Super einsam

Super einsam. “SO36”, die ehemalige Berliner Postleitzahl für einen ganz bestimmten Teil Kreuzbergs, wird in den Achtzigern zu einem Chiffre für politischen Widerstand und linksradikale Aktivitäten. “Mariannenplatz rot verschrien“, sangen damals Ideal. Für Vito, den Protagonisten von Anton Weils Roman, ist es vor allem seine Heimat. Denn in SO36 befindet sich die Wohnung seines Vaters, die er von ihm übernommen hat. Aber eigentlich will er nur raus hier, raus nach Südfrankreich. Oder wohin auch immer.

SO36 Heimat der Heimatlosen

Der Moment schien eben golden wie unser Bier“, meint Vito tröstend zu sich selbst, um ihn herum peitschen sich die Leute auf dem Klo Zeugs in die Nase oder konsumieren ganz offen, was es an legalen und illegalen Substanzen zu konsumieren gibt. Aber Vito ist nicht so, er besucht lieber einen IKEA Laden mit seinem Vater, denn dort gibt es eine “vorgegeben Route durch den Laden. Endlich etwas das Halt verspricht. Endlich Guidance“. Die Erkenntnis, dass er ob seiner Altersweitsicht eigentlich “Goethe-Augen” hätte, erfreut sein darbendes Gemüt, sein Vater jedenfalls ist sogar stolz darauf. Aber egal, denn jede Eskalation kann ja auch ein Bonding-Moment sein, gerade zwischen Vater und Sohn. Vielleicht sogar ein James-Bonding Moment. Solche Momente haben die beiden bitter nötig, denn Vito’s Mutter ist an Krebs gestorben und so sind beide Männer einsam. Super einsam. Aber Vitos Mutter hat ihm einen Koffer vererbt, den er erst an seinem 25. Geburtstag öffnen darf. Aber er ist noch nicht 25. Erschwerend hinzu kommt noch die Trennung von seiner Freundin Mia, was ihn noch viel super einsamer macht als seinen Vater. Aufgrund der Krisensituation lässt er sich auf einen Schwulenflirt ein, “seine Homophobie war durchwegs gay“, scherzt er vor sich hin, denn das tete a tete endet bei einem Sicherheitsbeamten.

Super einsam Retro-topie

Fuck, is das hell.” Anton Weil schreibt in kurzen, meist englisch übermittelten Kapiteln witzige Szenen aus dem Alltag seines Protagonisten und meist stellt man fest, dass man selbst noch in diesem Karussell hängt, von dem er hier schreibt. Denn die ganzen gesellschaftsverändernden Utopien der Achtziger oder Sechziger habe längst ausgedient und sind höchstens noch als Retro-topie denkbar. Wer würde denn schon freiwillig auf die 80m2 Wohnung des Vaters verzichten, wenn sie sich noch dazu in Kreuzberg SO36 befindet? Vito jedenfalls nicht. “Vielleicht ist es ein Hoffnungsschimmer, dann könnte ich hier wohnen bleiben. Halt frierend, aber immerhin habe ich eine Heimat.” Der Verlust seiner Mutter, die erst 49 war, traf den damals 17-jährigen wie eine Atombombe: “Ich wollte sehen, wie viel übrig bleibt von einem Menschen, der für mich die Welt, aber für die Welt nur ein Mensch war“, erklärt sich Vitolino sein Verhalten im Krematorium. Am Ende sieht er sie dann doch noch in 4K-Ultra-HD. Und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich zu bedanken. Denn sie war die ganze Zeit über da.

Ein Roman über einen schmerzlichen Verlust, der sich verdoppelt. Schön, dass Vito uns daran teilhaben lässt und so vielleicht auch jenen hilft, die ähnliches durchmachen. Nur den Kopf nicht hängen lassen, irgendwann kommt von irgendwoher wieder ein Lichtlein daher. Meistens wenn man es am wenigsten erwartet…

Anton Weil
Super einsam. Roman
2024, gebunden, 240 Seiten, 12.5 x 19 cm
ISBN: 978-3-0369-5042-6
Kein&Aber Verlag
EUR 22.70


Genre: Roman
Illustrated by Kein & Aber Zürich

Wien. Architektur und Kunst

Wien. Architektur und Kunst. Wien wird regelmäßig zur lebenswertesten Stadt wiedergewählt. Gerade im Herbst lohnt sich ein Besuch der Mitteleuropametropole, da ein Festival das andere abwechselt, sei es Musik, Kunst oder Mode. Der vorliegende Reclam Städteführer für Kunst- und Architekturliebhaber wirft sein Augenmerk aber auf die wichtigsten Profan- und Sakralbauten und den bedeutendsten Museen, also dem “Vienna Gloriosa”. Ein Stadtporträt, das die Stadtgeschichte in Daten und Besichtigungsvorschlägen für ein- und mehrtägige Aufenthalte in sich versammelt.

Vienna Gloriosa: barocke Moderne

Farbige Innenstadtpläne in den Umschlagklappen, zahlreichen Abbildungen, Stadtteilpläne, Grundrisse, ein Register sowie weiterführenden Literatur- und Internethinweisen zeichnen die neuen Reclam Städteführer aus. So auch dieser, der sich ganz Österreichs Hauptstadt widmet und sogar noch mit einem praktischen Farbleitsystem im Innenteil ausgestattet ist und so eine schnelle Übersicht ermöglicht. Die Autorin Hildegard Kretschmer, stammt zwar aus Salzburg, worüber sie bei Reclam auch einen Städteführer veröffentlichte, kennt sich aber in Wien genauso gut aus. Die Stadt, die einst nach ihrem Wienflussgerinnsel, der dieses Jahr während des Hochwassers erstmals zu einem reißenden Fluß wurde, benannt wurde, war einst ein römisches Militärlager, Vindobona, das eigentlich erst Bedeutung erhielt, als das Lösegeld für Richard Löwenherz in die Schatzkammer eintrudelte.

Stadterweiterung durch Lösegeld

Mit diesem Geld wurde die Stadt erweitert und ein Mauerring errichtet. Die Habsburger folgten auf ein kurzes Zwischenspiel der Böhmen und 1365 stiftete Rudolf IV. endlich eine Universität. Zu Vienna Gloriosa wurde Wien vor allem während des Barock. Eine Schrift von P. Ignatius Reiffenstuel SJ wurde so betitelt und zeigte das ruhmreiche Dörfl als Trutzburg des Katholizismus und der Gegenreformation. Selbst von der Französischen Revolution und Napoleon blieb die Wiener Bürgerschaft unbeeindruckt. Erst nach der Revolution von 1848 wandelte sich Wien schließlich endlich zur Großstadt, wie wir sie heute kennen.

Wien. Architektur und Kunst

Neben der Innenstadt zeigt Kretschmer aber auch die noblen Villenbezirke Hietzing, Währing, Döbling oder die Weindörfer Grinzing, Nussdorf und Heiligenstadt, die seit Ende des 19. Jahrhunderts zum Stadtgebiet gehören, da sie eingemeindet wurden. Seither hat Wien 23 Bezirke, die allesamt in vorliegendem Städteführer vorgestellt werden. Die Stadtgeschichte in Daten, dann ein Spaziergang durch die sog. Innere Stadt, die als einzige der 23 Bezirke keinen anderen Namen hat, wird gefolgt von einem Ausflug über die Ringstraße in den Dritten Bezirk, “Landstrasse”. Im Anhang befindet sich ein eigenes Kapitel zu den unzähligen Museen sowie praktische weiterführende Informationen mit Telefonnummern und Internetadressen. Der Reclam Städteführer hat in jeder Jackentasche platt und ist ideal für unterwegs und unentbehrlich für Architektur- und Kunstaficionados.

