Sehr geehrte Frau Ministerin

Dass ich das Buch bis zu Ende gelesen habe, schien anfangs unwahrscheinlich. Erst ging es, in einem Kapitel mit dem Titel: „Eva,“ detailliert um den römischen Kaiser Nero und wie er seine Mutter Agrippina verbannen und umbringen ließ. Dabei erfuhr ich, dass Seneca sein Tutor war, den er aber auch verbannte. Aber, wollte ich das lesen?

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Die Bagage

Kuckuckskind

Mit dem Titel «Bagage» spielt Monika Helfer in ihrem autofiktionalen Roman auf die deutsche Bedeutung des französischen Wortes als Last an, im übertragenen Sinne sind abwertend aber auch zwielichtige Gestalten gemeint. Beides trifft hier zu, einerseits ist die Belastung gemeint, die ein nie gelüftetes, allen peinliches Geheimnis über Generationen hinweg innerhalb der Familie bedeutet, anderseits steht Bagage auch für die Außenseiterrolle, die eine allen lästige, prekäre Familie spielt. Die Autorin erzählt in dem schmalen Band ihre Familiengeschichte, beginnend mit ihrer Großmutter beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis hin zu ihren eigenen, späten Versuchen als bereits erwachsene Frau, herauszufinden, was denn nun wirklich damals geschehen ist in einem kleinen Dorf am Vorarlberg. War ihre Mutter ein Kuckuckskind?

Am äußersten Rand dieses Dorfes leben Josef und Maria Moosbrugger mit ihren Kindern in äußerst bescheidenen Verhältnissen. Maria ist die schönste Frau weit und breit, alle Männer beneiden Josef deshalb sehr, die Frauen aber sind neidisch und eifersüchtig zugleich. Josef ist Bauer, und als er zum Krieg eingezogen wird, bittet er seinen besten Freund, den Bürgermeister des Orts, mit dem er heimlich dubiose Geschäfte macht, auf Maria achtzugeben. Seither unterstützt der die Familie so gut er kann mit Lebensmitteln, Maria und die Kinder leiden ständig an Hunger, der kleine Hof wirft einfach zu wenig ab, und zudem fehlen jetzt auch die lukrativen ‹Geschäfte› von Josef. Aber auch der Bürgermeister ist nur ein Mann, er kann den Reizen von Maria kaum widerstehen und versucht es bei ihr, wird aber immer wieder abgewiesen.

Auf einen Volksfest lernt Maria Georg kenne, einen Deutschen aus Hannover, der für wenige Tage im Dorf ist, um etwas zu erledigen. Am nächsten Tag taucht er unerwartet bei ihr auf, er hat sich erkundigt, wo sie wohnt. Georg ist ein Traummann in Marias Augen, er findet schnell Kontakt zu ihren vier Kindern und besucht die Familie auch die nächsten zwei Tage. Bei seinem letzten Besuch vor der Abreise wird er von einem Dorfbewohner beim Verlassen des einsam gelegenen Hauses gesehen. Als er für immer fort ist, trinkt Maria verzweifelt eine ganze Flasche Schnaps leer und stirbt fast daran. Überraschend schnell kommt Josef schon bald zu einem ersten Heimaturlaub zurück, auch beim Militär macht er offensichtlich seine ‹Geschäfte›, er bringt nämlich Geld mit. Allerdings kann er nur vier Tage bleiben, das Zusammensein mit seiner attraktiven Frau genießt er in vollen Zügen. Aber es ist gerade diese Attraktivität, die Maria dann zum Verhängnis wird. Sie wird bald darauf schwanger, und es werden sofort wilde Berechnungen angestellt, ob denn Josef überhaupt der Vater sein kann. Als Margarete, die von allen nur Grete genannte Mutter der Erzählerin, schließlich als fünftes Kind auf die Welt kommt, hört auch Josef von diesen Gerüchten. Trotz der Beteuerungen des Bürgermeisters, dass Maria sich nichts hat zu Schulden kommen lassen, nagen bei Josef fortan die Zweifel. Er spricht nie ein Wort mit Grete und schaut sie auch nicht an, so als gäbe es sie nicht.

Der Roman zeichnet das archaische Bild einer engstirnigen Dorfgemeinschaft vor mehr als hundert Jahren, in der die Missgunst stärker ist als die Vernunft und die Eifersucht stärker als das Vertrauen. Auch die Sehnsucht nach Liebe hat darin ihren Platz, und so, wie Maria ihre Zufalls-Bekanntschaft sieht, ist Eheglück das eine und die einmalige, die große Liebe das andere Geschenk im Leben. Die Sehnsucht ist seither ihr ständiger Begleiter. Erzählt wird diese berührende Geschichte in knapper, dem dörflichen Idiom stimmig angepasster Sprache mit vielerlei Zeitsprüngen. Bei diesem komplexen Familien-Porträt bleiben einige Leerstellen, nicht geklärte Fragen zu dem emotionalen Ballast, der einem hier aber nicht aufgedrängt wird, sondern vollständig der eigenen Phantasie überlassen bleibt. Diese feinsinnig, zuweilen lakonisch erzählte Geschichte setzt ihre eigenen, ganz besonderen Akzente im Genre der Dorfromane!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Hanka

Mit »Hanka« legt János der Trompeter ein bemerkenswert stilles Debüt vor – eine Erzählung, die mehr aus Zwischentönen als aus Plot besteht, mehr aus Blicken als aus Worten. Das Buch, irgendwo zwischen Protokoll und Poesie, erzählt die vorsichtige Annäherung zweier Nachbarn in Berlin – Martinek, ein introvertierter Musiker, und Hanka, eine eigenwillige junge Frau mit polnischen Wurzeln und auffälligem Körperbewusstsein. Weiterlesen


Genre: Liebesgeschichte
Illustrated by Epubli

Treue Seele

Eine Hochzeit, mit der niemand gerechnet hat

Der amerikanische Schriftsteller Castle Freeman schreibt auch in seinem neuesten Roman wieder eine Geschichte, die im ländlichen Neuengland spielt. Und auch eine seiner Figuren taucht hier wieder auf, der County-Sheriff Lucian Wing, über den er sogar eine eigene Trilogie geschrieben hat. Dessen besonnene Art trifft allerdings nicht immer auf verständnisvolle Mitmenschen, man hält ihn in den kleinen Kaff im Bundesstaat Vermont für zu träge, und faul sei er außerdem.

