Schecks Bestsellerbibel

Zwischen Jubel und Verriss

Mit dem Titel «Schecks Bestsellerbibel» suggeriert Denis Scheck, Deutschlands bekanntester Literatur-Kritiker, gleich auch noch den Begriff Papst als unfehlbare Autorität an der Spitze einer gläubigen Leserschar. Durch seine Aktivitäten in Rundfunk und Fernsehen ist er zweifellos der populärste Vertreter seiner Zunft in der Nachfolge des unvergessenen Marcel Reich-Ranicki. Der ist bekanntlich vor allem durch seine schriftlichen Rezensionen in den Feuilletons einem breiteren Publikum bekannt geworden, mit der Sendung «Das literarische Quartett» aber später eben auch durch das Fernsehen. Als Urgestein des literarischen Kritikers galt Reich-Ranicki bis zu seinem Tode als der deutsche Literatur-Papst. Beiden Kritikern ist gemein, dass sie ihre dezidiert subjektive Einschätzung der Qualität eines Buches äußerst vehement vortragen und andere Meinungen partout nicht gelten lassen wollen. Das führt dann oft zu unerbittlichen Kontroversen. Beide Herren haben zum Beispiel eine Dauerfehde mit Elke Heidenreich geführt. Deren gefühlsbetonte Bewertungen lehnt Scheck entschieden ab, für sie sei «Literatur ein Mittel gegen seelische Blessuren», also eine zweckgebundene Kunstgattung!

Die Sammlung von kurzen Beurteilungen der Bücher, die in den letzten zwanzig Jahren in die beiden Bestsellerlisten des Nachrichten-Magazins «Der Spiegel» aufgenommen wurden, bieten als Orientierungshilfe einen guten Überblick der meistverkauften Bücher, nicht der besten! ‹To sell› heißt verkaufen, und mit dem Untertitel «Schätze und Schund aus 20 Jahren» weist der Autor ja auch unmissverständlich darauf hin. Die meistverkaufte Tageszeitung in Deutschland ist «Bild», wäre anzumerken, ist sie deshalb die beste? Den Schund heraus zu filtern aus der Flut der jährlichen Neuerscheinungen ist dem unerschrockenen Kämpfer Denis Scheck offensichtlich das Hauptanliegen. Aber er warnt auch vor gesundheits-schädigenden Autoren: «Die amerikanische Neuro-Wissenschaftlerin Maryanne Wolf hat herausgefunden, dass unser Gehirn durch das, was wir lesen, unwiderruflich geprägt wird – und zwar sowohl physiologisch als auch intellektuell. Das aber heißt nichts anderes, als dass Sie ihr Hirn irreparabel schädigen, wenn Sie einen Roman etwa von Sebastian Fitzeck, Susanne Fröhlich oder Paolo Coelho lesen.» Deutlicher geht’s nicht!

Gleich zu Beginn dieser Bibel findet man «Die zehn Gebote des Lesens». Man solle skeptisch sein als Leser, mehr ausländische Bücher lesen als deutsche, mehr von Autoren des anderen Geschlechts und mehr aus vergangenen Zeiten. Denken Sie sich in die Epochen hinein, lassen Sie sich nicht leiten durch den tollen Umschlag, durch Genres oder Verlage, bleiben Sie bei der Wahrheit, ob Ihnen ein Buch gefallen hat oder nicht. Urteilen Sie öffentlich nur über Bücher, die Sie komplett gelesen haben, urteilen Sie über Bücher und nicht über die Menschen, und seien Sie sich dessen bewusst, wenn Sie eine Übersetzung lesen. Im Vorwort wie auch in den einundzwanzig Einführungen zu den einzelnen Bestseller-Jahreslisten äußert sich Denis Scheck ergänzend auch sehr anschaulich und lehrreich zu verschiedenen Themen rund ums Buch. Da finden sich beispielsweise Beiträge wie «Leben Lesende länger», «Wie verändern Bücher unser Leben», «Warum sind so viele Bücher Krimis», «Stiften Bücher Werte», «Sind Bücher Spiegel oder Fenster», «Kann man aus Büchern lieben lernen», «Kann man Gott in der Literatur finden», «Kann man mit Büchern reich werden», «Wie verliebe ich mich in ein Buch».

Man wird sich kaum in die «Bestsellerbibel» verlieben, schon allein deshalb, weil man vielleicht den einen oder andern Verriss findet von einem Buch, das einem selbst sehr gefallen hat. So ist das nun mal, unser Urteil ist subjektiv, und das von Denis Scheck erst recht, wie er zugibt. Die Hälfte der Bücher sind Sachbücher, in die erklärte Belletristik-Leser nur ganz selten mal hineinschauen. Bleibt die andere Hälfte, die mit Hilfe des 22seitigen Personen-Registers ein nützliches Nachschlagewerk bildet. Aber wie in der Kritiker-Szene üblich changieren auch hier die verbalen Urteile zwischen Jubel und Verriss, Zwischentöne sind leider eher selten.

Fazit:  lesenswert

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Genre: Sachbuch
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Heilung

Vom Sinnsucher zum Bauernknecht

In seinem zweiten Roman mit dem Titel «Heilung» erzählt Timon Karl Kaleyta von einem Mann, der nicht mehr schlafen kann. Unter den Überschriften «Innen» und «Außen» des zweiteiligen Romans wird zunächst der verzweifelte Kampf des egozentrischen Ich-Erzählers gegen seine Schlaflosigkeit in einem vom Schauplatz her dem «Zauberberg» ähnelnden, exklusiven Resort in den Dolomiten geschildert. Dort werden Leute behandelt, denen nichts fehlt, immer nach der Erkenntnis von Karl Valentin: «Gar ned krank is a ned g’sund». Im zweiten Teil befindet sich der Protagonist nach einem abrupten Wechsel des Settings in einem Prozess der Sinnfindung, frei nach dem Motto «Zurück zur Natur» des Aufklärers Jean-Jacques Rousseau, örtlich angesiedelt in einer idealtypischen, bäuerlichen Idylle, mitten in einer gottverlassenen Gegend.

Nach langem Sträuben gibt der namenlose Protagonist Mitte vierzig endlich dem Drängen seiner Frau Imogen nach, sich in die Obhut des für seine Behandlungs-Erfolge berühmten Prof. Trinkl zu begeben. Denn seine andauernde Schlaflosigkeit droht die immer noch kinderlose Ehe zu zerstören. Der Professor stellt fest, dass ein in seiner Vergangenheit begründetes «Unbehagen» schuld sei an seinen geheimnisvollen, psychischen Störungen. Schon am ersten Tag seines Aufenthalts lernt er im Schwimmbad Mona kennen, eine Frau, die offensichtlich Kontakt zu ihm sucht, obwohl sie weiß, dass er verheiratet ist. Zu den fragwürdigen Methoden des Professors gehört stundenlanges Einsperren seines Patienten in einer stockdunklen Kammer, und er geht auch zur Jagd mit ihm. Auf einem Hochsitz drückt er ihm, der noch nie eine Waffe in der Hand hatte, plötzlich ein Gewehr in die Hand. Er soll auf einen Bären schießen, den sie in Schussweite entdeckt haben, und als der Bär dann nur angeschossen ist, muss er ihn waidmännisch korrekt auch noch mit einem Messerstich ins Herz töten.

