Der Klimaatlas- 80 Karten für die Welt von morgen

Luisa Neubauer ist das Gesicht von Fridays for Future, der „unideologischen Bewegung“, leiteten sie doch ihre Aktivitäten von Studienergebnissen ab. „Wissenschaftliche Bekenntnisse sind das stärkste Argument gegen Klimazerstörung,“ dachten sie.

Aber, warum ist FFF verschwunden?

An der Wissenschaft liegt es nicht, und so werden von den Autoren andere Wege gesucht, und gefunden, diese Erkenntnisse bekannter zu machen.

Dazu kommt ein Buch im DIN A4 ähnlichen Format, knapp zweihundert Seiten, mit großflächigen Abbildungen. Die Kapitel werden durch Texte eingeleitet, die in sehr hellem Grau gehalten und für Ältere nicht gut lesbar sind. Umso farbiger sind die Abbildungen.

Die ersten beiden Kapitel beschreiben die Lage, dass weltweit Frühlinge früher beginnen, die Temperaturen ansteigen.

Dass der ökologische Wandel ein komplexeres Geschehen ist, wird im dritten Kapitel eingeleitet: Es ist mehr als der CO2 Anstieg. Lebensräume sind bedroht. Arten sterben. Wie schützen wir unsere Ressourcen, die Böden und das Trinkwasser?

Im Kapitel Gesundheitlicher Wandel wird die Tatsache angesprochen, die sich durch das Werk zieht: Es trifft die Ärmeren stärker. Länder, die am Äquator liegen, sind schon bei einem Anstieg von 1,5° C nicht mehr bewohnbar, andere in deren Nähe werden es bei über 2°C nicht mehr sein. Alle Länder, die deutlich oberhalb des Äquators liegen, ob in Amerika, Europa oder Asien, also die reicheren, bleiben auch dann bewohnbar.

Und wen trifft es hier? Die Ärmeren, die kürzer leben, schlechtere Luft atmen, weniger Parks haben, keine Gärten. Eine Abbildung dazu: Dein Lamborghini schadet meiner Lunge.

Ein gesellschaftlicher Wandel ist gefragt. Dazu ist zu reflektieren, was wir anstreben und was Fortschritt ist. Und: was wer verlieren wird.

Ist unsere Welt die von Hollywood, mit breiten Autospuren, auf denen ein „PS-gestählter Superheld“ dahinbraust? Gerade diejenigen Menschen, die ohne lebensgefährdende Einschränkungen etwas für den Bestand des Planeten tun könnten, genießen diesen Lebensstil und glauben, sie hätten ihn sich verdient.

Gibt es andere Leitbilder? Es geht auch anders. In einer Abbildung werden Popheld:innen bewertet: Batman gehört der Vergangenheit an, Asterix setzt auf Technologien mit geringem Ressourcenaufwand, Lucky Luke hat einen Hauch toxischer Männlichkeit, gepaart mit einer Liebe für Eisenbahn und Empathie. Besser wird es mit Bibi Blocksberg, sie ist klimaneutral und setzt auf Frauen und Pipi sieht Kinder an der Macht, mit PS, aber ohne Auto.

Dann gibt es Vorschläge, wie die Leser: innen sich einbringen können. Die Auswahl ist groß, auf allen Ebenen können Aktivitäten entwickelt werden. Senior: innen können auf Klappstühlen den Eingang einer Bank blockieren. Und neben diesen gut hundert Vorschlägen gibt es nochmal so viele fürs Internet.

Mein Lieblingskapitel folgt: Politischer Wandel. Auf der einen Seite sind das Grundgesetz und das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Klimakrise abgedruckt, auf der anderen die Aussagen aktueller Politiker, schon Bekanntes von Lindner zum Freisein im Auto und Söder zur Bratwurst. Neu war mir das Beste: „Autobahnen sind in Beton gegossene Freiheit“ von Christoph Meyer, FDP von 2024!

Die nächsten Kapitel behandeln den wirtschaftlichen und den technologischen

Wandel mit globalen Beispielen.

In der Einleitung steht: „Wir möchten den Blick weiten, für all das, was sich kulturell, technologisch, gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich gerade verändert. Von der Energiegewinnung über die Gesetzgebung hin zu unserer Sprache und unseren Zukunftsträumen. Die Welt ist im Wandel, und das ist eine gute Nachricht.“

Das ist den Autor:innen gelungen.


Genre: Politik und Gesellschaft, Sachbuch
Illustrated by Rowohlt

Nostalgia

Hier also bin ich

Der stark autografisch inspirierte Roman «Nostalgia» des Schriftstellers André Kubiczek, dessen Mutter aus Laos stammte, beginnt wie eine Coming-of-Age-Geschichte, um dann aus laotischer Perspektive ein Frauenschicksal zu schildern, wie es beklemmender kaum vorstellbar ist. Ohne aber, trotz des Titels, nostalgisch verklärt zu sein. Die ersten zwei Teile der vierteiligen Erzählung schildern aus der Sicht Andrés dessen Schulalltag in der Spätphase der DDR. Mit seinem asiatischen Aussehen ist er in Potsdam Hänseleien der Mitschüler ausgesetzt, aber auch Schikanen einer böswilligen Lehrerin. Der jüngere Bruder des Dreizehnjährigen ist geistig behindert. Nur nicht auffallen ist die Devise von André angesichts des Alltagsrassismus, dem er ausgesetzt ist, und deshalb achtet er strikt darauf, dass ja niemand etwas von der Behinderung seines Bruders erfährt, auch seine Freundin nicht. Es ist eine Geschichte, die einem unter die Haut geht, deren Tragik aber von einem wohltuend lockeren Erzählton angenehm kontrastiert wird.

Der in der DDR geborene André ist sehr zufrieden mit seinem Leben, er kommt in der Schule gut voran, hat viele Freunde, ist gerne auch bei den Großeltern zu Besuch und erlebt all jene für einen Heranwachsenden prägenden Ereignisse. Der Autor versteht es, diese Jugend derart authentisch zu schildern, dass man häufig auch an eigenes Erleben erinnert wird. Das klingt dann auch sprachlich nicht nur so unglaublich real, dass man die Gedankengänge des Jugendlichen, seine Wünsche und Träume, aber auch seine Ängste geradezu mitzuspüren glaubt, alles scheint außerdem auch dokumentarisch echt zu sein. Für die Wessis unter den Lesern wird die sozialistische Idylle mit ihren subtilen Gängelungen und dem gehirnwäsche-artigen, politischen Weltbild äußerst stimmig beschrieben. Insoweit ist dieses Buch nicht nur ein Entwicklungs-Roman, sondern auch ein DDR-Roman.

Das kommt dann auch im dritten Teil der Geschichte zum Tragen, wenn im Rückblick Teo, die laotischen Mutter, in den Fokus rückt. Sie stammt aus einer prominenten Familie, ihr Vater war bis zum kommunistischen Putsch 1975 Außenminister von Laos und wurde dann von der eigenen Leibgarde ermordet. Während ihres Studiums in Moskau hatte Teo ihren aus der DDR stammenden Mann kennen gelernt und ist ihm in seine Heimat gefolgt, wo sie geheiratet haben und wo schon bald auch ihre zwei Söhne geboren wurden. Andrés Vater strebt eine wissenschaftliche Karriere an und schreibt an seiner Doktorarbeit, die Mutter arbeitet, deutlich unterqualifiziert, als Dolmetscherin, bis ihr Vorgesetzter auch ihr den Weg zur Promotion öffnet. Sie erkrankt aber unheilbar an Krebs, und eines Tages erhält André, der inzwischen selbst studiert, ein Telegramm mit der Todesnachricht. Über seinen Kommilitonen, der ihm kondoliert, heiß es im Buch: «Jens weiß, wie es ist, keine Mutter zu haben. Er hat seine eigene vor Jahren an einen Mann verloren, der nicht sein Vater ist».

Derartig stimmige, lockere Formulierungen finden sich viele in diesem Roman, der die Chronologie virtuos negiert und dann am Schluss eben damit endet, dass die junge Teo mit ihrem Samsonite-Koffer, «der T34 unter den Koffern der Welt», wie ihr Mann meint, am Bahnhof ankommt. Sie war nach Moskau geflogen und mit dem Nachtzug nach Berlin weiter gefahren, wo sie der Vater ihres Mannes abholt. Sie tritt auf den Bahnhofs-Vorplatz und denkt: «Hier also bin ich». Mit ihrem ersten Schritt ins Unbekannte, in ein neues Leben für die junge Loatin, endet diese Geschichte schließlich, so paradox es scheint. Alle Figuren werden so lebensecht geschildert und sind durchweg so sympathisch, dass man sich nur schwer von ihnen trennen kann. Der Roman wurde für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert, man kann dem in Anbetracht seiner literarischen Qualitäten nur zustimmen!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Vierundsiebzig

Nervige Arabesken

Der zweite Roman von Ronya Othmann mit dem kryptisch erscheinenden, tatsächlich aber für unsägliche Gräuel stehenden Titel «Vierundsiebzig» schließt an ihren Debütroman an. Der hat ebenfalls die Ethnie der Jesiden zum Thema, eine etwa eine Million Angehörige zählende Volksgruppe im Kurdengebiet zwischen Syrien, dem Irak und der Türkei. Diese auf keinen heiligen Schriften, sondern nur auf mündlich weitergegebene Regeln beruhende Sekte wurde Opfer des IS, dem eine Theokratie anstrebenden ‹Islamischen Staat›. Es war das historisch 74ste Genozid, dem die «Teufelsanbeter» und Ungläubigen, wie die Islamisten sie nennen, in ihrer Geschichte ausgesetzt waren. Der Vater der Autorin ist ein säkularer kurdischer Jeside, der mit einer Deutschen verheiratet ist. Womit er sofort, nach den strengen Regeln der Sekte, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen ist, denn Jesiden dürfen nur unter sich heiraten.