Von Hildegard Kretschmer
Reclams Städteführer Wien. Architektur und Kunst
4. durchges. und aktual. Auflage von Maximilian Hartmuth
2024, 220 S., 18 Farbabb., 10 Karten, Klappenbroschur. Format 9,6 × 14,8 cm
ISBN: 978-3-15-014632-3
Reclam Verlag
15,00 €


Genre: Stadtführer
Illustrated by Hildegard Kretschmer, Reclam Verlag

Von Norden rollt ein Donner

Schäferidylle kontra Wolf

Es sind ganz verschiedene Motive, die den Schriftsteller Markus Thielemann dazu bewogen haben, seinen zweiten Roman «Von Norden rollt ein Donner» zu schreiben, wie er in einem Interview mit den NDR erklärt hat. «Ich schreibe gerne über Landschaften» hat er über sein Grundthema gesagt. Und in zweiter Linie sei der Wolf für ihn eine Inspiration zum Schreiben gewesen, «die Idee von Idylle und Gewalt», die hier räumlich so nahe beieinander seien. Ein düsteres Bild deutet ihm zufolge auch der Titel des Buches an, denn es gehe eben nicht um einen Gewitter-Donner, sondern um den Donner von Granaten aus der naheliegenden Munitionsfabrik von Rheinmetall. «Das fand ich ein unheimliches Bild».

Mit einem Heide-Gedicht von Theodor Storm als Vorwort wird aus der Perspektive des 19jährigen Jannes eine Geschichte erzählt, die zeitlich 2015 im Milieu einer Schäferfamilie auf der Lüneburger Heide angesiedelt ist. Der formal noch dem Opa gehörende Hof der Familie besitzt 42 Ziegen und lebt im Wesentlichen von der Schafzucht, die Herde besteht aus 357 Heidschnucken. Durch Einwanderung und Wiederansiedlung ist in der Heide mit der Zeit eine Population von Wölfen heran gewachsen, die immer bedrohlicher wird für die Schäfer. Der Opa von Jannes kann kaum noch mitarbeiten und verbringt seine Zeit vor dem Fernsehgerät. Der Vater, immer häufiger von Demenz-Ausfällen geplagt, ist deshalb öfter am Schreibtisch als auf der Heide anzutreffen. Die Arbeit mit den Schafen lastet damit also weitgehend auf den Schultern von Jannes, manchmal unterstützt von seiner Mutter, die sich ansonsten um den Hof kümmert und den Haushalt führt. Jannes ist gerne Schäfer, er ist in diese Arbeit hineingewachsen seit frühester Kindheit und kann sich gar nicht vorstellen, etwas anderes zu tun oder gar in die Stadt zu gehen und einen Beruf zu erlernen wie seine beiden Freunde.

In sehr ausführlichen und anschaulichen Beschreibungen schildert der Autor die einmalige Natur, in der Jannes einsam und bei oft unwirtlichem Wetter arbeiten muss. Mit Hilfe seiner beiden Hütehunde treibt er seine Herde manchmal kilometerweit zu den Weideplätzen. Er beobachtet aufmerksam die Tiere, die er alle kennt, und unwillkürlich auch die weitere Umgebung, wo er den Wolf vermutet. Es gab nicht nur Spuren von ihm, sondern auch schon Risse. Die Emotionen prallen heftig aufeinander in den Dörfern, befeuert von den einseitig ökologisch orientierten Umweltschützern, für die der Wolf ganz selbstverständlich zu dieser archaischen Naturidylle gehört. Logisch denkende Realisten halten dem entgegen, dass die Zeiten, in denen der Wolf hier heimisch war, längst vorbei sind, es gibt keinen Platz mehr für ihn in der dicht besiedelten, modernen Industrielandschaft. Und die Schäferei wiederum ist erforderlich, um die Heide zu erhalten, die einzig und allein durch den Verbiss der Schafe baumfrei mit ihrem typischen Bewuchs erhalten bleibt. Natürlich nutzt die politische Rechte diese Thesen gegen den Wolf propagandistisch weidlich aus, und es bildet sich bald auch schon eine dörfliche Interessen-Gemeinschaft.

Die Schäferidylle nimmt einen weiten Raum ein in diesem Roman, der auf der Shortlist für den  Deutschen Buchpreis 2024 steht. Man bewundert die fast schon intelligent wirkenden Hütehunde und erschrickt über die tagelange Einsamkeit des jungen Schäfers bei seiner Arbeit. Gegen den Wolf wird vom Vater ein extra hoher Wolfzaun aufgestellt, und versuchsweise wird auch ein spezieller Schutzhund eingesetzt. Leider passiert aber sonst nur wenig, außer dass Jannes von Trugbildern und mythischen Visionen geplagt wird, die bis zum Schluss andauern. Es wird dazu aber nur vage angedeutet, dass von den Nazis dort früher Fremdarbeiter eingesetzt wurden. Deutlich zu Vieles aber bleibt unerzählt und der eigenen Fantasie überlassen. Und es werden immer wieder weitschweifig die eintönigen Tage des Schäfers geschildert, so dass man sich leider bald auch ziemlich langweilt mit diesem Roman!

 Fazit:  lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München

Fucking Famous

Ein zwiespältiges Gefühl hinterlässt die Lektüre des Romans »Fucking Famous«, der im Klappentext als »Deutschlands abgründigste Roman-Satire über Instagram & Co., schamlose Selbstdarstellung im Zeitalter der Algorithmen, Hyper-Narzismus und das allgegenwärtige Mantra der Influencer: Mach dich zur Marke!« klassifiziert wird. Weiterlesen


Genre: Humor und Satire, Romane
Illustrated by Solibro Münster

Die Netanjahus

Persiflage über unausrottbare Aversionen

Der amerikanische Schriftsteller Joshua Cohen hat für seinen Campusroman «Die Netanjahus» mit dem Untertitel «oder vielmehr der Bericht über ein nebensächliches und letztendlich sogar unbedeutendes Ereignis in der Geschichte einer sehr berühmten Familie» den Pulitzerpreis für das Jahr 2022 erhalten. Erzählt wird eine groteske Geschichte, die literarisch auf der Höhe des vergleichbaren Romans «Pnin» von Wladimir Nabokov angesiedelt ist. Anders als im Pnin ist hier aber der Held ein realitätsverhafteter jüdischer Geschichtsprofessor, der intelligente Chaot aber ein israelischer Bewerber um eine Professur. Ernste Thematik hinter dem erzählerischen Witz in diesem Roman sind die antisemitischen Ressentiments in den USA, der jüdische Selbsthass und die Israelkritik. In einem langen, mit «Abspann & Gastauftritte» betitelten Nachwort erläutert der Autor die realen Hintergründe seiner auf einer wahren Begebenheit beruhenden Geschichte. Denn tatsächlich hat der Vater des heutigen, heftig umstrittenen israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu sich einst vergeblich an einer amerikanischen Uni beworben, – der Rest aber ist Fiktion!

