Wir können auch anders Aufbruch in die Welt von morgen

Es geht um die anstehenden Veränderungen unseres Umgangs mit dem, was wir Umwelt nennen; die Autorin bevorzugt, Mitwelt zu sagen. Sie ermuntert dazu, sich zu beteiligen, selbst dann, wenn die Rahmenbedingungen dazu beschränkt sind. Jeder Satz, jede Geste zählt, sie ist dann ein „Wir“.

Die Leitfragen des Buches sind: Wie, wo, wer. Zum Wer fragt sie: „Die Politik? Die Wirtschaft? Die sogenannten Eliten? Wer ist mit diesem Wir gemeint?“

Die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin ist seit Jahrzehnten Transformationsforscherin und kennt die (oft gescheiterten) Versuche, die Klimakrise zu verhindern, seitdem der Club of Rome schon 1972 forderte: Nie wieder Probleme isoliert betrachten!

Zu oft führen unerwartete Nebenwirkungen zum Scheitern. Dazu gibt es viele internationale Beispiele, ich greife die derzeit gehegte Hoffnung heraus, das Austauschen von Verbrenner Motoren gegen E-autos würde die Umwelt verbessern. Wie wird die Elektrizität erzeugt? Was machen neue schnelle Straßen mit der Landschaft, mit den Städten? Würden weniger Stehzeuge (der realistischere Name für Fahrzeuge) die Straßen verengen, oder, (das steht nicht im Buch!) in Grünheide bei Berlin eine große Fabrik im Trinkwasserschutzgebiet gebaut wird?

In einer Studie wurde in Dänemark gefunden, dass jeder mit einem Auto gefahrene km den Staat 27 Cent kostet, für Straßeninstandsetzung, Unfälle, Lärm und Luftverschmutzung, jeder geradelte km spart dem Staat 30 Cent. Bei der Transformation wären autofreie Zonen nicht nur schöner anzusehen, auch besser für Kinder und andere Fußgänger.

Im Buch werden Begriffe der Transformationsforschung erklärt und angewandt: Kipp-Punkte, „wie kommen Firmen vom big disconnect zum big reconnect? Was sind Key Performance Indicators?“ sind nur einige.

Es ist aufgebaut in drei Abschnitten:1.) Unser Betriebssystem, 2.) Wie wir den Betrieb ändern und 3.) Wer ist eigentlich wir? wird die Entwicklung der ökonomischen Lehren dargestellt und Schritte für deren notwendige Veränderungen angedacht. So wird am Beispiel von Keynes, aufgezeigt, dass Fortschritt nicht verbesserte Gesellschaften bedeutet. Vor neunzig Jahren mutmaßte er, aufgrund der Entwicklung neuer Technologien in der Zukunft, also in unserem Heute könnte die Gesellschaft „weise, angenehm und gut leben“. Auch der Glaube, nur wirtschaftliches Wachstum sei die Grundlage besseren Lebens wird hinterfragt, neben das BIP sollte ein Indikator stehen, der das Wohlleben (well-being) berücksichtigt.

Am Ende jedes Kapitels steht eine Zusammenfassung, die auch Anregungen gibt, wie das Gesagte verarbeitet oder weitergetragen werden kann. Das schätzte ich schon in ihrem Buch „Unsere Welt neu denken,“ das ich hier auch rezensiert habe Rezension: Unsere Welt neu denken: Eine Einladung von Maja Göpel Hier ein Beispiel: „Wichtig ist in diesen Zeiten, klare Prioritäten zu setzen und neue Geschichten zu erfinden, die uns Orientierung für das Wünschenswerte und Mögliche geben, Sinn verleihen und ansteckend sind. Richten wir den Rückspiegel nach vorn, ist das Loslassen nicht mehr so schwer. Merke: in Jedem Vergehen steckt ein Entstehen.“

Die weitere Entwicklung könne auch im Kapitalismus geschehen, hier gibt es das Beispiel vom Bielefelder Produzenten von Insektiziden, Hans Reckhaus, der über Jahrzehnte das Konzept, möglichst viel zu verkaufen, umwandelte in Aktivitäten, die dem Insektensterben Einhalt gebieten: Aufschriften auf den Giften, aber auch Insektenschutzräume auf dem Dach seines Betriebes.

