UTOPIA AVENUE

Was sagen Ihnen die folgenden Namen? Frank Zappa, Jackson Browne, Grateful Dead, Jefferson Airplane, Herman’s Hermits.

Stirnrunzeln? Zu schwierig? Machen wir es einfacher. Leonard Cohen, Janis Joplin.

Es schwant etwas?

Ok, nun ist es eigentlich kein Rätsel mehr: John Lennon, Mick Jagger, Jimi Hendrix, Bob Dylan.

In der Tat handelt es sich durchgehend um Bands oder Musiker, die solo oder in Musikgruppen in den späten Sechzigern, den Siebzigern oder sogar noch lange danach die weltweite Musikszene bestimmten. Kurzzeitig oder als Evergreens, wobei ein einzelner Herr in dieser Reihe mit den verbliebenen anderen rollenden Steinen bis zu einem Durchschnittsalter von circa 80 Jahren regelmäßig auf Welttournee ging. Doch das ist eine andere Geschichte.

Nach seinen diversen literarischen Welterfolgen hat sich David Mitchell in ein ganz anderes, unerwartetes Metier gewagt. Eben in diese Musikszene der „Wild Sixties“, der wilden Sechziger.

Der Plot: Ein talentierter und ehrgeiziger Produzent stellt in England – wo sonst – eine Band zusammen. Natürlich zieht man zu Beginn erfolglos über die Dörfer, aber wird schließlich – wie könnte es anders sein – zu Weltstars. Im Laufe des Karriere-Weges trifft man so ganz nebenbei alle oben angeführten Legenden der damaligen Musikwelt. „Cool“, denkt der Leser und spürt den Promi-Schauer den Rücken runterlaufen. Ach ja, ist ja nur eine Geschichte. Die Band gab es nie, sie ist rein fiktiv. Aber die anderen ja schon. Also wenigstens ein bisschen Gänsehaut darf dann doch sein.

Aber es wäre nicht ein Werk von David Mitchell, wenn es nicht doch die typischen Fantasie-Exzesse abseits des Haupt-Erzählstranges gäbe.

Jeder Protagonist der vierköpfigen Band erhält von Mitchell seinen ganz eigenen Charakter und seine ganz persönliche Story.

Da ist Dean, der Junge aus sozial schwachem Umfeld mit dem gewalttätigen Vater. Dean, der Frauenheld und der Angeklagte in einem Vaterschaftsprozess. Aber auch Dean, der begnadete Bassist, Komponist und Texter. Dean, der neben dem schon allseits selbstverständlichen Koks auch LSD-Versuchen nicht abgeneigt ist.

Jasper, der magische Gitarrist, der aber mit seiner Schizophrenie zu kämpfen hat. Jasper, der versucht, mittels Horologie und psychochirurgischer Seelentransplantation (was immer das ist), aus seinem Teufelskreis herauszukommen. An dieser Stelle erlaubt sich Mitchel ein wenig Story-Recycling. Jasper ist Niederländer und heißt mit Nachnamen De Zoet (gesprochen „de Zuut“). Klingelt was? In der Tat kommt sein Großvater bei der Analyse der Timeline aller Vorfahren kurzzeitig vor. Mitchells Buch aus dem Jahre 2014 „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“ lässt grüßen.

Da ist Elf, nicht nur die Quotenfrau der Band, sondern weibliches Rückgrat der Gruppe, aber auch der Familie, die unter dem plötzlichen Kindstod bei Elfs Schwester leidet. Irgendwann entdeckt sie im Verlauf auch noch ein eigenes unterdrücktes Geheimnis.

Am blassesten kommt Griff, der Schlagzeuger, weg, wie so viele Schlagzeuger der Welt (vielleicht abgesehen von Charlie Watts). Seine Persönlichkeit beschränkt sich auf den Tod des Bruders und ein paar Frauengeschichten. Und Schlagzeugspielen.

Die vier entwickeln sich gemeinsam weiter, werden musikalisch besser, touren durch England und die USA, geben Konzerte, schuften Tag und Nacht in Studios und lassen auch keine Party aus.

Alles in allem also alles genauso, wie man sich ein Bandleben in den späten Sechzigern so vorstellt. Ist das Buch von David Mitchell deshalb eine stereotype Flachpass-Geschichte?

Eigentlich eher nein. Denn es drängt sich der Eindruck auf, dass David Mitchell genau das wollte. In diesem Autor schlummerte ganz offensichtlich über all die Jahre genau dieses Werk, denn seine Begeisterung für den Zeitgeist der Sechziger und Siebziger mit der Hippie-Flower-Power-Anti-Vietnam-Bewegung, sein Detailwissen zu den historischen Ereignissen, weltpolitisch wie in den Straßen von San Francisco, und seine Faszination und seine Kompetenz für die Musik der damaligen Zeit sind unverkennbar. Da hat sich einer seine Leidenschaft von der Seele geschrieben. Man sieht förmlich seine strahlenden Augen und das ist manchmal ein wenig ansteckend.

Literarisch ist „Utopia Avenue“ allerdings nicht Mitchells bestes Werk und zum Beispiel mit „Wolkenatlas“ nicht vergleichbar. Stellenweise hat man fast das Gefühl, er hat bestimmte Passagen einem Ghostwriter oder aufstrebenden Jungautor übergeben. Geradezu plump wirkt sein(?) Stil, wenn er krampfhaft versucht, längere Dialoge aufzulockern. Ein Beispiel:

„Würde das nicht alles ändern?“

Ein Müllwagen rumpelt vorbei.

„Dein Leben wartet, Jasper!“

Der Auflockerungs-Müllwagen taucht immer mal wieder auf. Ebenso der zwitschernde Vogel oder das schreiende Kind auf der Straße vor dem Haus. Zwanghafte Bildeinschübe in einem einzigen Satz, die man in dieser Form nicht mal mehr in den Volkshochschulkursen für kreatives Schreiben in Wanne-Eickel oder Bad Ischl durchgehen lassen würde.

Dennoch ist David Mitchell in Summe ein durchaus unterhaltsames Buch gelungen. Die einleitend abgefragten Grundkenntnisse sind hilfreich, aber keine Conditio sine qua non.


Genre: Erzählung, Gesellschaftsroman, Historischer Roman, Roman
Illustrated by Rowohlt

Leben

In seinem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik ausgezeichneten, autobiografischen Buch von 2013 mit dem Titel «Leben» schildert der Schriftsteller David Wagner die Geschichte seiner Organ-Transplantation. Wegen einer Autoimmun-Hepatitis, die dazu führt, dass die Leber als Fremdkörper aus dem Organismus ausgestoßen wird, wartet er als todkranker junger Mann auf ein Spenderorgan. Das Buch beginnt mit einem Anruf aus dem Krankenhaus, in dem ihm mitgeteilt wird, dass eine passende Spenderleber gefunden wurde und er umgehend zur Operation kommen solle. Die Erzählung ist, deutlich markiert, in zwei Teile getrennt, in Vor und Nach der Operation. Gegliedert in 277 unterschiedlich langen, völlig ungeordneten Erzählschnipseln endet sie mit einem Epilog, in dem im Medizinerlatein vom Ergebnis der ersten Kontroll-Untersuchung berichtet wird, die routinemäßig ein Jahr nach dem Eingriff durchgeführt wurde und die zu einem positiven Ergebnis geführt hat.

So sehr er auch darauf gewartet hat, ein Spenderorgan zu bekommen, so sehr kommen ihm anfangs auch die Zweifel, ob er sich dieser sein ganzes Leben verändernden OP wirklich unterziehen soll. Es drängen sich ihm plötzlich viele Fragen auf: Wie wird sich das Leben für ihn ändern in dem Bewusstsein, ein fremdes Organ in sich zu tragen? Mit welchen Komplikationen muss er rechnen? Ist er danach wirklich noch der Selbe? Lebt er dann nicht auf Kosten des unbekannten Spenders? Ist so ein Leben überhaupt erstrebenswert? Lohnen sich denn die Opfer, die er dafür bringen muss? Und bekommt er mit der neuen Leber letztendlich auch wirklich die Chance, länger leben zu können? Solche Fragen stehen im Mittelpunkt dieser Erzählung von einer Transplantation, von der familiär auch sein Kind und sein Vater betroffen sind.

In vielen Rückblicken erzählt er Begebenheiten und Erlebnisse aus seinem Leben, berichtet von seinen Gedanken, Hoffnungen, Ängsten und seiner Verzweiflung. Er reflektiert über das Leben und über den Tod, über moralische Fragen, aber auch über die emotionalen Herausforderungen und Zumutungen, die seine Krankheit für ihn und die Seinen bedeutet, und natürlich auch über die Chancen, die sich damit für ihn ergeben könnten. Wie von einer Insel aus beobachtet er aus der Geborgenheit seines Krankenbettes heraus die medizinischen und pflegerischen Aktivitäten des Personals, das sich unermüdlich rund um die Uhr um ihn und seine Bettnachbarn und Leidensgenossen bemüht. Die Langweile eines zumeist im Bett liegend und vor sich hindösend verbrachten Tagesablaufs ermuntert manchen Kranken sogar zu Lebensbeichten. Sie reden also nicht nur über ihre Krankheiten und Gebrechen, sie berichten auch von Schicksals-Schlägen. So etwa der Libanese, der davon erzählt, dass er seine beiden Brüder im Bürgerkrieg verloren hat. Und da ist auch der Getränkehändler im Nachbarbett, der sich heimlich aus ihrem Zimmer davonschleicht, um seine Geliebte zu besuchen, wie er gesteht. Immer wieder schielt auch der Ich-Erzähler nach den Frauen, die ihn umsorgen und dabei Sehnsüchte in ihm wecken, deren er sich in seiner hilfsbedürftigen Situation durchaus schämt, die er aber partout nicht zu unterdrücken vermag.

Als Buch ohne Gattungsbezeichnung besteht «Leben» aus literarischen Miniaturen, die in ihrer Fülle und thematischen Vielfalt ein enges narratives Geflecht bilden. Darin enthalten sind neben Glücksmomenten voller Zuversicht auch dramatische Szenen des Überlebens-Kampfes und der Todesnähe. Die phonetische Nähe der dieses Buch prägenden Begriffe «Leben» und «Leber», die für den Ich-Erzähler ja fast identisch sind, führen dann prompt auch tatsächlich einmal dazu, dass er sie in einer SMS verwechselt. Stilistisch distanziert, oft essayartig  erzählt, wirkt dieses nachdenklich machende Buch gleichwohl berührend auf den Leser. Nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil er ja jederzeit selbst an einem solchen Kipppunkt seines Lebens stehen könnte.

Fazit:  lesenswert

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Genre: Belletristik, Essay
Illustrated by Rowohlt

Kaltblütig

Ohne den genre-typischen Horror

Mit «Kaltblütig», seinem bekanntesten Werk, hat der amerikanische Schriftstellers Truman Capote das neue literarische Genre New Journalism  geschaffen, den Tatsachenroman. Darin schildert er mit den narrativen Methoden einer literarischen Erzählung den im November 1959 tatsächlich passierten, vierfachen Mord an der Familie des Farmers Clutter im Westen des US-Staates Kansas. Darauf aufmerksam geworden ist er durch einen Artikel in der Zeitschrift «The New Yorker». Er begann schon bald mit umfangreichen Recherchen zu dem großes Aufsehen erregenden Fall. Sein Buch erschien dann sechs Jahre später. Er musste sogar warten, hat er erklärt, bis die Hinrichtung der beiden Täter nach verfahrens-technischen Verzögerungen dann auch tatsächlich stattgefunden hatte. Und wer nicht vorinformiert ist als Leser, dem winkt natürlich der größte Lesegewinn, was spätestens ab dieser Stelle hier wirklich wohlmeinend zur Nachahmung empfohlen wird!

Aus wechselnden Perspektiven erzählend berichtet der Autor zunächst sehr ausführlich von der Familie Clutter, deren Oberhaupt es als strebsamer, prinzipientreuer Farmer zu einigem Wohlstand gebracht hat. Er ist als fairer Arbeitgeber bei seinen Arbeitskräften sehr beliebt und zahlt gut. Im Haus wohnen außer den Eltern die halbwüchsige Tochter Nancy und der kleine Kenyon. Zwischen die Beschreibungen der Opferfamilie wird immer wieder mal ein kurzer Schwenk zu den Tätern eingefügt, dem 28jährigen Dick und seinem 31jährigen Kumpel Perry. Die Beiden kennen sich aus dem Gefängnis, wo sie für unterschiedliche Straftaten einige Jahre eingesessen haben. Dick hat ebenfalls dort von Floyd Wells, einem Mitgefangenen, von der Farm der Clutters gehört, wo Floyd ein Jahr lang gearbeitet hat. Dort im Büro befände sich ein Tresor, der tausende von Dollars enthalten müsse, so reich wie Clutter ist. Nach ihrer Entlassung beschließen Dick und Perry, diese Farm, die sie nur aus der Erzählung kennen, nachts zu überfallen. Um nicht erkannt zu werden, wollen sie sich schwarze Damenstrümpfe über den Kopf ziehen. Die sind aber nirgendwo zu bekommen in der dünn besiedelten, ländlichen Gegend. Der Überfall findet statt, ein Tresor aber ist nicht vorhanden, denn Mr. Clutter hat aus Prinzip nie Bargeld im Haus, er zahlt immer nur mit Scheck. Als Bargeld aus den verschiedenen privaten Geldbörsen der Familie kommt letztendlich nur ein Betrag von 40 Dollar zusammen, ein Fiasko für die Verbrecher. Denn ohne Maskierung müssen sie ja alle Anwesenden als Augenzeugen töten, um unerkannt zu bleiben. Und das tun sie denn auch, absolut kaltblütig!

Die Polizei steht vor einem Rätsel, es wurden kaum Spuren hinterlassen, und es fehlt vor allem auch ein Motiv für die schrecklichen Morde, mit dem sich ein Täterkreis eingrenzen ließe. In der kleinen Ortschaft kursieren die wildesten Gerüchte, aber die Clutters waren als brave Kirchgänger überall sehr beliebt, niemand hätte einen Grund gehabt, sie alle umzubringen. Die um drei Beamte des FBI verstärkte Mordkommission bekommt nach drei Monaten plötzlich einen Tipp von Floyd Wells, der als Informant für die Tat lange gezögert hat, sich zu melden, weil er nicht mit hineingezogen werden wollte. Nun geht alles ganz schnell, die Täter werden gefasst, vor Gericht gestellt und zum Tod durch den Strang verurteilt.

Minutiös berichtet Truman Capote von der spannenden Ermittlungsarbeit, dem komplizierten Prozessverfahren, und er legt zudem geradezu sezierend die psychologischen Defekte der Täter offen, denen bis zuletzt, bis zum Galgen, aber jedes Unrechts-Bewusstsein fehlt. Auch hier gilt «Der Weg ist das Ziel», dieser journalistisch präzise erzählte Bericht ist eine bereichernde Lektüre, die so ganz ohne die genretypischen Horror-Szenarien auskommt.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Roman unserer Kindheit

Allenfalls für Splatter-Fans

Der dritte Roman im Œuvre der Schriftstellers Georg Klein mit dem Titel «Roman unserer Kindheit» wurde im Jahre 2010 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Erzählt wird darin eine autobiografisch inspirierte, aber auch eine surreale, phantastische Geschichte von einer Gruppe von Kindern. Dabei verändern sich zunehmend die realen und irrealen Verflechtungen des Plots, und ebenso wird auch der kindlich geprägte Erzählstoff von den Grausamkeiten der Erwachsenenwelt überschattet und schließlich dominiert. Zeitlich ist diese Coming-of-Age-Geschichte in den frühen sechziger Jahren angesiedelt, örtlich spielt sie sich im Ruhrpott am Rande von Oberhausen ab, in einer Neubausiedlung mit vier Wohnblöcken. Dort tummelt sich während der großen Ferien, einen scheinbar ewig dauernden Sommer lang, eine wahrhaft illustre Schar von fast dreißig Kindern in einem immer düsterer erscheinenden ‹Sommernachts-Traum›, der zum Albtraum wird.

Die Hauptrollen in diesem Roman spielen acht Kinder, die im «erbsengrünen, kanariengelben, türkisen und knochenbleichen weißen» Wohnblock leben und immer nur mit ihren Spitznamen genannt werden: «Der große Bruder, der Schniefer, der Ami-Michi, der Wolfskopf, die schicke Sybille, die Schwester der schicken Sybille, die winzigen Zwillinge». Das zugrunde liegende narrative Prinzip des Romans ist eine Schwarz/Weiß-Teilung mit Tag- und Nachtseite bzw. profan/realer Oberwelt und schaurig/schöner Unterwelt. Das findet sich dann auch in den die Stimmung anzeigenden Kapitel-Überschriften Sonnen-/Regentag wieder, die zum Ende hin, mit Ausnahme des Schlusskapitels, nur noch Sommernacht heißen. Es beginnt mit einem Fahrradunfall, bei dem sich der «Große Bruder» eine schmerzhafte Verletzung am Bein zuzieht. Um weiter mit den Spielkameraden zusammen sein zu können, die an den schönen Sommertagen im Freien herumziehen, baut seine Mutter einen alten Kinderwagen so um, dass er darin sitzen kann. Die Freunde können ihn nun überall hin mitnehmen bei ihren ausgedehnten Streifzügen durch die Umgebung, zu der auch eine amerikanische Kaserne gehört. Aber auch der alte Braukeller übt eine magische Anziehungskraft auf die Clique der Siedlungskinder aus.

In einer stilistisch seinen jugendlichen Figuren angepassten Sprache schildert der Autor aus den Perspektiven wechselnder Ich-Erzähler deren kindliche Erlebnisse und die Ereignisse in der Siedlung. Auf einer metaphysischen Ebene wird vom taubstummer «Kiki-Mann» der Mord eines der Kinder prophezeit, es bleibt aber offen, von welchem. Weitere Gestalten in dieser mysteriösen Zwischenwelt sind Kriegsveteranen wie der «Mann ohne Gesicht», der «Fehlharmoniker» oder der «Kommandant Silber», deren Bedeutung vom Autor ganz bewusst im Unklaren gelassen wird, er belässt es bei Andeutungen. Sein Erzählkosmos ist bevölkert von Monstern, bedrohlichen Tieren, es gibt eine «gefledderte Leiche», ein «blutendes Architekturmodell», eine «fremdzüngelnde Sterbende» und anderes Skurrile mehr. Am Ende rutscht der Roman vollends ins Splatter-Genre ab, in ein blutrünstiges Horrorszenario mit exzessiver Gewalt.

Man fragt sich als vom Buchtitel überrumpelter und vom Inhalt entsetzter Leser, was Georg Klein mit seinen ominösen Andeutungen, die sich letztendlich allesamt als großer Bluff herausstellen, denn nun wirklich bezweckt. Allein schon mit seinem göttlichen Ich-Erzähler treibt er literarisch den Spuk auf die Spitze. Durch eine grenzenlos angeheizte Phantasie des Autors wird ein extremer Grad von Suggestion erreicht, die aber ihr Versprechen unerfüllt lässt, weil man ihr nicht folgen kann, allenfalls als Splatter-Fan. Nimmt man als Maßstab den Grad der Verunsicherung, die beim Leser erzeugt wird, ist dieser Roman ein literarisches Meisterwerk. Gemessen aber an den legitimen Erwartungen nach einer bereichernden und erfreulichen Lektüre, ist man geradezu entsetzt über diesen mit einem Buchpreis gekrönten Roman!

Fazit:   miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Die schönste Version

Feministische Grenzüberschreitung

Der Debütroman «Die schönste Version» von Ruth-Maria Thomas greift ein Thema auf, das so alt ist wie die Menschheit, die Beziehung zwischen Mann und Frau, hier allerdings in einer toxischen Variante. Das Buch wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert und von den Feuilletons wie auch in Leser-Kommentaren positiv aufgenommen, weil es das Entstehen einer toxische Beziehung und deren Vorbedingungen plausibel und in einer tiefgründigen, geradezu sezierenden Weise offen legt.

Gleich zu Beginn des Romans eskaliert ein heftiger Streit der Studentin Jella mit ihrem eifersüchtigen Freund Yannick, der sie eine Hure nennt und handgreiflich wird. Das Gerangel der Beiden endet damit, dass er sie würgt und ihr dabei Mund und Nase zuhält, sie droht zu ersticken. In Todesangst greift sie nach einer Pfeffermühle und schlägt sie ihm auf den Kopf, woraufhin er sie loslässt. Jella flieht aus der Wohnung und sucht Hilfe bei einer gerade vorbei kommenden  Joggerin, die ihr dringend rät, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Was sie, nach kurzem Zögern, dann auch tut. In Rückblenden erzählt Jella von ihrer Jugend in einem kleinen Städtchen in der Lausitz, das von Kiesgruben bedrängt ist. Ihre Mutter ist vor der Tristesse der ländlichen Umgebung in die Stadt geflüchtet, Jella wohnt nun bei ihrem wortkargen, genügsamen Vater. Sie gehört zu den Digital Natives, ist eine gute Schülerin und, wie ihre Freundinnen auch, an Kleidern und Kosmetika interessiert, will den Jungens gefallen. Ihre Unschuld verliert sie bei einer Vergewaltigung, hat dann einige One-Night-Stands und trifft schließlich auf den deutlich älteren Yannick. Er ist zeichnerisch begabt, fühlt sich als Künstler, muss aber für seinen Lebensunterhalt arbeiten gehen. Ihre Liebe ist wie ein Rausch, Jella erlebt eine beglückende Sexualität, sie können beide nicht genug voneinander bekommen. Als sie schließlich zusammen eine Wohnung mieten, scheint Jellas Glück vollkommen.

In dieser Geschichte einer schwierigen Frauwerdung wird ungeschönt und in einer das Milieu stimmig abbildenden Sprache geschildert, wie die Protagonistin vergeblich versucht, ihr Leben ‹auf die Reihe zu bekommen›. Sie taumelt mit ihren Freundinnen mächtig ‹aufgedonnert› und alkoholisiert von Party zu Party, ist aber immer enttäuscht von den Männern, mit denen sie sich dabei abgibt, weil deren Motive durchschaubar und deprimierend zugleich sind. Jella ist durch kitschige weibliche Ideale geprägt, die sie mit Yannis als verwirklicht betrachtet, bis alltäglicher Zwist die vermeintliche Idylle zunehmend stört, was bei Beiden zu wachsender Aggressivität und schließlich zu der gewalttätigen Grenzüberschreitung führt. Entsetzt versucht Jella, die wieder zu ihrem Vater gezogen ist, die erlittene Gewalt herunterzuspielen. Sie habe ja schließlich kein blaues Auge abbekommen und keine äußerlichen Verletzungen erlitten, sie sei ja nicht verprügelt worden, – also alles halb so schlimm? Sie überlegt sogar ernsthaft, ihre Strafanzeige zurückzuziehen, will sich wieder mit Yannis versöhnen, sie haben doch so gut zusammen gepasst, und er war immer so liebevoll zu ihr.

Die Autorin versteht es, die sentimentalen Träume ihrer desorientierten Heldin bis in die tiefsten Abgründe auszuleuchten, ohne je auf vorgezeichnete psychologische Deutungsmuster zurück zu greifen. Sie schildert vielmehr, mit dem authentisch klingenden Vokabular ihrer jungen Protagonistin, im Jugendsprech der Millenniels also, deren widersprüchliche Prägungen, die sie zu allerlei realitätsfernen Gedankengängen verleiten. Leider aber führen ihre chaotischen Traumbilder Jella nicht zu einem stimmigen Lebensentwurf hin, da passt Vieles nicht zusammen in ihrem Weltbild. Es ist die für «ältere Semester» unter den Lesern bereichernde, minutiöse Darstellung dieser inneren Zerrissenheit, die den in seinem Plot ziemlich spannend angelegten, feministischen Roman zu einer empfehlenswerten Lektüre macht.

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Der Klimaatlas- 80 Karten für die Welt von morgen

Luisa Neubauer ist das Gesicht von Fridays for Future, der „unideologischen Bewegung“, leiteten sie doch ihre Aktivitäten von Studienergebnissen ab. „Wissenschaftliche Bekenntnisse sind das stärkste Argument gegen Klimazerstörung,“ dachten sie.

Aber, warum ist FFF verschwunden?

An der Wissenschaft liegt es nicht, und so werden von den Autoren andere Wege gesucht, und gefunden, diese Erkenntnisse bekannter zu machen.

Dazu kommt ein Buch im DIN A4 ähnlichen Format, knapp zweihundert Seiten, mit großflächigen Abbildungen. Die Kapitel werden durch Texte eingeleitet, die in sehr hellem Grau gehalten und für Ältere nicht gut lesbar sind. Umso farbiger sind die Abbildungen.

Die ersten beiden Kapitel beschreiben die Lage, dass weltweit Frühlinge früher beginnen, die Temperaturen ansteigen.

Dass der ökologische Wandel ein komplexeres Geschehen ist, wird im dritten Kapitel eingeleitet: Es ist mehr als der CO2 Anstieg. Lebensräume sind bedroht. Arten sterben. Wie schützen wir unsere Ressourcen, die Böden und das Trinkwasser?

Im Kapitel Gesundheitlicher Wandel wird die Tatsache angesprochen, die sich durch das Werk zieht: Es trifft die Ärmeren stärker. Länder, die am Äquator liegen, sind schon bei einem Anstieg von 1,5° C nicht mehr bewohnbar, andere in deren Nähe werden es bei über 2°C nicht mehr sein. Alle Länder, die deutlich oberhalb des Äquators liegen, ob in Amerika, Europa oder Asien, also die reicheren, bleiben auch dann bewohnbar.

Und wen trifft es hier? Die Ärmeren, die kürzer leben, schlechtere Luft atmen, weniger Parks haben, keine Gärten. Eine Abbildung dazu: Dein Lamborghini schadet meiner Lunge.

Ein gesellschaftlicher Wandel ist gefragt. Dazu ist zu reflektieren, was wir anstreben und was Fortschritt ist. Und: was wer verlieren wird.

Ist unsere Welt die von Hollywood, mit breiten Autospuren, auf denen ein „PS-gestählter Superheld“ dahinbraust? Gerade diejenigen Menschen, die ohne lebensgefährdende Einschränkungen etwas für den Bestand des Planeten tun könnten, genießen diesen Lebensstil und glauben, sie hätten ihn sich verdient.

Gibt es andere Leitbilder? Es geht auch anders. In einer Abbildung werden Popheld:innen bewertet: Batman gehört der Vergangenheit an, Asterix setzt auf Technologien mit geringem Ressourcenaufwand, Lucky Luke hat einen Hauch toxischer Männlichkeit, gepaart mit einer Liebe für Eisenbahn und Empathie. Besser wird es mit Bibi Blocksberg, sie ist klimaneutral und setzt auf Frauen und Pipi sieht Kinder an der Macht, mit PS, aber ohne Auto.

Dann gibt es Vorschläge, wie die Leser: innen sich einbringen können. Die Auswahl ist groß, auf allen Ebenen können Aktivitäten entwickelt werden. Senior: innen können auf Klappstühlen den Eingang einer Bank blockieren. Und neben diesen gut hundert Vorschlägen gibt es nochmal so viele fürs Internet.

Mein Lieblingskapitel folgt: Politischer Wandel. Auf der einen Seite sind das Grundgesetz und das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Klimakrise abgedruckt, auf der anderen die Aussagen aktueller Politiker, schon Bekanntes von Lindner zum Freisein im Auto und Söder zur Bratwurst. Neu war mir das Beste: „Autobahnen sind in Beton gegossene Freiheit“ von Christoph Meyer, FDP von 2024!

Die nächsten Kapitel behandeln den wirtschaftlichen und den technologischen

Wandel mit globalen Beispielen.

In der Einleitung steht: „Wir möchten den Blick weiten, für all das, was sich kulturell, technologisch, gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich gerade verändert. Von der Energiegewinnung über die Gesetzgebung hin zu unserer Sprache und unseren Zukunftsträumen. Die Welt ist im Wandel, und das ist eine gute Nachricht.“

Das ist den Autor:innen gelungen.


Genre: Politik und Gesellschaft, Sachbuch
Illustrated by Rowohlt

Nostalgia

Hier also bin ich

Der stark autografisch inspirierte Roman «Nostalgia» des Schriftstellers André Kubiczek, dessen Mutter aus Laos stammte, beginnt wie eine Coming-of-Age-Geschichte, um dann aus laotischer Perspektive ein Frauenschicksal zu schildern, wie es beklemmender kaum vorstellbar ist. Ohne aber, trotz des Titels, nostalgisch verklärt zu sein. Die ersten zwei Teile der vierteiligen Erzählung schildern aus der Sicht Andrés dessen Schulalltag in der Spätphase der DDR. Mit seinem asiatischen Aussehen ist er in Potsdam Hänseleien der Mitschüler ausgesetzt, aber auch Schikanen einer böswilligen Lehrerin. Der jüngere Bruder des Dreizehnjährigen ist geistig behindert. Nur nicht auffallen ist die Devise von André angesichts des Alltagsrassismus, dem er ausgesetzt ist, und deshalb achtet er strikt darauf, dass ja niemand etwas von der Behinderung seines Bruders erfährt, auch seine Freundin nicht. Es ist eine Geschichte, die einem unter die Haut geht, deren Tragik aber von einem wohltuend lockeren Erzählton angenehm kontrastiert wird.

Der in der DDR geborene André ist sehr zufrieden mit seinem Leben, er kommt in der Schule gut voran, hat viele Freunde, ist gerne auch bei den Großeltern zu Besuch und erlebt all jene für einen Heranwachsenden prägenden Ereignisse. Der Autor versteht es, diese Jugend derart authentisch zu schildern, dass man häufig auch an eigenes Erleben erinnert wird. Das klingt dann auch sprachlich nicht nur so unglaublich real, dass man die Gedankengänge des Jugendlichen, seine Wünsche und Träume, aber auch seine Ängste geradezu mitzuspüren glaubt, alles scheint außerdem auch dokumentarisch echt zu sein. Für die Wessis unter den Lesern wird die sozialistische Idylle mit ihren subtilen Gängelungen und dem gehirnwäsche-artigen, politischen Weltbild äußerst stimmig beschrieben. Insoweit ist dieses Buch nicht nur ein Entwicklungs-Roman, sondern auch ein DDR-Roman.

Das kommt dann auch im dritten Teil der Geschichte zum Tragen, wenn im Rückblick Teo, die laotischen Mutter, in den Fokus rückt. Sie stammt aus einer prominenten Familie, ihr Vater war bis zum kommunistischen Putsch 1975 Außenminister von Laos und wurde dann von der eigenen Leibgarde ermordet. Während ihres Studiums in Moskau hatte Teo ihren aus der DDR stammenden Mann kennen gelernt und ist ihm in seine Heimat gefolgt, wo sie geheiratet haben und wo schon bald auch ihre zwei Söhne geboren wurden. Andrés Vater strebt eine wissenschaftliche Karriere an und schreibt an seiner Doktorarbeit, die Mutter arbeitet, deutlich unterqualifiziert, als Dolmetscherin, bis ihr Vorgesetzter auch ihr den Weg zur Promotion öffnet. Sie erkrankt aber unheilbar an Krebs, und eines Tages erhält André, der inzwischen selbst studiert, ein Telegramm mit der Todesnachricht. Über seinen Kommilitonen, der ihm kondoliert, heiß es im Buch: «Jens weiß, wie es ist, keine Mutter zu haben. Er hat seine eigene vor Jahren an einen Mann verloren, der nicht sein Vater ist».

Derartig stimmige, lockere Formulierungen finden sich viele in diesem Roman, der die Chronologie virtuos negiert und dann am Schluss eben damit endet, dass die junge Teo mit ihrem Samsonite-Koffer, «der T34 unter den Koffern der Welt», wie ihr Mann meint, am Bahnhof ankommt. Sie war nach Moskau geflogen und mit dem Nachtzug nach Berlin weiter gefahren, wo sie der Vater ihres Mannes abholt. Sie tritt auf den Bahnhofs-Vorplatz und denkt: «Hier also bin ich». Mit ihrem ersten Schritt ins Unbekannte, in ein neues Leben für die junge Loatin, endet diese Geschichte schließlich, so paradox es scheint. Alle Figuren werden so lebensecht geschildert und sind durchweg so sympathisch, dass man sich nur schwer von ihnen trennen kann. Der Roman wurde für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert, man kann dem in Anbetracht seiner literarischen Qualitäten nur zustimmen!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
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Vierundsiebzig

Nervige Arabesken

Der zweite Roman von Ronya Othmann mit dem kryptisch erscheinenden, tatsächlich aber für unsägliche Gräuel stehenden Titel «Vierundsiebzig» schließt an ihren Debütroman an. Der hat ebenfalls die Ethnie der Jesiden zum Thema, eine etwa eine Million Angehörige zählende Volksgruppe im Kurdengebiet zwischen Syrien, dem Irak und der Türkei. Diese auf keinen heiligen Schriften, sondern nur auf mündlich weitergegebene Regeln beruhende Sekte wurde Opfer des IS, dem eine Theokratie anstrebenden ‹Islamischen Staat›. Es war das historisch 74ste Genozid, dem die «Teufelsanbeter» und Ungläubigen, wie die Islamisten sie nennen, in ihrer Geschichte ausgesetzt waren. Der Vater der Autorin ist ein säkularer kurdischer Jeside, der mit einer Deutschen verheiratet ist. Womit er sofort, nach den strengen Regeln der Sekte, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen ist, denn Jesiden dürfen nur unter sich heiraten.

Ronya Othmann wurde in München geboren, ist im Landkreis Freising aufgewachsen und hat Literatur studiert. Im Fernsehen erfährt sie 2014 von den Gräueltaten an den Jesiden und sieht die flüchtenden Menschen, die ihre dort in Shingal lebenden Verwandten seien könnten. Sie müssen jetzt um ihr Leben rennen vor den Mördern des IS, sie ist entsetzt! Sie war schon öfter dort und hat mit dem Vater ihre Verwandtschaft besucht, und nun herrscht dort ein unbeschreiblicher Terror. Mit journalistischem Eifer beginnt sie, ihren Vater zu befragen und andere Jesiden, die sie kennt und die, wie 200.000 andere, in Deutschland in der weltweit größten Diaspora leben. In der Bibliothek findet sie Reiseberichte, die bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichen, sie studiert alles, was mit  der Geschichte der Jesiden zu tun hat und recherchiert im Internet. Immer wieder katalogisiert die Sammelwütige ihre Flut von Notizen, ordnet unzählige Ton- und Videoaufnahmen auf ihrem Smartphone und kopiert sie auf eine Festplatte. Im Jahre 2018 reist sie dann erstmals wieder mit ihrem Vater nach Shingal, um Material zu sammeln, sie möchte ein Buch über den 74sten Genozid schreiben. Diese Reise, der noch zwei weitere folgen, bildet den erzählerischen Rahmen für ihre Geschichte, deren Entstehen sie ebenfalls ausführlich schildert und das sie dann mit den Erlebnissen und Erfahrungen auf ihrer Reise zu einem gemeinsamen Erzählstrang verknüpft.

Die Autorin hat ihr Buch als Roman bezeichnet, und so ist es denn auch vom Verlag deklariert, was in den Feuilletons verschiedentlich beanstandet wurde. Es sei eher ein Reisetagebuch, eine Autobiografie, Dokumentation, Geschichtsschreibung oder subjektive Reportage, kann man da lesen. Andererseits, und das entspricht dann doch einem Roman, ist das Buch deutlich fiktional angereichert und enthält auch einige poetische Einsprengsel. Nachdem die kurdischen Peschmerga den IS zurückgedrängt hatten, sind die vertriebenen Jesiden allmählich in ihre Heimat zurückgekehrt. Ihr auch als Dolmetscher fungierender Vater besucht mit ihr die Verwandtschaft, gemeinsam bereisen sie das ehemalige Jesiden-Gebiet. Immer wieder treffen sie dabei auf freundliche Leute, die ihnen gern weiterhelfen, wenn eine Fahrt an den Straßensperren der verschiedenen militärischen Gruppierungen zu scheitern droht.

Mit scharfem Blick für Details registriert die Autorin fast alles und beschreibt es minutiös. Die gastfreundlichen Menschen, sogar Soldaten oder Beamte, bieten ihnen sofort Tee an, wenn sie auf etwas warten müssen. Geschätzt Hunderte von Malen wird da Tee getrunken. Spätestens ab der Hälfte des gut gemeinten und absolut wichtigen, dickleibigen Buches beginnt man sich zu ärgern über diese immergleichen, banalen Beschreibungen und die unzählbaren, oft wortwörtlichen Wiederholungen. Erzählerische Arabesken mithin, die nicht kitschig, sondern einfach nur nervig sind. Da ist ein erstmaliger IS-Prozess vor dem Oberlandesgericht München mit einer grandiosen Urteilsbegründung geradezu ein Labsal für den frustrierten Leser. Schade eigentlich, aber literarisch nicht überzeugend!

Fazit:  mäßig

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Genre: Roman
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Iowa – Ein Ausflug nach Amerika

Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten

«Iowa», das neue Buch der unter ihrem Künstlernamen Stefanie Sargnagel schreibenden, österreichischen Schriftstellerin S. Sprengnagel, trägt den Untertitel «Ein Ausflug nach Amerika». Dieses fiktional angereicherte Reisetagebuch beschreibt einen Aufenthalt der Wiener Autorin in der Kleinstadt Grinnell, mitten in der Einöde Iowas. Das exklusive Elite-College von Grinnell hat sie 2022 zu einem zeitlich begrenzten Lehrauftrag über Creative Writing eingeladen. Sie reist zusammen mit ihrer zwanzig Jahre älteren Berliner Freundin, der Sängerin Christiane Rösinger, die vom College für einen Festabend engagiert wurde. Und die ist es denn auch, die dem Buch äußerst amüsante, korrigierende Fußnoten hinzufügt. Wie schon der ulkige Künstlername vermuten lässt, geht es in dieser Road Novel ziemlich lustig zu.

Genüsslich arbeitet die Autorin in ihrer Geschichte alle, aber auch wirklich alle Klischees ab, die es über die USA gibt, und zwar alle, die man schon kennt, und viele, die es noch zu entdecken gibt in diesem Buch. Für die beiden Großstädterinnen ist das langweilige Kaff ein Kulturschock der besonderen Art. Und es ist nicht nur das allgegenwärtige Fast Food, es sind auch ansprechend erscheinende Restaurants, die sich als permanente Enttäuschung und resigniert hinzunehmendes Ärgernis herausstellen. Erstaunt sehen sie in einer Bar zum Beispiel ein Glas voller eingelegter Truthahnmägen, Gipfel der skurrilen Genüsse, die man in Iowa offensichtlich goutiert. Die beiden Frauen taumeln  von einer kulinarischen Zumutung zur nächsten und landen in «abgeranzten Bierspelunken». Nichts schmeckt, alles ist lieblos zubereitet. Und das gilt nicht nur für die amerikanische Küche, sondern auch für die dort häufig vertretene asiatische, welche die Beiden aus Österreich oder Deutschland ganz anders kennen. Und bei den Getränken ist es besonders die überall gleiche Plörre, die man bekommt, wenn man Kaffee bestellt, was die Freundinnen dann jedes Mal aufs Neue verzweifeln lässt.

Die Beiden erleben bei ihren Ausflügen immer wieder skurril anmutende Überraschungen, sei es in den kleinen Läden des Ortes, in merkwürdigen Museen, in Second Hand Shops, in den Waffengeschäften oder im Walmart, dem riesigen Supermarkt. Oft spazieren sie durch den menschenleer erscheinenden Ort, wo niemand mehr zu Fuß unterwegs ist und man selbst für zweihundert Meter lieber ins Auto steigt als zu laufen. Die Menschen sind fast alle übergewichtig, ernähren sich falsch und bewegen sich zu wenig. Mit scharfem Blick erfasst die Autorin all die kulturellen Unterschiede und erzählt sie dann liebevoll spöttisch, aber schonungslos ehrlich, manchmal sarkastisch, aber unverkennbar auch voller Sympathie. Ihr Vergleichs-Maßstab dabei ist das für sie vermeintlich anarchische, politisch rechtslastige Österreich.

Die Kettenraucherin Stefanie Sargnagel gibt sich im Buch als typisch grantelnde Wienerin, die ihren Frust im Alkohol ertränkt, und ihre Freundin hält als bühnenerprobte Punksängerin dabei meistens wacker mit. Die Autorin, eine ausgewiesene Feministin, spricht mit ihr über ihren latent vorhandenen Kinderwunsch, übers Älterwerden, über Künstlertum, Geschlechterrollen oder über die Abtreibungs-Debatte in den USA. Sie verliert sich, meist leicht beschwipst, in unpathetischen Selbst-Analysen oder sinniert zum Beispiel über Frauen-Freundschaften. Und es ist denn auch gerade ihre Freundschaft, die verschiedenen Charaktere der Beiden, die den besonderen Reiz dieses Buches ausmachen, besonders in den funkelnden Wortgefechten. Sprachlich salopp und immer ironisch wird hier ein Klischee nach dem anderen bedient. Dabei bieten sich jedoch en passant auch viele erkenntnisreiche Einblicke in das «Land der unbegrenzten Möglichkeiten», zu denen leider auch eine durch keinerlei soziale Unterstützung abgemilderte, geradezu archaisch anmutende Armut gehört.

Fazit:  erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Drifter

Das Geschirr neu sortiert

Auf raffinierte Weise steuert «Drifter» von einem rasanten Gegenwartsroman zu einer ziemlich durchgeknallten Erzählung hin, steigert also das Irreale dieser amüsanten Gegenwarts-Geschichte von Ulrike Sterblich genüsslich bis zu einem Feuerwerk der Absurditäten. Der Ich-Erzähler Wenzel und sein Freund Marco Killmann, von allen nur Killer genannt, sind seit frühster Jugend ein unverbrüchliches Freundespaar. Sie leben am Rand einer Großstadt in einem dafür typischen Hochhaus-Viertel. Gegensätze ziehen sich an, glaubt man einer alten Volksweisheit, vielleicht ergänzen sich die unterschiedlichen jungen Männer ja gerade deshalb so gut. Vom ersten Moment an jedenfalls sind einem die beiden Figuren überaus sympathisch, ihre Geschichte bildet stimmig die Jetztzeit ab, mit dem dazugehörigen Wording der Yougsters.

Es ist vordergründig die Geschichte einer Freundschaft, die da erzählt wird. Wenzel arbeitet nach abgebrochenem Publizistik-Studium im Community-Team eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders, dessen Social-Media-Kanäle er betreut. Ein wahrlich frustrierender Job angesichts der oft banalen, zuweilen aber auch wütenden bis bösartigen Äußerungen der Zuschauer. Der belesene Wenzel verkörpert den melancholischen Verlierer-Typ, er hat resigniert und seine hehren Träume vom Journalismus aufgegeben. Bei den Frauen ist er gleichermaßen erfolglos, ein kurzes Techtelmechtel mit seiner Kollegin endet abrupt, als die sich in den glamourösen Sieger des Hahnenkamm-Skirennens verliebt. Sein Freund Killer, ein eloquenter und sympathischer Draufgänger, ist hingegen ein äußerst geselliger Typ. Er ist PR-Chef eines großen Lebensmittel-Konzerns, ein lukrativer Job. Nur hadert er, insgeheim natürlich, mit der seiner Ansicht nach fragwürdigen Compliance seines Arbeitgebers, die er ja nach außen hin überzeugend vertreten muss.

Der eigentliche Plot des Romans ist eine mysteriöse Geschichte, die damit anfängt, dass Wenzel in der S-Bahn eine Frau im goldenen Kleid sieht, die ein Buch des Schriftstellers «Drifter» in Händen hält. Als glühender Anhänger kennt Wenzel alle Bücher dieses Autors, nicht jedoch «Elektrokröte», wie der Titel des ihm unbekannten Buches der Frau heißt. Sein Buchhändler kennt das Buch auch nicht, will es bestellen, findet es aber nicht in den Computer-Listen. Durch Zufall trifft er die mysteriöse Frau wieder, die sich als die erfolgreiche Social-Media-Entertainerin Ludovica Malabene entpuppt, kurz Vica genannt. Sie kann zaubern, gibt Geldanlage-Tipps, will in die Buchbranche investieren. Was folgt ist ein turbulenter, sich zunehmend ins Absurde hinein steigernder Plot. Wenzel schreibt eine immer länger werdende Liste der Fragen, die er an Vica hat, die er ihr aber noch nicht stellen konnte mangels Gelegenheit. Killer wird beim Besuch der Pferde-Rennbahn von einem in unmittelbarer Nähe einschlagenden Blitz getroffen. Er trägt nur äußerliche Blessuren davon, hat sich aber mental verändert, hört plötzlich «A-cappella-Gesang aus Pustgeräuschen», wo nichts zu hören ist, riecht überall Orangen, ‑ und fängt dann auch noch an zu philosophieren. Er ist nicht mehr der alte ‹Killer›, schmeißt schließlich sogar seinen Job hin. «Es ist nicht so», heißt es im Roman, «als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber er hat das Geschirr neu sortiert.»

Dem magischen Realismus verpflichtet, streut Ulrike Sterblich ideenreich und lässig neben vielen skurrilen Figuren auch tanzende Hunde ein in ihre Geschichte, psychoaktive Pilze und wundersam variable Gebäude jenseits aller Statik, immer nach dem Motto: ‹Nichts ist unmöglich›! Damit verbunden ist auch eine deutliche Gesellschaftskritik, die ironisch und fein dosiert daherkommt, realisiert oft durch angesagte Nerd-Diskurse ihrer Figuren, beispielweise über die Frage, ob es eigentlich auch Horror-Opern gibt. Was dann natürlich zu der erwartbaren Antwort führt: «Du, alle Opern sind Horror!» Mit der Zeit nehmen die immer verwegeneren Winkelzüge und bewussten Irritationen allerdings überhand, verwirren als Albernheiten zunehmend den Leser, mäandern ziellos ins Sinnfreie. Seinen Spaß hat man trotzdem!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
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Crossroads

Jonathan Franzen hat es wieder getan.

Mit „Crossroads“ geht Franzen konsequent den Weg weiter, den er in „Die Korrekturen“ bereits äußerst erfolgreich beschritten hat. Er greift einmal mehr tief hinein in diesen Schmelztiegel an Schicksalen, den man schlichtweg Leben nennt. Sein Spezialgebiet: Familienleben. In Crossroads nimmt uns der Autor mit in das Leben der US-amerikanischen Familie Hildebrandt Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts.

Pikant, wie Franzen bereits mit dem Titel spielt und Ahnungen generiert. Crossroads bedeutet im Englischen sowohl Wegkreuzung als auch Scheideweg. Nichts anderes passiert in dieser, nein doch eigentlich in jeder Familie. Zuerst treffen sich stets und überall Vater und Mutter, die aber auch beide ihre ganz individuelle Vergangenheit haben, ihre guten Seiten, aber auch ihre Marotten und Schattenseiten. Bei Franzen sind es Vater Russ, Pastor in einer Vorstadtgemeinde und Möchtegern-Gigolo, und Mutter Marion, die über die monotone Erfüllung mütterlicher und familiärer Pflichten äußerlich zur Matrone degeneriert ist. Und dann kommen natürlich wie immer früher oder später die Kinder dazu, die die Lebenswege der Eltern und ihrer Geschwister kreuzen. Mal für eine kürzere, mal für eine längere Zeit. Mal in Harmonie, oft aber wegen der divergierenden Persönlichkeitsentwicklung auch im Dissens, der bis zum Hass gehen kann. Wiedererkennungseffekte? Aber natürlich, alles andere wären erfolgreiche Verdrängungsmechanismen, um nicht von der rosa Wolke zu fallen. Clem, Becky, Perry und Judson heißen die vier beispielhaften Kinder-Charaktere bei Franzen.

Dass Crossroads nebenbei auch der Name einer kirchlichen Jugendgruppe im Buch ist, gerät in Anbetracht der Metaphorik des Gesamtromans fast zur Nebensächlichkeit.

Das Grundkonstrukt dieses Familien-Epos bietet Raum für alles, was Familien landläufig ausmacht. Da gibt es Ehebruch, Drogensucht, psychische Erkrankungen, Lebenssinnkrisen, Ablöungsprozesse, ungewollte Schwangerschaft, Geschwisterkonflikte, Trennungsabsichten, um nur die essentiellsten zu nennen. Einen erwähnenswerten zusätzlichen Fokus richtet der Autor in „Crossroads“ auf das Thema Glauben. Das Panoptikum religiöser Überzeugungen reicht von Religion als Job über eine völlig kritikunfähige Verblendung sowie die Rückkehr zum Glauben durch eine plötzliche, imaginäre Erleuchtung bis hin zum überzeugten Atheismus. Dabei nimmt Franzen scheinbar die Funktion des aussenstehenden Erzählers ein. Er scheint vordergründig nicht zu werten. Nicht immer kann man ihm diese Rolle abnehmen und fragt sich dann als Leser an der ein oder anderen Stelle, ob man sich nicht doch einer geschickt gewobenen Persiflage religiöser Geisteshaltungen gegenüber sieht. Wo ist der Roman einfach nur Storytelling oder wo sind die Messages versteckt? Ein guter Autor wie Franzen lässt das offen.

All diese facettenreichen Komponenten einer Familiendynamik mixt Franzen mit einem Schuss Dramatik zu einem qualitativ hochwertigen Potpourri. Zusammen mit seinem schon in „Die Korrekturen“ bestechenden Gefühl für den richtigen Flow und das richtige Schreibtempo reiht sich Franzen mühelos ein in die lange Liste anderer großer US-amerikanischer Geschichtenerzähler wie John Steinbeck, T. C. Boyle, Ernest Hemingway und viele andere. Aber das wussten Franzen-Leser ja schon.

In Summe beste Unterhaltung, viel Buch fürs Geld und ganz nebenbei eine ganze Menge philosophischer und sprachlicher Highlights. Drei verführerische Kostproben aus dem Schatzkästchen eines literarischen Ausnahmekönners: „Sein Schmerz und sein Hass waren von einer horizontlosen Totalität“, „Die Abwesenheit von Negativa ergab nicht zwingend ein Positivum“ und „Hoffnung war die Zuflucht der Dämlichen“.

Und die Quelle Franzen scheint unerschöpflich. Sicherlich zur Freude des Verlags. Teil zwei und Teil drei der Generationen übergreifenden Saga sind angekündigt.


Genre: Gesellschaftsroman, Roman
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Die sieben Monde des Maali Almeida

 

Groteske aus dem Totenreich

«Die sieben Monde des Maali Almeida», der zweite Roman des sri-lankischen Schriftstellers Shehan Karunatilaka, erhielt 2022 den britischen Booker Prize. In ihrer Begründung hebt die Jury «den Anspruch, die Perspektive, das Geschick, den Mut und die Komik der Ausführung» hervor und betont, dass dieses Buch auch «weiterhin gelesen und weiterhin lesenswert sein werde.» Protagonist dieser Anfang der Neunziger Jahre in Colombo, der Hauptstadt des ehemaligen Ceylon, angesiedelten Geschichte ist der schwule Foto-Journalist Maali Almeida, der nach seinem gewaltsamen Tod in einem absurden Zwischenreich erwacht. Er habe, wird ihm vom Personal der ‹himmlischen Einwanderungs-Behörde› erklärt, sieben Tage Zeit, das «Licht» zu erreichen, gemeint ist der endgültige Übergang vom Totenreich ins Jenseits.

In einem von Geistern und Dämonen bevölkerten, grotesken Setting will der tote Kriegsfotograf diese Zeit nutzen, um herausfinden, von wem und warum er getötet wurde. Außerdem möchte er unbedingt noch erreichen, dass seine Sammlung politisch äußerst brisanter Fotos, die er vorsichtshalber immer gut versteckt hat, nun wenigstens posthum doch noch veröffentlicht wird, um damit erstmals auch einem breiten Publikum zugänglich zu werden. Er erhofft sich, auf diese Weise politischen Druck auszulösen, um die desaströsen Verhältnisse in seinem von Korruption und Bürgerkrieg gebeutelten Heimatland zum Besseren zu wenden. Im Verlauf des skurrilen Plots erinnert sich der unverbesserlich Zocker Maali Almeida an wichtige Stationen seines turbulenten Lebens und damit auch an das politische Geschehen in Sri Lanka zu jener Zeit. Tatsächlich gelingt es ihm in einem wahrhaft grotesken, irrealen Geschehen, als Toter auf die Lebenden einzuwirken, so dass seine Fotos dann auch tatsächlich ausgestellt werden. Allerdings wird damit nicht die erwartete politische Wende erreicht, der erhoffte Skandal bleibt aus.

Gleich zu Anfang dieses Totentanzes erlebt der Protagonist, wie seine, und die Leichen anderer, von dafür eigens angeheuerten Arbeitern in einem See versenkt werden sollen. Das gelingt den ziemlich trotteligen Männern aber nicht, so dass schließlich alle Toten notgedrungen ins Kühlhaus zurück transportiert werden müssen. Der Roman ist regelrecht gespickt mit grausamen Szenen. Da werden menschliche Leiber in Stücke zerlegt, es gibt scheußliche Foltermethoden, man begegnet hunderten von Leichen, die Opfer politischer Kämpfe waren, aber oft auch einfach nur willkürlich zum Tode befördert wurden. Die Todes-Schwadronen in Sri Lanka bestehen stets aus Männern, «die keine Soldaten und keine Polizisten» sind, wie es immer wieder heißt im Roman; es herrscht die reine Anarchie. Bei aller cool geschilderten Grausamkeit ist aber stets auch ein Quentchen Humor im Spiel, was der Lektüre ihren ansonsten reichlich vorhandenen Schrecken nimmt.

Man gewöhnt sich als Leser sehr schnell an die irrealen Elemente dieser kreativ gestalteten Groteske aus der Geisterwelt, die Tod und Töten als Normalität behandelt, indem ein Zwischenreich einfügt wird, das den Schauplatz dieses Romans bildet. Er spiegelt damit auf raffinierte Weise seine fiktive, unfassbare Fantasiewelt in den realen, chaotischen Zeiten des Bürgerkriegs. Erzählt wird durchweg in der zweiten Person, also in der Du-Form, und immer auch aus der Perspektive des toten Protagonisten. Dabei werden viele politische Erkenntnisse und diverse philosophische und theologische Themen, meist in Dialogform, eingeblendet, wozu nicht zuletzt die Theodizee gehört. «Jede Zivilisation beginnt mit einem Völkermord», heißt es da zum Beispiel. Ein Figuren-Register und ein Glossar helfen dem Leser bei der Lektüre des umfangreichen Romans, den man sich ein wenig gestraffter wünscht, weil er doch einige Längen aufweist. Mit oft überraschenden zeitlichen und thematischen Sprüngen erfordert er zudem, neben Durchhalte-Vermögen, auch die volle Aufmerksamkeit. «Der Roman sprudelt vor Energie, Einfallsreichtum und Ideen», so die Booker-Prize-Jury von 2022. Dem kann man letztendlich nur zustimmen!

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
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Echtzeitalter

 

Es war die Hölle

Tonio Schachinger hat mit seinem zweiten Roman «Echtzeitalter» 2023 den Frankfurter Buchpreises gewonnen. Der zunächst etwas kryptisch erscheinende Titel wird verständlich, wenn man erfährt, dass Till, der Protagonist dieser Coming-of-Age-Geschichte, ein begeisterter Gamer ist und es schon als Schüler zum anerkannten Champion des Echtzeit-Strategiespiels «Age of Empires 2» gebracht hat. Bei diesem Computerspiel agieren weltweit die Internet-Spieler in Echtzeit, also simultan und zur realen Zeit. Für den anfangs 10jährigen Pennäler eines teuren, exklusiven Wiener Internats, das Till als Externer in Ganztags-Betreuung besucht, ist das Spiel eine Art zweite Wirklichkeit, die ihm hilft, das nervige Schulleben in dieser strengen Eliteschule zu ertragen.

Vielleicht aber ist ja auch sein suchtartiger Spieltrieb Ursache für seine schulischen Probleme und damit für seinen selbstsüchtigen Eskapismus, überlegt man sich als Leser schon nach wenigen Seiten. Tills Eltern leben in Scheidung, die als Spezialistin für jugendliche Suchtprävention von Termin zu Termin eilende und nach dem frühen Tod des Vaters alleinerziehende Mutter ist ganz offensichtlich überfordert. Sie greift nicht ein, wenn ihr anfangs zehnjähriger Sohn, manchmal bis in die Morgenstunden hinein, am Computer in seiner Spielewelt verbringt. Tonio Schachinger stellt diesem ungesunden Lotterleben ein restriktives schulisches Leben gegenüber, das mit deutschen Verhältnissen vertraute Leser nicht für möglich halten dürften. Besonders der Klassenvorstand, Professor Dolinar, ist ein despotischer, schon fast sadistischer Lehrer für Deutsch und Französisch, dessen vorgestrige Lehrmethoden und erzkonservativen Ansichten eine der beiden tragenden Erzähllinie bilden. Er verdammt in großem Bogen die komplette Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, quasi alles, was nach Büchner kam. Zudem lässt er nur Deutschsprachiges gelten und beschränkt sich dabei verlagsseitig auch noch komplett auf die praktischen, gelben Reclamhefte.

Der realen Welt, hier im Extrem von Professor Dolimar verkörpert, steht mit der weltweiten Gamer-Szene, in der sich Till in jeder freien Stunde tummelt, die irreale gegenüber. Dieses Modell der zwei Welten, Schule und Leben, Alltag und Gamer-Paradies wird im Roman perfekt und mit leichter Hand in Erzählstoff umgesetzt. Ein Manko ist dabei allerdings nicht zu übersehen: Plagt man sich als Deutscher schon mit den diversen österreichischen Bezeichnungen herum, die der Autor scheinbar als allseits bekannt voraussetzt, so scheitert man erst recht beim nerdigen Gamer-Slang, mit dem Vorgänge beschrieben werden, die man ebenfalls nicht versteht. So kapituliert denn auch Tills diesbezüglich unbedarfte Mutter in einer Szene am Ende, als er zum ersten Mal versucht, sie eines seiner Computerspiele spielen zu lassen, – sie versteht kein Wort, wie wir Leser ja auch nicht! Beides, Computer- und Österreich-Slang, trübt den Lesegenuss der ansonsten flüssig zu lesenden Pennäler-Geschichte, die mit einem ironischen Unterton erzählt wird, in dem – Kästner lässt grüßen – auch viel Humor steckt.

Tonio Schachinger kennzeichnet seine Figuren vor allem durch ihre intellektuellen Fähigkeiten, die vor allem in stimmigen, wortgewandten Dialogen zum Ausdruck kommen. Neben im Roman beiläufig eingestreuter Kritik an der wohlstands-verwahrlosten Gesellschaft seines Heimatlandes ist insbesondere ein literarischer Wettbewerbs-Beitrag von Feli, der Schulkameradin und ersten Liebe von Till, eine köstliche Abrechnung mit dem Vaterland. Scharfsichtig prangert sie in ihrem Rundumschlag neben der vorgestrigen Pädagogik an ihrer Eliteschule insbesondere die nach wie vor unbewältigte Nazi-Vergangenheit vieler Landsleute an, fruchtbarer Nährboden für die anhaltende Rechtsdrift des politischen Spektrums in Österreich. Till aber, soviel sei verraten, ist nach der Matura der jüngste Topspieler der Welt. Und zu seinem Internat sagt Till am Ende nur eins: «Es war die Hölle.»

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Iowa Ein Ausflug nach Amerika

Als ich eine Rezension des Buches Iowa las, war Trump dort gerade bei den Präsidentschaftsvorwahlen als glorreicher Sieger hervorgegangen. Zwei Berlinerinnen auf einem „Ausflug“ ins ländliche Amerika: das lockte sehr. Stefanie Sargnagel und Christiane Rösinger sind als Gastdozentinnen an einer privaten Hochschule geladen, sie unterrichtet kreatives Schreiben und Frau Rösinger zum Singen. Ich kannte sie kaum, inzwischen bin ich Fan und höre ihre Lieder gerne. Sie hat „mit korrigierenden Fußnoten“ zu einigen Stellen ihren Senf dazu gegeben.

Besonders stört sie oft „das verinnerlichte ageistische Denken“. Sie könnte Stefanies Mutter sein, ist schon Großmutter. Vom Altwerden, besonders der Frauen, erhofft Stefanie nämlich nicht viel: “Es verlangte auch niemand von ihnen, in Würde zu altern. Man erwartet es von den Frauen und meint damit, dass sie sich ab fünfzig in Luft auflösen sollen.“

Sie werden in einem großen Haus untergebracht und Begrüßung von der sie betreuenden Professorin, wie Stefanie eine Österreicherin, zum Iowa Breakfast eingeladen. Mit kindlicher Neugier wird alles beobachtet: Die übergewichtigen Menschen, der Kaffee („dünne, bittere Suppe“), aber auch das Iowa Nice.

Dazu kommen zwischendurch selbstironische Bekenntnisse, über eigene Schwächen, das Rauchen, die Vorliebe für „Absturzkneipen.“ Als Christiane nach einem hochgelobten Auftritt als Sängerin zurückreist, sucht sie denn auch Trost bei bekennenden Trinkern. Und Tratschen ist „eine meiner größten Leidenschaften“ und Tratschen zu dämonisieren „antifeministisch,“ es ist ja geprägt vom Interesse an anderen Menschen.

Sie erobert die nähere Umgebung, erst mit Christiane und ohne Auto, kaufen bei Walmart Ungesundes ein, staunen über 75 Sorten Erdnussbutter. Nach Christianes Abreise dann mit der Professorin, sie besuchen ein Amish Dorf mit „50 shades of fromm.“ Entsetzt ist sie über den Besuch bei der Outdoor World, wo es T-Shirts und Poster mit Werbung für die National Rifle Association gibt. “American by Birth—NRA Member by choice.“ In der Säuglingsabteilung gibt es Strampler in Camouflage Musterung, für Mädchen mit rosa Tüllröckchen und Schleifchen.

Da sie keinen akademischen Abschluss hat, fremdelt sie etwas, sie spricht von Angst vor Akademikern. Sie nimmt an einer Dozentensitzung teil, wo es um den Umgang mit mehr Rechten der Studierenden geht, die sich über Dozenten beschweren.  Also: „Man möchte, dass Menschen, die Marginalisierung erleben, eine Stimme haben, aber man möchte nicht von frechen Fratzen emotional erpresst werden.“

Die Argumente in der Diskussion sind dann vielfältig und werden präzise aufgeführt: Dürfen Dozenten rechts oder links vom liberalen Spektrum stehen? Es sei immer schwieriger, nuanciert zu diskutieren. „Kapitalismus mit wokem Antlitz“ käme dabei ‚raus. Die Abstimmung ergibt dann, dass die Abstimmung verschoben wird.

Dann kommt ihre Mutter sie besuchen, die dritte Reisepartnerin. Sie mieten ein Auto und reisen Out West. Die Mutter ist rüstig und lustig, dazu noch ein Nerd und kann ihr die Benutzung von WhatsApp erklären. Unterwegs nach LA wird ein Zentrum für Transzendentale Meditation besucht. In LA sehen sie Zeltstädte mit Obdachlosen, kranke Menschen liegen auf den Straßen rum. Die Mutter, als Sozialarbeiterin aus Wien, hätte viele Anregungen, wie man mit den Menschen arbeiten müsste…


Genre: Frauenfreundschaften, Hochschuldebatten, Reisebericht aus dem ländlichen USA
Illustrated by Rowohlt

Simone de Beauvoir. Ich möchte vom Leben alles

Simone de Beauvoir. Ich möchte vom Leben alles. Julia Korbik ließ schon 2017 mit “Oh, Simone!” aufhorchen, eine Biografie der ganz anderen Art, die viele Leserinnen und Leser neu für die Autorin, Denkerin und Philosophin begeisterte. Die Wiederentdeckung der Autorin von “Das andere Geschlecht“, dem feministischen Grundlagenwerk par excellence, hat sie nun mit der Illustratorin Julia Bernhard einen neuen Touch gegeben.

Simone de Beauvoir: Der Pakt mit Jean-Paul

Die Geschichte ihres Lebens wird anhand eines fiktiven Interviews aufgerollt. Eine Journalistin besucht Simone in ihrer Wohnung, wo nicht nur eine Installation von “Sartre’s Händen” auf sie wartet, sondern auch einige andere Überraschungen. Simone wuchs mit ihrer Schwester in einem gutbürgerlichen Elternhaus in Paris auf, wo sie sogar ein Dienstmädchen hatten. An einer katholischen Privatschule sollten sie lernen bis ein Mann sie heiraten würde. Doch dann verlor der Vater aufgrund der russischen Revolution 1917 den Großteil seines Vermögens und hatte kein Geld mehr für eine Mitgift. Jetzt hieß es vor allem Arbeit finden, wie die Erzählerin halb ironisch, halb ernst kommentiert. Aber von Armut im eigentlichen Sinne war natürlich nicht zu reden, denn die Familie hatte immer noch ihren Landsitz in Meyrignac-L’Eglise. Als sie schon in jungen Jahren entdeckt, dass Gott tot ist, macht sie sich Gedanken über ihre Zukunft als Mensch und als Frau: Werden wir was wir sind? Oder sind wir? Mit diesen Fragen schließt sie an Blondem an, der die Handlung als Substanz des Menschen bezeichnete. Der Mensch ist, was er aus sich selbst macht. Diese Gedanken wurden zur selben Zeit auch von einem gewissen Jean-Paul Sartre popularisiert. Mit dem Gründer der Existenzphilosophie verband sie ab 1926 ein “Pakt”, der auch in dem Briefwechsel zwischen den beiden, der ebenfalls im Rowohlt Verlag erschienen ist, dokumentiert wird.

Absolute Freiheit, absolute Wahrheit

“Meine Jugend war durch Mythen gespeist, die von Männern erfunden wurden.” Sartre nannte sie Castor, von Beauvoir=Beaver, aber gemeint war mit dieser liebevollen Anrede wohl ihre Unermüdlichkeit, der Fleiß eines Bibers. Mit Sartre entschied sie sich gegen ein konventionelles, bürgerliches Leben und für die Freiheit. “Der Pakt würde auf Nähe und Distanz basieren, auf Freiheit“, so Sartre mit Pfeife im Mund in der vorliegenden Graphic Novel, die ganz in Gelb und S/W gehalten ist und neben vielen Porträts des Pariser Umfelds der beiden auch einige lustige Tiere und Landschaften abbildet. “Absolute Freiheit, absolute Wahrheit. D’accord.” Diese Freiheit und dieser Pakt waren natürlich auch mit Schmerzen verbunden, denn als sie sich in den amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren verliebte und dieser sie nach drei Jahren heiraten wollte, stand sie dennoch zu ihrem Pakt mit Sartre. Andere wichtige Stationen ihres Lebens (der Tod von Zaza) werden ebenso beleuchtet wie ihre Leidenschaft für’s Wandern und ihre Philosophie: “Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.” Die Frau werde nicht als solche, sondern im Vergleich zu sich, dem Mann, definiert. Nicht als autonomes Wesen, sondern an der Seite des Mannes, werde ihr Platz definiert. Zeit ihres Lebens wollte sie die Mystifikationen beseitigen und die Wahrheit sagen. Dummheit war für sie eine gewisse Art, das Leben und seine Freuden unter Vorurteilen, Gewohnheiten, Täuschungen und sinnlosen Vorschriften zu ersticken.

 

Julia Korbik, Julia Bernhard
Simone de Beauvoir. Ich möchte vom Leben alles
Graphic Novel
2023, Hardcover, 224 Seiten, ab 14 Jahre
ISBN: 978-3-498-00360-9
Rowohlt Buchverlag


Genre: Biografien, Graphic Novel
Illustrated by Rowohlt