Der Historiker Professor Ruben Blum ist der einzige Jude am Corbin College nördlich von New York, in einer öden, ländlichen Gegend. Er ist ein gutmütiger Mensch und lebt mit seiner Frau und der zum Studium angemeldeten, klugen und sehr selbstbewussten Tochter in der Diaspora. Er hat sich nicht geweigert, auf Wunsch seines Dekans, der das als ironischen Gag sieht, bei der jährlichen Feier ausgerechnet als Jude die Rolle des christlichen Weihnachtsmanns zu übernehmen. Und so kann er es im Winter 1959-1960 auch nicht ablehnen, einen jüdischen Bewerber bei seinem Besuch zu einer Probe-Vorlesung zu empfangen und zu betreuen. Zu seiner Überraschung steigt Netanjahu bei heftigem Schneefall nicht allein aus seinem klapprigen Auto, es sind gleich fünf Personen, mit ihm seine Frau und drei Söhne im Teenager-Alter.

Und damit ist die häusliche Idylle bei den Blums mit dem zum Empfang liebevoll angerichteten Büffet dahin. Die Netanjahus schleppen mit ihren Schuhen und Mänteln Schnee herein, der das Parkett ruiniert, fallen wie die Wilden über das Büffet her, lümmeln sich in den Postersesseln herum und glotzen staunend auf den neuen Fernseher, der einer der ersten ist mit Farbe. Die Uni hat nur ein Einzelzimmer reserviert, und als Netanjahus Frau mit dem ausgebuchten Hotel telefoniert, beschimpft sie die Frau von der Rezeption und verzichtet schließlich wütend auf das Einzelzimmer. Die Blums müssen sich auf das Schlimmste vorbereiten, den fünf Netanjahus nun auch noch Logis anzubieten. Als Blum und Netanjahu mit ihren Frauen spätabends von der Probe-Vorlesung und dem nachfolgenden Empfang zurückkommen, ist der neue Fernseher zertrümmert und das Zimmer total verwüstet. Auf der Treppe kommt ihnen der älteste Sohn nackt und mit erigiertem Penis entgegen, und die sonst so brave Tochter tritt ungeniert ebenfalls nackt aus ihrem Zimmer heraus, – das Chaos ist perfekt.

Der Roman lebt einerseits von seinem ironischen, satirischen Ton, der das Lesen zum reinen Vergnügen macht, auch wenn es zuweilen slapstickartig zugeht. Und dabei werden bewusst keine Klischees ausgespart, mit denen jüdisches Leben ja so reichlich gesegnet ist, sie werden vielmehr ins Groteske hinein gesteigert. Andererseits, und das macht diesen Campus-Roman auch zum intellektuellen Vergnügen, werden das Judentum, jüdische Diaspora und der Zionismus in erregten Disputen und kritischen Betrachtungen geistvoll hinterfragt. Stilistisch brillant und gekonnt Witz und Intellekt miteinander verknüpfend prallen die radikalen politischen Thesen Netanjahus auf die betont zurückhaltenden, eher versöhnlichen Positionen von Ruben Blum. Eine ironische, oft sogar zynische Persiflage über unausrottbare Aversionen biblischen Ausmaßes, die oft schon an der Frage scheitern, was genau einen Menschen denn zum Juden macht.

Fazit:   erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Schöffling & Co Frankfurt am Main

Schecks Bestsellerbibel

Zwischen Jubel und Verriss

Mit dem Titel «Schecks Bestsellerbibel» suggeriert Denis Scheck, Deutschlands bekanntester Literatur-Kritiker, gleich auch noch den Begriff Papst als unfehlbare Autorität an der Spitze einer gläubigen Leserschar. Durch seine Aktivitäten in Rundfunk und Fernsehen ist er zweifellos der populärste Vertreter seiner Zunft in der Nachfolge des unvergessenen Marcel Reich-Ranicki. Der ist bekanntlich vor allem durch seine schriftlichen Rezensionen in den Feuilletons einem breiteren Publikum bekannt geworden, mit der Sendung «Das literarische Quartett» aber später eben auch durch das Fernsehen. Als Urgestein des literarischen Kritikers galt Reich-Ranicki bis zu seinem Tode als der deutsche Literatur-Papst. Beiden Kritikern ist gemein, dass sie ihre dezidiert subjektive Einschätzung der Qualität eines Buches äußerst vehement vortragen und andere Meinungen partout nicht gelten lassen wollen. Das führt dann oft zu unerbittlichen Kontroversen. Beide Herren haben zum Beispiel eine Dauerfehde mit Elke Heidenreich geführt. Deren gefühlsbetonte Bewertungen lehnt Scheck entschieden ab, für sie sei «Literatur ein Mittel gegen seelische Blessuren», also eine zweckgebundene Kunstgattung!

Die Sammlung von kurzen Beurteilungen der Bücher, die in den letzten zwanzig Jahren in die beiden Bestsellerlisten des Nachrichten-Magazins «Der Spiegel» aufgenommen wurden, bieten als Orientierungshilfe einen guten Überblick der meistverkauften Bücher, nicht der besten! ‹To sell› heißt verkaufen, und mit dem Untertitel «Schätze und Schund aus 20 Jahren» weist der Autor ja auch unmissverständlich darauf hin. Die meistverkaufte Tageszeitung in Deutschland ist «Bild», wäre anzumerken, ist sie deshalb die beste? Den Schund heraus zu filtern aus der Flut der jährlichen Neuerscheinungen ist dem unerschrockenen Kämpfer Denis Scheck offensichtlich das Hauptanliegen. Aber er warnt auch vor gesundheits-schädigenden Autoren: «Die amerikanische Neuro-Wissenschaftlerin Maryanne Wolf hat herausgefunden, dass unser Gehirn durch das, was wir lesen, unwiderruflich geprägt wird – und zwar sowohl physiologisch als auch intellektuell. Das aber heißt nichts anderes, als dass Sie ihr Hirn irreparabel schädigen, wenn Sie einen Roman etwa von Sebastian Fitzeck, Susanne Fröhlich oder Paolo Coelho lesen.» Deutlicher geht’s nicht!

Gleich zu Beginn dieser Bibel findet man «Die zehn Gebote des Lesens». Man solle skeptisch sein als Leser, mehr ausländische Bücher lesen als deutsche, mehr von Autoren des anderen Geschlechts und mehr aus vergangenen Zeiten. Denken Sie sich in die Epochen hinein, lassen Sie sich nicht leiten durch den tollen Umschlag, durch Genres oder Verlage, bleiben Sie bei der Wahrheit, ob Ihnen ein Buch gefallen hat oder nicht. Urteilen Sie öffentlich nur über Bücher, die Sie komplett gelesen haben, urteilen Sie über Bücher und nicht über die Menschen, und seien Sie sich dessen bewusst, wenn Sie eine Übersetzung lesen. Im Vorwort wie auch in den einundzwanzig Einführungen zu den einzelnen Bestseller-Jahreslisten äußert sich Denis Scheck ergänzend auch sehr anschaulich und lehrreich zu verschiedenen Themen rund ums Buch. Da finden sich beispielsweise Beiträge wie «Leben Lesende länger», «Wie verändern Bücher unser Leben», «Warum sind so viele Bücher Krimis», «Stiften Bücher Werte», «Sind Bücher Spiegel oder Fenster», «Kann man aus Büchern lieben lernen», «Kann man Gott in der Literatur finden», «Kann man mit Büchern reich werden», «Wie verliebe ich mich in ein Buch».