In einer traumartigen Szene lässt der Ich-Erzähler alles stehen und liegen und flüchtet vor diesen merkwürdigen Behandlungs-Methoden zu seinem Freund aus Kindertagen, der mit seiner Frau einen Bauernhof in einer einsamen Gegend bewirtschaftet. Der liefert den beiden Selbstversorgern alles, was sie zum Leben brauchen. Und hier findet der verzweifelte Mann auch endlich Ruhe, er beschließt, immer bei seinem Freund zu bleiben. Voller Elan bringt er sich ein in dieses archaische Leben, arbeitet körperlich hart und erlernt all die Arbeiten, die ein solcher Bauernhof mit sich bringt. Bis die Dinge schließlich eskalieren und ihn dort seine Vergangenheit einholt. Mit viel Symbolik, zu der auch diverse, immer wieder mal zitierte Klopstock-Gedichte zählen, entwickelt der Autor in verstörenden Szenen das Bild einer aus den Fugen geratenen Gegenwart, die auch die drohende Klimakatastrophe mit einbezieht. Es sind ebenso unheimliche wie absurde Bilder, die da heraufbeschworen werden.

Sowohl der Plot als auch das Setting dieses stilistisch misslungenen Romans, der den Rückzug aus der verachteten Leistungs-Gesellschaft zum Thema hat, sind wenig überzeugend, denn da ist Vieles geradezu an den Haaren herbeigezogen. Man weiß als Leser nicht, ob das, was man da liest, wirklich ernst gemeint oder einfach nur komisch ist. Gut gelungen ist die Schilderung der Seelenpein des gequälten Protagonisten, der bäuerliche Jugendfreund hingegen ist wenig glaubwürdig dargestellt, er bleibt als Figur eher blass. Imogen und die Frau des Freundes fristen erzählerisch sogar ein Mauerblümchen-Dasein. Und auch die begehrenswerte Mona verschwindet heimlich und spurlos während der erzählerischen Metamorphose des Helden vom ohnmächtigen Sinnsucher zum kraftstrotzenden Bauernknecht. Der kommt schließlich nach Hause und ist geheilt. Der Roman endet abrupt mit dem kaum noch zu überbietenden, kitschigen Satz des Ich-Erzählers: «Heute Nacht würde ich Imogen ein Kind schenken.»

Fazit:  miserabel

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Genre: Roman
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Honigstaat. Am Ende der Nacht

Wer den ersten Band der Reihe um mutige Frauen aus dem Widerstand des Adels gegen die Nazidiktatur, »Honigland«, noch nicht gelesen hat, könnte sich zunächst von der Fülle der Charaktere und der komplexen Familiengeschichte derer von Tessendorf erschlagen fühlen. Doch bereits im zweiten Drittel des Romans gewinnt die Handlung an Fahrt und entfaltet sich zu einer spannenden Geschichte voller Intrigen und Verwirrungen, die in einem Palast voller Intrigen und Verwirrungen rund um den »Führer« spielen. Im Kern geht es um den Versuch, eine Neubesetzung an der Spitze der Wehrmacht herbeizuführen, vor dem Hintergrund eines drohenden globalen Konflikts. Weiterlesen


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Risse

Literarische Zumutung

Das neue Buch «Risse» von Angelika Klüssendorf trägt nur auf dem Vorsatzblatt verschämt die Bezeichnung Roman, nicht aber auf dem Cover, wo es ja verkaufsfördernd wäre. Der Text besteht aus zehn Kurzgeschichten, die schon 2004 unter dem Titel «Aus allen Himmeln» erschienen sind. Mit gleicher Thematik erschien 2013 der erfolgreiche Debütroman «Mädchen» als Teil einer Trilogie. Es geht in diesen allesamt autofiktionalen Werken um die verheerenden Auswirkungen eines lieblosen und teilnahmslosen, aber auch chaotischen, sadistischen Elternhauses auf die Entwicklung der in solch prekären Milieus aufwachsenden Kinder. «Kein Wohlfühlroman», ist meine Buchbesprechung von «Das Mädchen» betitelt, und das gilt für das jetzt vorliegende neue Buch der Autorin gleichermaßen, nichts für literarische Hedonisten also!

Entsprechend den zehn Kurzgeschichten als Grundlage ist «Risse» in zehn Kapitel aufgeteilt, in denen die einzelnen Motive ihres Erzählbandes über ein von Armut geprägtes Kinderleben in ein Ganzes übertragen wurde. Ergänzend sind jeweils kursiv gesetzte Kommentare der Autorin als Ich-Erzählerin zwischen die Kapitel eingefügt, die ihre Arbeit an dem Buch selbst verdeutlichen sollen. Ihre in der DDR der sechziger und siebziger Jahre angesiedelten Kurzgeschichten sind von erschütternden Szenen der seelischer Grausamkeit an dem Mädchen geprägt, die ihre teilnahmslosen Eltern, manchmal sogar mit sadistischen Übergriffen, an ihr und ihrer Schwester begehen. Die nur ganz selten mal beim Namen genannte, bedauernswerte Heldin schwankt zwischen depressiver Erduldung und verzweifeltem Aufbegehren, um die eigenen Eltern «auszuhalten».

Einzig der große Kirschbaum im Garten ist zuweilen ein Trost für sie. Es ist dieser Kirschbaum, der als Leitmotiv fungiert und ihre Sehnsucht nach Geborgenheit symbolisiert. Auf seine Weise wirkt er tröstend für das Mädchen, verheißt ihm Verlässlichkeit und Beständigkeit trotz all der traumatischen Zumutungen, denen es ausgesetzt ist. Für den Leser stellt der Kirschbaum außerdem so etwas wie einen hilfreichen roten Faden dar im Seelenchaos des emotionslos und allzu sprunghaft erzählten, unübersichtlichen Plots. Aber auch die Beschäftigung mit Büchern liefert dem Mädchen Halt, sie taucht dann wenigstens zeitweise in andere Welten ein. Und dem Lesen folgt quasi automatisch auch das Schreiben, aus dem sich einst mit den Kurzgeschichten ihre erste Veröffentlichung ergeben hatte. Die autofiktionalen Geschichten und der zu ihnen hinführende Schreibprozess sind hier ineinander verwoben. Eine geradezu klassische Konstellation vom Buch-im-Buch also, die, wie ja auch die Autofiktion, zunehmend populärer wird im Genre der Belletristik, – und geradezu eine Domäne weiblicher Wortakrobaten zu sein scheint!

Von sexuellen Übergriffen wird in Angelika Klüssendorfs Geschichten berichtet, von ersten Versuchen der Selbstbefriedigung, von einer überraschenden ersten Menstruation des Mädchens. Ausgerechnet auf der Beerdigung des Vaters läuft ihr das Blut am Bein herunter. Es gibt keine Körperflüssigkeit, von der hier nicht die Rede ist, Blut, Eiter, Schweiß, Sperma, Rotz, Urin, Kot. Erzählt wird auch von einer Entjungferung in den Dünen oder von den Anstiftungen der Mutter zum Ladendiebstahl. Das geht so weit, dass die Mutter ihrer Tochter einen «Diebstahlzettel» schreibt, auf dem sie genau notiert hat, was das Mädchen wo für sie stehlen soll. Und natürlich ist bei allem Schnaps im Spiel, die Mutter ist, wie der Vater auch, alkoholkrank. Der Vater hat zudem schon viele Suizidversuche hinter sich, nun versucht er es mit Gas in der Küche. Vater und Tochter liegen nebeneinander auf dem Küchenboden, als die Mutter hinzukommt. Das Mädchen wird im Krankenhaus gerettet, für den Vater kommt jede Hilfe zu spät. Ob Verdrängtes ans Tageslicht befördert wurde mit der späten «Selbstbefragung» der Autorin, das kann nur sie selbst beurteilen. Viele Kritiker aber schütteln nur den Kopf angesichts dieser literarischen Zumutung!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
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“Cancel Culture” – Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken

Was veranlasst uns dazu, jemanden einer Plattform zum Meinungsaustausch zu berauben? Warum bestehen so viele Unstimmigkeiten bei der Definition des Begriffs „Cancel Culture“? Verstößt „Cancel Culture“ tatsächlich gegen den demokratischen Toleranzgedanken? Oder weist gerade die Demokratie gesetzliche Lücken auf, derer sich verschiedene politische Lager mithilfe des Cancelns schamlos bemächtigen? Ist jede Form der Meinungsverweigerung als „Cancel Culture“ klassifizierbar, ist sie jemals gerechtfertigt?