Ronya Othmann wurde in München geboren, ist im Landkreis Freising aufgewachsen und hat Literatur studiert. Im Fernsehen erfährt sie 2014 von den Gräueltaten an den Jesiden und sieht die flüchtenden Menschen, die ihre dort in Shingal lebenden Verwandten seien könnten. Sie müssen jetzt um ihr Leben rennen vor den Mördern des IS, sie ist entsetzt! Sie war schon öfter dort und hat mit dem Vater ihre Verwandtschaft besucht, und nun herrscht dort ein unbeschreiblicher Terror. Mit journalistischem Eifer beginnt sie, ihren Vater zu befragen und andere Jesiden, die sie kennt und die, wie 200.000 andere, in Deutschland in der weltweit größten Diaspora leben. In der Bibliothek findet sie Reiseberichte, die bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichen, sie studiert alles, was mit  der Geschichte der Jesiden zu tun hat und recherchiert im Internet. Immer wieder katalogisiert die Sammelwütige ihre Flut von Notizen, ordnet unzählige Ton- und Videoaufnahmen auf ihrem Smartphone und kopiert sie auf eine Festplatte. Im Jahre 2018 reist sie dann erstmals wieder mit ihrem Vater nach Shingal, um Material zu sammeln, sie möchte ein Buch über den 74sten Genozid schreiben. Diese Reise, der noch zwei weitere folgen, bildet den erzählerischen Rahmen für ihre Geschichte, deren Entstehen sie ebenfalls ausführlich schildert und das sie dann mit den Erlebnissen und Erfahrungen auf ihrer Reise zu einem gemeinsamen Erzählstrang verknüpft.

Die Autorin hat ihr Buch als Roman bezeichnet, und so ist es denn auch vom Verlag deklariert, was in den Feuilletons verschiedentlich beanstandet wurde. Es sei eher ein Reisetagebuch, eine Autobiografie, Dokumentation, Geschichtsschreibung oder subjektive Reportage, kann man da lesen. Andererseits, und das entspricht dann doch einem Roman, ist das Buch deutlich fiktional angereichert und enthält auch einige poetische Einsprengsel. Nachdem die kurdischen Peschmerga den IS zurückgedrängt hatten, sind die vertriebenen Jesiden allmählich in ihre Heimat zurückgekehrt. Ihr auch als Dolmetscher fungierender Vater besucht mit ihr die Verwandtschaft, gemeinsam bereisen sie das ehemalige Jesiden-Gebiet. Immer wieder treffen sie dabei auf freundliche Leute, die ihnen gern weiterhelfen, wenn eine Fahrt an den Straßensperren der verschiedenen militärischen Gruppierungen zu scheitern droht.

Mit scharfem Blick für Details registriert die Autorin fast alles und beschreibt es minutiös. Die gastfreundlichen Menschen, sogar Soldaten oder Beamte, bieten ihnen sofort Tee an, wenn sie auf etwas warten müssen. Geschätzt Hunderte von Malen wird da Tee getrunken. Spätestens ab der Hälfte des gut gemeinten und absolut wichtigen, dickleibigen Buches beginnt man sich zu ärgern über diese immergleichen, banalen Beschreibungen und die unzählbaren, oft wortwörtlichen Wiederholungen. Erzählerische Arabesken mithin, die nicht kitschig, sondern einfach nur nervig sind. Da ist ein erstmaliger IS-Prozess vor dem Oberlandesgericht München mit einer grandiosen Urteilsbegründung geradezu ein Labsal für den frustrierten Leser. Schade eigentlich, aber literarisch nicht überzeugend!

Fazit:  mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Iowa – Ein Ausflug nach Amerika

Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten

«Iowa», das neue Buch der unter ihrem Künstlernamen Stefanie Sargnagel schreibenden, österreichischen Schriftstellerin S. Sprengnagel, trägt den Untertitel «Ein Ausflug nach Amerika». Dieses fiktional angereicherte Reisetagebuch beschreibt einen Aufenthalt der Wiener Autorin in der Kleinstadt Grinnell, mitten in der Einöde Iowas. Das exklusive Elite-College von Grinnell hat sie 2022 zu einem zeitlich begrenzten Lehrauftrag über Creative Writing eingeladen. Sie reist zusammen mit ihrer zwanzig Jahre älteren Berliner Freundin, der Sängerin Christiane Rösinger, die vom College für einen Festabend engagiert wurde. Und die ist es denn auch, die dem Buch äußerst amüsante, korrigierende Fußnoten hinzufügt. Wie schon der ulkige Künstlername vermuten lässt, geht es in dieser Road Novel ziemlich lustig zu.

Genüsslich arbeitet die Autorin in ihrer Geschichte alle, aber auch wirklich alle Klischees ab, die es über die USA gibt, und zwar alle, die man schon kennt, und viele, die es noch zu entdecken gibt in diesem Buch. Für die beiden Großstädterinnen ist das langweilige Kaff ein Kulturschock der besonderen Art. Und es ist nicht nur das allgegenwärtige Fast Food, es sind auch ansprechend erscheinende Restaurants, die sich als permanente Enttäuschung und resigniert hinzunehmendes Ärgernis herausstellen. Erstaunt sehen sie in einer Bar zum Beispiel ein Glas voller eingelegter Truthahnmägen, Gipfel der skurrilen Genüsse, die man in Iowa offensichtlich goutiert. Die beiden Frauen taumeln  von einer kulinarischen Zumutung zur nächsten und landen in «abgeranzten Bierspelunken». Nichts schmeckt, alles ist lieblos zubereitet. Und das gilt nicht nur für die amerikanische Küche, sondern auch für die dort häufig vertretene asiatische, welche die Beiden aus Österreich oder Deutschland ganz anders kennen. Und bei den Getränken ist es besonders die überall gleiche Plörre, die man bekommt, wenn man Kaffee bestellt, was die Freundinnen dann jedes Mal aufs Neue verzweifeln lässt.

Die Beiden erleben bei ihren Ausflügen immer wieder skurril anmutende Überraschungen, sei es in den kleinen Läden des Ortes, in merkwürdigen Museen, in Second Hand Shops, in den Waffengeschäften oder im Walmart, dem riesigen Supermarkt. Oft spazieren sie durch den menschenleer erscheinenden Ort, wo niemand mehr zu Fuß unterwegs ist und man selbst für zweihundert Meter lieber ins Auto steigt als zu laufen. Die Menschen sind fast alle übergewichtig, ernähren sich falsch und bewegen sich zu wenig. Mit scharfem Blick erfasst die Autorin all die kulturellen Unterschiede und erzählt sie dann liebevoll spöttisch, aber schonungslos ehrlich, manchmal sarkastisch, aber unverkennbar auch voller Sympathie. Ihr Vergleichs-Maßstab dabei ist das für sie vermeintlich anarchische, politisch rechtslastige Österreich.

Die Kettenraucherin Stefanie Sargnagel gibt sich im Buch als typisch grantelnde Wienerin, die ihren Frust im Alkohol ertränkt, und ihre Freundin hält als bühnenerprobte Punksängerin dabei meistens wacker mit. Die Autorin, eine ausgewiesene Feministin, spricht mit ihr über ihren latent vorhandenen Kinderwunsch, übers Älterwerden, über Künstlertum, Geschlechterrollen oder über die Abtreibungs-Debatte in den USA. Sie verliert sich, meist leicht beschwipst, in unpathetischen Selbst-Analysen oder sinniert zum Beispiel über Frauen-Freundschaften. Und es ist denn auch gerade ihre Freundschaft, die verschiedenen Charaktere der Beiden, die den besonderen Reiz dieses Buches ausmachen, besonders in den funkelnden Wortgefechten. Sprachlich salopp und immer ironisch wird hier ein Klischee nach dem anderen bedient. Dabei bieten sich jedoch en passant auch viele erkenntnisreiche Einblicke in das «Land der unbegrenzten Möglichkeiten», zu denen leider auch eine durch keinerlei soziale Unterstützung abgemilderte, geradezu archaisch anmutende Armut gehört.