Man wird sich kaum in die «Bestsellerbibel» verlieben, schon allein deshalb, weil man vielleicht den einen oder andern Verriss findet von einem Buch, das einem selbst sehr gefallen hat. So ist das nun mal, unser Urteil ist subjektiv, und das von Denis Scheck erst recht, wie er zugibt. Die Hälfte der Bücher sind Sachbücher, in die erklärte Belletristik-Leser nur ganz selten mal hineinschauen. Bleibt die andere Hälfte, die mit Hilfe des 22seitigen Personen-Registers ein nützliches Nachschlagewerk bildet. Aber wie in der Kritiker-Szene üblich changieren auch hier die verbalen Urteile zwischen Jubel und Verriss, Zwischentöne sind leider eher selten.

Fazit:  lesenswert

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Genre: Sachbuch
Illustrated by Piper Verlag München

Reichskanzlerplatz

Geschichte zweier Opportunisten

Eine schillernde Figur, Magda Goebbels, steht im Mittelpunkt des neuen Romans von Nora Bossong, Protagonist und Ich-Erzähler jedoch ist Hans Kesselbach, ein Homosexueller, mit dem sie in jungen Jahren kurzzeitig eine Affäre hat. Entlang der deutschen Geschichte von 1919 bis 1945 schreibt die Autorin über die «Vorzeigemutter» des Dritten Reichs, von der außer ihrem Abschiedsbrief an den ältesten Sohn aus erster Ehe nichts Schriftliches erhalten ist, Ganz im Gegensatz zu ihrem Mann, dem verbrecherischen Propaganda-Minister, der als einer der eifrigsten Tagebuch-Schreiber gilt, von seinen jedenfalls sind hunderte erhaltenen geblieben. Und ob sich hinter der Romanfigur des schwulen Liebhabers der Student Fritz Gerber verbirgt, das ist ebenfalls unsicher, reichlich Raum also für Fiktives in diesem Roman.

Eine Friedhofs-Inschrift, die dem Buch eine bedrohliche Grundstimmung unterlegt, ist als Motto vorangestellt: «Was Ihr seid – das waren wir; was wir sind – das werdet Ihr». Die junge Magda hat den aufstrebenden Industriellen Günther Quandt geheiratet, der mit Textilien für die Wehrmacht den Grundstein für sein industrielles Imperium gelegt hat. Helmut, der jüngste ihrer beiden Stiefsöhne, freundet sich mit seinem Klassenkameraden Hans an und lädt ihn über Jahre hinweg immer wieder in die pompöse Villa seines reichen Vaters ein. Seine junge Stiefmutter Magda, die er spöttisch nur Madame Quandt nennt, findet ebenfalls Gefallen an Hans. Als aber Hans sich seinem Freund eines Tages unsittlich zu nähern versucht, bricht Helmut den Kontakt für längere Zeit komplett ab. Später lebt ihre Freundschaft wieder auf, und Magda, die in ihrer Ehe sehr unglücklich ist, hat eine Liebesbeziehung mit Hans, der inzwischen studiert. Während sie Trost sucht, schützt ihn die Liaison vor Anfeindungen, denn Homosexualität ist nach §175 ein Straftatbestand zu jener Zeit.

Magda lässt sich scheiden und bezieht eine repräsentative Wohnung am titelgebenden «Reichkanzlerplatz», in deren Salon sich bald schon die Prominenz von Berlin zum geselligen Beisammensein trifft. Dort verkehrt auch der Österreicher, und als Hans eines Abends am Flügel sitzt und spielt, tritt jener näher und blickt ihm auf die Finger. «‹Schubert›, sage ich. ‹Es geht zu Herzen›, antwortet Hitler». Das war’s auch schon, dieser Name kommt im gesamten Roman nur dieses eine Mal vor, ein gekonnter literarischer Winkelzug der Autorin. Hans geht nach dem Jurastudium in den diplomatischen Dienst und arbeitet im Konsulat in Mailand, weit genug entfernt von den politischen Umtrieben und allem Militärischen, dem er nichts abgewinnen kann, obwohl ihn sein im Ersten Weltkrieg hochdekorierter Vater dafür vorgesehen hatte.

Könnte es sein, fragt man sich nach der Lektüre, dass entgegen der literarischen Absicht der Handlungsstrang mit Magda Goebbels in Umfang und Bedeutung hinter den mit Hans Kesselbach zurückfällt. Während Magda ziemlich farblos bleibt und entgegen ihres historischen Ranges im Roman keinerlei Anteil hat an den Verstrickungen des verbrecherischen Regimes, ist Hans in seiner diplomatischen Mission sehr vertraut damit, was die Nazis da gerade anrichten. Obwohl das damalige Geschehen äußerst komplex war, erscheint es im Buch leichtverständlich und leider auch leichtverdaulich. Man wird auch nicht durch das Wort KZ als Synonym für das Unfassbare belästigt, denn weder Magda noch Hans sind damit konfrontiert, was mit Juden und anderen Systemopfern tatsächlich passiert. Nicht nur die beiden Hauptfiguren bleiben blass, auch die Nebenfiguren sind ziemlich konturlos. Aber warum eigentlich muss Hans im Roman denn unbedingt schwul sein? Ist das etwa der Grund: ‹Wenn Hans ein richtiger, ein gestandener Mann gewesen wäre, der Magda hätte befriedigen können in ihren unerfüllten Sehnsüchten, dann wäre sie auch nicht Frau Goebbels geworden.› So einfach gestrickt ist diese Geschichte zweier Opportunisten!

Fazit:  miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Hasenprosa

Polarisierendes Experiment

Mit dem Titel «Hasenprosa» spielt die Schriftstellerin Maren Kames in ihrem neuen Roman auf das weiße Kaninchen in dem berühmten Kinderbuch «Alice im Wunderland» an, ein Langohr fungiert nämlich auch hier als literarischer Sidekick. Womit eines schon mal geklärt ist, eine realistische Erzählung wartet da nicht auf den Leser. Dieses experimentelle Buch ist ein virtuoser Parforceritt durch die Genres Memoir, Coming-of-Age und Familiengeschichte, erzählt in einer irritierend flatterhaften Kunstsprache, die häufig zu verblüffenden Assoziationen führt. Es wurde für die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2024 ausgewählt und von den Feuilletons einhellig gefeiert, die Resonanz in Leserkreisen hingegen zeugt ebenso einhellig von hilflosem Unverständnis und strikter Ablehnung. Derart polarisierende Literatur findet man selten!