Der dreiteilige Roman mit Prolog und Epilog ist in dreißig Kapitel aufgeteilt und deckt einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren ab, beginnend im Jahre 1990. Schon im Epilog wird klar, worum es geht in diesem Roman, um eine Hochzeit nämlich, und zwar um eine ganz besondere, auch das wird deutlich, eine späte und eine mit Hindernissen. Unter dem Titel «Die Zählung des Volkes» wird geschildert, wie Porter Conway, der Erfahrungen als Volkszähler auch schon aus anderen, weit entfernten Bundesstaaten hat, mit seinem alten Pick-up vor dem Sägewerk von Arthur Bennet hält. Ein Mastiff tobt laut bellend in seinem Zwinger herum, aber es dauert eine ganze Weile, bis sich endlich die Haustür öffnet und ein Mädchen heraustritt, etwa vierzehn, fünfzehn Jahre alt, – blond und atemberaubend schön. Lucy Bennets Vater erweist sich als Ekel, er beschimpft Porter unflätig und weigert sich, irgendwelche Fragen zu beantworten. Verpiss dich, du Schnüffler, schnauzt er Porter an und verschwindet wieder in seinem Haus. Auch Lucy, der er beim Wegfahren den Fragebogen zum Ausfüllen herausreicht, knüllt ihn zusammen und wirft ihn wütend in den Pick-up zurück.

Port, wie Porter Conway fast überall genannt wird, ist neu zugezogen. Er ist ein ausgesprochener Eigenbrötler mit einer weltläufigen Vergangenheit, die Ich-Erzählerin Connie, die mit Cliff Copeland verheiratet ist, kann ihn nicht leiden, obwohl ihr Mann mit ihm eng befreundet ist. Sie ist die Halbschwester von Lucy Bennet, die irgendwann bei ihnen einzieht, weil ihr im Hause ihres Vaters Arthur die Verwahrlosung droht. Der wird nämlich altersbedingt zunehmend wunderlicher und ist mit seiner Tochter völlig überfordert. Lucy ist nicht nur so schön, dass die jungen Männer der Ortes nachts wie Kater ums Haus schleichen, sie ist zudem sehr selbstbewusst und hat ihren eigenen Kopf, auch was die Männer angeht. Zehn Jahre später, im zweiten Teil des Romans, steht Port als amtlicher Volkszähler wieder vor der Tür, und wieder vergeblich! Lucy hat zwei längere Affären, zuerst einige Jahre lang mit Dougie, dem als Nerd in der Stadt eine glänzende berufliche Karriere bevorsteht, und anschließend mit Kurt, einem undurchsichtigen Typ, der diverse Vorstrafen hat, nicht arbeitet, oft auf Reisen ist und schlimme Kerle als Freunde hat. Ein absoluter Fehlgriff der selbstbewussten Schönen, das genaue Gegenteil zu dem strebsamen Dougie.

Der Roman wird vom Ehepaar Copeland erzählt, die Beiden wechseln sich als Ich-Erzähler der dreißig Kapitel permanent ab, wodurch das Geschehen aus männlicher wie auch aus weiblicher Sicht geschildert wird. Als wichtigstes narratives Stilmittel erweisen sich die köstlichen Dialoge zwischen den beiden Freunden, bei denen sich Port als unerschöpfliche Quelle von Geschichten aus seinem bewegten Leben erweist, denen der vergleichweise unspektakuläre Cliff nicht entgegen zu setzen hat, er kennt nicht mehr von der Welt als sein ländliches Vermont, das er noch nie verlassen hat. Sie philosophieren auf Teufel komm raus, «Du bist ein richtig guter Küchenpsychologe, was?» sagt Port einmal zu Cliff, und ergänzt: «Du tust immer so, als wärst du ein Hinterwäldler, dabei hast du in Wirklichkeit einen weiten Horizont». Das stilprägende Element dieses äußerst unterhaltsamen Romans ist der lakonische Witz, in dem da erzählt wird. Man kommt aus dem Schmunzeln und Lachen kaum mehr raus beim Lesen. «Eine Hochzeit mit Hindernissen» heißt es auf dem Buchrücken, präziser wäre: «Eine Hochzeit, mit der niemand gerechnet hat», – und genau die sind ja bekanntlich die aufregendsten!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Lichtspiel

Wenig nachhaltiges Biopic

Mit seinem neuesten Roman «Lichtspiel» hat Daniel Kehlmann dem in der Weimarer Zeit äußerst erfolgreichen, österreichischen Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst literarisch ein Denkmal gesetzt. Nach der auch in anderen seiner Romane bewährten Methode erzählt der Autor eine fiktive Geschichte, die sich um die reale Figur seines heute kaum noch bekannten Protagonisten rankt, wobei die Problematik künstlerischen Schaffens in einer unmenschlichen Diktatur den thematischen Schwerpunkt bildet.

Der dreiteilige Roman beginnt unter dem Titel «Draußen» in der Emigration des Regisseurs, der als «Roter Regisseur» wegen seiner politischen Überzeugungen in Nazi-Deutschland keine Zukunft mehr für sich gesehen hat und nach Hollywood gegangen ist, obwohl er von der «Filmkunst» dort wenig hält. Eines Tages bekommt er überraschend Besuch von einem Abgesandten des Propaganda-Ministers Goebbels, der ihn nach Deutschland zurückholen will und ihm künstlerische Freiheit und beste Arbeitsbedingungen verspricht. Trotz verlockendem Angebot lehnt Pabst empört ab. Als ihn ein Telegramm zu seiner kranken Mutter zurückruft, reist er mit Frau und Sohn für drei Tage nach Österreich, das inzwischen Ostmark heißt, um sie in einem Pflegeheim nahe Wiens unterzubringen. Am Tag nach ihrer Ankunft bricht der lange erwartete Krieg tatsächlich aus, die Grenzen werden geschlossen, er kann nicht mehr zurück in die USA. Bald darauf wird er zu Goebbels gerufen, der ihm unmissverständlich klarmacht, dass seine Verweigerungs-Haltung böse Konsequenzen für ihn haben würde in Anbetracht seiner kommunistischen Gesinnung. Pabst steigt also notgedrungen wieder ein ins Filmgeschäft und dreht einige erfolgreiche Filme. Sein letztes Werk unter dem Titel «Der Fall Molander» über einen virtuosen Geiger wird wegen der ständigen Luftangriffe in Prag gedreht, wobei der Produzent für eine Massen-Szene im Konzertsaal als Publikum auf KZ-Häftlinge zurückgreifen muss, weil fast alle Männer im Krieg sind. Im Publikum meint er, seinen früheren Arzt als abgemergelte Gestalt wieder zu erkennen, verdrängt dies aber entsetzt sofort wieder. In «Danach», dem kurzen dritten Teil des Romans, wird die Nachkriegszeit beleuchtet mit ihren trivialen Produktionen, die das Volk von den Traumata des Krieges erlösen sollen.