Fazit:  erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Drifter

Das Geschirr neu sortiert

Auf raffinierte Weise steuert «Drifter» von einem rasanten Gegenwartsroman zu einer ziemlich durchgeknallten Erzählung hin, steigert also das Irreale dieser amüsanten Gegenwarts-Geschichte von Ulrike Sterblich genüsslich bis zu einem Feuerwerk der Absurditäten. Der Ich-Erzähler Wenzel und sein Freund Marco Killmann, von allen nur Killer genannt, sind seit frühster Jugend ein unverbrüchliches Freundespaar. Sie leben am Rand einer Großstadt in einem dafür typischen Hochhaus-Viertel. Gegensätze ziehen sich an, glaubt man einer alten Volksweisheit, vielleicht ergänzen sich die unterschiedlichen jungen Männer ja gerade deshalb so gut. Vom ersten Moment an jedenfalls sind einem die beiden Figuren überaus sympathisch, ihre Geschichte bildet stimmig die Jetztzeit ab, mit dem dazugehörigen Wording der Yougsters.

Es ist vordergründig die Geschichte einer Freundschaft, die da erzählt wird. Wenzel arbeitet nach abgebrochenem Publizistik-Studium im Community-Team eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders, dessen Social-Media-Kanäle er betreut. Ein wahrlich frustrierender Job angesichts der oft banalen, zuweilen aber auch wütenden bis bösartigen Äußerungen der Zuschauer. Der belesene Wenzel verkörpert den melancholischen Verlierer-Typ, er hat resigniert und seine hehren Träume vom Journalismus aufgegeben. Bei den Frauen ist er gleichermaßen erfolglos, ein kurzes Techtelmechtel mit seiner Kollegin endet abrupt, als die sich in den glamourösen Sieger des Hahnenkamm-Skirennens verliebt. Sein Freund Killer, ein eloquenter und sympathischer Draufgänger, ist hingegen ein äußerst geselliger Typ. Er ist PR-Chef eines großen Lebensmittel-Konzerns, ein lukrativer Job. Nur hadert er, insgeheim natürlich, mit der seiner Ansicht nach fragwürdigen Compliance seines Arbeitgebers, die er ja nach außen hin überzeugend vertreten muss.

Der eigentliche Plot des Romans ist eine mysteriöse Geschichte, die damit anfängt, dass Wenzel in der S-Bahn eine Frau im goldenen Kleid sieht, die ein Buch des Schriftstellers «Drifter» in Händen hält. Als glühender Anhänger kennt Wenzel alle Bücher dieses Autors, nicht jedoch «Elektrokröte», wie der Titel des ihm unbekannten Buches der Frau heißt. Sein Buchhändler kennt das Buch auch nicht, will es bestellen, findet es aber nicht in den Computer-Listen. Durch Zufall trifft er die mysteriöse Frau wieder, die sich als die erfolgreiche Social-Media-Entertainerin Ludovica Malabene entpuppt, kurz Vica genannt. Sie kann zaubern, gibt Geldanlage-Tipps, will in die Buchbranche investieren. Was folgt ist ein turbulenter, sich zunehmend ins Absurde hinein steigernder Plot. Wenzel schreibt eine immer länger werdende Liste der Fragen, die er an Vica hat, die er ihr aber noch nicht stellen konnte mangels Gelegenheit. Killer wird beim Besuch der Pferde-Rennbahn von einem in unmittelbarer Nähe einschlagenden Blitz getroffen. Er trägt nur äußerliche Blessuren davon, hat sich aber mental verändert, hört plötzlich «A-cappella-Gesang aus Pustgeräuschen», wo nichts zu hören ist, riecht überall Orangen, ‑ und fängt dann auch noch an zu philosophieren. Er ist nicht mehr der alte ‹Killer›, schmeißt schließlich sogar seinen Job hin. «Es ist nicht so», heißt es im Roman, «als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber er hat das Geschirr neu sortiert.»

Dem magischen Realismus verpflichtet, streut Ulrike Sterblich ideenreich und lässig neben vielen skurrilen Figuren auch tanzende Hunde ein in ihre Geschichte, psychoaktive Pilze und wundersam variable Gebäude jenseits aller Statik, immer nach dem Motto: ‹Nichts ist unmöglich›! Damit verbunden ist auch eine deutliche Gesellschaftskritik, die ironisch und fein dosiert daherkommt, realisiert oft durch angesagte Nerd-Diskurse ihrer Figuren, beispielweise über die Frage, ob es eigentlich auch Horror-Opern gibt. Was dann natürlich zu der erwartbaren Antwort führt: «Du, alle Opern sind Horror!» Mit der Zeit nehmen die immer verwegeneren Winkelzüge und bewussten Irritationen allerdings überhand, verwirren als Albernheiten zunehmend den Leser, mäandern ziellos ins Sinnfreie. Seinen Spaß hat man trotzdem!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Crossroads

Jonathan Franzen hat es wieder getan.

Mit „Crossroads“ geht Franzen konsequent den Weg weiter, den er in „Die Korrekturen“ bereits äußerst erfolgreich beschritten hat. Er greift einmal mehr tief hinein in diesen Schmelztiegel an Schicksalen, den man schlichtweg Leben nennt. Sein Spezialgebiet: Familienleben. In Crossroads nimmt uns der Autor mit in das Leben der US-amerikanischen Familie Hildebrandt Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts.

Pikant, wie Franzen bereits mit dem Titel spielt und Ahnungen generiert. Crossroads bedeutet im Englischen sowohl Wegkreuzung als auch Scheideweg. Nichts anderes passiert in dieser, nein doch eigentlich in jeder Familie. Zuerst treffen sich stets und überall Vater und Mutter, die aber auch beide ihre ganz individuelle Vergangenheit haben, ihre guten Seiten, aber auch ihre Marotten und Schattenseiten. Bei Franzen sind es Vater Russ, Pastor in einer Vorstadtgemeinde und Möchtegern-Gigolo, und Mutter Marion, die über die monotone Erfüllung mütterlicher und familiärer Pflichten äußerlich zur Matrone degeneriert ist. Und dann kommen natürlich wie immer früher oder später die Kinder dazu, die die Lebenswege der Eltern und ihrer Geschwister kreuzen. Mal für eine kürzere, mal für eine längere Zeit. Mal in Harmonie, oft aber wegen der divergierenden Persönlichkeitsentwicklung auch im Dissens, der bis zum Hass gehen kann. Wiedererkennungseffekte? Aber natürlich, alles andere wären erfolgreiche Verdrängungsmechanismen, um nicht von der rosa Wolke zu fallen. Clem, Becky, Perry und Judson heißen die vier beispielhaften Kinder-Charaktere bei Franzen.

Dass Crossroads nebenbei auch der Name einer kirchlichen Jugendgruppe im Buch ist, gerät in Anbetracht der Metaphorik des Gesamtromans fast zur Nebensächlichkeit.

Das Grundkonstrukt dieses Familien-Epos bietet Raum für alles, was Familien landläufig ausmacht. Da gibt es Ehebruch, Drogensucht, psychische Erkrankungen, Lebenssinnkrisen, Ablöungsprozesse, ungewollte Schwangerschaft, Geschwisterkonflikte, Trennungsabsichten, um nur die essentiellsten zu nennen. Einen erwähnenswerten zusätzlichen Fokus richtet der Autor in „Crossroads“ auf das Thema Glauben. Das Panoptikum religiöser Überzeugungen reicht von Religion als Job über eine völlig kritikunfähige Verblendung sowie die Rückkehr zum Glauben durch eine plötzliche, imaginäre Erleuchtung bis hin zum überzeugten Atheismus. Dabei nimmt Franzen scheinbar die Funktion des aussenstehenden Erzählers ein. Er scheint vordergründig nicht zu werten. Nicht immer kann man ihm diese Rolle abnehmen und fragt sich dann als Leser an der ein oder anderen Stelle, ob man sich nicht doch einer geschickt gewobenen Persiflage religiöser Geisteshaltungen gegenüber sieht. Wo ist der Roman einfach nur Storytelling oder wo sind die Messages versteckt? Ein guter Autor wie Franzen lässt das offen.

All diese facettenreichen Komponenten einer Familiendynamik mixt Franzen mit einem Schuss Dramatik zu einem qualitativ hochwertigen Potpourri. Zusammen mit seinem schon in „Die Korrekturen“ bestechenden Gefühl für den richtigen Flow und das richtige Schreibtempo reiht sich Franzen mühelos ein in die lange Liste anderer großer US-amerikanischer Geschichtenerzähler wie John Steinbeck, T. C. Boyle, Ernest Hemingway und viele andere. Aber das wussten Franzen-Leser ja schon.

In Summe beste Unterhaltung, viel Buch fürs Geld und ganz nebenbei eine ganze Menge philosophischer und sprachlicher Highlights. Drei verführerische Kostproben aus dem Schatzkästchen eines literarischen Ausnahmekönners: „Sein Schmerz und sein Hass waren von einer horizontlosen Totalität“, „Die Abwesenheit von Negativa ergab nicht zwingend ein Positivum“ und „Hoffnung war die Zuflucht der Dämlichen“.