«Das mit dem Hasen ist rückwirkend betrachtet doch der Sommer der Anbahnung, der Maserung gewesen. Subkutan mauserte sich alles, äste sich unterholz vorwärts durchs Gras zu einer wie insgeheim vorgesehenen Stelle, suchte sich je eine behutsam ausgebuchtete Mulde und narbte dort friedwärts verabredet ganz langsam zu.» Mit diesem ersten Satz beschreibt die Autorin ihre Intentionen für den kreativen Prozess, der zu dem Buch in unseren Händen geführt hat. Ein wiederkehrendes Merkmal ihres Romans besteht darin, dem Leser Einblick in ihren Schreibprozess zu gewähren. Zu dem gehört auch eine Einbeziehung literarischer Vorbilder, deren wichtigstes die für ihren antirealistischen Stil bekannte österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker ist, die immer wieder zitiert wird. Kein Wunder auch, dass hier, wie nicht selten in der «modernen» belletristischen Prosa, so etwas wie ein Plot nicht vorhanden ist. Der Roman beginnt mit einer fantasierten Reise der Ich-Erzählerin Maren durch Zeit und Raum, mit dem Hasen als ständigem Begleiter und Gesprächspartner, die erst im letzten Drittel von der weitgehend konventionell erzählten Geschichte ihrer beiden Großeltern-Paare abgelöst wird.

«Dann begaben wir uns zum Rand der Steppe und machten, was wir uns fürs Ende vorgenommen hatten. Der Hase zog seine Fliegerkappe auf. ‹Ope, there goes gravity,› sagte er leise. Ich nahm ihn fest um den Bauch und warf ihn mit aller Kraft meiner kleinen Arme vom Steppenrand Richtung Alpha Leporis. Das hatte er sich gewünscht. Ade, rief er im Abflug, ade! Mit meinem Fernrohr sah ich ihn auf einer elliptischen Kurve durchs All segeln, im Anstieg kleiner werdend, punktförmig, bis fast zum Verschwinden, dann am Scheitelpunkt wenden und sich im Absinken wieder materialisieren, bis er schließlich im Lichthof des Hasensterns landete (versank). Ich justierte das Objektiv. Der Stern nickte und blinkte. Der Hase winkte. Vom Himmel fiel fliederner Regen.»

Mit dieser ausufernd lyrischen Prosa überfordert Maren Kames bewusst ihre Leser. Sie spielt unbeirrt auf ihrer stilistischen Klaviatur mit Klangmalereien, Neologismen, mit stakkatoartigen Wortvariationen und sinnfreien Reihungen oder mit fremdsprachigen Einschüben. Nicht selten unterläuft ihr dabei so mancher linguistischen Lapsus, handfeste Kalauer sogar. Neben literarischen Bezügen reichert sie ihren Text auch mit musikalischen Verweisen an, die dazu aufzufordern scheinen, begleitend zum Lesen auch noch die Lieblingsmusik der Autorin zu hören, die Worte quasi musikalisch zu unterlegen. Zu allem Überfluss sind auch noch Bilder eingefügt, die allein schon 18 Seiten der 182 Buchseiten füllen. Die Krone der Ironie aber ist ein achtseitiges Quellenverzeichnis im Anhang, das jedem Fachbuch alle Ehre machen würde, beginnend mit drei Seiten ‹Manifester Soundtrack›, ‹Subkutaner Soundtrack›, ‹Zitierte Texte›, ‹Bilder›, ‹Theater-Referenzen› und ‹Begleitender Soundtrack›, gefolgt von fünf Seiten Quellen- und Bildnachweisen. Ob der Versuch gelungen ist, ein Gesamt-Kunstwerk á la Richard Wagner zu schaffen, hier also verschiedenartige Texte, Musik und Bilder literarisch überzeugend in einem Buch zu vereinen, das muss und kann letzten Endes jeder Leser nur für sich entscheiden!

Fazit:   miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Nostalgia

Hier also bin ich

Der stark autografisch inspirierte Roman «Nostalgia» des Schriftstellers André Kubiczek, dessen Mutter aus Laos stammte, beginnt wie eine Coming-of-Age-Geschichte, um dann aus laotischer Perspektive ein Frauenschicksal zu schildern, wie es beklemmender kaum vorstellbar ist. Ohne aber, trotz des Titels, nostalgisch verklärt zu sein. Die ersten zwei Teile der vierteiligen Erzählung schildern aus der Sicht Andrés dessen Schulalltag in der Spätphase der DDR. Mit seinem asiatischen Aussehen ist er in Potsdam Hänseleien der Mitschüler ausgesetzt, aber auch Schikanen einer böswilligen Lehrerin. Der jüngere Bruder des Dreizehnjährigen ist geistig behindert. Nur nicht auffallen ist die Devise von André angesichts des Alltagsrassismus, dem er ausgesetzt ist, und deshalb achtet er strikt darauf, dass ja niemand etwas von der Behinderung seines Bruders erfährt, auch seine Freundin nicht. Es ist eine Geschichte, die einem unter die Haut geht, deren Tragik aber von einem wohltuend lockeren Erzählton angenehm kontrastiert wird.

Der in der DDR geborene André ist sehr zufrieden mit seinem Leben, er kommt in der Schule gut voran, hat viele Freunde, ist gerne auch bei den Großeltern zu Besuch und erlebt all jene für einen Heranwachsenden prägenden Ereignisse. Der Autor versteht es, diese Jugend derart authentisch zu schildern, dass man häufig auch an eigenes Erleben erinnert wird. Das klingt dann auch sprachlich nicht nur so unglaublich real, dass man die Gedankengänge des Jugendlichen, seine Wünsche und Träume, aber auch seine Ängste geradezu mitzuspüren glaubt, alles scheint außerdem auch dokumentarisch echt zu sein. Für die Wessis unter den Lesern wird die sozialistische Idylle mit ihren subtilen Gängelungen und dem gehirnwäsche-artigen, politischen Weltbild äußerst stimmig beschrieben. Insoweit ist dieses Buch nicht nur ein Entwicklungs-Roman, sondern auch ein DDR-Roman.

Das kommt dann auch im dritten Teil der Geschichte zum Tragen, wenn im Rückblick Teo, die laotischen Mutter, in den Fokus rückt. Sie stammt aus einer prominenten Familie, ihr Vater war bis zum kommunistischen Putsch 1975 Außenminister von Laos und wurde dann von der eigenen Leibgarde ermordet. Während ihres Studiums in Moskau hatte Teo ihren aus der DDR stammenden Mann kennen gelernt und ist ihm in seine Heimat gefolgt, wo sie geheiratet haben und wo schon bald auch ihre zwei Söhne geboren wurden. Andrés Vater strebt eine wissenschaftliche Karriere an und schreibt an seiner Doktorarbeit, die Mutter arbeitet, deutlich unterqualifiziert, als Dolmetscherin, bis ihr Vorgesetzter auch ihr den Weg zur Promotion öffnet. Sie erkrankt aber unheilbar an Krebs, und eines Tages erhält André, der inzwischen selbst studiert, ein Telegramm mit der Todesnachricht. Über seinen Kommilitonen, der ihm kondoliert, heiß es im Buch: «Jens weiß, wie es ist, keine Mutter zu haben. Er hat seine eigene vor Jahren an einen Mann verloren, der nicht sein Vater ist».