Der Recherchefleiß von Daniel Kehlmann ist auch in diesem Roman beachtlich, sehr anschaulich führt er seine Leser in die Problematik des Filmgeschäfts ein, schildert die verschiedenen Aufgaben der Beteiligten, vom Produzenten über Drehbuchautor, Regisseur, Kameramann, Beleuchter, Maskenbildner und all den anderen dienstbaren Geistern, die da tätig sind. Auch die täglichen Pannen, Rückschläge und erforderlich werdenden Improvisationen sind anschaulich beschrieben, alles steht unter Zeit- und Gelddruck, das Chaos ist der Normalzustand. Natürlich trifft man bei der Lektüre des Romans auf die Filmgrößen der damaligen Zeit, so hat Pabst Leni Riefenstahl bei deren Monumentalwerk «Tiefland» unterstützt, hat mit Greta Garbo gedreht und ist unter anderen mit Heinz Rühmann auch privat gut befreundet. Er ist immer noch wer in der Szene und tauscht sich regelmäßig mit Kollegen wie Fritz Lang oder Helmut Käutner aus.

Von den Feuilletons zum Teil euphorisch hochgejubelt, ist dieser Roman des Erfolgsautors über moralisches Versagen – nach «Tyll» vergleichsweise – ziemlich enttäuschend. Slapstickartige Szenen wie die in Goebbels Büro oder der dilettantische Lesekreis der Nazifrauen, an dem Trude Pabst teilnimmt, irritieren eher, als dass sie zum Lesegenuss beitragen. Stilistisch enttäuschend bieder, mit ständig wechselnder Erzählperspektive den Plot regelrecht zerstückelnd, ohne psychologische Tiefenschärfe an der Oberfläche bleibend, ist die Lektüre zwar durchaus interessant, aber alles andere als meisterlich! Sie hinterlässt beim Lesen keine nachhaltigen Spuren, woran auch die schwache Figurenzeichnung Schuld trägt, man hat das Roman-Personal schon vergessen, wenn man das Buch am Ende zuschlägt.

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Wut und Liebe

Der neue Suter: Wut und Liebe

Wut und Liebe. Camilla ist 31 und Buchhalterin. Sie füttert ihren Freund Noah, einen Maler, durch und hofft auf bessere Zeiten. Doch dann will sie plötzlich mehr vom Leben. Ihre allerbeste Freundin Liz macht es ihr vor, sie leitet ein Unternehmen. Auch Camilla will einen sicheren Lebensabend und verabschiedet sich von Noah und der Liebe und wählt die Sicherheit eines reichen Mannes.

In der Liebe und im Krieg: Alles erlaubt

Doch dann kommt alles anders in diesem temporeichen Roman voller Plot Twists. Nichts ist so wie man es erwartet und alles voller Täuschungen. In der Blauen Tulpe lernt der enttäuschte Noah eine ältere Dame kennen, wie ihn auf eine verhängnisvolle Idee bringt. Wenn er reich wäre, würde Camilla ei ihm bleiben, also muss er so schnell wie möglich reich werden. Am schnellsten wird man wohl reich, wenn man jemanden anderen um seinen Reichtum bringt, oder…? Richtig! Durch einen Auftragsmord. Betty Haller, seine neue Bekannte, kennt da einen gewissen Zaugg, dem sie einiges nachträgt. Er wäre ein willkommenes Opfer. Zaugg & Partner zudem eine Firma, die sich mit schmutziger Geldwäsche befasst, also auch ethisch-moralisch vertretbar. Aber umbringen? “Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, mein Leben zu ändern“, sagt die über 60-jährige herzkranke Betty. Aber Noah? Der ist gerade einmal halb so alt wie sie und hat noch alles vor sich.

Keine Liebe ohne Lüge

In der Liebe ist das Ziel die Niederlage, die Selbstaufgabe. Auf beiden Seiten. Nicht die Eroberung“, belehrt Katy ihren Kurzzeitgefährten Noah, denn auch bei ihr findet der Künstler kurzfristig seinen Trost. “Bleib der du bist“, rät sie ihm, dann verliere er sie zwar als Frau, aber gewinne ihren Respekt, lautet ihre Lösung für den Konflikt mit Camilla. Guter Rat ist eben teuer, wenn es um die Liebe geht. Er trifft wieder Betty in der Blauen Tulpe und sie ist weise: “Ihr habt euch beide etwas vorgemacht. Das ist normal in der Liebe. Nicht schön, aber normal. Man will gut dastehen voreinander. In der Liebe ist die Lüge ein Liebesbeweis. Die Wahrheit ist für die vorbehelten, dein einem egal sind.” Ob Camilla vielleicht doch wieder zu Noah zurückkehren wird?

“Gegen Wut hilft Liebe”

Einen Einblick in die Absurditäten der Kunstwelt und die Welt der oberen 10.000 bietet dieser Roman des 1948 in Zürich geborenen Schriftstellers Martin Suter. Gekonnt spielt der Autor mit den Verästelungen der Liebe und zeigt, dass es die wahre Liebe wider Erwarten doch noch gibt. Das Motiv des Doppellebens, eine Vorstellung von weißen Männern aus den 70iger Jahren, verwendet Suter für eine rührende Geschichte aus dem Milieu der Mittelklasse, dessen größtes Dilemma darin besteht, zu viel zum Sterben aber zu wenig zum Leben zu besitzen. Seine beiden Protagonisten, Camilla und Noah, wollen beide nach oben, sie wollen dazugehören und auch ein besseres Leben führen. Das verbindet die beiden, auch wenn sie unterschiedliche Wege wählen, ihre Ziele zu verwirklichen. Aber dass das alles gar nicht so einfach ist und die vermeintlich Erfolgreichen ebenso ihre Problem haben, müssen sie eben an eigener Haut spüren, bevor sie sich eines besseren besinnen und wieder zur Vernunft kommen. Das gelingt allen am besten mit dem Unvernünftigsten, das es gibt: der Liebe. Notfalls kann sie einem sogar den erwünschten Reichtum ersetzen. Auch wenn man mit ihr die Miete nicht bezahlen kann: warm bleibt es trotzdem.

Martin Suters Romane (darunter ›Melody‹ und ›Der letzte Weynfeldt‹) und die ›Business-Class‹-Geschichten sind auch international große Erfolge. Seit 2011 löst außerdem der Gentleman-Gauner Allmen in einer eigenen Krimiserie seine Fälle, derzeit liegen sieben Bände vor. Er lebt mit seiner Tochter in Zürich.

Martin Suter
Wut und Liebe
Roman
2025, Hardcover Leinen, 304 Seiten
ISBN: 978-3-257-07333-1
Diogenes Verlag
€ (D) 26.00 / sFr 35.00* / € (A) 26.80

 


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Ralph Gibson. Photographs 1960–2024

Ralph Gibson. Eine Werkschau über sechs Jahrzehnte des in L.A. aufgewachsenen “Marines”-Fotografen Ralph Gibson bietet der vorliegende Fotoband des TASCHEN Verlages. Es entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler selbst und ist das Ergebnis von mehr als sechs Jahrzehnten des Bildermachens. Von Gibsons ersten Fotografien in San Francisco, Hollywood und New York in den 1960er-Jahren bis hin zur Gegenwart: die bisher umfassendste Sammlung eines Fotografen, der noch bei Dorothea Lange und Robert Frank sein Handwerk gelernt hatte.