Und die Quelle Franzen scheint unerschöpflich. Sicherlich zur Freude des Verlags. Teil zwei und Teil drei der Generationen übergreifenden Saga sind angekündigt.


Genre: Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by Rowohlt

Die sieben Monde des Maali Almeida

 

Groteske aus dem Totenreich

«Die sieben Monde des Maali Almeida», der zweite Roman des sri-lankischen Schriftstellers Shehan Karunatilaka, erhielt 2022 den britischen Booker Prize. In ihrer Begründung hebt die Jury «den Anspruch, die Perspektive, das Geschick, den Mut und die Komik der Ausführung» hervor und betont, dass dieses Buch auch «weiterhin gelesen und weiterhin lesenswert sein werde.» Protagonist dieser Anfang der Neunziger Jahre in Colombo, der Hauptstadt des ehemaligen Ceylon, angesiedelten Geschichte ist der schwule Foto-Journalist Maali Almeida, der nach seinem gewaltsamen Tod in einem absurden Zwischenreich erwacht. Er habe, wird ihm vom Personal der ‹himmlischen Einwanderungs-Behörde› erklärt, sieben Tage Zeit, das «Licht» zu erreichen, gemeint ist der endgültige Übergang vom Totenreich ins Jenseits.

In einem von Geistern und Dämonen bevölkerten, grotesken Setting will der tote Kriegsfotograf diese Zeit nutzen, um herausfinden, von wem und warum er getötet wurde. Außerdem möchte er unbedingt noch erreichen, dass seine Sammlung politisch äußerst brisanter Fotos, die er vorsichtshalber immer gut versteckt hat, nun wenigstens posthum doch noch veröffentlicht wird, um damit erstmals auch einem breiten Publikum zugänglich zu werden. Er erhofft sich, auf diese Weise politischen Druck auszulösen, um die desaströsen Verhältnisse in seinem von Korruption und Bürgerkrieg gebeutelten Heimatland zum Besseren zu wenden. Im Verlauf des skurrilen Plots erinnert sich der unverbesserlich Zocker Maali Almeida an wichtige Stationen seines turbulenten Lebens und damit auch an das politische Geschehen in Sri Lanka zu jener Zeit. Tatsächlich gelingt es ihm in einem wahrhaft grotesken, irrealen Geschehen, als Toter auf die Lebenden einzuwirken, so dass seine Fotos dann auch tatsächlich ausgestellt werden. Allerdings wird damit nicht die erwartete politische Wende erreicht, der erhoffte Skandal bleibt aus.

Gleich zu Anfang dieses Totentanzes erlebt der Protagonist, wie seine, und die Leichen anderer, von dafür eigens angeheuerten Arbeitern in einem See versenkt werden sollen. Das gelingt den ziemlich trotteligen Männern aber nicht, so dass schließlich alle Toten notgedrungen ins Kühlhaus zurück transportiert werden müssen. Der Roman ist regelrecht gespickt mit grausamen Szenen. Da werden menschliche Leiber in Stücke zerlegt, es gibt scheußliche Foltermethoden, man begegnet hunderten von Leichen, die Opfer politischer Kämpfe waren, aber oft auch einfach nur willkürlich zum Tode befördert wurden. Die Todes-Schwadronen in Sri Lanka bestehen stets aus Männern, «die keine Soldaten und keine Polizisten» sind, wie es immer wieder heißt im Roman; es herrscht die reine Anarchie. Bei aller cool geschilderten Grausamkeit ist aber stets auch ein Quentchen Humor im Spiel, was der Lektüre ihren ansonsten reichlich vorhandenen Schrecken nimmt.

Man gewöhnt sich als Leser sehr schnell an die irrealen Elemente dieser kreativ gestalteten Groteske aus der Geisterwelt, die Tod und Töten als Normalität behandelt, indem ein Zwischenreich einfügt wird, das den Schauplatz dieses Romans bildet. Er spiegelt damit auf raffinierte Weise seine fiktive, unfassbare Fantasiewelt in den realen, chaotischen Zeiten des Bürgerkriegs. Erzählt wird durchweg in der zweiten Person, also in der Du-Form, und immer auch aus der Perspektive des toten Protagonisten. Dabei werden viele politische Erkenntnisse und diverse philosophische und theologische Themen, meist in Dialogform, eingeblendet, wozu nicht zuletzt die Theodizee gehört. «Jede Zivilisation beginnt mit einem Völkermord», heißt es da zum Beispiel. Ein Figuren-Register und ein Glossar helfen dem Leser bei der Lektüre des umfangreichen Romans, den man sich ein wenig gestraffter wünscht, weil er doch einige Längen aufweist. Mit oft überraschenden zeitlichen und thematischen Sprüngen erfordert er zudem, neben Durchhalte-Vermögen, auch die volle Aufmerksamkeit. «Der Roman sprudelt vor Energie, Einfallsreichtum und Ideen», so die Booker-Prize-Jury von 2022. Dem kann man letztendlich nur zustimmen!

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
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Echtzeitalter

 

Es war die Hölle

Tonio Schachinger hat mit seinem zweiten Roman «Echtzeitalter» 2023 den Frankfurter Buchpreises gewonnen. Der zunächst etwas kryptisch erscheinende Titel wird verständlich, wenn man erfährt, dass Till, der Protagonist dieser Coming-of-Age-Geschichte, ein begeisterter Gamer ist und es schon als Schüler zum anerkannten Champion des Echtzeit-Strategiespiels «Age of Empires 2» gebracht hat. Bei diesem Computerspiel agieren weltweit die Internet-Spieler in Echtzeit, also simultan und zur realen Zeit. Für den anfangs 10jährigen Pennäler eines teuren, exklusiven Wiener Internats, das Till als Externer in Ganztags-Betreuung besucht, ist das Spiel eine Art zweite Wirklichkeit, die ihm hilft, das nervige Schulleben in dieser strengen Eliteschule zu ertragen.

Vielleicht aber ist ja auch sein suchtartiger Spieltrieb Ursache für seine schulischen Probleme und damit für seinen selbstsüchtigen Eskapismus, überlegt man sich als Leser schon nach wenigen Seiten. Tills Eltern leben in Scheidung, die als Spezialistin für jugendliche Suchtprävention von Termin zu Termin eilende und nach dem frühen Tod des Vaters alleinerziehende Mutter ist ganz offensichtlich überfordert. Sie greift nicht ein, wenn ihr anfangs zehnjähriger Sohn, manchmal bis in die Morgenstunden hinein, am Computer in seiner Spielewelt verbringt. Tonio Schachinger stellt diesem ungesunden Lotterleben ein restriktives schulisches Leben gegenüber, das mit deutschen Verhältnissen vertraute Leser nicht für möglich halten dürften. Besonders der Klassenvorstand, Professor Dolinar, ist ein despotischer, schon fast sadistischer Lehrer für Deutsch und Französisch, dessen vorgestrige Lehrmethoden und erzkonservativen Ansichten eine der beiden tragenden Erzähllinie bilden. Er verdammt in großem Bogen die komplette Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, quasi alles, was nach Büchner kam. Zudem lässt er nur Deutschsprachiges gelten und beschränkt sich dabei verlagsseitig auch noch komplett auf die praktischen, gelben Reclamhefte.

Der realen Welt, hier im Extrem von Professor Dolimar verkörpert, steht mit der weltweiten Gamer-Szene, in der sich Till in jeder freien Stunde tummelt, die irreale gegenüber. Dieses Modell der zwei Welten, Schule und Leben, Alltag und Gamer-Paradies wird im Roman perfekt und mit leichter Hand in Erzählstoff umgesetzt. Ein Manko ist dabei allerdings nicht zu übersehen: Plagt man sich als Deutscher schon mit den diversen österreichischen Bezeichnungen herum, die der Autor scheinbar als allseits bekannt voraussetzt, so scheitert man erst recht beim nerdigen Gamer-Slang, mit dem Vorgänge beschrieben werden, die man ebenfalls nicht versteht. So kapituliert denn auch Tills diesbezüglich unbedarfte Mutter in einer Szene am Ende, als er zum ersten Mal versucht, sie eines seiner Computerspiele spielen zu lassen, – sie versteht kein Wort, wie wir Leser ja auch nicht! Beides, Computer- und Österreich-Slang, trübt den Lesegenuss der ansonsten flüssig zu lesenden Pennäler-Geschichte, die mit einem ironischen Unterton erzählt wird, in dem – Kästner lässt grüßen – auch viel Humor steckt.

Tonio Schachinger kennzeichnet seine Figuren vor allem durch ihre intellektuellen Fähigkeiten, die vor allem in stimmigen, wortgewandten Dialogen zum Ausdruck kommen. Neben im Roman beiläufig eingestreuter Kritik an der wohlstands-verwahrlosten Gesellschaft seines Heimatlandes ist insbesondere ein literarischer Wettbewerbs-Beitrag von Feli, der Schulkameradin und ersten Liebe von Till, eine köstliche Abrechnung mit dem Vaterland. Scharfsichtig prangert sie in ihrem Rundumschlag neben der vorgestrigen Pädagogik an ihrer Eliteschule insbesondere die nach wie vor unbewältigte Nazi-Vergangenheit vieler Landsleute an, fruchtbarer Nährboden für die anhaltende Rechtsdrift des politischen Spektrums in Österreich. Till aber, soviel sei verraten, ist nach der Matura der jüngste Topspieler der Welt. Und zu seinem Internat sagt Till am Ende nur eins: «Es war die Hölle.»

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Iowa Ein Ausflug nach Amerika

Als ich eine Rezension des Buches Iowa las, war Trump dort gerade bei den Präsidentschaftsvorwahlen als glorreicher Sieger hervorgegangen. Zwei Berlinerinnen auf einem „Ausflug“ ins ländliche Amerika: das lockte sehr. Stefanie Sargnagel und Christiane Rösinger sind als Gastdozentinnen an einer privaten Hochschule geladen, sie unterrichtet kreatives Schreiben und Frau Rösinger zum Singen. Ich kannte sie kaum, inzwischen bin ich Fan und höre ihre Lieder gerne. Sie hat „mit korrigierenden Fußnoten“ zu einigen Stellen ihren Senf dazu gegeben.

Besonders stört sie oft „das verinnerlichte ageistische Denken“. Sie könnte Stefanies Mutter sein, ist schon Großmutter. Vom Altwerden, besonders der Frauen, erhofft Stefanie nämlich nicht viel: “Es verlangte auch niemand von ihnen, in Würde zu altern. Man erwartet es von den Frauen und meint damit, dass sie sich ab fünfzig in Luft auflösen sollen.“

Sie werden in einem großen Haus untergebracht und Begrüßung von der sie betreuenden Professorin, wie Stefanie eine Österreicherin, zum Iowa Breakfast eingeladen. Mit kindlicher Neugier wird alles beobachtet: Die übergewichtigen Menschen, der Kaffee („dünne, bittere Suppe“), aber auch das Iowa Nice.

Dazu kommen zwischendurch selbstironische Bekenntnisse, über eigene Schwächen, das Rauchen, die Vorliebe für „Absturzkneipen.“ Als Christiane nach einem hochgelobten Auftritt als Sängerin zurückreist, sucht sie denn auch Trost bei bekennenden Trinkern. Und Tratschen ist „eine meiner größten Leidenschaften“ und Tratschen zu dämonisieren „antifeministisch,“ es ist ja geprägt vom Interesse an anderen Menschen.

Sie erobert die nähere Umgebung, erst mit Christiane und ohne Auto, kaufen bei Walmart Ungesundes ein, staunen über 75 Sorten Erdnussbutter. Nach Christianes Abreise dann mit der Professorin, sie besuchen ein Amish Dorf mit „50 shades of fromm.“ Entsetzt ist sie über den Besuch bei der Outdoor World, wo es T-Shirts und Poster mit Werbung für die National Rifle Association gibt. “American by Birth—NRA Member by choice.“ In der Säuglingsabteilung gibt es Strampler in Camouflage Musterung, für Mädchen mit rosa Tüllröckchen und Schleifchen.

Da sie keinen akademischen Abschluss hat, fremdelt sie etwas, sie spricht von Angst vor Akademikern. Sie nimmt an einer Dozentensitzung teil, wo es um den Umgang mit mehr Rechten der Studierenden geht, die sich über Dozenten beschweren.  Also: „Man möchte, dass Menschen, die Marginalisierung erleben, eine Stimme haben, aber man möchte nicht von frechen Fratzen emotional erpresst werden.“

Die Argumente in der Diskussion sind dann vielfältig und werden präzise aufgeführt: Dürfen Dozenten rechts oder links vom liberalen Spektrum stehen? Es sei immer schwieriger, nuanciert zu diskutieren. „Kapitalismus mit wokem Antlitz“ käme dabei ‚raus. Die Abstimmung ergibt dann, dass die Abstimmung verschoben wird.

Dann kommt ihre Mutter sie besuchen, die dritte Reisepartnerin. Sie mieten ein Auto und reisen Out West. Die Mutter ist rüstig und lustig, dazu noch ein Nerd und kann ihr die Benutzung von WhatsApp erklären. Unterwegs nach LA wird ein Zentrum für Transzendentale Meditation besucht. In LA sehen sie Zeltstädte mit Obdachlosen, kranke Menschen liegen auf den Straßen rum. Die Mutter, als Sozialarbeiterin aus Wien, hätte viele Anregungen, wie man mit den Menschen arbeiten müsste…


Genre: Frauenfreundschaften, Hochschuldebatten, Reisebericht aus dem ländlichen USA
Illustrated by Rowohlt

Simone de Beauvoir. Ich möchte vom Leben alles

Simone de Beauvoir. Ich möchte vom Leben alles. Julia Korbik ließ schon 2017 mit “Oh, Simone!” aufhorchen, eine Biografie der ganz anderen Art, die viele Leserinnen und Leser neu für die Autorin, Denkerin und Philosophin begeisterte. Die Wiederentdeckung der Autorin von “Das andere Geschlecht“, dem feministischen Grundlagenwerk par excellence, hat sie nun mit der Illustratorin Julia Bernhard einen neuen Touch gegeben.

Simone de Beauvoir: Der Pakt mit Jean-Paul

Die Geschichte ihres Lebens wird anhand eines fiktiven Interviews aufgerollt. Eine Journalistin besucht Simone in ihrer Wohnung, wo nicht nur eine Installation von “Sartre’s Händen” auf sie wartet, sondern auch einige andere Überraschungen. Simone wuchs mit ihrer Schwester in einem gutbürgerlichen Elternhaus in Paris auf, wo sie sogar ein Dienstmädchen hatten. An einer katholischen Privatschule sollten sie lernen bis ein Mann sie heiraten würde. Doch dann verlor der Vater aufgrund der russischen Revolution 1917 den Großteil seines Vermögens und hatte kein Geld mehr für eine Mitgift. Jetzt hieß es vor allem Arbeit finden, wie die Erzählerin halb ironisch, halb ernst kommentiert. Aber von Armut im eigentlichen Sinne war natürlich nicht zu reden, denn die Familie hatte immer noch ihren Landsitz in Meyrignac-L’Eglise. Als sie schon in jungen Jahren entdeckt, dass Gott tot ist, macht sie sich Gedanken über ihre Zukunft als Mensch und als Frau: Werden wir was wir sind? Oder sind wir? Mit diesen Fragen schließt sie an Blondem an, der die Handlung als Substanz des Menschen bezeichnete. Der Mensch ist, was er aus sich selbst macht. Diese Gedanken wurden zur selben Zeit auch von einem gewissen Jean-Paul Sartre popularisiert. Mit dem Gründer der Existenzphilosophie verband sie ab 1926 ein “Pakt”, der auch in dem Briefwechsel zwischen den beiden, der ebenfalls im Rowohlt Verlag erschienen ist, dokumentiert wird.

Absolute Freiheit, absolute Wahrheit

“Meine Jugend war durch Mythen gespeist, die von Männern erfunden wurden.” Sartre nannte sie Castor, von Beauvoir=Beaver, aber gemeint war mit dieser liebevollen Anrede wohl ihre Unermüdlichkeit, der Fleiß eines Bibers. Mit Sartre entschied sie sich gegen ein konventionelles, bürgerliches Leben und für die Freiheit. “Der Pakt würde auf Nähe und Distanz basieren, auf Freiheit“, so Sartre mit Pfeife im Mund in der vorliegenden Graphic Novel, die ganz in Gelb und S/W gehalten ist und neben vielen Porträts des Pariser Umfelds der beiden auch einige lustige Tiere und Landschaften abbildet. “Absolute Freiheit, absolute Wahrheit. D’accord.” Diese Freiheit und dieser Pakt waren natürlich auch mit Schmerzen verbunden, denn als sie sich in den amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren verliebte und dieser sie nach drei Jahren heiraten wollte, stand sie dennoch zu ihrem Pakt mit Sartre. Andere wichtige Stationen ihres Lebens (der Tod von Zaza) werden ebenso beleuchtet wie ihre Leidenschaft für’s Wandern und ihre Philosophie: “Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.” Die Frau werde nicht als solche, sondern im Vergleich zu sich, dem Mann, definiert. Nicht als autonomes Wesen, sondern an der Seite des Mannes, werde ihr Platz definiert. Zeit ihres Lebens wollte sie die Mystifikationen beseitigen und die Wahrheit sagen. Dummheit war für sie eine gewisse Art, das Leben und seine Freuden unter Vorurteilen, Gewohnheiten, Täuschungen und sinnlosen Vorschriften zu ersticken.

 

Julia Korbik, Julia Bernhard
Simone de Beauvoir. Ich möchte vom Leben alles
Graphic Novel
2023, Hardcover, 224 Seiten, ab 14 Jahre
ISBN: 978-3-498-00360-9
Rowohlt Buchverlag


Genre: Biografien, Graphic Novel
Illustrated by Rowohlt

Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin

Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin. “Iowa” – Sargnagels drittes Buch – ist derzeit in aller Munde. Nach “Statusmeldungen” (2018, bei Rowohlt) schrieb sie die ebenfalls sehr autobiographischen “Aufzeichnungen einer Tagediebin”, kurz: Dicht. Aber “dicht” ist nicht nur ein durch Drogen oder Alkohol beeinflusster Zustand der Selbstaufgabe oder -erkenntnis, sondern auch der Stil der Neu-Autorin.

“Dicht”: Vom Feinsten

Gute Beobachtungsgabe, treffende Beschreibungen und herrlich absurde Dialoge im Wiener Regiolekt oder Soziolekt beschreiben ihren ersten Roman, der ganz dem (zu kurzen) Leben eines Freundes gewidmet ist: Michi. Seine Einzimmerwohnung im an und für sich gutbürgerlichen 18. Wiener Gemeindebezirk ist der Zufluchtsort für allerlei Gestalten aus dem Wiener Dranklermilieu, Drugs inklusive. Auch die junge Stefanie findet dort Schutz vor den Zumutungen der Welt, wie der etwas faden Schule oder dem zielorientierten Elternhaus. Ihre Eltern leben zwar in Trennung, aber natürlich haben sie klare Vorstellungen, was ihre Tochter einmal machen soll. Erstmal Matura, dann studieren. Schließlich sollte sie es einmal besser haben, das wünschen sich ja alle Eltern. Und dazu gehört nun einmal vor allem Bildung.

“Nie wieder Faschiertes”!

Aber die junge Stefanie hatte erstmal gar keine Lust auf Schule und Autoritäten und vertrieb sich ihre Zeit lieber im nahegelegenen Votivpark und hing dort mit jenen Leuten ab, die andere in ihrem Alter wohl eher mieden. Mit ihrer Freundin Sarah zieht sie wie schon andere Flaneure durch das Wiener Nachtleben der morgendlichen Tagediebe und entflieht so vor der Verantwortung. Derweil kocht ihnen Michi etwas Geklautes aus dem Supermarkt, “vom Feinsten”, wie er nicht müde wird zu betonen. Mit “Wir motivierten einander dazu, uns nicht leicht beeindrucken zu lassen, und bestätigten uns darin, einfach alles kapiert zu haben” erklärt sie ihre gegenseitige Freundschaft. Von Michi und seinen Freunden lernt sie, dass unterschiedliche Lebensentwürfe auch ihre Berechtigung haben, solange sie auch freiwillig gewählt werden, was natürlich nicht immer der Fall ist. Viele der Dropouts, die sie auf den Streifzügen durch das Wien der Nullerjahre kennenlernt, sind entweder psychisch krank oder drogensüchtig oder beides. Ein atmosphärisch schlecht gewählter LSD-Trip rettet ihr vielleicht das Leben.

Aufzeichnungen aus dem (Wiener) Untergrund

Denn durch ihn hört sie auf zu kiffen und beginnt zu saufen. Das lässt sich dann besser mit schreiben und zeichnen vereinbaren und so wird sie die, die sie heute ist: Stefanie Sargnagel. In einer beeindruckend lässigen und unaufgeregten Sprache erzählt sie vom Erwachsenwerden, der sog. Adoleszenz, und ihrer eigenen Bewusstseinserweiterung: Zeichnen, das war das, was sie eigentlich machen wollte. “Alles was ich wollte, war zeichnen. Das Zeichen hielt mich während des Unterrichts am Leben, neben der Aussicht auf die Nachmittage.” Nach einem Einbruch auf der heute in die Schlagzeilen gekommene Baustelle des Lamarr-Kaufhauses in Wien beginnt für Stefanie eine gelungene Resozialisierung, die plötzlich einen Plan für ihr Leben hat. An der renommierten und gutbürgerlichen Akademie der Bildenden Künsten wird sie auch ohne Matura aufgenommen und ein neues Leben beginnt.

Heute lebt sie als Kartoonistin und Autorin immer noch in Wien und wird von einer Talkshow zur anderen gereicht, dreht einen Doku-Spielfilm, schreibt weiter Statusmeldungen, etc. Ein geradezu dichtes Programm, wie sie sich schon bei Stegmann/Grissemann live beschwerte. Stefanie Sargnagel hat ihr Phlegma erfolgreich kultiviert und liebevoll literarisiert. Sie hat sich selbst als eine “authentische Kunstfigur erschaffen, in die man sich nur verlieben kann“.

Stefanie Sargnagel
Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin
2021, Softcover, 256 Seiten
ISBN: 978-3-499-27483-1
Rowohlt Taschenbuch


Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Iowa. Ein Ausflug nach Amerika

Iowa. Ein Ausflug nach Amerika. Nach “Statusmeldungen” und “Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin” schon das dritte Buch der österreichischen Self-Made-Autorin Stefanie Sargnagel aus Wien beim renommierten Rowohlt Verlag. Mit dabei ist dieses Mal auch Christiane Rösinger besser bekannt durch ihre Bandprojekte Lassie Singers und Britta, sowie viele andere kulturelle Aktivitäten im Berliner Underground.

Iowa: Fette Malls, ranziges Essen

Stefanie Sargnagel hat sich im deutschsprachigen Raum bereits einen gewissen Kultstatus erworben. Ihr Ausflug nach Amerika glänzt durch bissigen Humor und Selfbashing – entwaffnend ehrlich eben. Auf Einladung eines amerikanischen Colleges in Grinnell, Iowa fliegt die muntere Autorin mit ihrer Freundin Christiane kurzerhand in die USA. Sie soll dort Creative Writing unterrichten und das ausgerechnet in einem 8000-Seelen Dorf. Das College erweist sich dann aber als multikultureller und diverser als der Ort und Iowa fortschrittlicher als man es erwarten würde. “Über die Realität legt sich ab jetzt ein beugebräunlicher Schleier. Das ist der vergilbte Teil der USA“, sind zwar ihre ersten Gedanken nach der Landung, aber bald bemerkt sie, dass das Örtchen keine Kulisse ist und dort tatsächlich richtige Menschen leben, auch wenn sie oft Klischees entsprechen, die man aus US-amerikanischen Serien selbst zu kennen glaubt. Tumbleweed. Vieles ist ihr dann auch tatsächlich schon bekannt, aus eben diesen Serien oder Filmen. Aber sie entdeckt auch bald die Segnungen des Kapitalismus: Dass ausgerechnet Walmart eine soziale Ader hat und arme Leute auf den Parkplätzen seiner Malls campen lässt, ist doch überraschend. Skurriler noch als unsere westeuropäischen Vorurteile sind auch Sargnagels Beschreibungen der Amish, Amana und Maharishi-Sekten, um nur drei der unzähligen Glaubensgemeinschaften dort zu nennen, auf die sie bei ihren Ausflügen stößt. Die Autorin hat darüber eigene Reportagen eingebaut, auch Chicago und L.A. besucht sie kurz im Mietwagen mit ihrer Mutter und auch wenn der eigentliche Höhepunkt des “Ausflugs nach Amerika” ausbleibt (oder ist es der Abschied von Christiane?) ist das eigentliche Thema ein ganz anderes.

Ausflug nach Amerika: Genug vom “Rumspringa”

Denn es wäre kein Buch von der Sargnagel, wenn man nicht auch sehr viel über sie selbst erfahren würde. So lernt man etwa den Alkoholmissbrauch der Österreicher von dem der Deutschen zu unterscheiden oder begreift endlich den Unterschied zwischen einem Egozentriker und einem Narzissten: “Nur der erstere ist zu wahrem Idealismus in der Lage“. Christiane und Stefanie erkunden die Umgebung im Mietauto oder mit dem Greyhound: Des Moines, die Hauptstadt Iowas, wird durch die Iowa State Fair und den zweitgrößten Skywalk nach Minneapolis beschrieben, der Mississippi durch einen Pelikanflug und Dubuque durch seine Zahnradbahn, die älteste Amerikas. Das Hundebashing und die Macht der Waffenlobby sind noch ein paar Roadside Attractions auf diesem munteren Ritt durch den Midwest der USA. “Wochenlanges zielloses Reisen empfinde ich aber seit ich nicht mehr jugendlich bin eigentlich als stumpfen Konsum privilegierter IdiotInnen“, schränkt sie ihre Neugierde dann aber doch etwas ein und ist dann irgendwie wieder froh, nach Grinnell zurückzukommen. “Aber mit dem Abschied vom Exzess bricht ein ganzer Teil der Wirklichkeit weg. Der Irrsinn der Nacht.”Dafür kann man sich dann – am Ende der Strasse – vielleicht nur noch für Mukbang interessieren? Bei den Amish dürfen die geschlechtsreifen Jugendlichen mit 16 Jahren auf die Pfalz, sie nennen das “Rumspringa“, erzählt Sargnagel und in dieser Zeit dürfen sie alles ausprobieren, was sie wollen: Sex und Drugs und R’n’R. Davon dürfte die Sargnagel, 1986 geboren, inzwischen wohl genug haben. Denn mit kaum etwas mehr als 37 Jahren hat sie schon ihr reifes Alterswerk geschrieben: Iowa. Ein unterhaltsamer, lesenswerter Roadtrip voller Sarkasmus bei gleichzeitig sehr viel Sympathie. Unaufgeregt, abgeklärt und unheimlich witzig.

Zu Lesungen des Buches mit der Autorin lädt der Rowohlt Verlag ab Januar 2024 in Wien, Graz, Köln und vielen anderen deutschsprachigen Städten!

Stefanie Sargnagel
Iowa. Ein Ausflug nach Amerika
Mit korrigierenden Fußnoten von Christiane Rösinger
2023, Hardvoer, 304 Seiten
ISBN: 978-3-498-00340-1
Rowohlt Buchverlag


Genre: Autobiografie, Gegenwartsliteratur, Reise, Reiseabenteuer
Illustrated by Rowohlt

No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit

No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit

No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit. “Die Neunziger enden am 11. September 2001. An ihrem Beginn fällt die Berliner Mauer, an ihrem Ende fallen zwei Türme in New York City.” Das Jahrzehnt, das so verheißungsvoll begonnen hatte (“Wind of Change”) endet mit einem Vatermord. Denn der Vater Osama Bin Ladens war genau der Bauunternehmer, der in Saudi-Arabien die Architektur Minoru Yamasakis umsetzte. Und in New York die Twin Towers.

Jahrzehnt der Widersprüche

Wem das jetzt schon zu konspirativ klingt, der hat die Neunziger nicht erlebt. Denn tatsächlich war es ein Jahrzehnt der Widersprüche. Nicht nur politisch, sondern auch kulturell-musikalisch. So steht 1993 gleichzeitig für “the year that grunge broke out”, andererseits auch für den weltweiten Durchbruch von Tekkno. Elektronische Musik war plötzlich gefragt, Raves wurden zum Treffpunkt der neuen Jugendkultur und die “Love Parade” in Berlin zählte bald mehr als 1,5 Millionen Besucher:innen. Das Jahrzehnt in dem jeder anders sein wollte und möglichst individualistisch daherkam, verkam zur Uniformierung und Kommerzialisierung der Jugendkultur, wie es bisher noch nie dagesessen war. Denn bald stiegen auch gewisse Sportmarken auf den neuen Jugendtrend des Abtanzens ein. Während Hakim Bei von “temporären autonomen Zonen” schwärmte, entstanden im Osten Deutschlands sog. national befreite Zonen, also das genaue Gegenteil von dem, was auf Tekknopartys (“Unity”) beschworen wurde. Dabei übertraf die Zahl der Aussiedler bei Weitem jene der Asylbewerber, wie Balzer betont. Selbst das deutsche Nachrichtenmagazin SPIEGEL unterlag der neuen Diskurshegemonie und titelte am 9.9.1991 “Flüchtlinge-Aussiedler-Asylanten: Ansturm der Armen”. Wenige Tage später ereigneten sich Hoyerswerda und Rostock, zwei Städte, die so gar nicht in das Bild der neuen Offenheit passten.

Airbag Generation und Two Socks

Aber Lichtermeere gegen Rechts gehörten ebenso zu den Neunzigern, wie die Piercings und Tätowierungen der “Modern Primitives”, die ihr Überleben in kleinen, selbstbezogenen Gemeinschaften erprobten. Selbstreferentialiät und Modifikation des eigenen Körpers führten zu solchen Auswüchsen wie dem vielzitierten Arschgeweih, das in den USA als Tramp Stamp den Feminismus in die Steinzeit zurückbombten. Dazu trugen auch Fernsehserien wie Baywatch bei, auch wenn diese stets unter der Prämisse der Selbstbestimmung der Frau liefen. Der letzte Sieg des Patriarchats? Dieser wurde auch in diversen Talkshows zelebriert, denn obwohl in den Neunzigern jeder ein Außenseiter und etwas Besonderes sein wollte, glichen sich die Drehbücher und wurden mit Laiendarstellern getastet. Nicht zuletzt gingen die Neunziger aber auch als Jahrzehnt des Big Brother und Matrix ein. Denn “1984” wurde mit der Erfindung der mobilen Kommunikation tatsächlich Realität: die Handys machten spätestens Ende des Jahrzehnts als kleine Sendeeinheiten Furore und der gläserne Mensch wurde alsbald so durchsichtig, dass im Grunde genommen jeder von uns als Klon nachproduzierbar wäre. Denn so viele Daten wie noch nie wurden über einen einzelnen Bürger:in im WWW gesammelt. Dabei hatte es mit Two Socks – der Katze Bill Clintons – so harmlos angefangen…

Ob-la-di ob-la-da

Wenn die Siebziger im Zeichen der Innovation standen, die Achtziger im Zeichen der Angst und Apokalypse, dann sind die Neunziger wohl die Aufhebung der beiden. Der Griff ins Archiv wird zum innovativen Kick, Hypertext über alles. Selbst der religiöse Fundamentalismus ist nur ein Widergänger der alten anti-westlichen, anti-aufklärerischen politischen Bewegungen des Nationalsozialismus und Faschismus: Klerikalfaschismus, so Walter Laqueur. Tristesse Royale ist dabei noch ein harmloser Titel. Die Globalisierung hat eben auch diesen Aspekt: “aus einer immer stärker vernetzten und hybrider werdenden Welt verschwindet jenes Eigene, in dem sich Sicherheit und Identität finden”. Darauf gibt es eben unterschiedliche Reaktionen, aber es ist wohl beides legitim, da real. Ob-la-di ob-la-da. Und vielleicht war das Jahrzehnt gerade wegen seiner Widersprüche das freieste, bisher…

No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit

Jens Balzer, geboren 1969, ist Autor und Kolumnist, u.a. für die «Zeit», «Rolling Stone», den Deutschlandfunk und radioeins. Er war stellvertretender Feuilletonchef der «Berliner Zeitung» und kuratiert den Popsalon am Deutschen Theater. 2016 erschien sein vielgelobtes Buch «Pop», 2019 «Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er», über das der «Tagesspiegel» schrieb: «So lehrreich wie unterhaltsam … Am Ende ist man um nie geahnte Erkenntnisse reicher – und wünscht sich, dass sich der Autor bald das nächste Jahrzehnt vornehmen möge.»

Jens Balzer
No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit
2023, Hardcover, 384 Seiten,
ISBN: 978-3-7371-0173-8
Rowohlt Verlag


Genre: Chronologie, Geschichte, Kultur, Musik, Politik, Popkultur
Illustrated by Rowohlt

Das Rätsel der Schamanin – Eine archäologische Reise zu unseren Anfängen

https://c95871.ssl.cf3.rackcdn.com/p62wAOZrQE_assets/images/p62wAOZrQE_Zoom.webpWie ein Traum der Nazis zu einem Alptraum wird – und zu einem wahr gewordenen Traum der Egalität

Wer verstehen will, woher wir kommen und was unser Erb- und Kulturgut alles für Überraschungen bereithält, der halte sich an die Archäologie und Geschichtsforschung – aber ohne den ideologischen, kolonialen, patriarchalen und sonstigen Ballast, der unkritisch auch in die Forschung gern mal miteinfließt und damit instrumentalisiert wird.

So geschehen bei der Schamanin von Bad Dürrenberg. Denn das große und das winzige Skelett, das die Nazis zum gelungenen Beispiel ihrer Rassenideologie machten, entpuppte sich als wahrer Alptraum eines jeden Ariers: Zum einen lag in dem wichtigsten europäischen Grab des Mesolithikums kein Mann wie vorschnell angenommen, sondern eine mächtige Frau, die mit allen Ehren bestattet und Jahrhunderte nach ihrem Tod weiterhin verehrt und um Rat gefragt wurde. Zum zweiten war diese Frau auch noch eine „People of Color“ – braune Hautfarbe mit blauen Augen, wie die genetische Analyse zeigt. Und zum dritten wurde Menschen mit Handicaps früher augenscheinlich eine besondere Wertschätzung zuteil, wie dieses Grab und mehrere andere sorgfältig ausgestattete Gräber und deren inne liegende Knochen zeigen.