Dazu müssen Spielregeln geändert werden: Eine meiner Lieblingsstellen war die Entwicklung von Monopoly, entwickelt von einer Sekretärin mit dem Ziel auf die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft hinzuweisen: „In kurzer Zeit, ich hoffe, in sehr kurzer Zeit, werden Männer und Frauen entdecken, dass sie arm sind, weil Carnegie und Rockefeller mehr haben, als sie ausgeben können. Das Spiel hieß The Landlord’s Game. Später entwickelte sie auch eine single tax, mit der Grundstücke besteuert wurden, wovon öffentliche Parks und Schulen errichtet wurden. Sie verkaufte die Rechte. Danach, in der Krise Ende der Zwanziger Jahre wurde es Monopoly genannt und die Regel so geändert, dass der/die Spieler/in lernt: Wer hat, dem wird gegeben. Und er/sie lernt, wenn ich nichts habe, muss ich verarmen und untergehen.

Neu war für mich die wundersame Geldvermehrung der Milliardäre in den USA. Wer dort spendet, spart Steuern.

Mir war schon vor Jahren aufgefallen, dass Bill Gates Impfungen in Entwicklungsländern förderte, und damit die Staaten zwang, Prioritäten dort zu setzen, wo vielleicht anderes nötiger wäre: Trinkwasser, Frauenbildung, Abwasserbeseitigung. Die dann eingesparten Steuern konnte er wieder investieren in: Impfstoffherstellende Firmen.

Eine weitere Stärke des Buches sind ihre Erfahrungen als Rednerin, wie sie die Zuhörer/innen motiviert, das Gehörte weiter zu tragen. Und sie fragt sich, warum die Fachleute der Firmen nicht selbst ihr Wissen in die Debatten einbringen, wie ein Betrieb „grüner“ wird. Keiner möchte die Hiobsbotschaften überbringen, was alles geändert werden muss. Dafür bucht man lieber eine Transformationsforscherin, die nur einmal einen Vortrag hält…

Das Buch wird dann mit über fünfzig Seiten mit Quellenangaben abgerundet.

 


Genre: Entwicklung ökonomischer Theorien, Klimakrise, Transformationsforschung
Illustrated by Ullstein

Federball

Es geht einem irgendwie sehr schwer von der Hand/Feder/Tastatur, dieses Buch in die Rubrik “Agenten- oder Spionage-Thriller” einzustellen. Aber die Literaturbranche verlangt mal wieder nach Kategorien und Schubladen.

John Le Carrè geht mit einem riesigen Bonus ins Rennen. Der Altmeister des subtilen Spionage-Romans will es mit 88 Jahren noch einmal wissen und die Presse überschlägt sich vor Lob und Begeisterung. Also geht man voller Vorfreude ans Lesen des neuerlichen Meisterwerks.

Ein schon etwas älterer Spion kehrt ins gute alte England zurück und wird mangels besserer Aufgaben in eine unbedeutende Filiale in London abgeschoben. Er trifft sich mit aktuellen und früheren russischen Informanten. In seiner Freizeit spielt er mit Begeisterung Badminton, wobei sich sein neuer Federball-Gegner später zum eher halbherzigen Spion für die Russen entwickelt.

Das ist die Story.

Über 90 Prozent des Buches quält sich eine zähe Handlung durch endlose Dialoge ohne Spannung und Esprit. In einem deutschen Finanzamt geht es mit Sicherheit spannender zu als in den Spionage-Abteilungen, die le Carré zeichnet. Lange fragt man sich, welche wertvollen Informationen wohl so wertvoll sind? Die Busfahrpläne Londons? Nein, es ist die mögliche Aussicht darauf, dass Großbritannien nach dem Brexit in enge Gespräche mit den USA eintreten wird … Überraschung …Gähn.

Viele Kritiker feiern das Buch als Anti-Brexit-Manifest. Weit gefehlt, allenfalls ein Nebenkriegsschauplatz, wenn le Carré dem jungen Ed ein paar hitzköpfige Statements in den Mund legt.

Die längste Zeit fragt man sich, ob le Carré vielleicht die bewusste Persiflage eines Spionage-Thrillers schreiben und all die James Bonds als langweilige Beamte entlarven wollte. Aber auch diese Hoffnung stirbt im Verlauf des Buchs.

Zur Ehrenrettung von le Carré muss man erwähnen, dass das Buch auf den letzten 20 Seiten sogar so etwas wie einen Hauch Spannung entwickelt. Aber auch das bleibt letztendlich ein Strohfeuer mit einem unlogischen Ende.


Genre: Belletristik, Kriminalliteratur, Thriller
Illustrated by Ullstein

Der geschenkte Gaul: Bericht aus einem Leben

Hildegard Knef hatte mit Ende vierzig ihren „Bericht aus einem Leben“ herausgegeben. Dass ich ihn fünfzig Jahre später lesen wollte, liegt an Angela Merkels Wunsch, sich vom Bundeswehrorchester zum Abschied das Lied Für mich soll’s rote Rosen regnen, als Ständchen darbieten zu lassen. Ihre Lieder hatten mir schon lange gefallen, vor allem Von nun an ging’s bergab, nun weiß ich, dass es eine, in ihrem kodderigen Stil gefasste, Kurzbiografie darstellt …

Das Buch überrascht, es ist ein Stilmix, von ihrer Jugendzeit sind es lebhafte Erzählungen, später werden es Tagebuchnotizen, manchmal sind Briefe eingestreut, die Jahrzehnte später verfasst sind, alles ist prall gefüllt mit ihren Erlebnissen, geprägt von ihrer Neugier und Lust auf das Leben.

Als Kleinkind zieht ihre Familie Mitte der Zwanziger nach Berlin, kurze Zeit später stirbt der Vater, die Mutter muss Geld verdienen und so kommt sie zu den Großeltern. Am liebsten ist sie mit dem Opa in Zossen, in einer Laube, wo sie sich frei entfalten konnte. Das erste Kapitel heißt „Liebeserklärung an meinen Großvater.“ Die Oma hatte Angst vorm jähzornigen Ehemann, ihr konnte er gar nichts. Später, als ihr erster Ehemann auch zu Jähzorn neigt, ist es ihr auch kein Problem.

Die Mutter heiratet einen Schuhmacher, dessen Geschäft am S-Bahnhof Wilmersdorf (heute Bundesplatz) liegt, und sie berichtet von seinen Versuchen, den Blockwart auszutricksen, wenn er seinen Laden mit der Nazifahne schmücken soll. Zwei Lehrerinnen langweilen sie mit dem Schwärmen von Führer und Vaterland, manche schikanieren sie. Das erschwert die Berufswahl, es gelingt ihr, in einen Zeichenkurs bei der Ufa zu kommen. Sie will mehr, glaubt an sich, und sie schafft es, als Schauspielerin vorzusprechen. Ihr Motto ist, ganz berlinerisch: Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommste ohne ihr.

Der Krieg beginnt, die ersten Freunde werden Soldaten, dann fallen die Bomben, sie verbringt Abende in Bunkern und sieht, wie Stück für Stück das Viertel zerstört wird. Die Straßennamen aller ihrer Wohnungen sind ausgeschrieben, die meiste Zeit wohnte sie ganz in der Nähe meines Wohnorts, was meine Aufmerksamkeit erhöhte. Die Mutter ist mit dem kleinen Bruder evakuiert, sie lebt mit dem schwindsüchtigen Stiefvater zusammen, als die Wohnung teils zerbombt ist, kommt die Kapitulation.