Schule des Sehens in New York

In New York eröffnete Gibson schon bald sein eigenes Atelier. Später erhielt er Stipendien des NEA und der Guggenheim-Stiftung und wurde 2002 von der französischen Regierung zum Commandeur de l’Ordre des Arts et des Lettres ernannt. “Es ist weder gut noch schlecht, kultiviert zu sein, aber L.A. fand ich nun einmal ein wenig zu primitiv”, schreibt er über seinen Neubeginn 1967 an der Ostküste, in New York. Er quartierte sich gleich im berühmt-berüchtigten Chelsea-Hotel ein und blieb dort die ersten drei Jahre seines New Yorker Lebens. Im Max’s Kansas City sah er die Celebrities, aber seine Motive fand er mit dem Bus, mit dem er uptown und downtown fuhr. Denn Ralph Gibson wollte von Anfang an das wahre Leben zeigen, Menschen, Situationen, Akte, Porträts, Stillleben. Er schlief tagsüber und arbeitete nachts, atonale Musik, konkrete Poesie und Nouveau Romane zogen ihn an und seine Bilder hatten einen “surrealistischen Beigeschmack”, wie er selbst schreibt oder wie man neudeutsch bei uns sagen würde: Touch. Mit der Zeit wurde ihm klar, schreibt er, dass er einen Traumzustand fotografiert hatte. “The Somnambulist”, sein erstes Fotobuch entstand im Chelsea Hotel, nach drei harten Jahren des Kampfes hatte er es geschafft. Obwohl das Fotobuch nur 48 Seiten hatte machte es ihn schnell in Fotografenkreisen bekannt und es kam erstmals richtig Geld ins Haus. Damit finanzierte er sich seine ersten Reisen nach Europa. “Die kulturelle Tiefe dieser alten Länder schien jemandem, der in Los Angeles geboren wurde, so viel Stoff zu bieten.”

Von New York in die Welt

Der Rücken eines Pferdes, ein Mann, der sich in einen Baum hineinschneuzt oder Nebel- und Wasserschwaden finden sich auf seiner aus den 70igern stammenden Serie “Déjà vu”. Ein weiblicher Aktausschnitt vor einem Wolkenhimmel zeigt er in Spanien am Strand. “Days at Zea” spielt mit Formen, Händen und Steinformationen, aber auch nackter Haut. “Infanta” nennt sich das Kapitel, das mit Schatangetan zu haben, währen in “L’histoire de France” wieder mehr der Surrealismus dominiert. Die Liebe zur Frankreich sei fast schon eine uralte amerikanische Tradition, schreibt er bezugnend m Goldfisch in einem Wasserglas gewidmet. “Chiaroscuro”, eigentlich eine alte Technik, nennt sich ein Ausschnitt seines fotografischen Werks aus den Jahren 1972-1998, die ebenfalls Bilder zeigen, die in Europa gemacht wurden. “Quadrants” nimmt Bezug auf das Format einer Fotoserie, die er für eine Ausstellung in New York konzipierte.

Gotham Chronicles, eine Anspielung auf New York natürlich, will das Königreich des Oberflächlichen und das kulturelle Zentrum der Zivilisation des des Abendlandes gegenüberstellen. Beides stellt für Gibson Gotham dar, eine mittelalterliche Stadt, wo weise Männer sich als Narren ausgaben, um die Steuer zu umgehen. “Haiku”, “In Situ”, “Pharaonic Light” entführen uns nach Japan, Ägypten, Brasilien und Dakar und Korea. Am Ende findet sich auch ein Résumé sowie weitere Tipps zu Büchern von Ralph Gibson, die u.a. auch beim TASCHEN Verlag erschienen sind. Ralph Gibson hat seinen Fotografien kurze Texte beigefügt und stellt sich den Dingen, lichtet sie auf eine fast meditative Weise ab, wie es nur die Stille eines Bildes mag wiederzugeben. Weitere Werke von Ralph Gibson finden Sie hier!

Ralph Gibson. Photographs 1960–2024
Ausgabe: Mehrsprachig (Deutsch, Englisch, Französisch)
2025, Hardcover, 21 x 27.5 cm, 2.65 kg, 552 Seiten
ISBN 978-3-7544-0268-9
TASCHEN Verlag
€ 60

 


Genre: Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Eigentum

Eigentum. “Bist bes auf mi, Mutti?” Neu erschienen als Taschenbuch ist auch der (vor-)letzte Roman des Sprachkünstlers Wolf Haas. Der Erfinder der “Brenner”-Krimireihe fischt dieses Mal in ganz anderen Gewässern. Genauer gesagt in fremden “Lechn“, hochdeutsch: Lehen. Denn immer strebt der Mensch nach Besitz, nach Eigentum und selbst wenn es dann nur 1,7 m2 werden, ist zumindest etwas zum Vererben da.

Lehen und Leute

Teilweise im Dialekt seiner Mutter (der Autor ist in Maria Alm am Steinernen Meer geboren) verfasst, dann wieder umgangssprachlich, österreichisch, sogar hochdeutsch bereitet Wolf Haas Leserinnen und Lesern wieder eine ganz besondere Lektüre. Zwei Tage vor dem Tod seiner Mutter, will er noch das Wichtigste aufschreiben, aber was ist angesichts des Todes noch wichtig? Der Autor tut es in gebohnert Manier: mit viel Humor und witzigen Wendungen, Sprachakrobatik und viel Kunstfertigkeit. “Ich will das hinschreiben, solange sie noch lebt, danach möchte ich mich nicht mehr damit beschäftigen“, schreibt er, “(…)dann machte ich diese verdammten Geschichten auch endlich begraben, was geht es mich an, dass ein Mensch, den ich gekannt habe, sein kleines Lechn immer wieder gegen ein größeres Lehn getauscht hat.” Die ironische Verkürzung des Lebens seiner Verwandten am Land auf “Geschichten” ist natürlich nur eine Schmerzvermeidungsstrategie. Aber anders als der eingangs zitierte Liedtext vermuten lässt, war seine Mutter gar nicht böse und schon gar nicht böse auf ihn, den Wolf. Sie war böse auf die Leute. “La gente“, wie der Sohnemann beflissen hinzufügt. Denn eigentlich hätte sie sich gar nicht vor denen jahrzehntelang verstecken müssen. Im Dorf war ohnehin nur mehr am Friedhof was los. Dort begleitet er sie nun hin und verabschiedet sich von ihr.