 

Unheilige Allianz von Patriarchat, Ideologie und Kolonialismus

Harald Meller und Kai Michel weisen in ihrem spannenden und z.T. humorvoll geschriebenen Buch nach, wie das patriarchale, ideologische und koloniale Denken in der Archäologie und der Geschichtsforschung eine unheilige Allianz eingegangen sind, um den jeweiligen Zeitgeist zu bestärken. Das hat mit unvoreingenommener, neutraler Wissenschaft nichts zu tun. Geht man aber objektiv an die Historie, dann hat die „Archäologie das Potential, unsere Gewissheiten auf den Kopf zu stellen. Welcome to Wonderland!“, wie es so treffend auf S. 42 im Buch heißt. Denn: „Der Archäologie im Verbund mit evolutionärer Anthropologie, Primatologie, Archäogenetik und Ethnografie verdanken wir die immer noch viel zu unbekannte Einsicht, dass unsere angebliche Normalität alles andere als normal ist. Wir leben in einem Ausnahmezustand.“ (S. 42/43)

Und zwar in einem negativen Ausnahmezustand. Dieser Ausnahmezustand umfasst das gesamte Patriarchat, das nur ein einziges Prozent der Menschheitsgeschichte ausmacht. In den 99% davor gab es egalitäre Gesellschaften, in denen Frauen geachtet bis hoch geachtet wurden. Es war die Zeit der hochmobilen Jäger*innen und Sammler*innen. Die Zeit dagegen, in der die Menschheit sesshaft geworden ist, ist viel zu kurz, um sich nennenswert in die menschliche Biologie einzuschreiben. Die Welt, in der wir leben, ist völlig anders als jene, an die wir uns die allermeiste Zeit der Geschichte angepasst haben. Deswegen beschleicht uns nach Michel und Heller immer wieder das Gefühl, mit dem Leben könne es nicht mit rechten Dingen zugehen. Die immer neuen kulturellen Adaptionen, die nicht selten der biologischen Natur zuwiderlaufen, sollen religiös, philosophisch und gesetzlich sicherstellen, dass Menschen in einem Umfeld funktionieren, das ihnen eigentlich widerstrebt.

Wie es früher nach hoher Wahrscheinlichkeit und nach gründlicher Recherche war, will das Autorenduo am Beispiel der Schamanin aufzeigen. Dabei wird zum einen der Begriff „Schamane“ und „Schamanimus“ und dessen Bedeutung genau unter die Lupe genommen, um nicht wieder dem Zeitgeist aufzusitzen. Ebenso wird der Animismus untersucht, der sich aus der Natur heraus selbst erklärt. Dieses Sich-aus-der-Natur-heraus-Selbsterklären zeigt auch auf, warum Frauen tendenziell eine geschätzte Stellung hatten – sie waren diejenigen, die das Wunder vollbrachten, Leben zu schenken. Das machte sie zu besonderen Wesen und das ist auch ein Grund, warum sie Zugang zu einer anderen Welt hatten. Im Übrigen galten Transvestiten, also jene mit wandelndem Geschlecht, als besonders talentiert im Umgang mit anderen Sphären.

 

Der Beginn der negativen 1% der Menschheitsgeschichte

Die Schamanin aus Bad Dürrenberg ist die ideale Personifizierung der animistischen Weltsicht; sie entpuppt sich als Meisterin der Beziehungen der Menschen untereinander und zu Wesen nichtmenschlicher Gestalt. Allerdings beginnt mit den Schamanen, und damit der Spezialisierung, das Zeitalter der Expert*innen. Das wiederrum bedeutet Abhängigkeiten, ungleich verteilte Ressourcen und Macht über andere. Der Zugang zu höheren, lebensbestimmenden Mächten, den früher alle hatten, wird beschränkt. Damit haben die Menschen ihr Schicksal nicht mehr in der eigenen Hand. Im Neolithikum, der nach dem Mesolithikum folgenden Welt der Ackerbauern, lösen sich die alten Gruppenbeziehungen auf. Die Menschen sind jetzt an den Boden gebunden, die Bevölkerung explodiert. Das führt zu Konkurrenz um Ressourcen bis hin zum Krieg. Eigentum sichert die Existenz und muss beschützt und ggf. verteidigt werden. Das ist jetzt Aufgabe der Männer, die vor Ort bleiben. Die Frauen dagegen müssen in fremde Familien einheiraten und verlieren so ihr altes soziales Netzwerk. Die Männer geben ihr Eigentum an die Söhne weiter. „Hier wird die Einbahnstraße Richtung Patriarchat eingeschlagen, das uralte Gleichgewicht der Geschlechter zerstört.“ (S. 323)

Das bedingt auch, dass der Ahnenkult zum Schutz der Ansprüche auf das Land und das Eigentum forciert wird. Auch die Ahnen werden wie die Menschen ungleicher. Erst wenn die Menschen mächtige Menschen kennen, können sie sich mächtige Gottheiten vorstellen. Ahnenkult und Götter sind also recht späte Erfindungen der Menschheit.

Wenn intensiv Landwirtschaft betrieben und Eigentum angehäuft wird, öffnet sich die soziale Schere immer weiter. Es entstehen neue Herrschaftsformen und erste Staaten, deren Herrscher sich auf die Macht der Götter berufen: Herrschaftsreligion. „Die Herrschaftsreligion setzt auf Überwältigung und Monumentalität, auf Heerscharen von Priestern und bombastische Tempel. In dieser polytheistischen Welt der vielen Götter bestehen aber auch noch die alten spirituellen Sphären fort, die Welt der Geister, der Magie, des Zaubers und einer Vielzahl schamanischer Techniken. Das ist bunt, alltagstauglich, nicht dogmatisch, es wird mit allem experimentiert, was hilft und heilt. Wir haben es mit einer Religion von oben und einer Religion von unten zu tun. Nur die von oben, die Herrschaftsreligion, schreibt den Menschen vor, was sie zu glauben haben, wie sie leben sollen und was gut und böse ist. Die von unten, die Alltagsreligion, ist einfach da und versteht sich von selbst.“ (S. 324)

Für den neuen Monotheismus dagegen sind alle anderen Götter nicht existent und ihre Verehrung Götzendienst. Damit wird die Religion von unten mit ihrer Alltagsreligion und ihren vielen mächtigen weiblichen Gottheiten bekämpft. Deren Repräsentant*innen sollen getötet werden. Die Menschen dürfen nur noch das glauben, was ihnen von oben vorgeschrieben wird. Alle anderen religiösen und spirituellen Praktiken werden verteufelt: Heiden, Hexen (Hek-se: Heckensitzerin; diejenige, die die Hecken, also die Grenzen [auch von Diesseits und Jenseits] bewacht und beschützt), manche Mystikerinnen werden brutal verfolgt. Der europäische Kolonialismus trägt die Religion von oben in die Welt und erklärt dem animistischen Denken, der Alltagsreligion, den Krieg.

„Doch das ist ein Kampf gegen die menschliche Natur. Denn die setzt bei übernatürlichen Dingen auf viele Akteure. Darum musste schon das Christentum mit Engeln und Teufel, mit Dämonen und Legionen von Heiligen nachbessern. Unsere Natur verlangt zu allen Zeiten nach ihrem Recht. Deshalb bricht diese verdrängte und unterdrückte Seite heute wieder hervor, kaum haben die Kirchen ihre Macht verloren. Mit dem wissenschaftlichen Fortschritt verschwindet das spirituelle Bedürfnis der Menschen beileibe nicht vollständig. Wie auch, meldet sich hier doch unsere alte, animistische Natur.“ (S. 325)

Allerdings hat die Geschichte immer wieder mit Geschichtsfälschungen zu kämpfen, denn die angeblich großen Denker und Forscher waren allesamt männlich und damit patriarchal, ideologisch und kolonial kontaminiert. Heller und Michel müssen sich also erst einmal durch allerlei Altlasten diesbezüglich wühlen, um der realen Frau von Bad Dürrenberg näher zu kommen. Das tun sie mit Beharrlichkeit und immer neuer Motivation, denn diese Frau birgt die ein oder andere Überraschung. Dabei beleuchten die beiden Autoren ausführlich die damaligen Umweltbedingungen, Lebensumstände und das vermutlich animistische Denken; dies alles wird auch im Kontext heutiger Schaman*innen und der weiteren Geschichtsschreibung gesehen.

 

Fazit

Die Schamanin von Bad Dürrenberg erwacht wieder zum Leben und hat uns auch heute noch etwas Wichtiges zu sagen – nämlich, woher wir kommen und wie die Vergangenheit in uns bis heute nachwirkt. Und das nicht zu unseren Ungunsten, ganz im Gegenteil. Sie holt das zutiefst Menschliche wieder ans Tageslicht, das uns immer wieder die Richtung zeigt im Umgang mit anderen Menschen, mit Tieren, mit Pflanzen, mit spirituellen Sphären. Deshalb ist die Vergangenheit gerade heute so aktuell wie nie zuvor, denn sie weist Richtungen auf, die zu Lösungen der aktuellen Katastrophen führen können. Auf all das weist das Buch hin und erweckt gleichzeitig die Vergangenheit, die bis in die Genetik reicht, auf faszinierende Weise wieder zum Leben. Heller und Michel ist damit ein wichtiges Buch gelungen, das gut vernetzt werden kann mit heutigen Erkenntnissen über den Schutz und der Achtung der Umwelt, mit dem spirituellen Grundbedürfnis der Menschen und mit einem guten sozialen Miteinander.

 


Genre: Anfänge der Menschheit, Animismus, Anthropologie, Archäogenetik, Archäologie, Egalität, Ethnografie, Ideologie, Kolonialismus, mächtige Frauen, Menschheitsgeschichte, Patriarchat, Primatologie, Religiosität, Spiritualität
Illustrated by Rowohlt