Als Freund bei Kriegsende hatte sie einen führenden Parteigenossen, dessen Namen sie nur als Initiale, aber mit Adelstitel verrät. Sie schließt sich ihm zur Verteidigung der Stadt an, sie wollten, an der S-Bahn entlang, Richtung Westkreuz kämpfen und müssen aufgeben, kommen beide in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Alle diese Begegnungen sind ohne Wehklagen geschrieben, nach vorne wird geguckt. An ihn, E.v.D. denkt sie oft, einmal schreibt sie von den Flitterwochen am Kriegsende.

Weiter geht es, als die Alliierten das Sagen haben, als die Amis Häuser besetzen in Zehlendorf und die Briten in Wilmersdorf. Inzwischen ist sie Anfang zwanzig, Schauspielerin: Sie macht mit beim ersten Film nach Kriegsende: Die Mörder sind unter Uns, aber lieber noch spielt sie Theater mit Borislaw Barlog.

Manchmal gibt es tagelang nichts zu essen, die Ruhr grassiert, aber das hält sie nicht auf. Ein Ami macht ihr den Hof. Dazu, ganz trocken: „Kurt Hirsch, wurde später der Assistent von Erich Pommer, noch später mein Angetrauter und wesentlich später ein von mir Geschiedener.“

Bei den Amerikanern in Zehlendorf wird sie entnazifiziert, mit Hirsch sieht sie bei den Sowjets einen Film über Auschwitz und beginnt zu begreifen. Seine Eltern sind Juden und werden nie verstehen, wie ihr Sohn eine Deutsche heiraten konnte.

Die ersten Jahre nach Kriegsende sind bewegt, sie lernt Englisch und französisch. Der Film Die Sünderin wird zu einem Skandal, umso mehr zieht es sie nach Hollywood, sie kann als Deutsche keine Verträge abschließen, mit Ihrem Mann wandert sie aus und filmt in den USA, lebt in Hollywood, das in der Zeit von McCarthy als linksversifft bekämpft wird.

Ihre Beobachtungen sind genau, fast wie ethnologische Studien, wenn sie über Sitten, etwa Grill- und andere Partys, schreibt. Sie beschreibt die Dichte von Therapeuten in Hollywood, besonders amüsant wird es, wenn sie von Vertreterinnen der Frauenorganisationen ob ihrer Moralvorstellungen verhört wird. Natürlich trifft sie viele Prominente, schon in Berlin war es so, sie begegnet Rock Hudson, übrigens hat er dieselbe Sprachlehrerin wie sie, Henry Miller, Cole Porter ist Komponist ihrer Broadway-Show. Es bleibt nicht beim name dropping, sie freundet sich mit manchen an, mit Marcuse, vor allem mit Marlene Dietrich, die sie fast ein bisschen bemuttert, ihr ihren Astrologen empfiehlt, und sie mit Rat und Tat unterstützt.

Eingestreut sind interessante Überlegungen, warum gibt es im Englischen kein „Sie“? Wie ist das Bild der Deutschen im Ausland, wie denken die vielen Emigranten, denen sie immer begegnet? Sie ist die „Kraut“ und wird bei Interviews nicht dazu befragt, wie ihr Schauspiel ist, sondern, ob sie Nazi war.

Später geht sie dazu über, Tagebucheintragungen zu verwenden. Es gibt Erfolge, aber auch Enttäuschungen in New York, Rückkehr nach Deutschland, Ärger mit Produzenten, Me too-Erlebnisse. Eine lange Aufzählung ist den Anfeindungen gewidmet, die sie, lange vor den Zeiten, des Shitstorms erfährt. Und dann Aufzählungen der vielen Krankheiten, die sie durchlitt.