Lass weg, Haas!

Seine Mutter hatte viele Jobs, als Servierkraft zum Beispiel. Oder bei der Briefzensur während des Krieges. Dann hat sie nach dem Krieg auch in der Schweiz gearbeitet. Acht Jahre. Aber das Geld, das sie nach Hause schickte wurde in ein Haus investiert, das sie dann nicht mehr bewohnen durfte. Ihr Vater starb 1956, der älteste Sohn 1957. Als sie Jahrzehnte später von der Raika aus ihrem Haus vertrieben wird, mit 89 Jahren, wird das Haus aber gar nicht abgerissen, sondern in ein Hotel integriert. Die geplante Poetikvorlesung muss der Autor dann aber doch absagen, als seine Mutter wirklich stirbt, in dem Haus, in dem sie ihre Kinder geboren hatte. Haas findet nur lakonische Worte, als er am Friedhof ein Grab für sie bestellt. “Unsere Mutter, die ihr Leben lang auf den ersten Quadratmeter hingespart hatte, sollte ihr schlussendlich 1,7 Quadratmeter angewachsenes Grundstück voll ausnützen. Die 1,7 Quadratmeter in bester Lage stand ihr zu, platzsparende Konzepte sollten andere umsetzten.” Nachdem sie ihren Traum, ein eigenes Grundstück zu erwerben, nicht verwirklichen konnte, hatte etwas von ihr Besitz ergriffen, schreibt ihr Sohn: “Niedergeschlagenheit“. Sie besaß nichts, aber sie war ein bißchen besessen, meint er, denn sie konnte eigentlich alles, nur nicht mit den Leuten. La gente. Die Hochzeiten und Taufen werden weniger und man sieht die Verwandtschaft schließlich nur mehr bei Begräbnissen, moniert der Sohn, das Gemeinsame der drei Ereignisse seien selbstverständlich die Tränen.

Wolf Haas
Eigentum
2025, Taschenbuch, Klappenbroschur, 160 Seiten, 12,5×18,7cm
ISBN: 978-3-328-11156-6
Pinguin Verlag
€ 14,00


Genre: Roman
Illustrated by Penguin

Schaurige Orte an der Nordsee. Unheimliche Geschichten

An Land gespülte Mumien aus Ägypten, von Piraten vergrabene Goldschätze, Warften, die dem Untergang geweiht sind – die Nordsee, nicht ohne Grund einst als Mordsee gefürchtet, hat über die Jahrhunderte unzählige Schrecken hervorgebracht. Grund genug für Herausgeber Lutz Kreutzer, in seiner Sammlung „Schaurige Orte – Die Nordsee“ den unheimlichen Facetten dieser Landschaft literarisch nachzuspüren. Weiterlesen


Genre: Anthologie, Gruselgeschichten, Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Gmeiner

Trophäe

Halten Sie sich für moralisch gefestigt? Ihr ethisches Wertesystem ist unerschütterlich?

Ok, dann sollten Sie Trophäe unbedingt lesen. Aber bitte gut anschnallen.

Ein steinreicher amerikanischer Geschäftsmann und passionierter Großwildjäger sieht Afrika als seine ganz eigene Spielwiese an. Für Geld ist auch hier alles zu haben, vor allem die Lizenz zum Töten, vor allem für den weißen Jäger – Nomen est Omen – Hunter White. Vom Big Business zum Erlegen der Big Five, wovon ihm nur noch das aggressive Rhino, das gewaltige Nashorn, fehlt. Wilderer kommen ihm bei der auserkorenen und bereits bezahlten Beute jedoch zuvor, Frustration staut sich auf, bis ihn sein Jagdmanager und Freund auf eine zunächst völlig abwegige Idee bringt – es gibt unter Insidern ja auch noch die Big Six. Er spricht dies mit diesem gewissen Unterton aus, während sie gemeinsam einheimische Jungen beobachten, wie sie elegant wie Leoparden, kräftig wie Löwen und wachsam wie Savannenhunde mit Pfeil und Bogen ihre Jagd auf Antilopen machen.

Spätestens in diesem Augenblick stockt nicht nur Hunter White, sondern auch jedem Leser der Atem. Das darf doch wohl nicht wahr sein. Das kann es doch wohl nicht geben. So etwas darf man sich doch eigentlich nicht mal als literarische Fiktion ausmalen.

Doch halt, nicht so schnell …

Da hat man sich bei der Entscheidung für diesen Roman farbenprächtige Bilder der afrikanischen Savanne und Steppe erhofft und auch zuhauf bekommen. Jenseits von Afrika-Klischees inklusive. Schön und gut. Dafür hat man über lange Anfangspassagen aber eine ganze Menge an Machismo-Kult wegstecken müssen. Ist die Jagd-Leidenschaft nicht prädestiniert für die Ansammlung hemingwayesker Zweibeiner mit toxischer Männlichkeit? Wie kann sich ein Roman entgegen jedem woken Zeitgeist so sehr die Argumentation von Menschen zueigen machen, denen das Testosteron aus jeder Pore quillt und von denen man als doch um so viel besserer, humanistisch geprägter Gutmensch weiß, dass es all den lonesome Cowboys doch nur um die pure Lust am Töten geht?

Mit viel kritischer Abneigung nimmt man im Verlauf schwerlich und murrend hin, dass die Vergabe der Lizenzen auch eine Art Kontrolle des Wildbestandes ist, dass damit Wildhüter und Wildererbekämpfung finanziert werden und dass die Fährtenleser mit ihrem Lohn ein Stück weit ihren Stamm in Zeiten der Trockenheit und des Hungers am Leben halten.

Das ist argumentativ noch sehr schwach, aber der Roman nimmt einen extrem geschickt und fast unmerklich mit in einen inneren Disput. Immer öfter wird der Leser bei seinen eigenen Konflikten abgeholt. Ist das alles eine Regression auf einen puren maskulinen Animalismus, geschönt und verbrämt durch machistische Floskeln, oder muss man diese Jäger-Ethik doch differenzierter sehen? Gibt es nur die ganz schlechten oder auch noch die ein bisschen guten? Können wir die Lebensumstände in diesem Umfeld überhaupt vollumfänglich und korrekt beurteilen und würdigen, die wir uns in unserer westlichen Zivilisation schon lange vom Töten eines oder vieler Tiere abgekoppelt haben und uns in der Mehrheit nicht scheuen, die Produkte des anonymen Tötungsaktes als Nahrung zu verzehren?