Derartig stimmige, lockere Formulierungen finden sich viele in diesem Roman, der die Chronologie virtuos negiert und dann am Schluss eben damit endet, dass die junge Teo mit ihrem Samsonite-Koffer, «der T34 unter den Koffern der Welt», wie ihr Mann meint, am Bahnhof ankommt. Sie war nach Moskau geflogen und mit dem Nachtzug nach Berlin weiter gefahren, wo sie der Vater ihres Mannes abholt. Sie tritt auf den Bahnhofs-Vorplatz und denkt: «Hier also bin ich». Mit ihrem ersten Schritt ins Unbekannte, in ein neues Leben für die junge Loatin, endet diese Geschichte schließlich, so paradox es scheint. Alle Figuren werden so lebensecht geschildert und sind durchweg so sympathisch, dass man sich nur schwer von ihnen trennen kann. Der Roman wurde für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert, man kann dem in Anbetracht seiner literarischen Qualitäten nur zustimmen!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Dear Friend and Gardener

Schon die Vorwörter dieses Briefwechsels sind lesenswert: Gekauft hatte ich es als Taschenbuch, 2021 in England erschienen, mit einem Vorwort von Fergus Garrett, dem Nachfolger Lloyds in Great Dixter, und natürlich auch mit denen der beiden Autoren von 1998.

Die deutsche Übersetzung erschien 2013 zu Beths Neunzigstem mit einem weiteren Vorwort von ihr, in dem sie die vielen Praktikant:innen aus Deutschland lobt und die Übersetzung von Maria Gurlitt-Sartori hervorhebt, (zu Recht, wie ich finde) deren Schwester bei ihr gearbeitet hatte. Sie betrachtet sie alle als ihre Kinder, teilte gerne die selbst gezogenen Gemüse mit ihnen. Die fast Neunzigjährige schreibt:

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Genre: Biographien, Briefe, Literatur, Memoiren
Illustrated by DVA München

Mein drittes Leben

Trauer ohne Larmoyanz

Der vierte Roman der Schriftstellerin Daniela Krien mit dem Titel «Mein drittes Leben» behandelt nicht weniger als die Vergänglichkeit des Menschen und seine oft vergebliche Suche nach Glück. Er gehört zu dem heiklen Genre der Trauer-Romane, ohne aber ganz in Pathos zu versinken, wie das bei dieser Thematik allzu häufig der Fall ist. Seit der Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2024 gilt dem Roman erhöhte Aufmerksamkeit, die Besprechungen in den Feuilletons und die Bewertungen in der Leserschaft sind durchweg positiv. Und tatsächlich: Die Lektüre lohnt sich in jeder Hinsicht

«Heute Morgen kam ein Bussard vom Himmel geschossen und stürzte sich auf eine meiner jungen Hennen», lautet der erste Satz. Die Protagonistin und Ich-Erzählerin Linda hat sich einen komplett eingerichteten Dreiseit-Bauernhof samt Tieren gemietet. Ein bewusst gewählter Rückzugsort in einem gottverlassenen, sächsischen Straßendorf, wo sie ihre grenzenlose, zerstörerische Trauer über den Tod ihrer siebzehnjährigen Tochter zu bewältigen sucht. Sie war als gutbezahlte Kuratorin für eine große Kunststiftung tätig, ihr Mann ist einer jener Kategorie Kunstmaler, denen der ganz große Erfolg versagt geblieben ist. Sie lebten beide glücklich und zufrieden mit ihrer 17jährigen Tochter in einer luxuriösen Eigentumswohnung in Leipzig. Bis Sonja bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Für Linda eine Zäsur, sie kündigt ihre Stellung und ergreift die sich zufällig ergebende Möglichkeit, den bescheidenen Bauerhof in einer ländlichen Einöde für sich zu mieten. Ihr Mann ist entsetzt, er glaubt an eine vorübergehende Laune und fragt sie immer wieder, wann sie zurückkommt nach Leipzig.

Aber Linda kann die mit ihrer Trauer verbundene Hoffnungslosigkeit nicht überwinden. Sie hat schon mal eine Krebserkrankung überstanden, hat glücklicher Weise aber damals wieder ins normale Leben zurückgefunden. Der Tod ihres einzigen Kindes hat sie nun in tiefste Depressionen gestürzt, zu denen auch Suizidgedanken gehören. Durch die ungewohnte, harte Arbeit auf dem Hof lenkt sie sich von diesen düsteren Gedanken ab, lebt selbstvergessen ein einsames, ländliches Leben. Ihre junge Henne übrigens hat sie gerettet, hat sie dem Bussard beherzt entrissen, ein kleiner Triumph für sie! Nach und nach lernt sie dann auch Leute kennen. Ihr Nachbar besorgt ihr das Brennholz für den Winter, sie freundet sich mit der Mutter einer autistischen Tochter an, geht sogar mal zum Dorffest mit, sie beginnt also ihr «drittes Leben». Und da passt ihre beste Freundin, die sich einen reichen Mann geangelt hat, absolut nicht mehr hinein, weil sie in einer Welt lebt, die Linda regelrecht abstößt mit ihrer unersättlichen Konsumgier. Lindas Mann hat sich inzwischen eine Freundin gesucht, meldet sich trotzdem aber immer wieder mal bei ihr mit der Frage, «wann kommst du zurück», aber er erhält nie eine Antwort.

Erfreulich bei einer so unerfreulichen Thematik ist es, dass die Autorin mit psychologischem Sachverstand so ganz ohne Larmoyanz auskommt, also nicht auf die Tränendrüsen drückt, und dass ganz selten nur auch ein wenig Pathos mitschwingt. Die in vielen Rückblenden erzählte Geschichte ist stilistisch geradezu brillant in eine wortmächtige Sprache umgesetzt, die das Lesen zum puren Vergnügen werden lässt. Der straff gegliederte Plot des zweiteiligen Romans steuert zielstrebig auf ein überraschendes Ende zu, das dem Genre gerecht werdend kein Happy End ist, auch wenn zumindest doch ein klein wenig Hoffnung aufkeimt. Die ausführlichen, sich fatal ähnelnden Szenen der verzweifelten, schier endlosen Trauerarbeit erweisen sich als ein geringfügiges Manko, welches aber durch gelegentlich ganz versteckt auftretenden Humor (sic!) im Sprachlichen mehr als ausgeglichen wird.

Fazit:  erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Das Wohlbefinden

Nachhilfe beim Okkulten

Ulla Lenze hat ihren für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman mit «Das Wohlbefinden» betitelt, eine für bestimmte Therapien ebenso bedeutsame wie utopische medizinische Grundbedingung. Ihre eigentliche Thematik aber ist der Okkultismus, der im zu Ende gehenden Kaiserreich nicht nur in den höheren Kreisen Deutschlands eine Hochblüte erlebt hat. Vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis hin zur Coronakrise reichend ist die Geschichte des Romans in die drei Zeitebenen 1907, 1967 und 2020 gegliedert. Im Mittelpunkt steht die Schriftstellerin Johanna Schellmann. Die lernt bei Recherchen für ihr neues Buch in den Heilstätten von Beelitz die Patientin Anna Brenner kennen, eine Fabrikarbeiterin, der übersinnliche Fähigkeiten nachgesagt werden. «Ein Jahrhundertroman über die Kraft der Heilung» glaubt man dem Buchumschlag, in den Feuilletons sind die Kritiken hingegen überwiegend negativ, – zu Recht?

