vor allem aber in seiner immer wieder verblüffenden Rätselhaftigkeit.
«Die Projektoren» ist ein herausfordernd erzähltes, fast grenzenloses Epos voller Sprachgewalt, voller Lust am Fabulieren, narrativ unbekümmert hin und her springend, aber virtuos auch wieder aneinander anknüpfend. Sehr beeindruckend ist natürlich der Recherchefleiß des Autors, der noch in den kleinsten Verästelungen seines Plots mit vielen Details aufwartet und dadurch sehr bereichernd wirkt. Entspannt zu lesende Lektüre kann man angesichts der Themenfülle und der akribischen Detailverliebtheit des Autors natürlich nicht erwarten, man muss sich geduldig einlassen auf dieses Epos, in dem häufig auch psychologische Aspekte behandelt werden. Sprachlich originär, oft leichtfüßig, ebenso oft amüsant, zuweilen ins Irreale abgleitend, ist dies ein unbeirrt eigenwilliger Text eines großen Erzählertalents. Mit der schieren Textmasse und deren Komplexität hat sich Clemens Meyer allerdings selbst ein Bein gestellt, was sich nicht nur im Urteil der Buchpreisjury niedergeschlagen hat, sondern durchaus erwartbar auch im geringen Interesse und den auffallend vielen negativen Kommentaren des Lesepublikums!
Fazit: erfreulich
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