Diese ersten Beispiele sind fast schon zu plump und zu plakativ im Vergleich dazu, wie das Buch einen in immer ausgefeiltere moralische Zwickmühlen hineinzieht. Mehr und mehr ist man gezwungen, eigene Meinungsstereotypien in Frage zu stellen oder gar zu verlassen. Und das nicht in einem Pro-und-Kontra-Sachbuch, sondern in einem absolut spannenden und schließlich extrem fesselnden Roman, dessen Handlung einen zwingt, weiter und weiter zu lesen. Ein Finale furioso. Extrem gut gemacht.

Ganz oft fragt man sich beim Lesen ab Beginn, was denn nun die Meinung des Autors zur Jagd an sich und all den brutalen Details ist. Schreibt da ein selbstherrlicher, mordlustiger Macho ohne Gewissen? Oder ist da doch jemand, bei dem Bedenken oder gar Skrupel dominieren?

Das sollte man beim Lesen am besten selbst entscheiden.

Nur so viel: Gaea Schoeters ist eine Frau.


Genre: Roman
Illustrated by Zsolnay München

Die Stunde der Komödianten

Wohl kaum nobelpreisfähig

Mit «Die Stunde der Komödianten» hat der britische Schriftsteller Graham Greene einen der für ihn typischen Romane vorgelegt, in dem menschliche Eigenschaften wie Glaube, Schuld und Verrat in abenteuerlichen Geschichten thematisiert werden. Seine Romane sind zumeist im Stil von spannenden Kriminal- oder Spionagegeschichten erzählt, enthalten aber auch einige Thriller-Elemente in Stories, die politische Inhalte haben als Grundlage des Erzählstoffs. Der vorliegende Roman erweist sich als Kritik am Kolonialismus und dessen unrühmlichen Folgen. hier explizit am Terrorregime des Diktators François Duvalier, genannt ‹Papa Doc›, der die Macht auf Haiti vor allem durch die paramilitärische Miliz der Tonton Macoute an sich reißen konnte. Trotz der düsteren Atmosphäre, in der auch dieser Roman angesiedelt ist, fehlt es im Erzählten nicht an einer Prise des typischen schwarzen, britischen Humors, worauf ja auch der Buchtitel hinweist.

Und in der Tat, es sind skurrile Figuren, die 1963 auf einem kleinen Schiff von New York nach Haiti reisen. Protagonist des Romans und Ich-Erzähler ist der etwa 50jährige, in Monte Carlo geborene Mr. Brown, der nach drei Monaten in New York wieder nach Haiti zurückkehrt. In Rückblenden erzählt er von seinem Leben, er hatte in Europa einen lukrativen Handel mit gefälschten und falsch signierten Gemälden aufgezogen, die er jeweils einem jungen Maler in Auftrag gab. Mit den Fälschungen in einem Wohnwagen zog er als ambulante Galerie von Ort zu Ort und machte gute Geschäfte mit unwissenden Kunden, bis er irgendwann aufflog! Er floh nach Haiti, wo seine Mutter in Porte aux Prince ein respektables Hotel besaß, das er nach ihrem Tod geerbt hat. Voller Elan stürzte er sich ins Geschäft und brachte das Trianon erfolgreich zu neuem Glanz. Im Spielcasino lernte er Martha, die deutsche Frau eines Botschafters kennen, sie wurde seine Geliebte. Durch das Terrorregime aber kam der Tourismus auf Haiti fast vollständig zum erliegen, niemand wollte sein Hotel kaufen, weil die Touristen schlagartig weggeblieben sind.

Auf der sechstägigen Überfahrt von New York lernte Brown den britischen Major Jones kennen, der mit seinen Kriegs-Abenteuern prahlt, ein äußerst charismatischer, jovialer Mann, den er aber nicht recht durchschauen kann, mit dem er dann auch nach der Ankunft regen Umgang pflegt. Und er trifft auf das etwas seltsame, aber grundanständige Ehepaar Smith aus den USA, wo der Ehemann 1948 Präsidentschafts-Kandidat war für die winzige Partei der Vegetarier. Mr. Smith will ‹Papa Doc›, den haitischen Präsidenten, für den Bau eines Vegetarier-Zentrums in Porte aux Prince gewinnen. Ein, wie sich herausstellt, sinnloses Unterfangen angesichts der wild wuchernden Korruption in diesem maroden Staat. Dass Paar reist ernüchtert ab! Im dritten Teil des Romans gerät Major Jones ins Visier der Tonton Macoute, wird verhaftet, kommt wieder frei, bekommt dann durch den Ich-Erzähler Brown Asyl in der Botschaft von Marthas Ehemann. Ein Eigentor für Brown, denn jetzt ist Jones ständig mit Martha, seiner Geliebten, zusammen, Brown wird eifersüchtig. Jones flüchtet bei Nacht und Nebel aus der Botschaft und schließt sich einer Rebellentruppe an, die den Diktator vom benachbarten Santo Domingo aus stürzen will.

Alles Schall und Rauch, wie sich am Ende herausstellt, die Figuren des Romans sind allesamt Traumtänzer, fast alles ist gelogen. Jones war nie im Krieg, und Browns wilde Pläne enden damit, dass er einen Job als Beerdigungs-Unternehmer antritt. Als Thriller mag dieser in einer klaren, zielgerichteten Sprache erzählte Roman seine Leser gut unterhalten, die politische Absicht, die Verdammung von staatlichem Terror, bleibt dagegen seltsam kraftlos schon im Ansatz stecken. Gauner und Spione interessieren wohl nicht nur im Kino, sondern auch in der Literatur ein breites Publikum. Um nobelpreisfähig zu sein mangelt es hier narrativ aber so ziemlich an allem, sogar an Spannung!

Fazit:   mäßig

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Zsolnay München

Die Kindheit Jesu

Vom Circulus vitiosus des Begehrens

Der Roman «Die Kindheit Jesu» des südafrikanischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers J. M. Coetzee erinnert in seiner Thematik unwillkürlich an «Utopia» von Thomas Morus. «Ein», wie es im lateinischen Beitext von 1516 heißt, «wahrhaft goldenes Büchlein, nicht minder heilsam als unterhaltsam», das vor mehr als fünfhundert Jahren den Anstoß zum literarischen Genre der Sozialutopie gab. Auch bei Coetzee geht es um eine ideale Gesellschaft, deren detaillierte Beschreibung den Effekt hat, immer wieder neue philosophische Aspekte aufzugreifen. Der Leser wird in eine bezwingend klare, moralisch nachdenklich machende Gedankenwelt mitgenommen, die auch kafkaeske Züge trägt.