Die jüngste Erzählebene des Romans beginnt in der Gegenwart. Vanessa, die Enkelin von Johanna, besichtigt eine luxussanierte Mietwohnung in den ehemaligen Arbeiter-Lungenheilstätten Beelitz, weil sie sich die Mieten in Berlin einfach nicht mehr leisten kann. Und wie es der Zufall will, besitzt der Makler ein Manuskript von Vanessas einst berühmter Großmutter, welches in hohem Alter geschrieben, aber nie veröffentlicht wurde. In dieser mittleren Erzählebene betreut Klaus, der Vater des Maklers, als Student ab 1967 im Auftrag der Tochter von Johanna die greise Dichterin bis zu ihrem Tod. Die dritte, chronologisch aber älteste Erzählebene beschäftigt sich mit der folgenreichen Begegnung von Johanna und Anna in Beelitz, die 1907 bei der Schriftstellerin eine bislang versteckte Spiritualität freisetzt. Sie erhofft sich von dieser Begegnung einen Auftrieb für ihr neues literarisches Projekt und nimmt an einigen Séancen teil, die der okkultismus-skeptische, aber die damit einher gehende Publicity schätzende Anstaltsleiter mit Anna als Medium veranstaltet. Während einige der Patientinnen vor Anna ehrfurchtsvoll auf die Knie sinken, sich von ihr Heilung erhoffen oder einen Blick in die Zukunft, sehen andere ihre spiritistischen Aktivitäten als Humbug an.

Johannas Hoffnungen auf die positiven Wirkungen ihrer Bekanntschaft mit Anna erfüllen sich nicht, denn sie lässt sich als Medium nicht vereinnahmen und beharrt auf ihrem Mantra, nicht sie bewirke ihre hellseherischen Vorhersagen und die mysteriösen Geschehnisse, sondern Gott allein, sie folge ihm nur. Sie könne nicht beeinflussen, was sie vorhersieht, ja sogar nicht mal entscheiden, was davon sie offenbaren soll, denn auch die direkten Folgen ihrer Mitteilungen entzögen sich ihrem Einfluss. Gleichwohl schlägt ihr Johanna vor, künftig in ihrer luxuriösen Berliner Villa zu wohnen und sie beim Schreiben spiritistisch zu begleiten. Ihre Kinder und auch die englische Kinderfrau freuen sich über die neue Mitbewohnerin, ihr Mann aber ist entsetzt. Er zieht sich für seine medizinischen Studien in das Gartenhaus zurück, wo ihn später sein Schicksal ereilt. Selbst im hohen Alter noch leidet Johanna an ihren Verstrickungen in das damalige Geschehen. Am Ende des Romans beginnt Vanessa, die Geschichte ihrer berühmten Großmutter über Social Media zu posten und wird mit zustimmenden, aber auch mit internet-typisch aggressiven Kommentaren überzogen.

Der thematisch überladene, chronologisch ungeschickt verschachtelte Roman mit seinen wenig sympathischen Figuren weist so einige Ungereimtheiten auf. Zu denen gehört nicht zuletzt auch eine absurde Menge von Zufällen, selbst Günter Grass taucht da ganz unvermittelt auf. Stilistisch bedauerlich sind auch etliche triviale Ausrutscher, irritierend aber ist vor Allem der Umgang mit dem Okkulten, das irgendwann ganz verschämt als Manipulation desavouiert wird, vom Beelitz- Direktor als «Nachhilfe» bezeichnet, obwohl das doch eigentlich hier das Spannendste wäre!

Fazit:  miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

ChatGPT – Was uns eine KI über Ratten in der Stadt erzählen kann

Peter-Paul Manzel liefert mit seinem »Steam-Essay« einen Dialog zwischen Mensch und Künstlicher Intelligenz, der sich auf das scheinbar unscheinbare, aber omnipräsente Thema der Stadtratten konzentriert. Was zunächst als eine spielerische Auseinandersetzung mit einer KI erscheint, entwickelt sich zu einer tiefgründigen Reflexion über die Natur des urbanen Lebens, das Verhältnis zwischen Mensch und Tier, sowie die zunehmende Rolle der Künstlichen Intelligenz in unserer Gesellschaft. Weiterlesen


Illustrated by Amazon Publishing

Newman: Bilder aus Amerika

Marvin E. Newman blickt auf das Amerika 1951-2023

Newman. Der vor einem Jahr verstorbene “Sports and Street Photographer”, wie ihn die New York Times in ihrem Nachruf vom September 21, 2023
nannte, huldigt in vorliegendem XL Bildband vor allem der Metropole New York, wo er 1927 auch geboren wurde. Newman wurde 95 Jahre alt.

Originelle Tableaus und neue Perspektiven

Als Straßenfotograf bezeichnet man einen Fotografen, der fähig ist auf die Impulse eines Moments adäquat zu reagieren und einen bestimmten Augenblick mit seiner Linse zu erhaschen. Rund 170 Fotos zeigen in vorliegendem Prachtband, dass Newman eine unbestechlich makellose Technik und einen Blick für Menschen in New Yorker Stadtansichten, Sportaufnahmen und Impressionen aus anderen Teilen der USA hatte. Die erste große Retrospektive der Karriere dieses bemerkenswerten Straßenfotografen, der außerhalb eines namhaften Sammler- und Galeriekreises weitgehend unentdeckt blieb. Lyle Rexer ist ein in New York ansässiger Schriftsteller, Kurator und Kunstkritker, der das Vorwort geschrieben hat. Herausgeber Reuel Golden, ehemaliger Chefredakteur des British Journal of Photography, ist Editor für Fotografie bei TASCHEN. Für TASCHEN hat er unter anderem den spektakulären Titel Mick Rock: The Rise of David Bowie herausgegeben.

Amerika 1951-2024: R.I.P.

Die beiden zeigen Marvin E. Newman, der bei Institutionen wie dem Eastman House, dem MoMA und dem International Photography Center einen exzellenten Ruf genoss, als Porträtisten der „Greatest City in the World“, New York City, vom Times Square bis zur Wall Street. Auch wenn der Fotograf am Chicagoer Institute of Design (Ex New Bauhaus Chicago) sein Studium (“Master of Science in Fotografie”) absolvierte, kehrte er doch gerne wieder in die Weltstadt zurück, um ihre Entwicklung zum Inbegriff des Weltkulturerbes und Kosmopolitismus fotografisch zu begleiten. Im Unterschied zu seinen Vorgängern wählte Newman erstmals die Farbfotografie als bevorzugtes Medium. Damit wollte Newman die lebendige Atmosphäre des grünen Apfels noch besser eingefangen, als dies zuvor schon gelungen war.

Newman: Bilder für Herz&Hirn

New ways of perceiving and representing reality“, sei die Aufgabe von Fotografie, wie es der Emigré László Moholy-Nagy, ein Lehrer Newmans ausdrückte. Ein Bild mit “Chicago South Side 1950” betitelt zeigt drei Kinder, ein schwarzes, ein weißes und in der Mitte eines mit Maske. Ein anderes die ganz in Schwarz gehüllte Jackie Kennedy neben ihrem Schwager Robert vor dem Sarg ihres Mannes. Die ersten Fotos zeigen seinen Studienort Chicago, dann Fotos aus seinen Sommern in New York, wo er etwa das San Gennaro Festival in Little Italy porträtierte. Der Strand von Coney Island 1953, wo Leute noch in Liegestühlen lagen, um sich zu bräunen, was heute nicht mehr möglich ist, war damals en vogue.

