Tar Baby

Auf der Suche nach Identität

Der vierte Roman der amerikanischen Schriftstellerin Toni Morrison mit dem Titel «Tar Baby» ist in der aktuellen deutschen Ausgabe mit einem Vorwort der Autorin ergänzt worden. Darin schildert die erste farbige Nobelpreisträgerin die familiären Umstände, die sie dazu gebracht hätten, dieses Buch zu schreiben. Auslöser war demnach eine uralte Geschichte aus Afrika von einer Puppe aus Teer, die den Gruß eines Kaninchens nicht erwidert hat. Als das Kaninchen die Puppe wütend tritt, bleibt es an dem klebrigen Teer hängen und kann sich nicht mehr davon befreien. Dieses Teerbaby ist für die Autorin das Sinnbild einer toughen, schwarzen Frau, die sich nicht unterkriegen lässt, wie sie im Interview erklärt hat.

Im ersten von zehn Kapiteln wird die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht erzählt, die einen farbigen Seemann auf eine abgelegene Karibikinsel verschlägt. Son ist von einem vorbeifahrenden Schiff gesprungen und wäre beim Schwimmen an Land beinahe ertrunken. Unterschlupf findet er in einem einsam gelegenen Haus, in das er sich nachts einschleicht. Wobei er beinahe erwischt worden wäre, er konnte sich gerade noch in die Kleiderkammer der Hausherrin retten. Der mehr als siebzigjährige Valerian Street hat vor Jahren seine Bonbonfabrik in Amerika verkauft und sich mit Margaret, seiner deutlich jüngeren Frau, in ein großes, feudales Landhaus zurückgezogen, sein karibisches Refugium. Betreut wird das weiße Ehepaar von dem farbigen Butler Sydney und dessen Frau, die als Köchin fungiert. Als die Hausherrin überraschend auf Son stößt und schreiend um Hilfe ruft, will Sydney den Eindringling auf der Stelle erschießen, wird in letzter Sekunde aber vom Hausherrn daran gehindert. Der lädt den Farbigen vielmehr zu einem Drink ein und bietet ihm schließlich sogar großzügig auch noch Unterkunft an.

Im Haus wohnt besuchsweise seit einigen Monaten auch Jadine, die 25jährige, ebenfalls farbige Nichte des Butler-Ehepaares. Sie wurde nach der Schule vom Hausherrn gefördert, er hat ihr ein Studium als Kunsthistorikerin in Paris finanziert, das sie inzwischen erfolgreich abgeschlossen hat. In Paris wurde die äußerst attraktive junge Frau als farbiges Model entdeckt und hat sich deshalb entschlossen, zunächst nicht als Dozentin an der Universität zu bleiben. Sie ist stattdessen nach New York gegangen, um dort als gut bezahltes Model zu arbeiten. Nach anfänglichem Streit kommen sie und der Eindringling Son sich schnell näher und haben bald schon rauschhaften Sex miteinander. Er erzählt ihr schließlich sogar den kriminell bedingten Grund für seine Flucht aus den USA. Es ist kurz vor Weinachten, der erwachsene Sohn der Streets wird sehnsüchtig erwartet. Wegen widriger Wetterverhältnisse sind aber kurzfristig alle Flüge gestrichen worden, und auch andere Gäste müssen absagen. So sitzen schließlich nur die Streets, das Butlerehepaar sowie Jadine und Son beim Festschmaus am Esstisch zusammen, wo der traditionelle Truthahn aber ausnahmsweise diesmal durch eine Gans ersetzt ist. Es kommt zum Eklat, als gesprächsweise durch die Köchin, die für den einzigen Sohn wie eine zweite Mutter war, angedeutet wird, dass Mrs. Street ihn als Baby und Kleinkind mit Nadeln gestochen und ihm sogar Brandwunden zugefügt hat. Überstürzt reisen Jadine und Son nach New York ab.

In Person der auf einem derart speziellen Gebiet wie der Mode erfolgreichen, schwarzen Protagonistin  kumulieren die unterschwellig vorhandenen, rassistischen Töne, die der Plot thematisiert und der Buchtitel symbolisiert. Sie fühlt sich von den konventionellen Vorstellungen und sozialen Bedingtheiten anderer farbiger Frauen bedrängt. Und auch die heiße Affäre mit Son scheitert schließlich an derartigen rassisch geprägten, konträren Lebens-Einstellungen und -Bedingungen. Nicht nur die Farbigen in diesem Roman befinden sich auf der Suche nach ihrer Identität, alle müssen sich letztendlich fragen, ob sie denn wirklich authentisch handeln. Stilistisch überzeugend ist die poetische Sprache der Autorin, mit der sie – auch in kontemplativen Dialogen – starke Bilder erzeugt beim Lesen ihrer extrem breit angelegten, interessanten Rassismus-Story.

Fazit:  erfreulich

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Genre: Roman
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Cabo de Gata

Magerer Plot und stilistisches Können

Mit dem Roman «Cabo de Gata», der eher als eine zielgerichtete Novelle anzusehen ist, hat Eugen Ruge ein autobiografisches Buch geschrieben, in dessen Widmung geschrieben steht: «Diese Geschichte habe ich erfunden, um zu erzählen, wie es war». Und so beginnen denn auch beinahe alle Sätze der Novelle mit den Worte «Ich erinnere mich». Ein angehender Schriftsteller (sic) mit Schreib-Blockade berichtet darin von seinem Selbstfindungstrip. Der namenlos bleibende Ich-Erzähler, der nach der Scheidung von seiner Frau in einer tiefen Sinnkrise steckt, schildert darin eine spontane Reise in den Süden, die ein Ausbruch aus seinem bisherigen Leben darstellt. Er will in der Einsamkeit eines fremden Ortes völlig ungestört einen Roman schreiben.

In dem Wahn, sich von allen Fesseln zu befreien, geht der Vierzigjährige so weit, seine bescheidene Wohnung zu kündigen, alle Möbel zu verkaufen oder zu verschenken, alle Zahlungen zu stoppen und dann sein schmales Konto vollends leer zu räumen. Er reist mit kleinem Gepäck, alles hinter sich lassend, mit einigen kurzen Zwischenstopps und ohne konkretes Ziel Richtung Mittelmeer. Erst unterwegs wird er mit Hilfe eines Reiseführers auf den Naturpark im Süden Spaniens aufmerksam und landet kurz entschlossen, nach beschwerlicher Anreise mit einem klapperigen Bus, von Almeria kommend, im titelgebenden Naturpark «Cabo de Gata». Dort sucht er in einem kleinen Fischerdorf ein bescheidenes Quartier, was sich als ziemlich schwierig erweist, weil diese Gegend touristisch noch völlig unerschlossen ist. Das merkt er daran, dass der kleine Ort und auch sein Strand total vermüllt sind, was allerdings dort niemanden zu stören scheint. Schließlich kommt er als einsamer Gast in der Pension einer alten Witwe unter, deren Mann Fischer war. Die Tochter, deren gewaltiges Hinterteil immer wieder seinen Blick anzieht, ist ebenfalls mit einem Fischer verheiratet und arbeitet bei der Mutter als Bedienung. Die Wirtin, aber auch die anderen Dorfbewohner, sind äußerst wortkarg, sogar die Tochter spricht kein Wort mit ihm und knallt ihm mittags nur wortlos sein Essen auf den Tisch.

Die Landschaft ist öde, es weht ein kalter Wind, die Bewohner sind ausgesprochen unfreundlich, gleichwohl beschließt der Ich-Erzähler, dort zu bleiben. Er kämpft mit seinen Notizen, die er vormittags aufschreibt und meist am Nachmittag schon wieder verwirft, sein Romanprojekt kommt nicht von der Stelle. Dabei geht es ihm wie den drei Fischern, Söhne seiner Wirtin, die er oft beobachtet bei seinen Spaziergängen am Strand. Die rufen ihm dann immer zu: «Mucho trabajo, poco pescado», – viel Arbeit, wenig Fisch! Zu den auffallend wenigen Figuren der Erzählung gehören auch zwei Kurzzeit-Touristen, ein Engländer und ein Amerikaner. Außerdem einige Sonderlinge aus dem Ort, die er beobachtet: Zwei Männer in Schlafanzügen, die jeden Morgen vor ihre Haustür treten, eine Frau mit Gipsbein, die dann irgendwann keines mehr hat, sowie ein wortkarger Barmann. Zuletzt freundet er sich dann mit einer rot getigerten, scheuen Katze an, die er langsam an sich gewöhnt, indem er sie füttert. Er sieht in ihr die Inkarnation seiner Mutter, die ihm mit ihrer Anwesenheit etwas sagen will, davon ist er überzeugt. Dass er vergebens hier sei, der Erfolg mit seinem Buch würde sich nämlich von selbst einstellen, «sobald die Welt aufgehört hat, mich durch Wandel zu stören». Er bleibt 123 Tage in Gabo de Gata, bis er schließlich einen im flachen Wasser sterbenden Rochen beobachtet und spontan abreist.

Mit dem Vorhaben, für sein Buch aus nichts als aus Erinnerungen zu schöpfen, nutzt Eugen Ruge bewusst die Schwächen des Gedächtnisses und gibt absonderlichen Assoziationen und irrealen Zusammenhängen einen breiten Raum. Damit bezweckt er, zu einer anderen, zu einer ‹poetischen› Wahrheit zu gelangen. Das mag über den langweiligen, äußerst mageren Plot hinweg täuschen, was hier allein durch stilistisches Können ein wenig kompensiert wird. Ob das denn reicht, muss letztendlich jeder Leser für sich allein beantworten!

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
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Sister Europe

Parodie auf den Literaturbetrieb

Mit «Sister Europe» hat die US-amerikanische Schriftstellerin Nell Zink einen literarisch unkonventionellen Roman vorgelegt, in dem sie grundverschiedene, skurrile Figuren in einer einzigen regnerischen und kalten Nacht ungebremst aufeinander treffen lässt. Die  am 21. Februar 2013 spielende, originelle Geschichte einer ominösen, zufällig entstandenen Gemeinschaft «schräger Vögel» stellt eine auf hohem intellektuellem Niveau angesiedelte, subtile Gesellschafts-Kritik dar, die äußerst gewitzt vorgetragen wird. Als seit dem Jahr 2000 in Deutschland lebende Autorin hat Nell Zink ihrem in Berlin angesiedelten Roman viel Lokalkolorit beigegeben. Seine Handlung spielt sich im renommierten Hotel Intercontinental ab, Anlass ist die feierliche Verleihung eines Literaturpreises mit anschließendem Galadiner. Teilweise ist auch der nahe gelegene Tiergarten als großer Stadtpark Schauplatz des Geschehens.

Das illustre, zu Selbstinszenierungen neigende Figuren-Ensemble besteht aus dem Kunstkritiker Demian und seinem transsexuellen, 15jährigen Sohn Kilian. Der ist gerade dabei, eine «Nicole» zu werden, – oder vielleicht doch lieber nicht? Während der Vater Kilians Pläne ablehnt, was er sich aber nicht anmerken lässt, weil es «uncool» wäre, ist der Mutter die geplante Geschlechts-Umwandlung ihres Sohnes ziemlich egal. Ferner gehört Demians Freund Toto zum Personal des Romans, ein alternder Lebemann, und außerdem auch dessen deutlich jüngere Internet-Bekanntschaft Avancia, sie treffen sich dort zum ersten Mal. Mit von der Partie ist als Grande Dame auch noch die attraktive Livia, eine alte Freundin von Demian. Und auch deren imposanter Großpudel und verlässlicher Beschützer, der auf den Namen Mephisto hört, spielt nicht nur eine Nebenrolle in dem turbulenten Plot, denn sein Name deutet ja unverkennbar auf den Pudel in Goethes «Faust» hin. Geehrt wird an dem als Veranstaltung quälend langweiligen Abend der arabische Schriftsteller Masud, den kaum einer kennt.

Der Literaturpreis ist von der Witwe eines Emirs gestiftet, die sich bei der Feierstunde von ihrem Neffen Prinz Radi vertreten lässt. Sie hat auf ihre Einladungen enttäuschend wenige Rückmeldungen bekommen. Denn in ihren Kreisen jetten die Leute in der kalten Jahreszeit rund um die Welt, bloß ab ins Warme ist die Devise, – Umweltschutz und Klimawandel hin oder her! Sie bittet Demian deshalb, so viel wie möglich Leute aus seinem Bekanntenkreis mitzubringen, damit das offensichtliche Desinteresse an dem Preisträger nicht gar zu peinlich wird. Prinz Radi versucht dann prompt, mit der attraktiven Nicole anzubandeln, die schon vor dem geplanten medizinischen Eingriff äußerlich als junge Frau auftritt, geschminkt und aufreizend gekleidet. Sie will unbedingt ihre erste sexuelle Erfahrung als Frau machen. Prinz Radi jedoch zögert, – so weit will er denn doch nicht gehen!

Ein wesentliches Stilmittel der Autorin sind die glänzend formulierten, treffsicheren und  mitreißenden Dialoge, die vor allem durch kontemplative Einschübe und philosophische Erörterungen gekennzeichnet sind. Schwach dagegen sind die zu Selbstinszenierungen neigenden Figuren gezeichnet, verkrachte Existenzen allesamt, deren Wesensart weitgehend verborgen bleibt, man bekommt kaum einen Zugang zu ihnen. Gleichwohl tragen sie mit ihrem ausufernden Geplauder den ansonsten weitgehend ereignislosen Plot, der ziellos vor sich hintreibt. All das gibt dem üppig mäandernden Roman etwas zutiefst Trostloses! Aus den Kritiken der Feuilletons wie auch aus Leser-Kommentaren ergibt sich ein auffallend zwiespältiges Bild dieses ironisch erzählten Romans, der letztendlich nichts anderes ist als eine gelungene Parodie auf den aktuellen Literaturbetrieb.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
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Alles über Heather

Eine unerhörte Begebenheit

Das Debüt des bisher nur als Drehbuchautor bekannten, amerikanischen Autors Matthew Weiner unter dem Titel «Alles über Heather» wird als Roman verkauft. Es handelt sich bei dem vom Verlag mit allerlei Seiten schindenden Layout-Tricks auf gerade mal 131 Seiten gebrachten, schmalen Band aber eher um eine typische Novelle, nach Goethe also «eine sich ereignende, unerhörte Begebenheit». In einem kammerspielartigen Setting steuern eine dreiköpfige New Yorker Familie und ein Bauarbeiter auf eine Katastrophe hin, die in diesem 2017 erschienenen Buch ohne Umwege und Ausschmückungen äußerst zielstrebig erzählt wird.

Die fast vierzigjährige, in der PR-Branche tätige Karen lässt sich von ihren Freundinnen, nach einer geplatzten, siebenjährigen Liaison mit ihrem Kunstdozenten, zu einem Date mit Mark überreden, einem eher unscheinbaren Mann, der als Finanzanalyst beruflich sehr erfolgreich ist. Obwohl sie von einer Liebesheirat träumt, heiratet sie ihn aber in einer Art Torschluss-Panik, weil er ihr wenigstens ein finanziell abgesichertes Leben bieten kann. Mit der Geburt der Tochter Heather füllt sich durch die sofort spürbare, schiere Präsenz des Babys sehr schnell die emotionale Leere zwischen den Ehepartnern. Sie ist später auch im Kindesalter ein hübsches, bezauberndes Wesen voller Empathie, das alle unwiderstehlich in Bann zieht, die ihr begegnen. Für ihre Eltern ist sie ihr Ein und Alles, als typische Helikopter-Eltern behüten und umschwirren sie pausenlos ihre ebenso kluge wie liebenswerte Tochter. Karen geht ganz in ihrer Mutterrolle auf, sie ist fast schon symbiotisch mit ihr verbunden. Das ändert sich mit der Pubertät, als Heather auf die unterschwelligen Spannungen in der Ehe ihrer Eltern reagiert, sich aus der Umklammerung der Mutter löst und darauf besteht, wenigstens einmal in der Woche mit ihrem Vater allein etwas unternehmen zu können, – eine Zeit, die beide sehr genießen. Und Mark beobachtet dann immer eifersüchtig, wie die jungen Männer seiner schönen Tochter nachblicken, er will die inzwischen 14jährige Tochter unbedingt von allen Nachstellungen schützen.

In einer zweiten Handlungsebene erzählt der Autor von Bobby, dem verwahrlosten Sohn einer drogen-abhängigen, allein erziehenden Mutter, der als Heranwachsender versucht, ein Mädchen aus der Nachbarschaft zu vergewaltigen und sie dabei schwer verletzt. Hätte er sie umgebracht, lernt er im Gefängnis, hätte er ohne Spuren zu hinterlassen unerkannt entkommen können. Jahre später aus dem Gefängnis entlassen, zündet der Skinhead wütend das Haus seiner mal wieder sinnlos mit Rauschgift zugedröhnten Mutter an. Ein unerkannt bleibender Mord, dem weitere Mordphantasien folgen. Bobby arbeitet fortan als Hilfsarbeiter auf dem Bau, wo er auf Heather aufmerksam wird, die in dem Haus wohnt, dessen Penthaus von seiner Firma saniert wird Wütend beobachtet Mark, dass der junge Bauarbeiter immer wieder seiner attraktiven, halbwüchsigen Tochter nachstiert und sie offensichtlich taxiert, wenn sie an ihm vorbeiläuft. Als er eines Tages beobachtet, dass Heather sogar mal kurz mit ihm spricht, rastet er völlig aus und beschließt in seinen paranoid übersteigerten Befürchtungen, ihn umzubringen.

In einem furiosen Schluss kommt Karen ihrem Mann, dem sie zeitweise sogar inzestuöse Absichten unterstellt hat, wieder näher, – auch sexuell, wo seit langem eigentlich absolute ‹Funkstille› herrschte. Ausgangspunkt für den Autor, der schon immer davon geträumt habe, Romancier zu werden, war seine Beobachtung auf einer Baustelle, wie er im Interview erklärt hat. Dort habe ein Bauarbeiter ein Mädchen ungeniert angestarrt, und er habe sich gefragt, was wohl dessen Vater dazu sagen würde, wenn er das beobachtet hätte. Genau diese Beobachtung hat er in seiner Novelle ja dann auch thematisch umgesetzt. In einer flüssig lesbaren Sprache, zielgerichtet und ohne psychologische Tiefenbohrungen erzählt, gehört dieses spannende Buch zu der Sorte von Page Turnern, die man nicht mehr aus der Hand legt bis zum Ende, welches hier, soviel sei immerhin verraten, dann auch noch ziemlich überraschend ausfällt!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
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Single Moms Supper Club

Zeitgeist als Manko

Die britische Wahlberlinerin Jacinta Nandi hat mit «Single Mom Supper Club» schon vom kryptischen Titel her einen feministischen Roman vorgelegt, dessen offensichtlich kultbuchartige Ambitionen bereits nach wenigen Seiten deutlich werden. Dabei geht es um nichts weniger als um eine extrem vom Zeitgeist digitaler Medien gesteuerte, scharfzüngige Abrechnung mit Alltagsrassismus und um strukturell bedingte Frauenarmut als schreiende gesellschaftliche Ungleichheit. Die Autorin fährt ein üppiges Ensemble von weiblichen Figuren auf, die unverkennbar autobiografisch inspiriert sind. Bei allem kämpferischen Feminismus, der sich gegen den Müttermythos richtet und sich hier sehr vehement Bahn bricht, ist unverkennbar immer auch Ironie im Spiel, eine oft absurde Komik, – schwarzer Humor eben, ‹very british›.

Gleich zu Beginn werden die Figuren in Kurzform vorgestellt, die Frauen auch mit ihren wichtigsten Eigenschaften: Die Single Moms mit vier «normalen Müttern» und vier «Cocain Moms», dazu auch ihre insgesamt elf Kinder. «Die Kinder sind alle super» heißt es süffisant. Es folgen fünf Männer, Herr Müller, Ruben, der Verticker, der Betrüger und Jochen. Die vier Single Moms mit drei britischen Expats und Antje, einer Deutschen, die den Club gegründet hat, laden sich turnusmäßig gegenseitig zum Essen ein. Das gleiche machen auch die deutlich jüngeren Cocain Moms, die auf Instagram unterwegs sind und als «Momfluencerinnen» gelten. Bei ihnen steht trotz ihrer Jugend Botox hoch im Kurs, und bei ihren Treffen geht es nicht nur ums Essen, sondern auch ums Koksen, der «Verticker» ist ihr zuverlässiger Lieferant dafür. Als diese beiden disparaten Cliquen sich vereinen, führt das zwangsläufig zu einem veritablen Kulturschock.

Die Autorin hat im Interview zu ihren «Single Mom»-Figuren erklärt: «Alle sagen zu mir, wenn sie über das Buch sprechen, dass alle drei Engländerinnen eigentlich ich sind. Antje ist mein deutsches inneres Ich und die anderen Drei sind verschiedene Versionen von mir: die perfekte Feministin, die Schlampe und das traurige Opfer». Ihre Protagonistinnen sind allesamt ambivalent, keine ist nur Opfer, alle sind auch Täterinnen, sie erfahren Gewalt und üben selbst Gewalt aus. Und sie scheitern an strukturellen Grenzen ebenso wie an ihren ganz persönlichen. Irritierend ist, dass Jacinta Nandi ihren Roman als «Comedy» bezeichnet hat trotz all der ernsten, eher traurig machenden Themen, die sie darin aufgreift. Bittere Armut nämlich, häusliche Gewalt, latente Mordlust, sexuelle Übergriffe, Abtreibung, ja sogar Hass auf die eigenen Kinder. Für sie sei «Comedy» kein Grund, solche Themen nicht auch zu besprechen, hat die Autorin erklärt, sie habe kein Problem damit, Leicht und Schwer thematisch zu verbinden, gesellschaftliche Normen würden für sie dabei kein Hindernis darstellen. Sie beschreibt oft geradezu unbarmherzig, wie ihre Figuren sich gegenseitig beschimpfen oder sich, ganz unverblümt, als dumm oder hässlich bezeichnen, was durch ständige Wiederholung mit der Zeit allerdings ziemlich langweilig wird. Bei alldem wirkt ihr schwarzer Humor, der permanent die Grenzen austestet und sie manchmal leider auch deutlich überschreitet, gesellschaftlich entlarvend und für den Leser aufrüttelnd.

Bleibt also festzustellen, dass der sarkastische Humor in diesem feministischem Roman mit seiner ernsten Thematik nicht, wie man glauben mag, entlastend wirkt, sondern eher verunsichernd. Das Lachen bleibt einem oft buchstäblich im Halse stecken, so zum Beispiel bei einer witzig gemeinten Anmerkung zum Holocaust, und auch wenn sie Long Covid als Lifestyle hinstellt, kann man nur noch den Kopf schütteln. Sprachlich ist diese an Reality-TV erinnernde Groteske zudem in einem Social-Media-Jargon verfasst, der den Leser immer wieder mit Begriffen bombardiert, denen man so in seriösen Print- und Funk-Medien nicht begegnen wird, – allenfalls bei deren asozialer Internet-Konkurrenz. Damit erweist sich der den Roman tragende, überstrapazierte Zeitgeist zu einem weiteren, störenden Manko neben den erwähnten anderen!

Fazit:   miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Unverdiente Ungleichheit Wie der Weg aus der Erbengesellschaft gelingen kann

Im Klappentext steht die Frage: “Arbeitest Du noch, oder erbst Du schon?“ Und im Text dann die Aufforderung, sich die Eltern gut auszusuchen; zu wessen Narrativ passt das? Darum geht es hier, wenn die Geschichte der Erbschaftssteuer im letzten Jahrhundert bearbeitet wird. Wer erbt unter den derzeitigen Bedingungen am wenigsten: da sind Frauen, Ost-Deutsche, als Folge der Arbeit der Treuhand, die (treuhänderisch) nur 5% der Betriebe in die Hände Ost-Deutscher legte. Und wie wird das begründet?

Frau Lynartes ist eine Wirtschaftswissenschaftlerin, die ihre Forderungen wohl begründet, fünfzehn Seiten nehmen die Fußnoten ein, die Literatur noch mehr.

Erst wird in einer „kurzen“ Geschichte der deutschen Erbschaftssteuer, das RAN, das Repertoire an Narrativen beschrieben, und das während der verschiedenen Phasen der Wirtschaftsdoktrinen: der Keynesianer, Ordoliberalen und Neoliberalen. Es zeigt sich, wie die Pro- bzw. Contranarrative wechseln, entsprechend der jeweils gängigen Doktrin.

Alle Daten werden in gelungenen Abbildungen untermalt, Frau Lynartes dankt zu Recht zuerst der Zeichnerin, die sie schuf.

Dann folgt ein Kapitel mit Interviews, die sie mit über 20 führenden deutschen WirtschaftsbossInnen führte, natürlich gut anonymisiert.

Deren Narrative überraschen zum Teil, aber die meisten glauben Investitionen bei der Bildung der ärmeren Kinder seien das Wichtigste, um die immer größer werdend Unterschiede auszugleichen.

Seit ich dieses Buch lese, kann ich die Narrative unserer Politiker besser verstehen: Ein führender FDP-Vertreter sieht uns in der Leistungsgesellschaft (die muss sich wieder lohnen!) wobei er nicht das meint, was die FDP sich zum Schluss der Regierung, deren Teil sie war, geleistet hatten. Und wer schadet uns mehr? Steuerhinterzieher oder betrügerische Hartz4 Empfänger? Hier noch ein Foto!

Die Erbschaftssteuer würde die Eigner der Großbetriebe vertreiben: Ist das der Grund, warum führende CSU-Vertreter sich wünschen, dass Erbschaftsteuern Länder Sache werden?

Wer sich fundiert mit Wirtschaftswissenschaften auseinandersetzen möchte, sich aber an den Piketty nicht wagt, lernt viel, ohne sich belehrt zu fühlen.


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Rowohlt

Tatjana

Der vor allem in der Filmbranche als Drehbuch-Schreiber und Schauspieler bekannte Curt Goetz hat während seines Exils in den USA 1944 die Novelle «Tatjana» geschrieben. Die von ihm als «Eine Legende» bezeichnete Erzählung teilt mit dem gleichzeitig erschienenem, einzigen Roman aus seiner Feder das Motiv ‹älterer Mann liebt blutjunges Mädchen›. Zehn Jahre später ist, sicher nicht durch Zufall, «Lolita» von Vladimir Nabokov erschienen, der als großer Verehrer von Curt Goetz gilt und «Tatjana» gekannt haben dürfte. Neben dem Grundmotiv und der männlichen Erzählperspektive haben beide Erzählungen allerdings keine Gemeinsamkeiten. Lolita nämlich nutzt den frischgebackenen Ehemann ihrer Mutter schamlos aus, ohne ihn zu lieben, und verlässt ihn schließlich mit einem gleichaltrigen Liebhaber, während Tatjana sich Hals über Kopf in den deutlich älteren Mann verliebt und ihn schließlich sogar heiraten will.

Curt Goetz baut in seine Novelle eine Rahmenhandlung ein, in der er von einer Autofahrt erzählt, bei der er einen Anhalter mitnimmt. Dieser wortkarge Mitfahrer lässt sich von ihm an einem Friedhof absetzten und betritt den wie ein Park wirkenden Gottesacker, in dem Amerika-typisch keine Gedenksteine oder Kreuze zu sehen sind, sondern nur kleine, ins Gras eingelassene Tafeln. Kurz entschlossen fährt der Autor mit seinem Auto in den Friedhof hinein, – denn selbstverständlich haben alle US-amerikanischen Friedhöfe einen großen Parkplatz, wie er süffisant anmerkt. Er will sich in der Kapelle das berühmte «Last Supper Window» ansehen, die von einer Italienerin als Glasmalerei geschaffene Replik des «Abendmahl»-Freskos von Leonardo da Vinci. Es gäbe schließlich sogar Leute, die jeden Tag vorbeikommen und das Bild betrachten, erklärt er. In der Urnenhalle trifft er den Anhalter wieder, der eine Urne mit der Aufschrift «Tatjana 1920-1933» betrachtet, und lädt ihn spontan zum Essen ein. Nachdem sie gut gegessen haben, lockern die Drinks seinem Begleiter allmählich die Zunge, und was folgt ist «eine der seltsamsten Geschichte, die ich je gehört habe», – das eigentliche Thema der Novelle.

Er sei Arzt von Beruf, berichtet er, und habe in jungen Jahren Cello gespielt, ohne Erfolg allerdings. Nun habe er sich anlässlich eines Konzerts in Kolberg an der Ostsee in die junge, russische Cellistin Tatjana verliebt, ein dreizehnjähriges Wunderkind, dem er als zufällig im Konzertsaal anwesender Arzt bei einem Schwächeanfall habe helfen können. Vertrauensvoll bittet Sie ihn flüsternd, für sie in Berlin etwas sehr Dringendes zu erledigen, noch in dieser Nacht, wozu er sofort bereit ist. Ihre Mutter sei aus Berlin schon vorgereist nach Kolberg, und sie habe die leere Wohnung nutzen können für ein Rendezvous mit ihrem Freund. Der sei aber plötzlich tot umgefallen, und sie habe die Wohnung in Panik verlassen. Der Arzt setzt sich ins Auto und fährt nach Berlin, setzt den Toten nachts auf eine Parkbank und ist am frühen Morgen wieder zurück in Kolberg. Tatjana weicht ihm nicht mehr von der Seite, sie hat sich unsterblich in ihn verliebt und will ihn heiraten, – auch die Mutter kann sie davon nicht abhalten.

Curt Goetz erzählt seine «Legende» von der in jenen Zeiten noch als strenges Tabu angesehenen Mesalliance in einem lockeren, fast amerikanisch knapp anmutenden Ton, leicht lesbar und mit feiner Ironie unterlegt. Dabei konzentriert er sich formal streng auf das Besondere seiner Geschichte, die Unmöglichkeit einer solchen Beziehung, die er auf die Spitze treibt, wenn sein Held alle familiären Brücken hinter sich abbricht, mit Tatjana auf Konzertreise geht und sie, in den USA angekommen, dann tatsächlich auch heiraten will, was nur dort möglich ist. Als Musikfreund liest man auch gern die mitreißenden Passagen, wo es um das Genie der kindlichen Tatjana geht, die mit wahren Begeisterungs-Stürmen gefeiert wird wegen ihrer ebenso virtuosen wie jugendlich vorwärts stürmenden Spielweise. Nach über achtzig Jahren wird diese grandiose Novelle immer wieder neu aufgelegt und findet begeisterte Leser, – literarisch ein Klassiker also!

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
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Trilogie

Konfuse innere Monologe

Der viele Jahre lang als Favorit für den Nobelpreis angesehene, norwegische Schriftsteller Jon Fosse hat ihn im Jahre 2023 dann endlich auch erhalten. Eine seiner wichtigsten Prosa-Veröffentlichungen ist «Trilogie», die Jury in Stockholm hat dazu erklärt: «Mit ihrer formalen Raffinesse und dem forschenden Verhältnis zur Geschichte stellt die ‹Trilogie› einen Höhepunkt in der neueren norwegischen Literatur dar». Die Rezeption in Deutschland ist eher verhalten, erst nach dem Nobelpreis begann man sich näher mit dem vor allem als Dramatiker bekannten Autor zu befassen. Seine lose verbundenen Erzählungen mit den Titeln «Schlaflos», «Olavs Träume» und «Abendmattigkeit», aus denen die Trilogie besteht, verhandeln schnörkellos und unaufgeregt große Menschheits-Themen wie Geburt, Liebe und Tod. Als der große Minimalist der europäischen Literatur hält er nichts von literarischen Anspielungen, die seine Geschichten enthalten würden: «Es ist doch nur die Geschichte eines jungen Paares, das eine Bleibe sucht». Als plötzlich kurz vor dem Ende ein «Jon» auftaucht, der ein Buch mit Gedichten geschrieben habe und ebenfalls ein «Spielmann» sein soll, sind die autobiografischen Bezüge allerdings unübersehbar. Nach einer in der Jugend erlittenen Nahtod-Erfahrung sei sein Schreiben davon stark beeinflusst: «Ich glaube bis heute, dass ich durch diesen Unfall zum Schriftsteller geworden bin. Die Hauptperspektive meiner Texte ist nämlich die von jemandem, der sich an der Grenze zwischen Leben und Tod befindet.»

Im ersten, an die biblische Weihnachts-Geschichte erinnernden Teil des Buches ziehen die hochschwangere Alida und Asle, beide siebzehnjährig, als unverheiratetes Paar hungrig und obdachlos in dem Fischerdorf Dylgja umher auf der vergeblichen Suche nach einer Bleibe. Asle bestreitet als gelegentlich auftretender Spielmann mit der Fidel mehr schlecht als recht ihren Lebensunterhalt, schreckt aber auch vor Gewalttaten nicht zurück, um ihr Überleben zu sichern. Schließlich kommen sie für kurze Zeit bei Alidas Mutter und Schwester unter, stehlen ihnen aber Geld und Lebensmittel und flüchten mit einem ebenfalls gestohlenen Boot, dessen Besitzer Asle ertränkt, in die Stadt Bjørgvin, dem heutigen Bergen. Dort, wo sie niemand kennt, wollen sie endlich eine Unterkunft finden. Als sie aber auch dort überall abgewiesen werden in Hinblick auf die Schwangerschaft, dringt Asle mit Gewalt in das Haus einer alten Frau ein, die sie ebenfalls nicht einlassen will, und tötet sie. Dort bekommt Alida schließlich den kleinen Sigvald, benannt nach dem Großvater.

Um ihre Spuren zu verwischen, nennen sich die Beiden nun Olav und Åsta, und um an Geld zu kommen versetzt Olav seine geliebte Fidel. Vom Erlös will er Eheringe kaufen, die ihnen ebenfalls als Tarnung dienen sollen. In einem Gasthof wird er von einem alten Männchen angesprochen, das ihm hartnäckig auf den Kopf zusagt, er sei in Wahrheit Asle, der gesuchte Mörder aus Dylgja. Und kurz darauf wird der falsche Olav abgeführt und einige Tage später von dem Männchen erhängt, das war nämlich der «Rote Meister», der Scharfrichter von Bjørgvin. Nach einem Zeitsprung von hundert Jahren wird im dritten Teil von Alise erzählt, der inzwischen greisen Tochter von Alida, die einen Fischer geheiratet hatte und mit ihm neben Alise noch vier weitere Kinder bekam. In den wirren Erinnerungen von Alida lebte Asle fort, sie sah ihn immer wieder und sprach mit ihm, hat sich permanent mit ihm beraten.

Formal besticht das Buch mit einem narrativen Schweben, das in der Musik seinen Ursprung hat und zeitenthoben über dem gesamten Geschehen liegt wie ein metaphorischer Schleier. «Die Zeichensetzung in diesem Buch folgt den musikalisch-rhythmischen Besonderheiten der Prosa Jon Fosses», lautet ein vorangestellter Hinweis des Verlags. Es ist gerade dieser eigenwillige, unsortierten inneren Monologen folgende, grandios naive Erzählstil, mit dem dieses Buch einen lang nachwirkenden Lesesog erzeugt, der den Leser am Ende tief betroffen zurücklässt!

Fazit:   erstklassig

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Genre: Erzählungen
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Gott, hilf dem Kind

Überambitioniert und thematisch überfrachtet

Das Werk der US-amerikanischen Nobelpreis-Trägerin Toni Morrison ist gekennzeichnet durch das Thema Rassentrennung, so auch in «Gott, hilf dem Kind», ihrem elften Roman. Gegenüber früheren Romanen ist sie hier stilistisch aber neue Wege gegangen, sie arbeitet mit nicht weniger als vier Ich-Erzählerinnen, ergänzt um eine auktoriale Passage. Im Mittelpunkt des Plots steht ein farbiges Paar, beide Anfang zwanzig, die auf jeweils ganz individuelle Weise psychisch geschädigt sind durch schreckliche, rassen-feindliche Kindheits-Erlebnisse mit Sexualtätern, die sie mental nicht verarbeiten können.

Der vierteilige Roman beginnt aus der Perspektive von Sweetness mit der Geburt von deren Tochter Lula Ann, einem Baby, das im Gegensatz zu Mutter und Vater tiefschwarz ist. «Sie war so schwarz, dass es mir Angst machte», heißt es im Roman. Sie ist fassungslos, glaubt an eine Verwechslung, will das Kind zur Adoption freigeben. Sie selbst ist so hellhäutig, dass sie als Weiße gilt wie auch ihr Mann, der denn auch prompt glaubt, er wäre nicht der Vater, und wütend die Familie verlässt. Sweetness hat Probleme, mit der Situation klar zu kommen, sie erzieht ihre Tochter zu absolutem Gehorsam und zu einer unterwürfigen Haltung den Weißen gegenüber. Immer nach dem Motto «Nur nicht auffallen» in einem Land, dessen Bewohnern die Rassentrennung scheinbar unausrottbar in den Hirnen eingepflanzt ist, aller Vernunft zum Trotz! Als Lula Ann bei einem Prozess gegen ihre Lehrerin, die sich an Kindern vergangen haben soll, als Zeugin aussagt, belastet sie die Angeklagte, nur um sich wichtig zu machen und die Mutter zu beeindrucken. Eine Aussage, die der Lehrerin eine fünfzehnjährige Gefängnisstrafe einbringt und ihr selbst ein lebenslanges Trauma beschert. Lula Ann wächst zu einer bildschönen Frau heran, nennt sich künftig Bride und kleidet sich auf Anraten eines als Modeberater arbeitenden Freundes provokant nur noch in strahlendem Weiß, was sie als Black Beauty noch attraktiver macht. Und sie legt eine steile Karriere in einer Kosmetikfirma hin, deren Sortiment sie kreativ erweitert, – die junge Frau fährt fortan einen Jaguar.

Zweiter Protagonist des Romans ist neben Bride deren Freund Booker, dessen Geschichte auktorial erzählt wird. Sein älterer Bruder ist Opfer eines pädophilen Sexualverbrechens geworden, das ein Weißer Mann begangen hat. Obwohl er hochbegabt ist und erfolgreich studiert hat, hat diese Zäsur in seinen Jugendjahren ihn seelisch vollkommen aus der Bahn geworfen. Nach einem Streit trennt sich das Paar, und jeder versucht auf seine Weise, mit seinem speziellen Trauma fertig zu werden. Im Roman kommen Sweetness, die Mutter von Bride zu Wort, ferner Brooklyn, ihre beste Freundin und Kollegin, aber auch Sofia, die zu Unrecht verurteilte Lehrerin sowie Rain, ein von seiner Mutter an Männer vermietetes kleines Mädchen, dass von einem weißen Ehepaar bei strömendem Regen einsam auf der Straße aufgegabelt wird.

Rassismus ist niemals nur ein Übel bei den alten weißen Männern, wie immer gesagt wird, im Diskurs zur «Critical Whiteness» nimmt auch Toni Morrison deutlich dazu Stellung: «Mein Projekt ist das Bemühen darum, den kritischen Blick vom rassischen Objekt zum rassischen Subjekt zu wenden…» Und beweist auch in diesem Roman wieder, dass Selbsthass als rassistisch vorgeprägtes Bewusstsein bei den Betroffenen fest verankert ist. Sie erzählt oft sentimental, aber stilistisch locker, und meist erhaben über ihrer Geschichte stehend, in der abartige Sexualität eine wichtige Rolle spielt. Die Bilder, die sie schafft, sind nicht immer überzeugend, vor allem die kafkaeske Metamorphose von Bride zurück zu Lula Ann irritiert denn doch. Thematisch überfrachtet, ist dieser Roman zwar durchaus lesenswert, aber auch die gleich vierfach auftretenden, unzuverlässigen Erzählerinnen sind des Guten zuviel, hinterlassen sie doch allzu viele Leerstellen und falsche Fährten. Überambitioniert und thematisch überfrachtet, leider!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
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Der große Bagarozy

Die Callas und Mephisto

Der Teufel in Menschengestalt ist spätestens seit Goethe eine beliebte Thematik, Helmut Krausser hat sich in seinem Roman «Der große Bagarozy» dem Fauststoff auf eine sehr originelle Art angenommen. In einem aberwitzigen Konstrukt lässt er ihn in seinem Plot sogar in die Gestalt eines Pudels schlüpfen, eine Reverenz an das grandiose literarische Vorbild. Mit leichter Hand betreibt der Autor ein mystisches Spiel um Themen wie Schuld und Lüge, Vernunft und Wahn. Im Mittelpunkt steht die Diva Assoluta der Opernwelt, Maria Calles, als unvergesslicher Sopran weibliches Pendant zum ebenfalls unvergessenen Tenor Enrico Caruso im Olymp der Sangeskünstler.

Die37jährigen Psychiaterin Dr. Cora Dulz, die über «obsessions-bedingte Detail-Überinterpretation» promoviert hat, steckt in einer Sinnkrise. Zwei ihrer Patienten haben erst kürzlich Suizid begangen, trotz aller ihrer Bemühungen, sie von ihrem Wahn zu befreien. Nun erscheint eines Tages Stanislaus Nagy in ihrer Praxis, den sie von seiner Obsession für Maria Callas befreien soll. Abgeklärt wie sie ist nach vielen Jahren als Psychotherapeutin, sind die Therapiesitzungen für sie nur «Talkshows», und die Patienten bezeichnet sie insgeheim nur noch als «Mängelexemplare». Der neue Patient nun stellt sich nach ein paar Sitzungen als der leibhaftige Teufel vor, der die ‹Göttliche› ein Leben lang begleitet, ihre Nähe und ihre Zuneigung gesucht habe. Er habe ihre Karriere gefördert wo er konnte, habe keinen ihrer Auftritte je versäumt, habe alle ihre Triumphe miterlebt, erzählt er. Nach ihrem tragischen, altersbedingten Niedergang von der Höhe ihrer Kunst habe er zerstörerisch mitgewirkt und sich regelrecht geweidet an ihren langen Qualen und dem frühen Tod. Ein Teufel eben, – der nun allerdings, mit der Hilfe von Dr. Cora Dulz, ein normaler, sterblicher Mensch werden will.

Nach einigen Sitzungen trifft sie ihren Patienten spätabends zufällig in einem Café. Sie folgt ihm spontan auf seinen Vorschlag hin, mit ihm in ein nachts menschenleeres Kaufhaus zu gehen, in dem er als Hausdetektiv arbeitet. Später besucht sie ihn in einer Aufführung, wo er als Zauberer unter dem Namen «Der große Bagarozy» auftritt. Sie begeht also den unverzeihlichen Kunstfehler, mit Patienten privat Kontakt aufzunehmen. Aber Nagy hat sie mit seiner überlegenen Art völlig in Bann gezogen, sie ist ihm inzwischen regelrecht verfallen, wie sie bestürzt feststellt. Sie wünscht sich, wie Dr. Faustus, den Teufel sogar leibhaftig herbei als Komplizen! Der attraktive Nagy übt auf sie auch einen erotischen Reiz aus, dem sie nicht widerstehen könnte, – wenn er denn nur wollte. Ihre kinderlos gebliebene Ehe ist nämlich langweilig geworden, sie ist tatsächlich eine «zu beiderseitigem Nachteil verheiratete Frau», wie es im Roman ironisch heißt. Gefangen in einem sinnentleerten, reizlosen Spießerleben, machen ihr die langen, kontemplativ ergiebigen Diskussionen mit Nagy inzwischen die erschreckende Trivialität ihres eigenen Lebens in voller Härte bewusst.

Bernd Eichinger verfilmte diesen originellen Stoff erfolgreich unter gleichem Titel. Der Roman ist einerseits eine Hommage an Maria Callas, deren Leben hier aber nur skizziert wird in Hinblick auf die Problematik des Ruhmes und eines einseitig der Kunst gewidmeten Lebens. Es ist eine überaus pfiffige Idee des Autors, dieses spektakuläre Künstlerleben mit dem berühmten Teufelspakt zu verbinden. Wobei Nagy als Teufel nie ein Wort mit seiner Muse gesprochen hat und Berührungen von ihr einzig dann genießen konnte, wenn sie ihn, als ihren schwarzen Pudel, gedankenverloren gestreichelt hat. Der angenehm lesbare Roman ist gleichzeitig eine harsche Kritik an der überwiegend geistig anspruchslosen, aber zu Gewalt und Krieg neigenden Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit allerlei kurzen, journalistischen Einschüben über originelle Todesarten und etlichen Fotos aus dem Spielfilm angereichert, ist dieser Roman eine kurzweilige, amüsante und oft sogar recht nachdenklich machende Lektüre.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Fegefeuer der Eitelkeiten

Am Ende gibt es fast nur Verlierer

Als typischer Vertreter des mit fiktiven Elementen angereicherten ‹New Realism› erzielte der erfolgreiche US-amerikanische Journalist Tom Wolfe mit seinem Debütroman «Fegefeuer der Eitelkeiten» auch in fiktionalen Gefilden einen Durchbruch als Romancier. Dieser Bestseller gilt als der bekannteste und wichtigste seiner vier Romane, er wird zudem neben «American Psycho» auch als exemplarischer New-York-Roman der 1980er Jahre angesehen. Sehr früh schon wurde er mit Tom Hanks und Bruce Willis in den Hauptrollen auch verfilmt. Der Plot ist während des Börsenbooms in der Regierungszeit von Präsident Ronald Reagan angesiedelt. Thematisiert wird die aus dem extremen Materialismus resultierende, moralische Verwahrlosung der US-amerikanischen Gesellschaft, für die gerade der Moloch des Big Apple einen idealtypischen Schauplatz darstellt. Der Romantitel spielt auf den berühmten Bußprediger Girolamo Savonarola an, der Jugendliche in Scharen durch Florenz ziehen lies, um alles zu beschlagnahmen, was im religiösen Sinne als eitel und unzüchtig galt, –  und somit also auch als Beleg für die Verkommenheit des Menschen. All das gesammelte Teufelszeug, Bücher und Bilder vor allem, wurde in den Jahren 1497/98 als Zeichen der Reue auf riesigen Scheiterhaufen öffentlich verbrannt.

Der mit Prolog und Epilog in 31 Kapiteln erzählte, dickleibige Roman beginnt mit der detaillierten Schilderung einer total aus dem Ruder gelaufenen Veranstaltung des New Yorker Bürgermeisters. Der wichtigste Protagonist dieses Plots ist der neureiche, 38jährige Börsenmakler McCoy, der mit hysterischer Frau und verwöhnter Tochter in einer pompösen Wohnung an der Park Avenue wohnt. Er ist ein elitärer Vertreter des ‹White Anglo-Saxonian Protestant›, der sich mit seiner Geliebten aus den Südstaaten in einer angemieteten kleinen Wohnung als Liebesnest trifft. Gegenpart ist der in jeder Hinsicht frustrierte Staatsanwalt Kramer, dessen einst attraktive Frau ihn mit der Geburt eines Kindes für immer an die Familie gebunden hat. Und damit hat sie auch seine Bodybuilder-Ambitionen durchkreuzt und ihn, wie er glaubt, für fremde Frauen unattraktiv gemacht. Er hadert aber auch damit, dass er zu wenig verdient, und beneidet seine ehemaligen Studienkollegen, die längst in Anwaltskanzleien Karriere gemacht haben und nun geradezu im Geld schwimmen. Ein weiterer Protagonist ist der britische Journalist Fallow, der wenig erfolgreich bei einer New Yorker Boulevardzeitung arbeitet und sich durchschnorrt bei allerlei Veranstaltungen.

Eines Abends holt McCoy seine Geliebte vom Flughafen ab, verirrt sich dabei in der Bronx und wird dort in einer Auffahrt auf den Highway von zwei farbigen Jugendlichen gestoppt, die ihn ausrauben wollen. Als seine Geliebte, die sich bei seiner Rangelei mit den Ganoven ans Steuer gesetzt hat, in Panik losfährt, berührt der Mercedes einen der beiden, der dadurch umgestoßen wird. Sie begehen Fahrerflucht und melden den Unfall auch später nicht, da das nur zu Komplikationen führen würde. Die Frau von McCoy kommt ihm schließlich mit der Geliebten auf die Schliche, und ein Erfolg versprechender Wertpapier-Deal, mit dem er seine finanziellen Probleme zu beenden hofft, scheitert kläglich. Ein Reverend macht den Unfall mit Hilfe des Journalisten Fallow zu einer Sensation, eine Hexenjagd auf McCoy beginnt. Der Polizei ist es nämlich gelungen, ihn als Besitzer des Mercedes-Sportwagens und mutmaßlichen Fahrer zu identifizieren, und Staatsanwalt Kramer erhofft sich von dem spektakulären Prozess einen Karriereschub. Am Ende aber gibt es fast nur Verlierer!

Dieser spannende Roman ist in einem journalistisch knappen, nüchternen Stil geschrieben, wobei die vielen protokollartig anmutenden Dialoge und die Passagen mit erlebter Rede durch ihren satirischen Ton gekennzeichnet sind. Sehr gelungen sind auch die verschiedenen Jargons, in denen da geredet wird, der Slang von Polizei und Justiz wird geradezu parodiert, und auch das Fachchinesisch der Börsenmakler und die Idiome der schwarzen Ghettobewohner sind stimmig. Eine bereichernde Lektüre mithin, bei der es einem über mehr als neunhundert Seiten hinweg nie langweilig wird!

Fazit:   erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Lichtspiel

Wenig nachhaltiges Biopic

Mit seinem neuesten Roman «Lichtspiel» hat Daniel Kehlmann dem in der Weimarer Zeit äußerst erfolgreichen, österreichischen Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst literarisch ein Denkmal gesetzt. Nach der auch in anderen seiner Romane bewährten Methode erzählt der Autor eine fiktive Geschichte, die sich um die reale Figur seines heute kaum noch bekannten Protagonisten rankt, wobei die Problematik künstlerischen Schaffens in einer unmenschlichen Diktatur den thematischen Schwerpunkt bildet.

Der dreiteilige Roman beginnt unter dem Titel «Draußen» in der Emigration des Regisseurs, der als «Roter Regisseur» wegen seiner politischen Überzeugungen in Nazi-Deutschland keine Zukunft mehr für sich gesehen hat und nach Hollywood gegangen ist, obwohl er von der «Filmkunst» dort wenig hält. Eines Tages bekommt er überraschend Besuch von einem Abgesandten des Propaganda-Ministers Goebbels, der ihn nach Deutschland zurückholen will und ihm künstlerische Freiheit und beste Arbeitsbedingungen verspricht. Trotz verlockendem Angebot lehnt Pabst empört ab. Als ihn ein Telegramm zu seiner kranken Mutter zurückruft, reist er mit Frau und Sohn für drei Tage nach Österreich, das inzwischen Ostmark heißt, um sie in einem Pflegeheim nahe Wiens unterzubringen. Am Tag nach ihrer Ankunft bricht der lange erwartete Krieg tatsächlich aus, die Grenzen werden geschlossen, er kann nicht mehr zurück in die USA. Bald darauf wird er zu Goebbels gerufen, der ihm unmissverständlich klarmacht, dass seine Verweigerungs-Haltung böse Konsequenzen für ihn haben würde in Anbetracht seiner kommunistischen Gesinnung. Pabst steigt also notgedrungen wieder ein ins Filmgeschäft und dreht einige erfolgreiche Filme. Sein letztes Werk unter dem Titel «Der Fall Molander» über einen virtuosen Geiger wird wegen der ständigen Luftangriffe in Prag gedreht, wobei der Produzent für eine Massen-Szene im Konzertsaal als Publikum auf KZ-Häftlinge zurückgreifen muss, weil fast alle Männer im Krieg sind. Im Publikum meint er, seinen früheren Arzt als abgemergelte Gestalt wieder zu erkennen, verdrängt dies aber entsetzt sofort wieder. In «Danach», dem kurzen dritten Teil des Romans, wird die Nachkriegszeit beleuchtet mit ihren trivialen Produktionen, die das Volk von den Traumata des Krieges erlösen sollen.

Der Recherchefleiß von Daniel Kehlmann ist auch in diesem Roman beachtlich, sehr anschaulich führt er seine Leser in die Problematik des Filmgeschäfts ein, schildert die verschiedenen Aufgaben der Beteiligten, vom Produzenten über Drehbuchautor, Regisseur, Kameramann, Beleuchter, Maskenbildner und all den anderen dienstbaren Geistern, die da tätig sind. Auch die täglichen Pannen, Rückschläge und erforderlich werdenden Improvisationen sind anschaulich beschrieben, alles steht unter Zeit- und Gelddruck, das Chaos ist der Normalzustand. Natürlich trifft man bei der Lektüre des Romans auf die Filmgrößen der damaligen Zeit, so hat Pabst Leni Riefenstahl bei deren Monumentalwerk «Tiefland» unterstützt, hat mit Greta Garbo gedreht und ist unter anderen mit Heinz Rühmann auch privat gut befreundet. Er ist immer noch wer in der Szene und tauscht sich regelmäßig mit Kollegen wie Fritz Lang oder Helmut Käutner aus.

Von den Feuilletons zum Teil euphorisch hochgejubelt, ist dieser Roman des Erfolgsautors über moralisches Versagen – nach «Tyll» vergleichsweise – ziemlich enttäuschend. Slapstickartige Szenen wie die in Goebbels Büro oder der dilettantische Lesekreis der Nazifrauen, an dem Trude Pabst teilnimmt, irritieren eher, als dass sie zum Lesegenuss beitragen. Stilistisch enttäuschend bieder, mit ständig wechselnder Erzählperspektive den Plot regelrecht zerstückelnd, ohne psychologische Tiefenschärfe an der Oberfläche bleibend, ist die Lektüre zwar durchaus interessant, aber alles andere als meisterlich! Sie hinterlässt beim Lesen keine nachhaltigen Spuren, woran auch die schwache Figurenzeichnung Schuld trägt, man hat das Roman-Personal schon vergessen, wenn man das Buch am Ende zuschlägt.

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

UTOPIA AVENUE

Was sagen Ihnen die folgenden Namen? Frank Zappa, Jackson Browne, Grateful Dead, Jefferson Airplane, Herman’s Hermits.

Stirnrunzeln? Zu schwierig? Machen wir es einfacher. Leonard Cohen, Janis Joplin.

Es schwant etwas?

Ok, nun ist es eigentlich kein Rätsel mehr: John Lennon, Mick Jagger, Jimi Hendrix, Bob Dylan.

In der Tat handelt es sich durchgehend um Bands oder Musiker, die solo oder in Musikgruppen in den späten Sechzigern, den Siebzigern oder sogar noch lange danach die weltweite Musikszene bestimmten. Kurzzeitig oder als Evergreens, wobei ein einzelner Herr in dieser Reihe mit den verbliebenen anderen rollenden Steinen bis zu einem Durchschnittsalter von circa 80 Jahren regelmäßig auf Welttournee ging. Doch das ist eine andere Geschichte.

Nach seinen diversen literarischen Welterfolgen hat sich David Mitchell in ein ganz anderes, unerwartetes Metier gewagt. Eben in diese Musikszene der „Wild Sixties“, der wilden Sechziger.

Der Plot: Ein talentierter und ehrgeiziger Produzent stellt in England – wo sonst – eine Band zusammen. Natürlich zieht man zu Beginn erfolglos über die Dörfer, aber wird schließlich – wie könnte es anders sein – zu Weltstars. Im Laufe des Karriere-Weges trifft man so ganz nebenbei alle oben angeführten Legenden der damaligen Musikwelt. „Cool“, denkt der Leser und spürt den Promi-Schauer den Rücken runterlaufen. Ach ja, ist ja nur eine Geschichte. Die Band gab es nie, sie ist rein fiktiv. Aber die anderen ja schon. Also wenigstens ein bisschen Gänsehaut darf dann doch sein.

Aber es wäre nicht ein Werk von David Mitchell, wenn es nicht doch die typischen Fantasie-Exzesse abseits des Haupt-Erzählstranges gäbe.

Jeder Protagonist der vierköpfigen Band erhält von Mitchell seinen ganz eigenen Charakter und seine ganz persönliche Story.

Da ist Dean, der Junge aus sozial schwachem Umfeld mit dem gewalttätigen Vater. Dean, der Frauenheld und der Angeklagte in einem Vaterschaftsprozess. Aber auch Dean, der begnadete Bassist, Komponist und Texter. Dean, der neben dem schon allseits selbstverständlichen Koks auch LSD-Versuchen nicht abgeneigt ist.

Jasper, der magische Gitarrist, der aber mit seiner Schizophrenie zu kämpfen hat. Jasper, der versucht, mittels Horologie und psychochirurgischer Seelentransplantation (was immer das ist), aus seinem Teufelskreis herauszukommen. An dieser Stelle erlaubt sich Mitchel ein wenig Story-Recycling. Jasper ist Niederländer und heißt mit Nachnamen De Zoet (gesprochen „de Zuut“). Klingelt was? In der Tat kommt sein Großvater bei der Analyse der Timeline aller Vorfahren kurzzeitig vor. Mitchells Buch aus dem Jahre 2014 „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“ lässt grüßen.

Da ist Elf, nicht nur die Quotenfrau der Band, sondern weibliches Rückgrat der Gruppe, aber auch der Familie, die unter dem plötzlichen Kindstod bei Elfs Schwester leidet. Irgendwann entdeckt sie im Verlauf auch noch ein eigenes unterdrücktes Geheimnis.

Am blassesten kommt Griff, der Schlagzeuger, weg, wie so viele Schlagzeuger der Welt (vielleicht abgesehen von Charlie Watts). Seine Persönlichkeit beschränkt sich auf den Tod des Bruders und ein paar Frauengeschichten. Und Schlagzeugspielen.

Die vier entwickeln sich gemeinsam weiter, werden musikalisch besser, touren durch England und die USA, geben Konzerte, schuften Tag und Nacht in Studios und lassen auch keine Party aus.

Alles in allem also alles genauso, wie man sich ein Bandleben in den späten Sechzigern so vorstellt. Ist das Buch von David Mitchell deshalb eine stereotype Flachpass-Geschichte?

Eigentlich eher nein. Denn es drängt sich der Eindruck auf, dass David Mitchell genau das wollte. In diesem Autor schlummerte ganz offensichtlich über all die Jahre genau dieses Werk, denn seine Begeisterung für den Zeitgeist der Sechziger und Siebziger mit der Hippie-Flower-Power-Anti-Vietnam-Bewegung, sein Detailwissen zu den historischen Ereignissen, weltpolitisch wie in den Straßen von San Francisco, und seine Faszination und seine Kompetenz für die Musik der damaligen Zeit sind unverkennbar. Da hat sich einer seine Leidenschaft von der Seele geschrieben. Man sieht förmlich seine strahlenden Augen und das ist manchmal ein wenig ansteckend.

Literarisch ist „Utopia Avenue“ allerdings nicht Mitchells bestes Werk und zum Beispiel mit „Wolkenatlas“ nicht vergleichbar. Stellenweise hat man fast das Gefühl, er hat bestimmte Passagen einem Ghostwriter oder aufstrebenden Jungautor übergeben. Geradezu plump wirkt sein(?) Stil, wenn er krampfhaft versucht, längere Dialoge aufzulockern. Ein Beispiel:

„Würde das nicht alles ändern?“

Ein Müllwagen rumpelt vorbei.

„Dein Leben wartet, Jasper!“

Der Auflockerungs-Müllwagen taucht immer mal wieder auf. Ebenso der zwitschernde Vogel oder das schreiende Kind auf der Straße vor dem Haus. Zwanghafte Bildeinschübe in einem einzigen Satz, die man in dieser Form nicht mal mehr in den Volkshochschulkursen für kreatives Schreiben in Wanne-Eickel oder Bad Ischl durchgehen lassen würde.

Dennoch ist David Mitchell in Summe ein durchaus unterhaltsames Buch gelungen. Die einleitend abgefragten Grundkenntnisse sind hilfreich, aber keine Conditio sine qua non.


Genre: Erzählung, Gesellschaftsroman, Historischer Roman, Roman
Illustrated by Rowohlt

Leben

In seinem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik ausgezeichneten, autobiografischen Buch von 2013 mit dem Titel «Leben» schildert der Schriftsteller David Wagner die Geschichte seiner Organ-Transplantation. Wegen einer Autoimmun-Hepatitis, die dazu führt, dass die Leber als Fremdkörper aus dem Organismus ausgestoßen wird, wartet er als todkranker junger Mann auf ein Spenderorgan. Das Buch beginnt mit einem Anruf aus dem Krankenhaus, in dem ihm mitgeteilt wird, dass eine passende Spenderleber gefunden wurde und er umgehend zur Operation kommen solle. Die Erzählung ist, deutlich markiert, in zwei Teile getrennt, in Vor und Nach der Operation. Gegliedert in 277 unterschiedlich langen, völlig ungeordneten Erzählschnipseln endet sie mit einem Epilog, in dem im Medizinerlatein vom Ergebnis der ersten Kontroll-Untersuchung berichtet wird, die routinemäßig ein Jahr nach dem Eingriff durchgeführt wurde und die zu einem positiven Ergebnis geführt hat.

So sehr er auch darauf gewartet hat, ein Spenderorgan zu bekommen, so sehr kommen ihm anfangs auch die Zweifel, ob er sich dieser sein ganzes Leben verändernden OP wirklich unterziehen soll. Es drängen sich ihm plötzlich viele Fragen auf: Wie wird sich das Leben für ihn ändern in dem Bewusstsein, ein fremdes Organ in sich zu tragen? Mit welchen Komplikationen muss er rechnen? Ist er danach wirklich noch der Selbe? Lebt er dann nicht auf Kosten des unbekannten Spenders? Ist so ein Leben überhaupt erstrebenswert? Lohnen sich denn die Opfer, die er dafür bringen muss? Und bekommt er mit der neuen Leber letztendlich auch wirklich die Chance, länger leben zu können? Solche Fragen stehen im Mittelpunkt dieser Erzählung von einer Transplantation, von der familiär auch sein Kind und sein Vater betroffen sind.

In vielen Rückblicken erzählt er Begebenheiten und Erlebnisse aus seinem Leben, berichtet von seinen Gedanken, Hoffnungen, Ängsten und seiner Verzweiflung. Er reflektiert über das Leben und über den Tod, über moralische Fragen, aber auch über die emotionalen Herausforderungen und Zumutungen, die seine Krankheit für ihn und die Seinen bedeutet, und natürlich auch über die Chancen, die sich damit für ihn ergeben könnten. Wie von einer Insel aus beobachtet er aus der Geborgenheit seines Krankenbettes heraus die medizinischen und pflegerischen Aktivitäten des Personals, das sich unermüdlich rund um die Uhr um ihn und seine Bettnachbarn und Leidensgenossen bemüht. Die Langweile eines zumeist im Bett liegend und vor sich hindösend verbrachten Tagesablaufs ermuntert manchen Kranken sogar zu Lebensbeichten. Sie reden also nicht nur über ihre Krankheiten und Gebrechen, sie berichten auch von Schicksals-Schlägen. So etwa der Libanese, der davon erzählt, dass er seine beiden Brüder im Bürgerkrieg verloren hat. Und da ist auch der Getränkehändler im Nachbarbett, der sich heimlich aus ihrem Zimmer davonschleicht, um seine Geliebte zu besuchen, wie er gesteht. Immer wieder schielt auch der Ich-Erzähler nach den Frauen, die ihn umsorgen und dabei Sehnsüchte in ihm wecken, deren er sich in seiner hilfsbedürftigen Situation durchaus schämt, die er aber partout nicht zu unterdrücken vermag.

Als Buch ohne Gattungsbezeichnung besteht «Leben» aus literarischen Miniaturen, die in ihrer Fülle und thematischen Vielfalt ein enges narratives Geflecht bilden. Darin enthalten sind neben Glücksmomenten voller Zuversicht auch dramatische Szenen des Überlebens-Kampfes und der Todesnähe. Die phonetische Nähe der dieses Buch prägenden Begriffe «Leben» und «Leber», die für den Ich-Erzähler ja fast identisch sind, führen dann prompt auch tatsächlich einmal dazu, dass er sie in einer SMS verwechselt. Stilistisch distanziert, oft essayartig  erzählt, wirkt dieses nachdenklich machende Buch gleichwohl berührend auf den Leser. Nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil er ja jederzeit selbst an einem solchen Kipppunkt seines Lebens stehen könnte.

Fazit:  lesenswert

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Genre: Belletristik, Essay
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Kaltblütig

Ohne den genre-typischen Horror

Mit «Kaltblütig», seinem bekanntesten Werk, hat der amerikanische Schriftstellers Truman Capote das neue literarische Genre New Journalism  geschaffen, den Tatsachenroman. Darin schildert er mit den narrativen Methoden einer literarischen Erzählung den im November 1959 tatsächlich passierten, vierfachen Mord an der Familie des Farmers Clutter im Westen des US-Staates Kansas. Darauf aufmerksam geworden ist er durch einen Artikel in der Zeitschrift «The New Yorker». Er begann schon bald mit umfangreichen Recherchen zu dem großes Aufsehen erregenden Fall. Sein Buch erschien dann sechs Jahre später. Er musste sogar warten, hat er erklärt, bis die Hinrichtung der beiden Täter nach verfahrens-technischen Verzögerungen dann auch tatsächlich stattgefunden hatte. Und wer nicht vorinformiert ist als Leser, dem winkt natürlich der größte Lesegewinn, was spätestens ab dieser Stelle hier wirklich wohlmeinend zur Nachahmung empfohlen wird!

Aus wechselnden Perspektiven erzählend berichtet der Autor zunächst sehr ausführlich von der Familie Clutter, deren Oberhaupt es als strebsamer, prinzipientreuer Farmer zu einigem Wohlstand gebracht hat. Er ist als fairer Arbeitgeber bei seinen Arbeitskräften sehr beliebt und zahlt gut. Im Haus wohnen außer den Eltern die halbwüchsige Tochter Nancy und der kleine Kenyon. Zwischen die Beschreibungen der Opferfamilie wird immer wieder mal ein kurzer Schwenk zu den Tätern eingefügt, dem 28jährigen Dick und seinem 31jährigen Kumpel Perry. Die Beiden kennen sich aus dem Gefängnis, wo sie für unterschiedliche Straftaten einige Jahre eingesessen haben. Dick hat ebenfalls dort von Floyd Wells, einem Mitgefangenen, von der Farm der Clutters gehört, wo Floyd ein Jahr lang gearbeitet hat. Dort im Büro befände sich ein Tresor, der tausende von Dollars enthalten müsse, so reich wie Clutter ist. Nach ihrer Entlassung beschließen Dick und Perry, diese Farm, die sie nur aus der Erzählung kennen, nachts zu überfallen. Um nicht erkannt zu werden, wollen sie sich schwarze Damenstrümpfe über den Kopf ziehen. Die sind aber nirgendwo zu bekommen in der dünn besiedelten, ländlichen Gegend. Der Überfall findet statt, ein Tresor aber ist nicht vorhanden, denn Mr. Clutter hat aus Prinzip nie Bargeld im Haus, er zahlt immer nur mit Scheck. Als Bargeld aus den verschiedenen privaten Geldbörsen der Familie kommt letztendlich nur ein Betrag von 40 Dollar zusammen, ein Fiasko für die Verbrecher. Denn ohne Maskierung müssen sie ja alle Anwesenden als Augenzeugen töten, um unerkannt zu bleiben. Und das tun sie denn auch, absolut kaltblütig!

Die Polizei steht vor einem Rätsel, es wurden kaum Spuren hinterlassen, und es fehlt vor allem auch ein Motiv für die schrecklichen Morde, mit dem sich ein Täterkreis eingrenzen ließe. In der kleinen Ortschaft kursieren die wildesten Gerüchte, aber die Clutters waren als brave Kirchgänger überall sehr beliebt, niemand hätte einen Grund gehabt, sie alle umzubringen. Die um drei Beamte des FBI verstärkte Mordkommission bekommt nach drei Monaten plötzlich einen Tipp von Floyd Wells, der als Informant für die Tat lange gezögert hat, sich zu melden, weil er nicht mit hineingezogen werden wollte. Nun geht alles ganz schnell, die Täter werden gefasst, vor Gericht gestellt und zum Tod durch den Strang verurteilt.

Minutiös berichtet Truman Capote von der spannenden Ermittlungsarbeit, dem komplizierten Prozessverfahren, und er legt zudem geradezu sezierend die psychologischen Defekte der Täter offen, denen bis zuletzt, bis zum Galgen, aber jedes Unrechts-Bewusstsein fehlt. Auch hier gilt «Der Weg ist das Ziel», dieser journalistisch präzise erzählte Bericht ist eine bereichernde Lektüre, die so ganz ohne die genretypischen Horror-Szenarien auskommt.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
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