Auf einem Auswanderer-Schiff nimmt sich Simon, ein 54jähriger Mann, dem etwa fünfjährigen David an, der mutterseelenallein unter den Emigranten ist. David hat einen Brief, den er um den Hals bei sich trug und der seine Herkunft hätte klären können, verloren. Über seine Vergangenheit kann er keinerlei Auskünfte geben, nicht einmal seinen richtigen Namen weiß er. Auch Simon ist, wie es im Roman heißt, «reingewaschen von der Vergangenheit», die Einwanderungs-Behörde hat ihnen beiden einen neuen Namen zugewiesen und sorgt auch für eine Unterkunft. Simon hat sich vorgenommen, Davids Mutter zu finden, die vor ihm hierher gekommen sein muss, da ist er sich sicher. Er findet eine Arbeit als Schauermann im Hafen am Pier für Getreide. Über eine steile Leiter und eine schmale Planke muss er die schweren Säcke aus dem Schiffsrumpf an Land tragen, eine mühsame und ungewohnte Arbeit für ihn.

Der Vorarbeiter und die Kollegen sind äußerst nett zu ihm, er wird schnell in ihren Kreis aufgenommen. Als er nach einiger Zeit seinen Vorarbeiter fragt, warum diese schwere Arbeit nicht mit Hilfe eines Krans erledigt wird, löst er großes Erstaunen auch bei den Kollegen aus. Man hält ihm vor, das würde ja viele von ihnen als Arbeitskraft ersetzen, und dann wäre es ihnen ja sehr langweilig. Nach intensiver Diskussion beschließen die Männer gleichwohl, von der Baubehörde einen Kran auszuleihen und ihn probeweise einzusetzen. Aber nach einem anfänglichen Unfall mit herabfallender Ladung kehrt man wieder zur alten Methode zurück. Auch die Tatsache, dass in dem riesigen Getreidespeicher der Stadt eine Rattenplage herrscht, wird als ganz normal hingenommen. Die Bevölkerung ernährt sich fast ausschließlich von Brot und Wasser, höhere Ansprüche hat man nicht. Alle Wohnungen sind kostenlos und werden jedem von einer Behörde zugeteilt, und auch das Busfahren ist umsonst. Den Menschen ist eine leidenschaftslose Gelassenheit zueigen, sie sind absolut anspruchslos und kennen keinerlei Neidgefühle. Simon findet schließlich in einer Tennisspielerin die Mutter für David, und er kann sie tatsächlich überzeugen, diese Rolle anzunehmen. Der Junge erweist sich als hochintelligent, aber auch als sehr störrisch und eigensinnig. Die vielen Passagen seiner – extrem antiautoritären – Erziehung sind entschieden zu lang geraten und beeinträchtigen dadurch leider deutlich spürbar die eigentliche, gesellschafts-kritische Intention des Autors!

Ironisch weist Coetzee mit dem Buchtitel auf die Bibel hin, während er sich in seiner Geschichte dann aber auf Cervantes und den «Don Quichotte» bezieht, dem besten Buch der Welt, wie eine von der Nobelstiftung ausgewählte Jury aus 100 bekannten Schriftstellern im Jahre 2002 befand. Ein zeitloses Werk, das sinnbildlich für einen idealisierenden Heroismus steht. Das Streben nach mehr, so die Botschaft auch von Coetzee, erweist sich als sinnlos, weil hinter der Erfüllung der Wünsche dann gleich wieder ein neues Verlangen wartet, ein Circulus vitiosus also, der symptomatisch verkörpert ist im kapitalistischen System mit seinem Konsumterror. Das Begehren ist den Bewohnern dieses seltsamen Landes nämlich absolut fremd, ihre Bedürfnislosigkeit existiert sogar beim Sex, den es hier eigentlich nur auf Krankenschein gibt. Intellektuell auf hohem Niveau, brennt der Autor geradezu ein Feuerwerk ab an tiefschürfenden philosophischen Diskussionen, die bereichernd sind und oft sogar recht amüsant!

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Das geheime Prinzip der Liebe

Eine ungewöhnliche Thematik

Der Debütroman der französischen Schriftstellerin Hélène Grémillon befasst sich mit der literarisch seltenen Thematik einer Leihmutterschaft. Er wurde in 19 weitere Sprachen übersetzt und hat trotz seines irreführenden deutschen Titels «Das geheime Prinzip der Liebe» auch hierzulande einen Hype ausgelöst. Erstaunlich, denn es handelt sich eben nicht um einen der auflagenstarken, typisch kitschigen Liebesromane. Ganz im Gegenteil, mit seiner eher ungewöhnlichen Thematik verbinden sich vielmehr komplizierte, vielschichtige psychologische Aspekte, als da sind: Die herzliche Freundschaft zweier ungleicher Frauen, die Liebe zwischen Mann und Frau als schier unerschöpfliches Thema, ferner Eifersucht, aber auch zerstörerisches Misstrauen und letztendlich Hass, der zuletzt düstere Rachegefühle auslöst. Le Confident, so der Originaltitel, bedeutet wörtlich ‹Der Vertraute› oder Mitwisser, und genau darum geht es auch in diesem Roman. Die streng geheim gehaltene Leihmutterschaft mündet hier in einen erbitterten Krieg der beiden beteiligten Frauen um das Kind, das auf diesem unkonventionellen Wege entstanden ist.

Der Roman beginnt mit dem vorangestellten Hinweis ‹Paris 1975›: «Eines Tages bekam ich einen Brief. Einen langen Brief ohne Unterschrift.» Die 35jährige Verlegerin Camille findet unter den Beileidsbriefen zum Tode ihrer Mutter Annie einen längeren Text, der sich mit der einstigen Leihmutterschaft ihrer verstorbenen Mutter beschäftigt und mit Louis unterschieben ist. Immer mehr solcher Briefe folgen, sie rätselt, wer der Briefschreiber ist und warum er ihr schreibt. Es geht in diesen Briefen um die junge Malerin Annie, die vor dem Zweiten Weltkrieg aus der Champagne nach Paris gekommen ist, um dort Malerei zu studieren, und die in der zehn Jahre älteren Madame M eine wohlhabende Gönnerin findet. Die schenkt ihr nicht nur immer wieder neue Materialien für ihre Kunst, sondern stellt ihr auch einen Raum in ihrer großzügigen Wohnung als Atelier zur Verfügung und engagiert einen bekannten Künstler als Lehrer für sie. Als Madame M ihr in einem vertraulich en Gespräch ihre Verzweiflung darüber gesteht, dass sie offensichtlich keine Kinder bekommen kann, macht Annie ihr spontan das Angebot, für sie als Leihmutter ein Kind auszutragen. Auch der überraschte Ehemann ist schließlich bereit, seiner Frau auf diesem ziemlich ungewöhnlichen Wege ihren sehnlichen Kinderwunsch zu erfüllen.