Newman’s Land: von New York nach Kalifornien

Die Lichtspiele des Broadways in Reflexion, darauf ein Spieltisch aus Las Vegas und ein Übergang zum Zirkus als Sujet. Sogar in Alaska hat Newman seine Kamera ausgepackt und die ersten Inuits fotografiert, was damals noch nicht oft passierte. Vom Heartland an die Wall Street zum Sport, wo auch einige Bilder des jungen Muhamed Ali gezeigt werden. Schließlich noch nach Kalifornien, das 1966 bereits als gelobtes Land gefeiert wurde. Wenn du zu Fuß gegangen wärst, hätten sie dich aufgehalten, schmunzelt Newman über die Motorisierung der damaligen Jugend. Aber auch die Schattenseiten lichtete Newman ab.

Newman: “it’s a crazy word to use…romantic”

Ein Besuch der Mustang Ranch für seinen Auftraggeber Look zeigt Prostituierte von ihrer romantischen Seite. Newman fiel auf, wie sie ihre Zimmer “it’s a crazy word to use…romantic” gestalteten oder vor einer Jukebox ohne Schuhe tanzten. Fotos des Times Square, der 42nd Street, schließt den Band ab: Jeder war nur dort, um zu sehen, was am Times Square so passiert. Originelle Tableaus und neue Perspektiven auf vertraute New Yorker Wahrzeichen aber auch Impressionen aus anderen Regionen der USA.

Impressionen Amerika 1951-2023

unter anderem aus Chicago und Kansas, von einem alten Zirkus aus den Fünfzigerjahren, aus einem Bordell in Reno Nevada, aus Las Vegas, Alaska und dem Kalifornien des 20. Jahrhunderts, sowie Aufnahmen aus seinem Sportfotografie-Portfolio mit Ikonen wie Cassius Clay und Pele werden in vorliegendem Band gezeigt. Ein Essay des Kritikers und Wissenschaftlers Lyle Rexer würdigt die erste chronologische Retrospektive eines herausragenden Talents und liefert denkwürdige Bilder für das Auge und viel Nahrung für das Gehirn . Bei TASCHEN ist auch “New York: Portrait of a City” von Newman erschienen.

Marvin E. Newman, Lyle Rexer, Reuel Golden
Marvin E. Newman
2024, Hardcover, XL (25 x 36 cm), 2.66 kg, 240 Seiten
ISBN 978-3-8365-9912-2
Ausgabe: Englisch
TASCHEN Verlag
€ 60


Genre: Amerika, Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Die Wurzeln des Lebens

Staunend am Mammutbaum

In seinem Epos «Die Wurzeln des Lebens» verknüpft der US-amerikanische Schriftsteller Richard Powers seine Figuren mit den Bäumen, deren kommunizierendes Wurzelgeflecht im Boden einen Wald bildet. Seine Protagonisten sind auf ganz unterschiedliche Weise individuell und positiv mit Bäumen verknüpft, schätzen sie als äußerst wichtig ein für das Wohlergehen der Menschheit. Die aber steht ihnen im besten Fall ziemlich gleichgültig gegenüber, im schlimmsten jedoch geradezu feindlich. Mit kapitalistischer Gier werden dem Staat Wälder abgekauft, die dann in kürzester Zeit abgeholzt werden, weil sie Profit bringen. Nicht nur dass Holz als Rohstoff vermarktet wird, die Kahlschlag-Flächen werden anschließend renditeträchtig in landwirtschaftliche Flächen umgewandelt. In mehreren parallelen Handlungs-Strängen agieren die im Westen der USA angesiedelten, recht unterschiedlichen Roman-Figuren in ihrem privaten und beruflichen Umfeld, wobei sie alle auf besondere Weise mit Bäumen und Wald verbunden sind.

Da ist zum Beispiel der Sohn eines norwegischen Einwanderers, der sechs Kastanienbäume gepflanzt hat, die alle, bis auf einen, den aus Asien eingeschleppten Parasiten zum Opfer fallen. Der Vater und nach ihm Sohn und Enkelsohn fotografieren seither einmal im Jahr diesen überlebenden Baum aus der immergleichen Perspektive, ein familiäres Ritual. Eine Ingenieurin, deren chinesischer Vater einen Maulbeerbaum pflanzt, Symbol für die Zukunft, muss erleben, dass der Vater, als der Baum von Bakterien befallen wird und die Familie sich auflöst, sein Leben durch einen Pistolenschuss beendet. Die schwierige Beziehung eines Juristen mit seiner Frau erfährt eine Wende, als sie nach einem Unfall mit dem Auto beschießen, zum Dank für den glimpflichen Ausgang jedes Jahr zu ihrem Hochzeitstag einen Baum zu pflanzen.

Im Vietnamkrieg wird ein Soldat mit dem Flugzeug abgeschossen und landet in einem Feigenbaum, dessen Zweige seinen Absturz abbremsen. Als Veteran findet er schließlich seine Erfüllung als Waldarbeiter, auf einer gerodeten Fläche pflanzt er Tausende von Douglasien an. Ein Digital-Nativ macht eine kometenhafte Karriere als Programmierer von Computer-Spielen, die immer leistungsfähiger werden und ihn zum Millionär machen. Er bekommt Zweifel, wo das noch hinführen soll mit den lebensecht auf Zuwachs und Gewinn ausgerichteten Spielen. Auf dem Campus der Stanford Universität entdeckt er schließlich, wie inspirierend Bäume sein können, und er beschließt spontan, die Natur zum Gegenstand seiner Spiele zu machen. Eine Forscherin entdeckt, dass Bäume bewusst über ein biochemisches Netzwerk miteinander kommunizieren, und erregt damit in der Wissenschaft einiges Aufsehen. Sie wird aber schon bald heftig von Kollegen kritisiert, bis sie im Wald auf eine Gruppe Gleichgesinnter stößt und wissenschaftlich rehabilitiert wird. Eine Studentin der Mathematik mit wildem Vorleben bekommt kurz vor ihrer Abschlussprüfung einen Stromschlag, der zum Herzstillstand führt. Sie überlebt und bildet mit anderen Protagonisten eine Gruppe von Umweltaktivisten, die durch Baumbesetzungen und zuletzt auch Brandanschläge auf das schreiende Unrecht hinweisen, das dem Wald angetan wird.

Der Autor vermittelt einen umfassenden Einblick in die Zusammenhänge der Natur und prangert deren Gefährdung durch den Menschen an, ohne jedoch indoktrinierend zu sein. Leider wirkt das Ganze doch arg konstruiert, zuweilen auch pathetisch und ins Visionäre abgleitend. Ohne Zweifel aber ist der Roman auch deutlich überdimensioniert, einerseits was die schiere Textmasse anbelangt, andererseits durch gefühlt Tausende von verschiedenen Bäumen, denen man als Nicht-Biologe hilflos gegenüber steht. Die Begeisterung der Protagonisten, von denen jeder seine Baum-Geschichte hat, ist durchaus mitreißend für Naturfreunde. Staunend am Mammutbaum zu stehen wird dann vielleicht manchem Leser ein vertrautes Gefühl geworden sein

Fazit:  erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag