Anthropoid. Das Attentat auf Reinhard Heydrich

Anthropoid. Reinhard Tristan Eugen Heydrich war einer der Hauptorganisatoren des Holocaust und 1941 als stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren für zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich. Als er am 27. Mai 1942 in Prag bei einem Attentat tschechoslowakischer Widerstandskämpfer starb, wurden die Massaker von Lidice und Ležáky vom NS-Regime als Racheakte verübt.

Anthropoid gegen eine weitere Heydrichiade

Die Autoren der vorliegenden Graphic Novel lassen keinen Zweifel daran, dass Heydrich den Tod verdiente, allerdings stellt sich schlussendlich doch die Frage, ob die vielen Opfer es wert waren. Zumindest wurde unter dem Codenamen “Operation Anthropoid” ein starkes Lebenszeichen des tschechischen Widerstands gesetzt, das die Weltöffentlichkeit vielleicht hätte aufrütteln können. Denn 1942 zum Zeitpunkt des Attentats hatten die Nazis in Europa bereits gewonnen. Es sah überall so aus als ob sich das Dritte Reich konsolidieren könnte und Europa in tiefste Dunkelheit getaucht bliebe. Nazideutschland kontrollierte im Frühjahr 1942 den Großteil Europas, schreibt Lezak in der Einführung, es hatte bis dahin keine namhafte Niederlage erlitten. Großbritannien hatten sie zwar nicht erobert und die Sowjetunion konnte sie von den Toren ihrer Hauptstadt zurückweisen, aber dennoch blieb der Nimbus der Unbesiegbarkeit am Reich haften. Der Vorschlag zur Ermordung des Reichsprotektors kam höchstwahrscheinlich vom Chef des Militärgeheimdienste im britischen Exil, Frantisek Moravec. Tschechoslowakische Fallschirmspringer sollten dem Initiator der “Ersten Heydrichiade” (der Ermordung von Regimegegner bei Antritt des Amts) durch ein Attentat den Garaus machen. Die Vergeltung nach dem Attentat, die Auslöschung von Lidice und Ležáky, ging dann als “Zweite Heydrichiade” in die Geschichte ein.

Fanal des Widerstands

Die Zeichnungen der vorliegenden Graphic Novel sind in das Noir der Vierziger Jahre getaucht, in denen in Hollywood die Film Noir Streifen entstanden. Ihr gemeinsamer Nenner war die Hoffnungslosigkeit allen menschlichen Strebens, die Macht der Institutionen gegen das Individuum und zumeist eine Femme fatale. Letztere kommt in vorliegender Geschichte zwar keine vor, aber alles andere erinnert von der Stimmung her an diese dunklen Filme. So wird etwa erzählt, dass Heydrich sich die Wenzelskrone von König Karl IV. nach Amtsantritt aufgesetzt habe. Aber jeder, der sie ohne Anrecht auf die böhmische Krone aufsetzte, war bis dato innert eines Jahres verstorben. Als sich die Attentäter in eine Kirche am Prager Karlsplatz flüchteten erfuhren sie erst, dass Heydrich an seinen Verletzungen doch noch gestorben war. Das motivierte sie vielleicht, sich nicht zu ergeben und weiterzukämpfen, obwohl das bedeutete, dass auch ihre Familien dabei sterben würden. Denn die Nazis hatten diese längst im Visier und verhörten alle Verdächtigen, bis schließlich ein Verdächtiger nachgab und alle verriet. Als Beweis für seine Aussagen wurde das Gras für Kaninchen in einer beim Attentat gefundenen Aktentasche herangezogen. Im Anhang befinden sich Biographien aller beteiligten Personen, der Helden ebenso wie der Mörder und Schergen des Regimes.

Mit dem Attentat auf Heydrich wurde einer der ranghöchsten Vertreter des NS-Regimes zur Rechenschaft gezogen und wer weiß, ob nicht vielleicht auch ein kleines bißchen dadurch die Glückssträhne des Dritten Reichs endlich ihr Ende nahm.

Michal Kocián, Zdeněk Lesák
Anthropoid. Das Attentat auf Reinhard Heydrich
Aus dem Tschechischen von Katharina Hinderer
2024, Hardcover mit Fadenheftung, 120 Seiten, 23 • 30cm
ISBN 978-3-903478-22-0
bahoe books
€ 26,00


Genre: Comic, Politik, Zeitgeschichte

Hey Guten Morgen, wie geht es Dir?

Juno, die Erzählerin, ist Anfang Fünfzig. Sie lebt mit Jupiter, ihrem seit Jahren bettlägerigen Mann in einer kleinen Wohnung in Leipzig. Er ist Schriftsteller, sie freiberufliche Performancekünstlerin, die, nicht nur zu Coronazeiten, gerne häufiger Engagements hätte.

Sie teilt ihren Alltag mit den Leser:innen, ihre Gedanken, Vorlieben, Sorgen, Erinnerungen und ihre Moralvorstellungen, manchmal auch mit Gedichten.

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Genre: Belletristik, Erzählung, Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Wir sind die Bunten – Erlebnisse auf dem Festival-Mediaval

„Wir sind die Bunten“ ist eine lebendige und faszinierende Anthologie, die die Magie und Vielfalt des Festival-Mediaval in Selb, Europas größtem Mittelalterfestival, einfängt. Mit Beiträgen von bekannten Autoren, Musikern und Festivalbesuchern entsteht eine facettenreiche Sammlung, die Geschichten, Erinnerungen und die einzigartige Atmosphäre dieses Events miteinander verbindet. Weiterlesen


Genre: Anthologie, Phantastik
Illustrated by Acabus

Der Sympathisant

Ironischer Spionageroman

Mit dem Debüt-Roman «Der Sympathisant» hat der vietnamesisch-amerikanische Schriftsteller Viet Thanh Nguyen 2016 den Pulitzer Prize gewonnen. Es geht thematisch dabei um nichts weniger als um das falsche amerikanische Narrativ zum verlorenen Vietnamkrieg. Ein Trauma für die Weltmacht, die Verlieren nicht gewohnt ist und diese Schmach bis heute nicht verarbeitet hat. Genüsslich widerlegt der als Professor an der Universität von Süd-Kalifornien lehrende, als Vierjähriger 1975 mit seinen Eltern in die USA emigrierte Schriftsteller diese verlogene Umdeutung der politischen Realitäten.