Mit «Die Ahnung» ist ein diesem Roman stimmig vorangestelltes Zitat von Frederico Garcia Lorca übertitelt, und tatsächlich ahnt man als Leser im Verlauf der Geschichte sehr schnell, dass die hoffnungsvoll arrangierte, streng geheime Leihmutterschaft wahrscheinlich kläglich scheitern wird. Als Annie schließlich schwanger ist, zieht Madame M mit ihr in ihr einsam gelegenes Ferienhaus und verbirgt sie dort vor allen Leuten. Sie selbst aber beginnt, demonstrativ eine eigene Schwangerschaft vorzutäuschen, und als das Kind von Annie als Hausgeburt ohne Hilfe heimlich auf die Welt kommt, gibt Madame M beim Standesamt das Baby als ihr eigenes Kind aus, – und niemand durchschaut den Schwindel!

Erzählt wird all das und die darauf folgenden, erbitterten Kämpfe um das Kind in einem örtlich und zeitlich vielfach verschachtelten Plot aus ganz verschiedenen Perspektiven. In denen werden die diametral entgegenstehenden Vorstellungen und Ansprüche der einstigen engen Freundinnen an die Mutterschaft in aller Schärfe ausgetragen. Es ist seine extreme stilistische Verschachtelung, die diesen Roman als Lektüre überaus schwierig macht. Nach und nach legt die Autorin in ihrem puzzleartigen Plot ein Handlungs-Teilchen an das andere und schließt so die vielen Leerstellen ihrer Geschichte, die dem Leser dann allmählich verständlicher werden. Um auch jeden Zweifel zu zerstreuen, dass ihr Roman wirklich keine Herz-Schmerz-Liebes-Geschichte ist, lässt die Autorin ihn ganz unversöhnlich in einem harten, tragischen Ende ausklingen, mit dem man so nicht gerechnet hat als Leser.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hoffmann und Campe

65 Karten über Kacke

Der Herausgeber Goldeimer ist ein gemeinnütziges Unternehmen aus Hamburg, das sich für den weltweiten Zugang zu Klos und für eine nachhaltige Sanitärwende einsetzt. In vorliegender Publikation werden Fakten auf den Tisch gelegt, die mit einschlägigen Grafiken, Karten und Bildern drastisch veranschaulichen auf welchem Holzweg sich unsere Zivilisation schon lange befindet. In 65 Karten über Kacke geht es nicht nur um die Wurst, sondern auch um lukrative Geschäfte, um Fäkalsprache im Bundestag und um gefrorenen Kot auf dem Mount Everest.

Kacke: Diktatur oder Demokratie?

Der Rohstoff Phosphor spielt bei der Welternährung eine wesentliche Rolle. Nur dumm, dass hauptsächlich Diktaturen über die größten Phosphorreserven der Welt verfügen. Nichtzuletzt deswegen müssen spätestens ab 2032 alle Kläranlagen, di das Abwasser von mehr als 50.000 Anwohner:innen behandeln, auch den darin enthaltenen Phosphor zurückgewinnen. In Belgrad wird dies schwierig, ist doch die serbische Hauptstadt die einzige Europas, die über keine Kläranlage verfügt. Weswegen der Schwimmer und Chemieprofessor Andreas Fath es auf seiner jährlichen Donauwassertestreise (vom Schwarzwald zum Schwarzen Meer) auch vermeidet, durch Belgrad zu schwimmen. Aber das Problem der Kläranlagen ist in der ganzen Welt als ein soziales bekannt. In Indien zum Beispiel aber auch Afrika und Indonesien gibt es nicht einmal genügend öffentliche Toiletten, was zu Krankheiten und Vergewaltigungen führt.

65 Karten über Kacke

In Nordkorea hingegen muss jede/r Staatsbürger:in seine Fäkalien sogar sammeln. Eine sog. Fäkalsteuer ist allerdings in der ganzen Welt einzigartig, so die Autoren. Urin ist tatsächlich nützlich zur Gewinnung, so er von den Exkrementen getrennt aufgefangen wird. Städte die ihren Urin sammeln können ihre Treibhausemissionen um bis 47 Prozent, ihren Energieverbrauch um bis zu 41 Prozent und ihren Frischwasserverbrauch um etwa 50 Prozent reduzieren. Die Nähstoffbelastung der Abwässer (Stichwort: Ammoniak) könnte sogar um 64 Prozent reduziert werden. Ein Gamechanger, der leider immer noch sehr tabubelastet ist, könnte die Welt tatsächlich verändern. Zum Guten.

Tabu oder To Do: Kacke

Die Länge des deutschen Kanalisationsnetzes ist länger als der Weg zum Mond. 384,400km ist der Abstand zum Erdumkreiser, 619,291 die Länge der Kanäle, die sowohl Regenwasser, Schmutzwasser als auch Mischwasser auffangen und wohin leiten? Richtig, in die Flüsse. Aber noch schlimmer ist es, am Gipfel des Mount Everest zu stehen und dem Geruch menschlicher Ausscheidungen ausgeliefert zu sein. Laut einer Statistik Befinden sich bereits 3 Tonnen Kacke am “Dach der Welt”, das wohl bald zum höchsten Örtchen der Welt wird. Besucher:innen müssen seit 2024 ihre Abfälle aber ohnehin wieder runtertragen und bekommen eigens dafür präparierte Säckchen mit einem Pulver, das die Ausscheidungen trocknet. Im Basislager des Everest sind es bereits 21,7 Tonnen die davon abgegeben wurden.

Ein Furz geht um die Welt

Aber kommen wir zu unterhaltsameren Fakten und Karten: ein Elefant kackt etwa 50kg am Tag, der Mensch im Vergleich dazu nur 128g. Ein Elefant und eine Katze brauchen für ihr Geschäft nur jeweils 20 Sekunden, ein Mensch immerhin 120. Mit den Fürzen ist es vielleicht sogar noch lustiger: 0,5 Liter/Tag, das sind bei 84 Millionen Deutschen immerhin 42 Millionen Liter, mit denen man 12 Heißluftballons füllen könnte. Wenn das Montgolfiere gewusst hätte! Grauslich wird’s mit dem “Monster von Whitechapel”. So wurde der riesige Fettberg aus Speiseöl und anderen Ölen im Londoner Kanalsystem genannt. Darin enthalten: Klopapier, Binden, Kondome, Drogen, Windeln, Wattepads u.ä. Eine Playlist zum Buch zeigt die Vielseitigkeit der Unterhaltsamkeit der Thematik und lädt zum fröhlichen Mitsingen ein.

Und wo wir schon einmal beim Thema sind, hier noch eine andere passende Publikation des Katapult Verlages: Kochen für den Arsch

Goldeimer
65 Karten über Kacke.
Über unbekannte Unterwelten, große Geschäfte und unangenehme Wahrheiten
ISBN: 978-3-68972-001-8
2025, Hardcover, 245mmx195mm, 128 Seiten
KATAPULT-Verlag GmbH
24.-€


Genre: Entwicklung der Landwirtschaft, Ökologie, Wirtschaft, Wissenschaft
Illustrated by Katapult