Der Philosoph und Ex-SPD-Kulturminister Julian Nida-Rümelin widmet sich in seinem neuen Sachbuch „Cancel Culture – Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken“ u. a. den obigen Fragen.

Expertokratie, Szientismus – das Ende der Demokratie?

Nida-Rümelin untersucht Phänomene der „Cancel Culture“ avant la lettre in unterschiedlichen Zeitepochen. Er nennt Bedingungen für den Erhalt einer demokratischen Gesellschaft sowie Umstände, unter denen er diese gefährdet sieht. All das untermauert er mit philosophisch-politischen Ansätzen: Von Plato und Aristoteles bis hin zu Thomas Hobbes, John Locke, Immanuel Kant und John Rawls.

Cancel Culture – so der Autor – behindere das Projekt der Aufklärung. Diesem zufolge besitze jeder Mensch die Fähigkeit , sich unabhängig vom Staat ein politisches Urteil zu bilden. Obwohl sich Nida-Rümelin da eher skeptisch zeigt, plädiert er dennoch für die Förderung eines Vernunftverständnisses. Dieses müsse weniger auf wissenschaftlicher Expertise und mehr auf alltäglicher Lebenserfahrung basieren.

Nida-Rümelin übt Kritik an Expertokratie und Szientismus aus. Wissen und empirische Wissenschaften dürften keineswegs von Eliten für politische Zwecke instrumentalisiert werden. Stattdessen müssten sie in verständlicher Sprache in die öffentliche Zivilgesellschaft eingebettet werden, um populistische Bewegungen oder Hetzkampagnen einzudämmen. Nur so könnte man freies und kritisches Gedankengut ermöglichen. Der Hang zur Expertokratie habe spätestens seit Corona an Bedeutung gewonnen. Am Szientismus bemängelt der Autor von „Der Akademisierungswahn: Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung“ die nach wie vor existente „naive“ Vorstellung, außerhalb des Wissenschaftlichen liege kein Wahrheitsanspruch.

Leicht verklausuliert

Über Nida-Rümelins Implikation, bei der Leugnung von per se nicht widerlegbaren Selbstverständlichkeiten wie „Das ist ein Baum“ handle es sich schon um eine ungewollte, wenn auch nicht behebbare Form der Cancel Culture, lässt sich streiten. Und zwar dann, wenn der Behauptende für diese Aussage gesellschaftlich geschnitten wird. Man fragt sich, ob der Autor mit dieser Verklausulierung den kontroversen Gender-Diskurs im Sinne hatte. Immerhin nennt er am Ende der Abhandlung im Rahmen einer eigens aufgestellten „Cancel-Culture-Kasuistik“ den Fall Kathleen Stock. Stock ist eine britische Philosophin, die sich gegen eine Relativierung des männlichen und weiblichen Geschlechts aussprach, dafür als transphob gebrandmarkt und als Universitätsprofessorin gekündigt wurde.

Nicht unvoreingenommen

Während Nida-Rümelin der Cancel Culture vorwirft, unbeliebte und nicht übereinstimmende Meinungen zu unterdrücken, muss man beim Lesen dennoch die Stirne runzeln. Die – nicht ganz unvoreingenommene – Annahme des früheren SPD-Politikers, die „aktuell größte“ Gefahr für die Demokratie gehe weniger von einer linken Cancel Culture aus, lässt sich widerlegen: Das Verschwinden kanonischer Werke wie William Shakespeares „Sommernachtstraum“, August Strindbergs „Fräulein Julie“ oder Colson Whiteheads „Underground Railroad“ (einer POC!) von akademischen Leselisten und Bibliotheken oder das Umschreiben von Roald Dahls Kinderbüchern und Ian Flemings Spionage-Romanen (James Bond) sind Beispiele gefährlicher linker CC. Sie verzerrt das Verständnis kultureller Sachverhalte zugunsten politischer Indoktrination. Das „Umschreiben“ von Geschichte durch Anachronismen und eine geistige Verhätschelung junger Studierender sind nicht weniger radikal als Xenophobie, religiöser Fanatismus oder die Forderung eines Verbots von Trans-Lesungen für Kinder. Derartige Formen des Cancelns begünstigen solche Entwicklungen sogar.

Auch Joe Biden als „middle of the road“-Kandidaten zu bezeichnen, der „jeder radikalen Intellektulität“ fernstehe, ist nicht ganz unproblematisch. The New York Times und The American Presidency Project haben über Bidens stark schwankende LGBTQI+-Politik berichtet: U. a. von seiner Stimme für den Defense of Marriage Act 1996. Oder seinen Einsatz dafür, die finanziellen Bundesmittel für US-amerikanische Schulen zu streichen, an denen Akzeptanz von Homosexualität gelehrt wurde. 1973 argumentierte Biden, die Aufnahme Homosexueller ins Militär oder in die Regierung berge Sicherheitsrisiken. 1993 stimmte Biden für einen Änderungsantrag zur Kodifizierung des Verbots der dauerhaften Einwanderung von HIV-positiven Migranten durch das Gesundheitsministerium.

Thematisierung unterschwelliger Formen des Cancelns als Stärke

Das Plädoyer für Toleranz mutet etwas banal an. Das mag vielleicht daran liegen, dass der Autor hauptsächlich das Problem unterschiedlicher Auffassungen von Demokratie beleuchtet: Demokratie als Realisierung individueller Rechte und Freiheiten vs. Einschränkung derselbigen durch eine kollektive Entscheidungsinstanz. Eine der Stärken der Streitschrift ist dennoch die Frage nach einer möglichen Existenz einer berechtigten Form von Cancel Culture, z. B. in Form des Arco Costituzionale in Italien nach dem Ende des 2. WK. Dazu gehört auch die Frage, inwiefern die subtilere „Cancel Culture“ zensorische Kontrollmaßnahmen toppt und warum sie sich gesetzlich so schwer fassen lässt. Man denke nur an Facebooks inkonsistente community rules und den Fall des Whistleblowers Julian Assange. Oder an Till Lindemann und die Versuche der Wiener Grünen, Rammstein-Konzerte zu boykottieren.


Genre: Politik und Gesellschaft, Sachbuch
Illustrated by Piper Verlag München

Rückkehr

Wahrheit schichtweise

In seinem neuen Roman «Rückkehr» folgt Willi Achten dem bekannten Handlungsmuster des nach langer Zeit heimkehrenden Protagonisten, der sich schwertut, wieder an sein einstiges Leben anzuknüpfen. Handlungsort ist ein ungenanntes Alpendorf, fortgetrieben hat ihn ein schlimmes Erlebnis, das im beschaulichen Ambiente eines Heimatromans geschildert wird und dessen Geheimnis sich dem Ich-Erzähler nach mehr als zwanzig Jahren nur zögerlich erschließt. Die in der Gegenwart angesiedelte Geschichte behandelt sattsam bekannte Themen wie Heimatliebe, Umweltzerstörung, Ehebruch, Männerfreundschaft und Jugendliebe. Gelingt es dem Autor, diesem Themenkomplex neue Facetten abzugewinnen?

«Wir sehnen uns nach Hause und wissen nicht, wohin» lautet das dem Roman vorangestellte Motto von Joseph von Eichendorff. Auch für Jakob Kilv stellt sich die Frage, ob er an den seinerzeit fluchtartig verlassenen Ort seiner Kindheit zurückkehren soll. Seine Freunde von einst sind alle noch da, auch seine erste Freundin Liv lebt noch in dem Dorf am See, und sogar die Nachbarn sind die alten. Sie alle freuen sich, dass er wieder da ist. In zwei Zeitebenen wird Jakobs Suche nach den geheimnisvollen Hintergründen geschildert, die geradezu zwangsläufig zu seiner überstürzten Flucht führen mussten. Mit vielen Rückblenden werden schichtweise all die Geschehnisse aufgedeckt, die ihn damals so brutal fortgetrieben haben. Seine Clique hatte in hilflos wirkenden Attacken versucht, die Pläne des örtlichen Liftbetreibers für einen gigantischen neuen Skizirkus zu vereiteln. Dadurch würde nicht nur die Landschaft zerstört und die Natur nachhaltig geschädigt, wie die erbosten Umweltschützer meinen, auch die geologische Stabilität der betroffenen Bergregion am Weißkogel wäre massiv gefährdet. Die ist ohnehin schon durch die Klimaerwärmung und den deshalb abschmelzenden Permafrost äußerst fragil geworden. Ein dadurch irgendwann ausgelöster Bergrutsch in den See hinein würde jedenfalls katastrophale Folgen haben. Der Vater von Jakob unterstützt als engagierter Ornithologe die jugendlichen Naturschützer, deren Anführer Bruno mit Jakobs Mutter heimlich ein Verhältnis hat. Ein auswärtiger, gewaltbereiter Umwelt-Aktivist löst dann auf einer Geburtstagsfeier des rücksichtslosen, von Politikern unterstützten Ski-Moguls eine Brandkatastrophe aus, die zwei Menschenleben fordert und Jakob verheerende Brandwunden zufügt.

Durch die von ihm wie Zwiebelschichten nach und nach freigelegten Hintergründe und Zusammenhänge wird erst ganz zum Schluss klar, durch welch unheilvolle Verstrickungen das Geschehen damals den für Jakob so tragischen Verlauf nahm. Gleiches gilt für sein Verhältnis zu Liv, das er selbst nicht richtig einzuschätzen weiß. Ist sie nun wieder seine Freundin oder ist er nur ein Liebhaber, wie es sein bester Freund Bruno scheinbar auch ist? Willi Achten treibt sein Spiel mit der Ungewissheit auf die Spitze, sehr zum Missvergnügen vieler Kommentatoren, denen diese Spannung fördernde, bis zuletzt alles offen lassende Erzählweise als gar zu aufdringlich erscheint. Erschwerend kommt hinzu, dass die Figuren allesamt als wenig emphatisch beschrieben sind und damit kaum Einblick in ihr Innerstes zulassen, was es schwierig macht, ihr Handeln wirklich zu verstehen.

Eine Besonderheit sind neben den mitreißenden Schilderungen einer grandiosen Natur insbesondere die ornithologischen Ausflüge des Ich-Erzählers auf den Spuren des Vaters. Er liebt die Vogelwelt ebenso und beschreibt sie kenntnisreich, am Ende sogar mit der diffizilen Auswilderung zweier Bartgeier. Er selbst ist ja wie ein Zugvogel an den ursprünglichen Ort seines Lebens zurückgekehrt, aber ob er denn hier auch bleiben wird? Der eher passiv wirkende Held sagt dazu nichts. Liv neben ihm schläft noch, «Ich bleibe, schreibe ich mit dem Finger in die Luft und breche auf», lautet der letzte Satz. Neue Facetten zum Thema, wie eingangs gefragt, tun sich hier allerdings nicht auf!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Mit der Geschwindigkeit des Sommers

Bedrückendes Psychogramm

Es ist ein DDR-Roman der besonderen Art, in dem Julia Schoch unter dem kryptischen Titel «Mit der Geschwindigkeit des Sommers» über die Folgen der politischen Wende auf die Psyche einer Frau berichtet. Die Geschichte schildert aus einer ungewöhnlichen Perspektive die Auswirkungen dieser Zäsur, mit der sich für Viele ein neues, aber nicht immer auch besseres Leben abzeichnete. «Bevor sich meine Schwester in New York das Leben nahm oder, den Ahnungslosen zufolge, zufällig dort starb, hatte ich das immergleiche Bild von ihr im Kopf». So lautet, das Ende vorwegnehmend, der erste Satz, der Roman beschreibt nur den einsamen Weg ins Verhängnis.

Im Rückblick berichtet hier eine namenlose Ich-Erzählerin, die jüngere der beiden Schwestern, von der gemeinsamen Jugend in einer eiligst aus dem Boden gestampften Garnisonsstadt am Stettiner Haff. Der strategisch günstige, aber in einer öden Gegend gelegene Stützpunkt bestimmt das Alltagsleben in dem Städtchen. Einmal, erinnert sich die Erzählerin, sei sie mit ihrer älteren Schwester im Kino gewesen, umringt ausschließlich von Soldaten in ihren grauen Uniformen. Den vielen jungen Männern konnte der trostlose Ort kaum mehr Unterhaltung bieten als den Kinobesuch oder den Versuch, mit hübschen Mädchen anzubandeln. Und so habe ihr die ältere Schwester eines Tages denn auch von einem Schäferstündchen mit einem der Soldaten berichtet. Als nach der Wende die Garnison aber verkleinert und schließlich aufgegeben wurde, hatte ihr Soldat schon bald den Dienst quittiert und sich in den Westen abgesetzt. Die Ich-Erzählerin, deren Profession mit dem Stichwort ‹Drehbuch› nur an einer Stelle indirekt angedeutet wird, hat ihrer Heimat nach der Wende ebenfalls den Rücken gekehrt. Ihre ältere Schwester hingegen ist geblieben, hat geheiratet, zwei Kinder bekommen und führt nun ein langweiliges Leben als Hausfrau und Mutter. Die jüngere Schwester besucht sie ab und zu, und so erzählt die ältere ihr dann auch, dass ihr «Soldat», der inzwischen ebenfalls verheiratet ist, nach vielen Jahren den Kontakt mit ihr wieder aufgenommen habe. Seither besuche er sie häufig, ihre rauschhafte Beziehung sei sexuell für beide unvergleichlich intensiv.

Erzählt wird diese beklemmende Geschichte überwiegend in Form der inneren Rede, die der Ich-Erzählerin allerdings fiktiv ein Wissen unterstellt, dass niemand von den Gedanken eines anderen haben kann. «Hatte nicht der inzwischen verschwundene Staat verhindert, dass man zu irgendwas Großem in der Lage war», sinniert zum Beispiel die depressive ältere Schwester. Geradezu schwärmerisch gibt sie sich der verlockenden Vorstellung hin, «dass in diesem anderen Staat ein anderer Lebenslauf für sie bereitgestanden hätte». Und bei ihrem letzten Telefonat hatte die Ich-Erzählerin sie gefragt, wie sie denn «plötzlich auf die Idee gekommen sei, einfach ihren Liebhaber abzustoßen». Und bekommt zur Antwort: «Das habe sich ‹mit der Geschwindigkeit des Sommers› in ihr festgesetzt». Selbstkritisch merkt die Jüngere an: «Wäre ich aufmerksamer gewesen, hätte ich ihre verhängnisvolle Entscheidung vielleicht rückgängig machen können».

Diese Geschichte eines aus dem Lot geratenen Lebens wird in einem lakonisch knappen Stil erzählt, der intensiv das Psychogramm einer rätselhaft bleibenden Frau und ihrer fatal gescheiterten Befreiung aus bedrückenden staatlichen Zwängen zeichnet. Der Roman ist eine einzige Suche nach dem Motiv für die Verzweiflungstat. Dabei entspricht die nüchterne, unterkühlte Erzählsprache zwar dem trostlos kargen Ambiente des Handlungsortes, nicht aber das zutiefst menschliche Thema, um das es hier geht. Es ist dieser Kontrast zwischen einer knappen, zögerlichen Sprache und der unter die Haut gehenden Tragik eines unwiderruflich gescheiterten Lebensentwurfs, der dieses bedrückende Psychogramm zu einer intensiven, lang nachwirkenden Lektüre macht. Damit wird, das sei noch angemerkt, der gängigen DDR-Thematik eine neue Facette hinzugefügt.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Warum du mich verlassen hast

Weniger wäre mehr gewesen

Der Debütroman von Paul Ingendaay greift mit seinem Titel «Warum du mich verlassen hast» auf die Worte von Jesus am Kreuz zurück. Ein deutlicher Hinweis auf das Milieu, in dem dieser Internats-Roman angesiedelt ist, ein katholisches Internat nämlich. Der Autor beschreibt darin eigene Erfahrungen, wie er im Nachwort erklärt. Er habe ganze siebzehn Jahre gebraucht, bis er nach der Erstfassung und nach langen Schreibpausen dann seine auf einer wahren Begebenheit beruhende Geschichte ‹in einem Rutsch› neu geschrieben habe.

In einem niederrheinischen Knaben-Internat fühlt sich der fünfzehnjährige Bücherwurm Marko sehr alleingelassen. Zwangsläufig beschäftigte er sich viel mit Gott, in der Adoleszenz gewinnt natürlich auch die «Mädchenfrage» eine immer größere Bedeutung, seine wahre Leidenschaft aber sind die Bücher, die ihm dann auch über seine gelegentlichen Nihilismus-Anfälle hinweghelfen. Leitmotivisch zieht sich Robinson Crusoe durch die Erzählung, der ja, ebenfalls alleingelassen, ähnlich gefordert war wie Marko auf seiner einsamen Internats-Insel. Dort herrscht eine strenge Ordnung, die Zöglinge werden geschlagen und gedemütigt, die rigorose religiöse Erziehung ähnelt in ihren drastischen Methoden eher einer Gehirnwäsche als der einfühlsamen Vermittlung moralischer Werte. Neben den Büchern helfen ihm nicht nur seine Kumpels über all den Frust hinweg, vor allem auch sein Religionslehrer, Bruder Gregor, ist ihm ein Mentor und unermüdlicher, literarisch kompetenter Gesprächspartner, der so gar nicht in diese Knaben-Zuchtanstalt hineinpasst. Auch bei dem unkonventionellen Hausmeister ist Marko oft zu einem Plausch, und der lässt ihn das geheimnisvolle «Buch der Ordnungen» lesen, eine Art Internats-Almanach. Als Marko erfährt, dass seine in Köln lebenden Eltern sich getrennt haben, bricht eine Welt für ihn zusammen, auch den sicheren Hafen der Familie gibt es nun nicht mehr für ihn. Bis schließlich etwas Schreckliches passiert und Marko sich moralisch verpflichtet fühlt, die arglistig vertuschte, bittere Wahrheit ans Licht zu bringen.

Paul Ingendaay hat für seinen in den 1970er Jahren angesiedelten Roman, der ja an die Internats-Geschichten von Hesse oder Musil erinnert, eine eigene Sprache gefunden, in der er seinen rebellischen Ich-Erzähler und Protagonisten reden lässt, ein konsequent durchgehaltener Jugend-Slang, wie er ähnlich auch bei Salinger zu finden ist. Vor allem aber die oft absurd komischen Gedankengänge des Helden unterscheiden den Roman von seinen großen Vorbildern und machen ihn zu einer unterhaltsamen Lektüre. Dem stehen gleichwertig allerdings ebenso viele kontemplative Abschnitte zu philosophischen Fragen gegenüber. Die werden neben vielen Bibelzitaten auch mit Zitaten von Kierkegaard bis Seneca untermauert und in funkelnden Dialogen erörtert. Der aufgeweckte und belesene Marko erweist sich dabei nicht nur als rhetorisch gewandt, er spricht gelegentlich auch den Leser direkt an und benutzt dabei oft spöttisch einen predigtartigen Ton. Er und viele der originellen Romanfiguren wirken sympathisch, und sogar der eine oder andere bigotte Erzieher zeigt manchmal, dass er eine versteckte menschliche Seite hat. Aber das bleibt die Ausnahme! «Gewalt gehört zur katholischen Kirche wie Hostie und Weihrauch» heißt es im Roman, und das ist letztendlich auch hier die bittere Erkenntnis.

Neben einem wenig dramatischen, aber stimmig bis zum Ende anhaltenden Spannungs-Bogen überzeugt dieser Roman vor allem mit seiner anschaulich beschriebenen Internats-Atmosphäre. Zu der gehören auch die Zumutungen der «Schädelstätte», wie die Zöglinge die grottenschlechte Internatsküche in ihrem Jargon verächtlich bezeichnen. Es ist letztendlich dieser juvenile Jargon, der diesen astreinen Internats-Roman zu einer ebenso amüsanten wie bereichernden Lektüre mit einigem gedanklichen Tiefgang macht. Ein deutlicher Wehrmutstropfen ist dabei allerdings seine schiere Länge, zweihundert Seiten weniger wäre mehr gewesen!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Der blinde Mörder

Ambivalente Familiensaga

Die im englischsprachigen Raum vielfach geehrte, kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood hat für den Roman «Der blinde Mörder» im Jahre 2000 ihren ersten Booker Prize erhalten. Im Jahre 2019 erhielt sie dann ihren zweiten, sie gehört damit zu den vier Autoren, die ihn zweimal verliehen bekamen. Obwohl also hochgeehrt im englischen Sprachraum, ist die Rezeption im deutschen eher verhalten, insbesondere das Feuilleton zeigt sich hier skeptisch. Warum eigentlich?

Wie immer bei Atwood stehen in dieser drei Generationen umfassenden Geschichte die Frauen und ihre Rolle in der Gesellschaft im Mittelpunkt. In Rückblenden erzählt die 84jährige Iris als Ich-Erzählerin, wie sie und ihre jüngere Schwester Laura in den 1930er Jahren als wohlbehütete Töchter eines erfolgreichen Fabrikanten in Ontario aufwachsen. Als in der Depression die Firma an den Rand des Ruins gerät, heiratet Iris auf Druck des Vaters den neureichen Geschäftsmann Richard. Die fünfzehnjährige, als schwierig geltende Laura hat derweil eine heimliche Affäre mit Alex, einem gesuchten kommunistischen Aktivisten, dem eine Brandstiftung angelastet wird. Aber auch Iris verfällt ihm sexuell. Er lebt im Untergrund und zieht später mit einer kanadischen Brigade in den Krieg. Gegen Kriegsende fällt er, und als Laura erfährt, dass er auch mit Iris ein Verhältnis hatte, bringt sie sich um. Die schon einige Zeit getrennt von ihrem Mann lebende Iris entdeckt ein skandalträchtiges Roman-Manuskript von Laura mit dem Titel «Der blinde Mörder». Darin wird auktorial und mit namenlosen Figuren sehr freimütig von ihrer skandalösen Affäre erzählt, die hier als zweite Erzählebene eingeflochten ist. Nicht genug damit, ist in dieser Binnen-Geschichte eine weitere enthalten, in der Alex nach dem Sex der Geliebten Teile seiner dystopischen Story erzählt, mit Frauen in einer grotesk untergeordneten Sklavenrolle, er hält sich damit finanziell über Wasser. Ergänzend werden für die politischen Hintergründe und gesellschaftlichen Ereignisse immer wieder fiktive Zeitungs-Meldungen eingefügt, die dem Erzählten einen authentischen Touch verleihen. Das Ganze ist das handgeschriebene Manuskript von Iris, die 1999 stirbt. Sie wendet sich damit direkt an ihre in der Welt herumgeisternde Enkelin, um ihr all ihre Erinnerungen nun eben in Schriftform zu hinterlassen, wenn sie ihr schon nicht persönlich davon erzählen kann.

Mit ihrer kunstvoll verschachtelten Erzähl-Struktur breitet die Autorin in diesem Roman das üppige Panorama einer tragischen Familien-Geschichte vor dem Leser aus, angereichert mit einem interessanten sozialen und historischen Hintergrund. Gleichzeitig ist diese Saga vom allmählichen Niedergang einer einst stolzen, reichen und glücklichen Familie auch ein opulentes Sittenbild des zwanzigsten Jahrhunderts, das motivisch unwillkürlich an Thomas Mann erinnert. Der Roman ist überfrachtet mit Nebensächlichem, man weiß als Leser genau, dass die Zigaretten in einer silbernen Schatulle im Wohnzimmer verwahrt werden, weil man es gefühlt hundert Mal gelesen hat. Für männliche Leser fast unerträglich sind die ausufernden Schilderungen der Garderobe aller weiblichen Figuren, ihr Seelenleben wird hingegen sträflich vernachlässigt. Besonders die Ich-Erzählerin Iris bleibt als Mensch farblos, eine blutleere Figur ohne nennenswerte Entwicklung, und das über Jahrzehnte hinweg.

Beeindruckend jedoch ist die funkelnde Sprache, in der hier erzählt wird, angereichert mit stimmigen Metaphern und wunderbar schwarzem Humor, der besonders in der Rahmen-Geschichte der betagten Iris mit sarkastischen Anmerkungen überzeugt. Die für klare Worte bekannte Autorin spart auch nicht mit harscher gesellschaftlicher Kritik, so wenn sie zum Beispiel vom protzigen abstrakten Gemälde eines Neureichen spricht, «zusammengesetzt aus kostspieligen bunten Klecksen». Da verzeiht man dieser ambivalenten, aber auch unterhaltsamen Familiensaga dann gern ihre unübersehbaren, kleinen Schwächen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Der schmale Pfad durchs Hinterland

Beklemmende Lektüre

Für den Roman «Der schmale Pfad durchs Hinterland» erhielt der tasmanische Schriftsteller Richard Flanagan 2014 den britischen Booker Prize. Inhaltlich stützt sich die Geschichte auf Erlebnisse seines Vaters, der im Zweiten Weltkrieg als Kriegsgefangener in einem japanischen Arbeitslager beim Bau der ‹Todeseisenbahn› quer durch den Dschungel von Thailand und Burma eingesetzt war. Damit greift er eine Thematik auf, die weltweit durch die Verfilmung von Pierre Boulles Roman «Die Brücke am Kwai» bekannt geworden ist.

Held des Romans ist Dorrigo Evans, ein vielversprechender junger Chirurg, der sich zum Militär gemeldet hatte und von den Japanern nun als Lagerarzt an der Bahnstrecke einsetzt wird. Unter unmenschlichen Bedingungen schuften dort mehr als tausend Gefangene an einem Teilstück der vom Kaiser höchstpersönlich angeordneten, militärisch wichtigen Nachschublinie, die in ihrer Dimension einem ‹Pharaonenprojekt› gleicht. Die Soldaten der Alliierten stoßen dabei auf einen japanischen Patriotismus, bei dem Gefangenschaft als schändliche Schwäche gilt. Eine fanatische Denkweise, denn ein Soldat ergibt sich nicht, er kämpft für seinen Kaiser bis zum ehrenvollen Tod. Was da im Urwald passiert, verhöhnt die Genfer Konvention, die Gefangenen werden wie Vieh behandelt. Sie sind in einem erbärmlichen Zustand, die Cholera bricht aus, sie sterben wie die Fliegen. Ihr baldiger Tod ist absehbar für den Lagerarzt, mangels Medikamenten und medizinischen Instrumenten kann er ihnen aber auch kaum helfen. Gleichwohl muss er sie als arbeitsfähig einteilen, um die vom Kommandanten jeweils geforderte Zahl von Arbeitskräften bereitzustellen, auch Schwerkranke sind dabei. Jeder tote Gefangene ist nämlich ein guter Toter für die Japaner, sein Leben ist rein gar nichts wert, sein Tod erlöst ihn vielmehr von seiner Schmach.

Eingebettet in diese später als Kriegsverbrechen geahndeten Gräuel ist eine tragische Liebesgeschichte, die sich wie ein roter Faden durch das Leben von Dorrigo zieht. Obwohl er verlobt war, hatte er sich kurz vor seinem Kriegseinsatz unsterblich in Amy, die junge Frau seines Onkels verliebt, für Beide die Liebe ihres Lebens. Während der Gefangenschaft erhält er einen Brief von seiner Verlobten Ella, die ihm einen Zeitungsausschnitt mitschickt, aus dem hervorgeht, dass Amy bei einer Gasexplosion im Hotel seines Onkels ums Leben kam, man hatte sie anhand des Gebisses identifiziert. Am Ende kommt es zu einer Katharsis, die in ihrer berührenden Tragik an große antiken Dramen erinnert. Weite Teile des auktorial erzählten Romans widmen sich jedoch den unsäglichen Verhältnissen, unter denen der Arzt und die Gefangenen dahinvegetieren. Angesichts der ausufernd und detailliert geschilderten, sadistischen Gräueltaten und der jede Vorstellungskraft sprengenden, unbehandelt bleibenden Verletzungen sind starke Nerven erforderlich beim Leser, wenn er nicht gerade zu den abgehärteten Fans von Horrorgeschichten gehört.