Der namenlos bleibende, in Saigon lebende Ich-Erzähler führt ein Doppelleben, er ist als Hauptmann Adjutant eines Generals der Armee Südvietnams, spioniert aber als Maulwurf für den Vietcong. Als Saigon 1975 von den Kommunisten erobert wird, flieht er auf Anordnung seiner Auftraggeber in letzter Stunde mit dem General, dessen Frau und zweihundert anderen Exilanten zunächst nach Guam und weiter in die USA. In Los Angeles angekommen, bleibt er weiter in Dienste des Generals, der davon träumt, den Vietcong mit einer patriotischen Befreiungs-Armee wieder aus Vietnam vertreiben zu können, und der dafür vorbereitende Aktivitäten einleitet. Der beste Freund und Kampfgefährte des Protagonisten erweist sich in dieser Exilanten-Gruppe als der Mann fürs Grobe. er ermordet im Auftrag des Generals kaltblütig einen mutmaßlichen kommunistischen Undercover-Agenten, der jedoch völlig schuldlos denunziert wurde. Wenig später bekommt der Protagonist den Auftrag, einen amerikanischen Journalisten zu liquidieren, der Details über die reaktionären vietnamesischen Aktivitäten in den USA veröffentlicht hat. Mit Bildern seiner Minox Spionage-Kamera und in Dossiers, die er mit unsichtbarer Tinte in Briefe an seine «Tante in Paris» einfügt, versorgt der Protagonist regelmäßig seine kommunistischen Führungskader in Vietnam. Bis er schließlich den Auftrag erhält, mit einem reaktionären Voraus-Kommando nach Vietnam zurückzukehren, um dort bei der Rekrutierung von Freiwilligen mitzuwirken.

Der titelgebende «Sympathisant» leidet als Ich-Erzähler zunehmend an seinem Doppelleben, fühlt sich hin und her gerissen, verzweifelt auch mehr und mehr an den Absurditäten, die sein Agentenleben mit sich bringt. Er empfindet seine Identität als Mann mit zwei Gesichtern als problematisch, es sei deshalb auch kein Wunder, «dass ich auch ein Mann mit zwei Seelen bin». Mit kräftigen Seitenhieben auf den American Way of Live beschreibt der Autor die Probleme des halb-vietnamesischen Protagonisten, der in den USA aufgewachsen ist, dort studiert hat, hochintelligent ist und akzentfrei amerikanisch spricht. Aufgrund seines asiatischen Aussehens bezüglich Augen, Hautfarbe und Körpergröße wird er aber manchmal sogar offen als «Bastard» bezeichnet, was ihn jedes Mal zutiefst verletzt.

In bester amerikanischer Erzähl-Tradition schildert Viet Thanh Nguyen locker, sprachlich virtuos und unverkennbar ironisch seine Story aus einer schon fast vergessenen Epoche kriegerischer Auseinandersetzungen in Vietnam. Ein Land, das zuerst von den Franzosen und anschließend von den Amerikanern in hegemonialer Überheblichkeit unterdrückt worden ist, dem es schließlich aber gelang, sich zu befreien. Der Roman wirft viele politische Fragen auf, die darin gipfeln, ob die mühsam errungene, politische Selbstbestimmung bei gleichzeitiger ökonomischer Misere durch die kommunistische Diktatur nicht zu teuer bezahlt worden ist vom vietnamesischen Volk. Der Roman ist als schriftliches Geständnis an einen Kommandanten des Vietcong angelegt, das der Protagonist in einem Umerziehungslager auf 417 Seiten handschriftlich niedergeschrieben hat. Flüssig lesbar, süffig wie der viele Alkohol, der in diesem Spionage-Roman getrunken wird, viele Denkanstöße gebend und immer wieder höchst amüsant, ist «Der Sympathisant» nicht nur eine erfreuliche, sondern auch eine bereichernde Lektüre.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Blessing München

Edward Gorey – Großmeister des Kuriosen

Das Buch über Edward Gorey, den Großmeister des Kuriosen, ist eine Hommage an einen der ungewöhnlichsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Es taucht tief in Goreys faszinierende Welt ein, die zwischen surrealistischem Humor, düsterer Melancholie und subtiler Gesellschaftskritik oszilliert. Weiterlesen


Genre: Humor und Satire, Kunst, Surrealismus
Illustrated by Aufbau Berlin, Die andere Bibliothek

Die Projektoren

Masse und Komplexität als Manko

Der mit einigem Abstand ‹gewichtigste›, für den diesjährigen Deutschen Buchpreis nominierte Roman ist «Die Projektoren» von Clemens Meyer, acht Jahre habe er daran gearbeitet, lies er verlauten. Dass Masse nicht vor Klasse steht konstatierten die Juroren überdeutlich, indem sie Martina Hefters vergleichsweise «schmalbrüstigen» Roman gegenüber den 1041 Seiten von Meyers Epos literarisch höher bewertet und folglich auch mit dem Preis bedacht haben. Was dann zum Eklat bei der feierlichen Preisverleihung im Frankfurter Römer führte, wo Meyer lautstark den Preis für sich reklamierte, eine höchst peinliche Szene von Unbescheidenheit, die bei ihm aber nicht ganz ungewöhnlich ist. Schade, denn die Feuilletons sind sich im Lob einig wie selten. Man konnte lesen, dass der Roman «Die Projektoren» das Zeug zum Klassiker habe, ja sogar eine Wegmarke der deutschen Literatur dieses Jahrzehnts darstelle. Ist er darin gar dem «Zauberberg» vergleichbar, wie ein Kritiker euphorisch geschrieben hat?

Der Roman umfasst die Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis in die Jetztzeit hinein. Örtlich ist er im Balkan angesiedelt, in Novi Sad im damaligen Jugoslawien, in dessen Kino sich die titelgebenden Projektoren befinden, die erzählerisch wiederum zu den dort gezeigten Filmen und deren Darstellern hinleiten. Die Eingangs-Szene bildet ein Gespräch in einer Leipziger Irrenanstalt, an dem ein Patient namens Dr. May beteiligt ist, dessen Romane und Verfilmungen wiederum auf die deutsch-jugoslawischen Western verweisen, die an dortigen Schauplätzen gedreht wurden, Winnetou lässt grüßen! Dazu passt denn auch, dass sich der Haupt-Erzählstrang um die Figur eines immer nur «Cowboy» genannten, ehemaligen Partisanen dreht, der den Widerstands-Truppen des späteren Präsidenten Josip Broz Tito angehört hat. Zusammenfassend geht es in diesem ungewöhnlich vielschichtigen Roman um das Thema Gewalt, um deren Kontinuität vor allem. Erkennbar ist dies auch in Ostdeutschland, wo sie mit dem beängstigenden Erstarken der politischen Rechten eine Rolle spielt, und brutaler noch auch im Irak zur Zeit des Islamischen Staates.

Alles greift ineinander in diesem ungewöhnlichen, immer für Überraschungen sorgenden Roman, der alle Dimensionen des Schreibens zu sprengen scheint. Zeiten und Orte überlappen sich ständig, Figuren tauchen unerwartet wieder auf, sorgen für neue Impulse in dem turbulenten Plot und verschwinden dann ebenso unerwartet wieder, geben Raum für neue Akteure. Das Figuren-Ensemble des Autors besteht zum Teil aus sehr skurrilen Typen wie den geistig zurück gebliebenen Schäfer, bei dem der Cowboy sich ungefragt einquartiert. In seiner Komplexität übertrifft dieser Roman so ziemlich alles, was derzeit im Fokus des lesenden Publikums steht. Und er überfordert es unübersehbar, Gesetze von Zeit und Raum außer Kraft setzend, vor allem aber in seiner immer wieder verblüffenden Rätselhaftigkeit.

«Die Projektoren» ist ein herausfordernd erzähltes, fast grenzenloses Epos voller Sprachgewalt, voller Lust am Fabulieren, narrativ unbekümmert hin und her springend, aber virtuos auch wieder aneinander anknüpfend. Sehr beeindruckend ist natürlich der Recherchefleiß des Autors, der noch in den kleinsten Verästelungen seines Plots mit vielen Details aufwartet und dadurch sehr bereichernd wirkt. Entspannt zu lesende Lektüre kann man angesichts der Themenfülle und der akribischen Detailverliebtheit des Autors natürlich nicht erwarten, man muss sich geduldig einlassen auf dieses Epos, in dem häufig auch psychologische Aspekte behandelt werden. Sprachlich originär, oft leichtfüßig, ebenso oft amüsant, zuweilen ins Irreale abgleitend, ist dies ein unbeirrt eigenwilliger Text eines großen Erzählertalents. Mit der schieren Textmasse und deren Komplexität hat sich Clemens Meyer allerdings selbst ein Bein gestellt, was sich nicht nur im Urteil der Buchpreisjury niedergeschlagen hat, sondern durchaus erwartbar auch im geringen Interesse und den auffallend vielen negativen Kommentaren des Lesepublikums!

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Peter Lindbergh: Dior

Peter Lindbergh: Dior. Haute Couture am Times Square. Für Peter Lindbergh’s außergewöhnliches Konzept ließ Dior eine beispiellose Anzahl seiner berühmtesten Kleidungsstücke über den Atlantik reisen. So entstand das letzte Buch des 2019 verstorbenen Fotografen, das bis heute als Originaldokument einer außergewöhnlichen Ko-Kreation gilt. Des Künstlers letzte Herzensangelegenheit, das Haute Couture und Fotografie elektrisierend verbindet, erscheint bereits in der unglaublichen 40th Ed.

Dior: Haute Couture am Times Square

Marion Cotillard oder Charlize Theron, Kampagnen für die Parfums Lady Dior und J’Adore und andere Highlights des Modehauses Dior, das schon sein 70-jähriges Bestehen feiert, begleitete der Fotograf Peter Lindbergh. Die Kultkleider von Dior wurden von ihm zum 70. Geburtstag des Modehauses am brodelnden Times Square in New York fotografiert. Das war das Konzept hinter Lindberghs in Umfang und Dimension außergewöhnlichem Projekt, für das Dior in einer ebenso ungewöhnlichen Aktion eine beispiellose Anzahl von kostbaren Couture-Kreationen aus den Tresoren in Paris über den Atlantik schickte. Neben Alek Wek im makellosen Bar-Kostüm von 1947, jenem berühmten Ensemble, das den frühen Stil des Hauses definierte, sind auch viele andere Models in Haute Couture am Times Square zu sehen. Klassische „Lindbergh-Schönheiten“ wie Saskia de Brauw, Karen Elson und Amber Valletta bewegen sich auf dem Broadway wie in der freien Wildbahn, spiegeln sich in Gebäudefassaden oder lächeln abwesend in die Regenwolken.

Times Square als Laufsteg by Dior

Stets gekleidet in Haute Couture, die Christian Dior noch von Hand fertigte, bis hin zu neueren Entwürfen von Maria Grazia Chiuri. Neben seinen klassischen Model wie Sara Grace Wallerstedt, Selena Forrest, Felice Noordhoff, Lily Nova, Amber Valletta, Larissa Saldanha, Victoria Massey, Melissa Samide, Sasha Pivovarova, Fei Fei Sun, Saskia de Brauw, Carolyn Murphy, Alek Wek, Lineisy Montero und Kiki Willems ist auch Robert Pattinson in vorliegendem Fotoband vertreten. Allerdings im “Archives” genannten Anhang und nicht am Times Square. Dort finden sich auch Fotos von anderen Models, die ebenfalls nichts mit dem Times Square Shooting zu tun hatten. Darunter Fotos mit Linda Evangelista, Kim Williams, Helena Christensen, Mariacarla Boscono u.a.

Mode und Stadt: ein fotografisches Essay

165 bislang unveröffentlichte Bilder von Peter Lindbergh und eine Einführung von Martin Harrison, einem Weggefährten. Am Tag als Martin Harrison und Peter Lindbergh über das Projekt des vorliegenden Buches sprachen brannte Notre Dame in Paris, was Harrison zu der Bemerkung veranlasst, auch Lindberghs Fotografie als ebenso /gothic/ wie die Pariser Kathedrale zu bezeichnen. Der deutsche Expressionismus an den die Fotografien ansonsten angelehnt sind, so Harrison, zeigen dass auch der deutsche Film der 1920er eine Rolle in Lindberghs Fotografie spielte. Vor allem aber wollte er die Frauen, die er ablichtete, natürlich erschienen lassen, meint Harrison in seinem Vorwort. Wie der Philosoph Walter Benjamin habe auch der Fotograf Lindbergh die Ästhetik politisiert und den “Temper of the Modern Spirit” vermessen, ganz so wie es die Natur der Mode ist. “While haute couture is closely linked with an idea of perfection and the mastery of every last detail, I wanted to transport 70 years of Dior creations to an unexpected place. The streets of New York embody the most contrasting background to reveal unforeseen emotions.”, so Peter Lindbergh in einem Statement.

Die beiden Akteure im Auftrag von Dior

Der Fotograf
Peter Lindbergh (1944-2019) war ein Meister seines Fachs, dessen Name sich für immer in die Fotografie-Geschichte eingeschrieben hat: durch sein Shooting fürs erste amerikanische Vogue-Cover unter Leitung von Chefredakteurin Anna Wintour – das Foto einer Gruppe junger Frauen, die kurz darauf zu den Supermodels der 90er-Jahre werden sollten. Sein Werk wurde in Einzelausstellungen im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin, im Bunkamura-Museum in Tokio, im Puschkin-Museum für Bildende Künste, Moskau, und im Kunstpalast, Düsseldorf, gezeigt.

Der Koautor
Martin Harrison ist Kunst- und Fotografie-Historiker sowie Ausstellungskurator. Er arbeitete mit Künstlern wie Linda McCartney und Peter Lindbergh an zahlreichen Projekten und Ausstellungen zusammen. Seit zwanzig Jahren forscht er über Francis Bacon und gab 2016 den Catalogue raisonné des Künstlers heraus.

Peter Lindbergh
Dior. 40th Ed.
Ausgabe: Mehrsprachig (Deutsch, Englisch, Französisch)
2024, Hardcover, 15.6 x 21.7 cm, 1.28 kg, 504 Seiten
ISBN 978-3-8365-9876-7
TASCHEN Verlag
€ 25


Genre: Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

The Fire Next Time

The Fire Next Time. Zunächst erschien dieses Buch als Collector’s Edition im Großformat – jetzt, zum 100. Geburtstag Baldwins – in dieser handlichen Jubiläums-ausgabe. Einerseits zu Ehren Baldwins, andererseits auch zu Ehren des Fotografen Steve Schapiro, der leider 2022 verstarb. Ein Klassiker neu aufgelegt, denn der Text James Baldwins (1924–1987) veränderte damals bei Erscheinen (1963) tatsächlich die Welt.

Weggefährte Martin Luther Kings und Malcolm Xs

Engagierter Text und engagierte Fotografie zum Thema Rassismus in den USA. Leider ein Thema das nichts an Aktualität einbüßt, wie die Auseinandersetzungen um Black Lives Matter immer wieder zeigen. Denn eigentlich sollte der zum Namen einer Bewegung gewordene Slogan längst allen klar sein. Schließlich wurde im vorvorigen Jahrhundert, dem 19., ein Bürgerkrieg im Namen der Sklavenbefreiung geführt. Aber auch 100 Jahre später, im 20., als Baldwin seinen Text verfasste, hieß es immer noch: “No Dogs, No Blacks Served.” Baldwin war ein Weggenosse Martin Luther Kings und Malcolm Xs, aber vielleicht weniger eines Elijah Muhammad. Denn trotz der Verehrung des NOI-Anführers (Nation of Islam) Elijah ließ sich Baldwin nicht vor seinen Karren spannen, wie er schonend und mit großer Sorgfalt im Text auch erklärt. Als Baldwin beim “Ehrenwerten Elijah Muhammad” zu Hause in Chicago einer Einladung nachkommt, bietet sich ihm die Option, den Black Muslims beizutreten. Aber eher noch würde er den Black Panthers die Stange halten, so Baldwin. “Ich musste an meinen Vater und mich denken, wie wir hätten sein können, wenn wir Freunde gewesen wären”, schreibt Baldwin gelassen und verzichtet nicht darauf, sich in einer Limousine Elijahs in die weiße Nachbarschaft eines weißen Freundes, des “Devils” und Feindes also, chauffieren zu lassen: “Genau genommen war ich mit einigen weißen Teufeln am anderen Ende der Stadt auf einen Drink verabredet.”

“Na, Kleiner, zu wem gehörst du denn?”

Mit süffisantem Humor konnte er so den Annäherungsversuchen der NOI auf friedlichem Wege entgehen und ausweichen. Der “Son of a Preacher Man” hatte stets eine feine Klinge geführt und viel Gespür und Humor gezeigt. Trotz alledem muss man sagen. Denn als er beschreibt, dass ausgerechnet eine Pastorin ihn mit demselben Spruch zu kapern versuchte, wie es normal Zuhälter, Ganoven oder Prostituierte machten, wird dem jungen James klar, dass er zu niemandem gehören will, außer zu sich selbst. “Na, Kleiner, zu wem gehörst du denn?”, waren genau die Worte, die auch die Pastorin wählte und so geriet er ausgerechnet in “die Fänge der Kirche”. Dabei war sein Stiefvater David schon bei dem Verein. Als “Son of a Preacher Man” konnte er seinen Vater ausbremsen und auch ihm entkommen. Vorläufig. Für Baldwin war die Schriftstellerei ein Ausweg aus Armut und Rassismus. Für Steve Schapiro spielte die Fotografie vielleicht eine ähnliche Rolle.

Erstklassiger Essay und 1A Fotografie

Über 100 Fotografien von Steve Schapiro, der mit Baldwin für die Zeitschrift Life durch die Südstaaten der USA reiste, zeigt die vorliegende Publikation des TASCHEN Verlages. Schapiros Fotos zeigen die führenden Köpfe der Bürgerrechtsbewegung – darunter Martin Luther King Jr., Rosa Parks, Fred Shuttlesworth und Jerome Smith sowie zentrale Ereignisse wie den Marsch auf Washington und den Selma-Marsch. Ein Erlebnisbericht Schapiros, eine Einleitung des legendären Bürgerrechtlers und US-Kongressabgeordneten John Lewis, Bildunterschriften von Marcia Davis von der Washington Post und einen Essay von Gloria Baldwin Karefa-Smart, die mit ihrem Bruder James in Sierra Leone lebte, als er mit dem Verfassen dieses Textes begann, sind zusätzliche Aufmunterungen zu einem Jahrhunderttext, den jeder einmal gelesen haben sollte.

Die spitze Feder eines Ausgegrenzten

“Nach der Flut das Feuer” ist eigentlich ein Bibelzitat, spielt aber auf die verheerenden Folgen des Rassismus und die weiße Polizeigewalt in den USA an. “Sie hatten die Richter, die Geschworenen, die Gewehre, das Gesetz – mit einem Wort, die Macht.” Als Schwarzer in Amerika lerne man schon vom ersten Augenblick an in dem man das Licht der Welt erblicke, “sich selbst zu verachten”. Bestechend an diesem Text sind aber nicht nur Baldwins pointierte Ausdrucksweise und sein Humor, sondern auch sein Wissen, dass er als Geste der Versöhnung nutzt: “Vielleicht liegt die Wurzel unserer Misere, der menschlichen Misere darin, dass wir die ganze Schönheit unseres Lebens opfern, uns von Totems, Tabus, Kreuzen, Blutopfern, Kirchtürmen, Moscheen, Rassen, Armeen, Flaggen und Nationen einsperren lassen, um die Tatsache des Todes zu leugnen, die einzige Tatsache, die wir haben. Mir scheint, wir sollten uns an der Tatsache des Todes erfreuen – ja, sollten beschließen, unseren Tod zu verdienen, indem wir uns mit Leidenschaft dem Rätsel des Lebens stellen. Wir tragen Verantwortung für das Leben: Es ist das kleine Signalfeuer in der beängstigenden Dunkelheit aus der wir kommen und in die wir zurückkehren werden.” Der Wiederentdeckung James Baldwins zu seinem 100. Geburtstag steht nichts mehr im Wege: The Fire Next Time…

Der Fotograf
Steve Schapiro war ein angesehener Pressefotograf, dessen Aufnahmen die Titelseiten von Vanity Fair, Time, Sports Illustrated, Life, Look, Paris Match und People zierten und in vielen Museumssammlungen zu finden sind. Er hat seine Werke in mehreren Büchern publiziert, darunter American Edge, Schapiro’s Heroes, The Godfather Family Album, Taxi Driver, Then and Now, Bowie und zuletzt Misericordia. Viele seiner ikonischen Bilder wurden für Plakate und Werbekampagnen von berühmten Hollywood-Filmen wie Asphalt Cowboy (Midnight Cowboy), Taxi Driver, So wie wir waren (The Way We Were) und Der Pate III (The Godfather Part III) verwendet. Er starb 2022.

Der Autor
In seiner Eigenschaft als Romancier, Essayist, Dramatiker, Dichter und Sozialkritiker gilt James Baldwin (1924–1987) als eine der intelligentesten und provokantesten literarischen Größen der Nachkriegszeit. Seine Sachtextsammlungen, allen voran Notes of a Native Son (1955) und Hundert Jahre Freiheit ohne Gleichberechtigung (1963), und seine Romane, darunter Giovannis Zimmer (1956) und Eine andere Welt (1962), setzen sich mit der offensichtlichen, wenn auch unausgesprochenen Komplexität rassischer, geschlechtlicher und sozialer Unterschiede im Amerika der letzten Jahrhundertmitte auseinander. Baldwin stammte aus Harlem (New York), lebte aber hauptsächlich in Südfrankreich.

James Baldwin. Steve Schapiro
The Fire Next Time
2024, Hardcover, 14 x 19.5 cm, 0.42 kg, 192 Seiten
ISBN 978-3-8365-9699-2
Ausgabe: Englisch
TASCHEN Verlag
€ 15


Genre: Essay, Fotograf
Illustrated by Taschen Köln

Die andern sind das weite Meer

Die andern sind das weite Meer. “The crack is were the light comes in.” Dieselbe Geschichte aus vier Perspektiven. Eine multiperspektivische Erzählinstanz, die aus verschiedenen Richtungen zeigt, wie es sich anfühlt, die Eltern zu verlieren: die Mutter an den Tod, den Vater an die Demenz. Die Familiengeschichte der Cramers ist so alltäglich wie normal, gleichzeitig aufrührerisch und emotional. Denn sie steht symptomatisch für viele andere.

Geschwisterrivalitäten und andere Eifersüchteleien

Mutter Maria stammte aus Mexiko, ist aber längst gestorben. Hans Cramer, Diplomat und “Familienoberhaupt”, wie es damals hieß, ertappte sie einst inflagranti, aber das ist längst Geschichte. Denn Hans leidet zunehmend an Demenz, ein Krankheitsbild, das harmlos anfängt und sich laufend immer mehr steigert. Bis zum Showdown. Oder kann sich doch etwas verbessern? Die drei Kinder, Luka, Elena und Tom sind um die 40 und haben längst ihre eigenen Leben und Familienkrisen, als “das Problem” mit ihrem Vater immer größer wird. Er soll nur mit Unterhosen bekleidet einen Pool in der Nachbarschaft gesucht haben, um schwimmen zu gehen, erzählt Loretta, die Nervensäge aus der Nachbarschaft. Dabei ist der Pool längst zugeschüttet. Aber in Hans Langzeitgedächtnis steht er noch an der genau derselben Stelle wie damals, als er noch jung war. Jeden Tag ging er dort schwimmen, obwohl er Freizeitkleidung eigentlich hasste.

Demenz und Verwahrlosung

Er war immer adrett in Anzügen gekleidet, aber jetzt war alles anders: “Es passierte in letzter Zeit häufiger, dass er so abdriftete, und wenn er dann auftauchte, musste er sich wieder neu orientieren. Mist, sein Gehirn war Mist!” Am schlimmsten an der Demenz ist es wohl, das selbst erkennen zu müssen, seine Gedanken waren wie Schneeflocken, schreibt die Autorin treffend. Seine drei Kinder stehen mitten im Leben, er am Ende. Auch sie haben berufliche und persönliche Probleme. Luka, sein Lieblingskind, ist Reporterin in der Ukraine und macht einen schrecklichen, folgenreichen Fehler. Elena steckt in einer Ehekrise und der einzige Sohn, Tom, der Psychotherapeut, ist mit einem Partner liiert, der schon einen fixen Partner hat. Zweite Wahl also, wie er bald schmerzlich feststellen muss. Ob ihm seine Ayahuasca-Experimente dabei helfen können?

Krise schärft Zusammenhalt

Julie von Kessel hat einen authentischen Roman geschrieben, der zeigt, was es heißt eine Familie zu sein. Denn trotz all ihrer eigenen Probleme finden die drei Geschwister am Ende zusammen, was formal auch dadurch gelöst wird, dass es keine namentlichen Kapitelüberschriften mehr gibt, sondern nur mehr eines: “Hans”. In der Pflege ihres Vaters finden die drei wieder zusammen und schaffen es, ihre persönlichen Befindlichkeiten unter das Wohl der Allgemeinheit zu stellen. Denn alle wollen, dass es ihrem Vater wieder besser geht und er wieder zurück ins Leben findet. Der verirrte Belugawal, der sich in der Seine bei Paris verirrte konnte zwar gerettet werden, aber am Ende hatte er kein schönes Schicksal. Er zieht sich wie eine Metapher durch “Die andern sind das weite Meer“, denn Hans fasziniert die Nachricht über sein Schicksal deswegen so stark, weil er fühlt, dass er selbst gestrandet ist. Das Ordnen der alten Familiendias gibt ihm den Halt, der ihm verloren ging.

Das Verschwinden von Hans

Doch dann verschwindet Hans aus dem Haus, ohne Brieftasche und Kleidung. Die drei Geschwister finden in der Suche nach ihm wieder zusammen und begreifen, dass das Einzelgängertum der Vergangenheit keinem von ihnen nützte. So finden sich auch Lösungen für die eigenen privaten Probleme, die sie haben, denn schließlich sind sie eine Familie. Den Satz “Die andern sind das weite Meer”, der Titel dieses einfühlsamen Romans, muss jede/r für sich selbst interpretieren. Will man sich darauf verlieren? Oder segeln? Oder surfen? Ein Fluß wie die Seine ist für einen Belugawal jedenfalls zu klein.”Für mich sind Familien spannend”, sagte die Autorin in einem Interview, “vielleicht wegen der Ansprüche, die alle aneinander stellen, und auch wegen der gemeinsamen Geschichte”. Oder wie es Leonhard Cohen eingangs sagte: da wo der Bruch, der Riss entsteht, kommt das Licht herein. Die Spreu trennt sich vom Weizen. Oder aber die Krise schärft den Zusammenhalt. Eine Krise ist eben immer noch eine Chance. Aber nicht alle nützen sie.

Julie von Kessel
Die andern sind das weite Meer
Roman
2024, Hardcover, 336 Seiten
ISBN 978-3-96161-197-3
Eisele Verlag
23,- € [D] │23,70 € [A]


Genre: Familie, Familiengeschichte, Roman
Illustrated by Eisele

Umlaufbahnen

Umlaufbahnen. Orbital. Ausgezeichnet mit dem Booker Prize 2024 und Hawthornden Prize for Literature 2024, nominiert für den Orwell Prize for Political Fiction 2024 sowie den Ursula K. Le Guin Prize 2024: Orbital von Samantha Harvey, ihr fünftes Werk.

Weltraumdrifter lassen grüßen

In 90 Minuten umkreisen die sechs Astronauten aus Orbital den Planeten, sechzehnmal in 24 Stunden. Dass einem dabei alles andere plötzlich nebensächlich erscheint ist nur eine von vielen Reaktionen des menschlichen Gemüts auf die unvorstellbare Tatsache im Weltraum zu sein, dem absoluten Nichts, und auf seinen Heimatplaneten zu blicken. Die subtile Macht ihres Raumschiffs mach sie alle gleich: Anton, das Herz des Raumschiffs, Pietro, der Verstand, Roman, der Kapitän, die Hände, Shaun, die Seele, Chie, das Bewusstsein und Nell, der Atem. Sie kommen alle aus anderen Nationen, Astronauten und Kosmonauten, wie man sie in Russland nennt, wohl weil diese gleich weiter hinaus wollten, in den /Kosmos/, als bloß zu den Sternen, /ad astra/. Sie atmen alle dieselbe recyclierte Luft, trinken Wasser aus ihrem wiederaufbereiteten Urin und schlafen in derselben Fledrmausmäßigen Position. Eine Art kommunistische herrscht zwischen den sechs Raumfahrern, deren Mission es ist, einen Taifun zu erforschen, um bessere Prognosen für die betroffenen Erdbewohner:innen treffen zu können. Um das Leben anderer retten zu können, opfern sie ihr eigenes. Denn das Raumfahren fordert seinen Tribut. Nicht nur was die Unannehmlichkeiten der Schwerelosigkeit betrifft, sondern auch die Spätfolgen. Ein Gemälde von Diego Velázquez, Las Meninas (1656) ist die Steilvorlage dieses außergewöhnlichen Romans, der mehr einer Meditation gleichkommt als einer bloßen Erzählung. Die Erleuchtung, welche Perspektive der Maler bei seinem Gemälde einnahm, erscheint dem Leser dann wie ein Glockenläuten.

Gedanken im Angesicht des Planeten

Was passiert, wenn man seine Heimat nur aus weiter Ferne durch ein kleines Fenster sieht? Wie verändern sich Denken und Fühlen?
sind nur zwei Fragen, die die Autorin in diesem lesenswerten Roman aufwirft und auf Möglichkeiten der Beantwortung prüft. “Sugoi”, das japanische Wort für die Interjektion “Wow” ist nur ein Ausdruck den man in vorliegendem aufrüttelnden Roman lernt und spürt, denn die Beschreibungen der Erdumrundungen sind in einer äußerst beeindruckenden Sprache formuliert und ringen einem schon während des Lesens Bewunderung ab. Sie erzählt von Sergei Krikaljew, dem sowjetischen Kosmonauten, der aufgrund der politischen Umwälzungen in seinem Heimatland sechs Monate länger als geplant auf der Mir verbringen musste. Aber auch Michael Collins, der die beiden Astronauten Neil Armstrong und Buzz Aldrin vor dem blauen Planeten fotografierte und als einziger Abkömmling der Menschheit nicht auf dem Foto war. Eine Spekulation, die Diskussionen auslöste, was das wohl für ihn bedeutete. Aber bei all dem, darf man nie den Preis vergessen, den die Menschheit für diese Momente des Ruhms zahlt, schreibt Harvey und wir alle wissen, was das bedeutet. Die Antriebsrakete ihres Raumschiffs benötigt allein beim Start so viel Benzin wie Millionen Autos. “Wir denken wir wären der Wind, aber wir sind nur die Blätter”, schreibt sie. Die Such nach der Last Frontier ist es, was die Raumfahrt antreibt, das Territorium vergrößern, der Weltraum die letzte Wildnis, die uns noch bleibt, das Revier markieren.

Samantha Harvey
Umlaufbahnen. Roman
(Originaltitel: Orbital)
Aus dem Englischen von Julia Wolf
2024, 1. Auflage, Hardcover im Schutzumschlag, 224 Seiten, 11,8 x 19,5 cm
ISBN : 978-3-423-28423-3
dtv
EUR 22,00 [DE] – EUR 22,70 [AT]

 


Genre: Roman
Illustrated by dtv, dtv München

Kunst im Krieg: Kulturpolitik als Militarisierung

Stefan Ripplingers Essay “Kunst im Krieg: Kulturpolitik als Militarisierung” ist ein ambitioniertes und differenziertes Werk, das die Verflechtungen von Kunst, Kulturpolitik und den Mechanismen der Macht in Zeiten von Krise und Krieg analysiert. Das Buch ist ein Appell für die Unabhängigkeit der Kunst und eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Instrumentalisierung durch Politik und Gesellschaft. Weiterlesen


Genre: Kunst, Politik und Gesellschaft
Illustrated by PapyRossa

Die Passagierin

Dystopische Zeitreise

Nach zehn Jahren hat der Schriftsteller Franz Friedrich seinen zweiten Roman veröffentlicht, der dann, wie schon sein Debüt, ebenfalls für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 ausgewählt wurde. Es ist die ebenso originelle wie gewagte Kombination einer Dystopie mit einer sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft springenden Zeitreise für ausgesuchte Menschen. Ort der Handlung ist eine nach der antiken Landschaft Kolchis benannte, kleine Gemeinde am Meer, quasi ein Kurort für Zeitreisende. In dem befinden sich viele mit wunderlichen Namen benannte Sanatorien, die den, aus ihrer jeweils persönlich erlebten Zeit dorthin evakuierten Menschen eine neue Heimstatt bieten. Sie sind durch ihre Zeitreise ihrem historischen Schicksal entkommen und sollen jetzt auf ihr neues, besseres Leben vorbereitet werden. «Es ist ein großer Wartesaal, abgeschirmt wie unter einer Glocke, seiner Zeit entrückt», hat der Autor dazu erklärt.

Protagonistin und Ich-Erzählerin der Geschichte ist Heather, eine Frau aus der ehemaligen DDR, die dort groß geworden ist und dann 1989 die «Wende» miterlebt hat. Als Teenager war sie schon mal nach einer Zeitreise in Kolchis, nun kehrt sie als Erwachsene zurück. Heather leidet seit damals an «Phantom-Erinnerungen» und hofft, ihre innere Ruhe wiederzufinden und dem Schmerz der Einsamkeit zu entfliehen. Nun will sie nach etlichen Jahren ein paar Tage dort verbringen, – aber aus den Tagen werden Wochen. Ihr ehemaliges «Sanatorium 9» ist verfallen, nur wenige Räume sind noch bewohnbar, und das gilt auch für all die anderen Sanatorien und Gebäude in Kolchis, wie sie feststellen muss, alles ist scheinbar verlassen und dem langsamen Verfall anheim gegeben. Die Bewohner, die dort noch leben, stammen alle aus einer anderen historischen Epoche, dem Spätmittelalter zum Beispiel, der Zeit der Kolonialreiche, der Weltkriege, bis hinein in unsere Gegenwart. Sie alle warten auf eine Evakuierung, die sie aus Kolchis wieder wegbringen soll. Was aber niemand von ihnen ahnt: Die Rettungs-Missionen des Evakuierungs-Programms gibt es gar nicht mehr!

In täglichen Sitzungen mit wechselnder Besetzung diskutieren die Bewohner ‹über Gott und die Welt›, meist aber über ihre ganz persönlichen Geschichten. Es werden dabei natürlich auch die großen philosophischen Fragen verhandelt, speziell die nach der persönlichen Schuld. Dabei freundet sich Heather mit Matthias an, einem aus dem Mittelalter stammenden, verbitterten Landsknecht, der als ehemaliger Söldner hier offenbar den idealen Platz für sich gefunden hat. Im Interview hat der Autor sein ungewöhnliches narratives Konzept erklärt: «Die Idee treibt mich schon lange um: die Vorstellung einer Flucht aus der einen Zeit, der Rettung in eine andere. Sobald man länger darüber nachdenkt, wird man merken, dass es nicht reicht, Einzelne zu holen, aber alle? Als besonders tragisch erschien mir immer das Konzept einer nicht mehr veränderbaren Vergangenheit, einer Geschichte, die man zwar bereisen kann, aber einfach geschehen lassen muss, so grausam sie auch ist. Was würde das mit einer Gesellschaft machen, würde sie das hinnehmen? Oder würde sie nicht trotzdem versuchen, ihre historischen Katastrophen zu verhindern, so gering die Chancen auf einen Erfolg auch wären.»

Aus dem Gesagten kann man unschwer erkennen, dass man von diesem Roman Plausibilität nicht erwarten kann. Seine Figuren sind durch tragische Schicksale gekennzeichnet, wie vergessene Selbstmörder zum Beispiel oder Opfer kollektiver Gewalt. Nicht jeder wird dem in diesem Roman zum Ausdruck kommenden eigenwilligen Humanismus des Autors folgen können und wollen. Bei alledem verzichtet der Autor nämlich auch noch auf eine konkrete Beschreibung seiner kafkaesken Welt. Er setzt damit für eine bereichernde Lektüre eine allzu große Fantasie voraus, deutlich zu viele, naheliegende Fragen bleiben einfach offen. Das Gros seiner Leser dürfte, erheblich überfordert, daran kläglich scheitern, – einige wenige Distopie-Fans ausgenommen!

Fazit:  miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Weinkumpane

Walter Laufenbergs Regionalkrimi beleuchtet auf ebenso unterhaltsame wie tiefsinnige Weise eine historisch turbulente Zeit in Heidelberg. Der Roman schildert das Leben am Hofe des Pfalzgrafen Karl Philipp, dessen schillernder Hofnarr Perkeo nicht nur für humorvolle Einlagen, sondern auch für das Beschaffen von dringend benötigtem Geld verantwortlich ist. Dabei nimmt der Autor seine Leser mit in eine spannende und zugleich skurrile Geschichte, in der Kriminalfall und Zeitgeschichte miteinander verschmelzen. Weiterlesen


Genre: Historischer Roman, Roman
Illustrated by SALONLiteraturVERLAG

Lichtungen

Eine gute Idee?

Der neue Roman von Iris Wolff ist auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024 gewählt worden, ihr jüngstes Werk heißt «Lichtungen». Der kryptisch erscheinende Titel kommt im Romantext nur einmal vor, das Wort fällt eher beiläufig, in einem der vielen erzählten Gedankengänge des Protagonisten: «Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie ‹Lichtungen›. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand». Nur das Vergessen, sinniert er weiter, bleibe einem wirklich allein, alles sonst bleibe nur durch andere gegenwärtig. Thema des Romans ist die Liebe in Zeiten eines politischen Umbruchs, beginnend in der Ceaușescu-Ära über deren Ende hinaus bis in die Gegenwart. Das Besondere dieses Romans ist die Umkehr der Chronologie, erzählt wird von der Jetztzeit rückwärts bis zur Kindheit des Protagonisten. Ist das eine gute Idee, fragt man sich als Leser.

Der nicht-chronologischen Erzählweise entsprechend beginnt der Roman mit dem Kapitel neun in der Jetztzeit. Dabei lernen wir den Protagonisten Leonhard kennen, im Roman nur Lev genannt (rumänisch Löwe), er entstammt einer rumänisch-deutschen Familie. Als Enddreißiger trifft er in Zürich nach intensiver Suche Kato wieder, seine Freundin aus Kindheitstagen, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in den Westen gegangen ist. Sie arbeitet dort als Straßenmalerin und verdient gut dabei, lebt in einem schönen Wohnmobil und führt ein ungebundenes, freies Leben, eine Prägung, die sich schon in ihrer Kindheit abgezeichnet hat. In den mittleren Kapiteln wird erzählt, wie Lev nach der Schule im Sägewerk arbeitet und 1989, nach dem Ende der Ceauşescu-Ära, in einem Trupp von Waldarbeitern landet. Eine körperlich harte Arbeit, die ihn schließlich überfordert. Lev ist, erfährt man in den letzten Kapiteln, das einzige Kind seines früh verstorbenen Vaters aus zweiter Ehe. Er ist zu Hause ein krasser Außenseiter, der Verlust des Vaters ist eine sehr frühe Verlusterfahrung, die ihn lebenslang prägt. Nach einem Unfall ist er mit gelähmten Beinen lange ans Bett gefesselt. Ausgerechnet Kato, eine von allen gemiedene, eigenwillige Klassenkameradin, wird damit beauftragt, ihn täglich so gut es geht über den Lehrstoff zu informieren. Nach anfänglicher Skepsis verliebt er sich schließlich in sie. Bei einem Kuraufenthalt mit seinem Großvater Ferry, der später als einer der Ersten in den Westen gegangen ist, hat Lev als Kind ein ihn prägendes, traumatisches Erlebnis. Und es wird ihm auch prophezeit: «Irgendwann, davon war Ferry überzeugt, würde es eine Frau in Levs Leben geben, die er nicht gehen lassen dürfe. Für die sich das Warten lohne, jedes Wagnis, jede Zeit».

Typisch für den Erzählkosmos von Iris Wolff ist an erster Stelle das Erzählen selbst, der virtuose Umgang mit der Sprache. Ferner sind es menschliche Erfahrungen, die es gilt, dem stets drohenden Vergessen zu entreißen. Außerdem seien ihre Figuren, wie sie im Interview erklärt hat, durch Erfahrungen ihrer eigenen Familie geprägt. Und so ist auch diese Geschichte in den immer wieder mitreißend geschilderten, rumänischen Landschaften ihrer eigenen Kindheit angesiedelt, Siebenbürgen, Banat und Maramuresch. Die einzelnen Episoden des kapitelweise rückwärts springenden Plots decken einen Zeitraum von fast vierzig Jahren ab, ohne dass die rumänische Revolution selbst thematisiert wird. Jedem der von neun bis eins herunter gezählten, unbetitelten Kapitel ist, wie ein Motto, ein literarisches Zitat in einer jeweils anderen Sprache vorangestellt, deren Wortlaut und Quelle im Nachwort erläutert wird.

Die Liebe zwischen Lev und Kato ist seltsam unterkühlt und distanziert. «Manches war zwischen ihnen nie zur Sprache gekommen. Worüber man nicht sprach, war nie geschehen.» In einer oft poetischen Sprache chronologisch rückwärts erzählt, verlangt dieser Roman viel Geduld vom Leser. Ob das Experiment mit dem zeitlich umgekehrten Plot wirklich eine gute Idee war, ist zweifelhaft, kann also letztendlich von jedem Leser nur für sich selbst beantwortet werden!

 Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Die Fehlbaren Politiker zwischen Hochmut, Lüge und Unerbittlichkeit

Helene Bubrowski ist mir als häufiger Gast bei Lanz bekannt, wo sie noch nie etwas Dummes gesagt hat, aber an richtigen Stellen lächelt. Das Buch lag in der Stadtbücherei bei Neuheiten, Rezensionen kannte ich nicht, nach der Lektüre eigentlich unverständlich, denn es ist sehr lesenswert.

Es geht um die fehlende Fehlerkultur, die die Autorin seit Jahren bei Politiker:innen aller Parteien verfolgt. Es geht nicht um die Fehler, sondern darum, wie damit umgegangen wird.  Die Taktiken werden beschrieben und bewertet: mit Salamitaktik kommt niemand durch.

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Genre: Gesellschaftsroman, Politik und Gesellschaft
Illustrated by dtv München