Nach dem Krieg macht der als Held verehrte Dorrigo eine glänzende medizinische Karriere, der Roman beginnt mit den Erinnerungen des nunmehr 77jährigen Witwers. Die erweisen sich jedoch oft als lückenhaft und unsicher. Voller Empathie und weit ausgreifend werden in diversen Episoden menschliche Schicksale aus dem Gefangenenlager geschildert. Aber auch über das weitere Leben des sadistischen Kommandanten und seiner brutalen Mittäter nach Kriegsende wird berichtet. Die Schlüsselfrage, die dieser Roman stellt, richtet sich auf den Sinn des Überlebens in Anbetracht der Schuld, die man dabei auf sich geladen hat. Im Interview betonte Flanagan, «dass Hoffnung der Antrieb des Lebens ist», und fügte hinzu, «für einen Geschichtenerzähler ist die größte Hoffnung die Liebe». Er interpretiert sein Buch als Liebesroman, für den er leitsymbolisch eine rote Blume einsetzt. Wie auch immer, diese beklemmende Lektüre dürfte als virtuos erzähltes Wechselbad zwischen schlimmstem Gräuel und ewiger Liebe lange nachwirken.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Wetter

Ebenso scharfsinnig wie amüsant

Der neue Roman der im eigenen Land hoch gelobten amerikanischen Schriftstellerin Jenny Offill, an dem sie sieben Jahre lang geschrieben hat, deutet mit seinem Titel «Wetter» schon seine Thematik an. Denn Wetter ist die gegenwärtige Form des langfristigen Phänomens Klima, ein Reizthema also, hinter dem ein Schreckens-Szenario lauert. Analog dazu behandelt die Autorin in ihrem Buch die nicht weniger bedrohliche soziale Wetterlage in den USA. Und so ist denn dieser Roman eine breit angelegte Gegenwarts-Analyse der amerikanischen Gesellschaft unter Trump, mit all ihren Psychosen und apokalyptischen Ängsten, die Phänomene wie die Prepper-Bewegung erzeugen oder den vielen obskuren Sekten immer neue Mitglieder zutreiben.

Als Ich-Erzählerin lässt sich die Studien-Abbrecherin und als Universitäts-Bibliothekarin arbeitende Lizzie von ihrer langjährigen Mentorin engagieren, die tägliche Flut von Fanpost zum erfolgreichen Podcast der prominenten Umweltaktivistin zu bearbeiten und sie als Assistentin zu Vorträgen zu begleiten. Unter dem Titel «Hölle und Hochwasser» werden von ihr Themen wie der offensichtlich unabwendbare Klimawandel, die ständig wachsende soziale Schieflage, die zunehmend bedrohlicher empfundene Überfremdung, aber auch der ganz alltägliche Wahnsinn behandelt. Neben diesem aufreibenden Job wird Lizzie in der Bibliothek gemobbt und muss sich mit den wunderlichsten Besuchern herumschlagen. Sie ist aber auch als Mutter eines aufmüpfigen Sohnes, als vernachlässigte Ehefrau eines erfolglosen, promovierten Philosophen und als besorgte Schwester eines ehemaligen Junkies voll gefordert. Als ihr Mann mit dem Sohn zu einem dreiwöchigen Urlaub nach Kalifornien fährt, lernt Lizzie einen Kriegsreporter kennen, von dem sie sich in ihren diffusen Ängsten erhofft, er könne ihr helfen, sich auf den ‹Ernstfall› vorzubereiten. «Er sagt, es fühle sich so an wie kurz bevor es losgeht», bemerkt die von der apokalyptischen Stimmung infizierte Frau dazu. «Das ist abartig, aber man lernt, darauf zu reagieren», ergänzt sie. Äußerst sensibel reagiert sie auf ihre Umgebung, registriert verborgene Signale, versucht sogar, mit ihrem Hund telepathische Verbindung aufzunehmen. Ihr eher burschikoses Auftreten verdeckt ihre innere Zerrissenheit, kaschiert ihre ständige Angst vor dem, was da kommen mag.

Dabei benutzt Jenny Offill verschiedenste Formen, von prägnant formulierten, analytisch klugen Kurztexten aus Erinnerungen, Aktuellem und Beobachtungen über typografisch als Kasten abgesetzte Frage/Antwort-Einblendungen bis hin zu profanen Witzen. Durch diese Kürze wolle sie Schweres und Leichtes gleichwertig neben einander stellen, hat die New Yorker Autorin dazu angemerkt. Sie verwendet stimmige Metaphern, beispielsweise wenn sie das zeitlich limitierte Leben als zunehmend auswegloser beschreibt, «so wie der Fluss auf die Niagarafälle zuschießt». An anderer Stelle zitiert sie die Bedenken eines Psychologen bei der Einführung der Elektrizität dahingehend, «junge Leute könnten ihr Verhältnis zur Abenddämmerung und deren kontemplativen Eigenschaften verlieren». Die paranoiden Gegenwarts-Konflikte ihrer polarisierten Nation bringt sie zum Ausdruck, wenn sie über den nationalen Waffenwahn schreibt: «Man kommt nicht mal in die Nachrichten, wenn man weniger als drei Leute erschießt».

Betont lässig erzählt, unverkennbar lakonisch, zudem schonungslos offen, aber auch warmherzig und oft witzig wird hier ein kollektives nationales Unterbewusstsein scharfsinnig entlarvt. Der stilistische Mix aus Bitter-Ernstem und Locker-Amüsantem lässt diese Analyse US-amerikanischer Befindlichkeit ziemlich uneindeutig erscheinen. Es ist jedoch die absolute Gegenwärtigkeit dieses Romans, die ihn gleichwohl so authentisch erscheinen lässt. Die sogar einiges an Identifikations-Potential für den Leser bietet, der hier durch die permanente Aneinanderreihung von unterschiedlichsten Denkmustern zu eigenem Weiterdenken angeregt wird.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung

WikiLeaks-Gründer Julian Assange ist einer der bekanntesten politischen Gefangenen unserer Zeit. Seit elf Jahren interniert, feiert er am 3. Juli 2021 als »Untersuchungsgefangener« seinen 50. Geburtstag im britischen Hochsicherheitsgefängnis. Wer sich näher mit der Geschichte seiner Verfolgung befassen möchte, liest den spektakulären Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter, Nils Melzer, der jetzt in Buchform vorliegt. Weiterlesen


Genre: Politik und Gesellschaft, Sachbuch
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Ingrid Caven

Ein Lächeln

Als ‹Callas des europäischen Kabaretts› wurde Ingrid Fassbinder bezeichnet, die unter dem Künstlernamen «Ingrid Caven» als Schauspielerin und Sängerin in dem Roman gleichen Namens von Jean-Jacques Schuhl im Mittelpunkt steht. Der bis dato kaum bekannte, französische Schriftsteller, der vierundzwanzig Jahre lang kein Buch mehr veröffentlicht hatte, landete mit dem Roman über die Frau, mit der er seit Jahrzehnten zusammenlebt, einen Riesenerfolg, das Buch bekam den Prix Goncourt 2000. Es sind viele Geschichten, die in diesem Roman erzählt werden, nicht nur die einer in Frankreich überaus erfolgreichen, an Marlene Dietrich erinnernden Diseuse, sondern auch die von Fassbinder, Yves Saint Laurent und unzähligen anderen Prominenten aus Kunst und Kultur.

Ingrid hat am Heiligabend 1943 schon als Vierjährige ihren ersten Bühnen-Auftritt, als Sängerin von Weihnachts-Liedern vor Soldaten der Wehrmacht. Im Hause ihres Großvaters gab es, wie sie sich erinnert, «Musik in allen Stockwerken», die Familie war musikalisch geprägt. Als sie an die Musik-Hochschule nach München geht, wird sie von Rainer Werner Fassbinder entdeckt, macht mehrere Filme mit ihm und heiratet ihn 1970. Die Ehe mit dem homosexuellen Filmemacher wurde nach zwei Jahren wieder geschieden, 1978 ging sie dann nach Paris und begann dort eine zweite, sehr erfolgreiche Karriere als Chanson-Sängerin. Ihr Lebenspartner dort ist der Autor selbst, der in seinem Roman in der dritten Person als Charles auftritt und abwechselnd mit seiner als Ich-Erzählerin fungierenden Protagonistin deren Leben schildert. Das geschieht weder in chronologischer Folge noch einigermaßen vollständig, sondern bruchstückhaft, ganze Lebensbereiche werden ausgeblendet. Dafür ist das Erzählte reichlich mit peripheren politischen Ereignissen, dem Kunstgeschehen in aller Welt, mit Klatsch und Tratsch über Prominente aus der internationalen Presse angereichert.

Jean-Jacques Schuhl beschäftigt sich intensiv mit der Bühnenwirkung dieser Künstlerin. Deren Präsenz im Rampenlicht, deren ebenso subtile wie zwingende Bühnensprache ist durch eine nur ihr eigene, für sie typische Gestik geprägt. Gleiches gilt für ihre vielseitige Gesangskunst, die vom trivialen Schlager bis zur avantgardistischen Musik eines Arnold Schönberg einen weiten Bogen umfasst. Seine literarisch als Collage angelegte Huldigung gibt dem Autor jedoch immer wieder Rätsel auf. Ingrid Caven wird in Frankreich als würdige Nachfolgerin von Marlene Dietrich angesehen, obwohl ihr nicht die großen Posen der Diva zu eigen sind. Sie erscheint im Gegenteil völlig unprätentiös und ist eher für ihre strenge Disziplin als Künstlerin bekannt. Bei der Ausschmückung dieser Lebensgeschichte kommt der Autor oft gehörig vom Wege ab und verliert sich im Anekdotischen. Er bereichert damit allerdings seine Geschichte auch mit viel Zeitkolorit und gestaltet sie fast schon wie eine künstlerische und gesellschaftliche Odyssee. Neben München und Paris ist es vor allem New York, wo sich das Paar häufig aufhält, Ingrid ihre Auftritte hat und sie beide auf großem Fuß leben.

Neben vielen kontemplativen Einschüben erfreut der Roman durch eine reichhaltige Intertextualität, da kommt dem Leser plötzlich schon mal Leopold Bloom entgegen. Es gibt aber auch viele Alltagssprüche, Redensarten, Kinderlieder und Songtexte in Englisch und Französisch, die dieser unaufgeregt und diskret erzählten Geschichte Authentizität verleihen. Er habe sich für unfähig gehalten, «die Magie dieses Musik gewordenen Körpers» in Worte zu fassen, hat der Autor bescheiden angemerkt. Besonders berührend ist gegen Ende ein rätselhaftes Blatt Papier, das neben Fassbinders Leiche gefunden wurde. Auf dem hatte er handschriftlich das Leben von Ingrid Caven, über den Tag hinaus bis zu ihrem Tod, stichwortartig aufgeschrieben. Der letzte Punkt lautet: «Streit Schlägerei Liebe Hass Glück Tränen Tabletten Tod + ein Lächeln». Es kam anders, sie tritt bis in jüngste Zeit immer noch auf!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Verirrungen

Impressionistisch hingetupft

Der 1895 erschienene Roman des schwedischen Schriftstellers Hjalmar Söderberg erschien unter dem Titel «Verirrungen» 2006 in neuer deutscher Übersetzung. Er gehört zu dem Mitte des 19ten Jahrhunderts von Edgar Allen Poe begründeten Genre des Flaneur-Romans und löste im prüden Fin de Siècle einen Skandal aus als «eine der unkeuschesten Hervorbringungen» der schwedischen Literatur, wie es in dem berühmten Verriss von Harald Molander hieß. Er sprach von «Dekadenzformen der niedrigeren Triebe des Menschen, ungezügelt, aber doch gleichzeitig ohnmächtig, Leidenschaften von wirklicher Intensität zu gebären».

Der Flaneur dieses Romans heißt Tomas, zwanzig Jahre alt, angehender Arzt, aus gutem Hause stammend, ein charmanter Tunichtgut mit Erfolg bei den Frauen, sein Flanierareal liegt im Herzen Stockholms. Gleich zu Beginn begegnen wir ihm nach dem Kauf roter Handschuhe, eine Alibihandlung, denn in Wirklichkeit geht es ihm um die nette Verkäuferin in dem Handschuh-Laden, die er bezaubernd findet. Bei einem Dinner trifft er wenig später die Gymnasiastin Märta, in die er schon länger verliebt ist und die er sich als seine künftige Frau vorstellen könnte. Söderberg nutzt das Dinner sehr geschickt für eine scharfsichtige Analyse der damaligen Stockholmer Bourgeoisie mit allen ihren Brüchen, wobei der Seelenzustand seiner Figuren hier nicht psychologisch analysiert wird, sondern sich allein durch ihr Handeln und ihre Äußerungen offenbart. Beide Mädchen erliegen schon bald dem Charme von Tomas. Neben der Liebe ist auch permanenter Geldmangel ein vordringliches Thema, der Vater von Tomas hält ihn eher knapp. Sein dekadentes Lotterleben aber ist teuer, und so gerät er schließlich in die Fänge eines Wucherers, mit dessen Hilfe er naiv seine diversen Schulden loszuwerden hofft.

Diese motivischen Verknüpfungen sind mit feiner Ironie und ganz ohne Pathos kühl und distanziert in einen Plot eingewoben, der erst ab der Mitte ein Minimum an Spannung erhält. Weite Strecken des Romans sind nämlich durch minutiöse Schilderungen dessen bestimmt, was Tomas als Flaneur auf seinen Streifzügen durch immer die gleichen Straßen an immer den gleichen Orten erlebt. Insoweit ist diese Hommage für das literarische Genre typisch, Stockholm-Kenner werden ihre helle Freude daran haben, ist doch diese Metropole von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs verschont geblieben und strahlt noch den Charme vergangener Epochen aus. Mit feinem Gespür für Details schildert Hjalmar Söderberg ebenso eindringlich immer wieder die Natur und benutzt gekonnt das Wetter als stimmungsmäßige Grundierung des Geschehens, ohne dabei je in naturalistische Schwärmerei abzugleiten.

Dieser die verlogenen Konventionen einer dekadenten bürgerlichen Gesellschaft anprangernde Roman gehört heute zu den Klassikern der schwedischen Literatur. Sprachlich federleicht werden die titelgebenden «Verirrungen» des antriebslosen Protagonisten realistisch und nüchtern geschildert, ohne moralistische Wertung also. Als Tagträumer irrt Tomas so lange unentschieden zwischen den beiden Mädchen hin und her, bis ihm das Heft des Handelns endgültig entglitten ist. Er wird als ein Getriebener und Gefangener gleichzeitig dargestellt, der sich zuweilen elegisch selbst bedauert, dann aber auch wieder lebensfroh neuen Mut schöpft. Der Autor arbeitet in seinem klug anlegten Plot mit allerlei Leitmotivik und Farbsymbolik, mit raffiniert eingebauten, insignifikant erscheinenden Szenen wie dem taumelnden Hochzeitsflug zweier Schmetterlinge oder andere nebensächliche Beobachtungen, die seine Motive gleichwohl vorausdeuten oder begleitend illustrieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die im Dinner-Kapitel vage angedeutete Verbundenheit zwischen der Mutter von Tomas und dem Konsul, der am Ende dann plötzlich auftaucht und kommentarlos die Schulden des Hallodris begleicht. Derart impressionistisch hingetupften Kontext übersieht man leicht, man sollte sich also Zeit lassen zur genüsslichen Lektüre.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München