Zum Schluss kommen Berichte ihres Glückes nach der Geburt ihrer Tochter Tinta, und dem Leben mit deren Vater.

Ich las die Erzählungen in ganzen Sätzen, gerne im feuilletonistischen Stil der Theaterkritiker ihrer Zeit, sehr gerne. Das Lesen der Satzbrocken wurde anstrengend. Ob ein Redigieren es verbessert hätte? Oder ist es gerade ihr Stil, frisch und frei „von der Leber weg“ zu schreiben? Jedenfalls konnte ich ihre ersten drei Jahrzehnte mit mehr Aufmerksamkeit, ja Anteilnahme lesen. Schon die vielen zeithistorischen Hinweise lohnen die Lektüre, sie wusste eben, wieder ganz berlinerisch: „Wer angibt, hat mehr vom Leben.“


Genre: Biografien, Theater
Illustrated by Ullstein

Stein der Geduld

Vom Ende der Geduld

Der in Kabul geborene Schriftsteller Atiq Rahimi hat für seinen dritten Roman «Stein der Geduld» 2008 den Prix Goncour bekommen. «Sein erschütterndes Buch berührt unser Herz» hat die Buchpreis-Jury dazu angemerkt. Wie schon in anderen seiner Werke thematisiert auch dieser inzwischen verfilmte, schmale Band die unterwürfige Rolle der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft Afghanistans. Dieses Land, hatte der Autor bei der Preis-Verleihung erklärt, symbolisiere für ihn den ganzen Terror der Welt. Durch den gerade gestern erst verkündeten Abzug der Nato ist zu befürchten, dass der Taliban-Terror dort sehr schnell wieder die Oberhand gewinnt. Insoweit ist der Roman hochaktuell, verdeutlich er doch die archaischen gesellschaftlichen Verhältnisse des Landes ebenso wie die Schrecken des nicht enden wollenden, verheerenden Bürgerkrieges.

Eine Frau pflegt mitten im Bürgerkriegs-Geschehen eines kleinen Ortes in Afghanistan ihren vor zwei Wochen durch einen Schuss in den Hals schwer verletzten, im Koma liegenden Mann. Die Verletzung des als Kriegshelden gefeierten Mannes stammt jedoch nicht von den Kampf-Handlungen, sondern von einem banalen Streit unter Männern. Obwohl seine Augen offen sind, reagiert er nicht, sie glaubt jedoch, dass der wie ein Stein reglos Daliegende sie hören kann und spricht ihn deshalb immer wieder an. Allmählich werden dann ihre inbrünstigen, endlosen Gebete durch immer unfangreicher werdende Monologe der Frau ersetzt, die sich damit zunehmend die Probleme ihrer zehnjährigen Ehe mit dem Tyrannen von der Seele redet. Sie wurde nämlich, nach Landessitte ungefragt, mit dem sehr viel älteren Partisanen verheiratet, den sie nie gesehen hatte, und das auch noch in dessen Abwesenheit. Erst nach fünf Jahren kam er dann zum ersten Mal nach Hause und hat die Ehe mit seiner ihm unbekannten Frau ‹vollzogen›. Wie unbeholfen er dabei war, wurde ihr erst später klar, als ihre als Prostituierte arbeitende Tante sie wegen des ausbleibenden Kinder-Segens, an dem sie keine Schuld traf, einem Mann zugeführt hat, der dann auch prompt zwei Kinder mit ihr gezeugt hatte. Und was Lust bedeutet wird ihr sogar erst jetzt, Jahre später klar, als ein blutjunger, durchs Dorf streunender Kämpfer in dem Glauben, sie sein eine Hure, mehrmals mit ihr Sex hat.

In einem bühnenreifen, kammerspielartigen Szenario erzählt der Autor von einem islamischen Ehe-Alptraum, von dem die Frau sich nach afghanischer Mythologie durch den magischen «Stein der Geduld» zu befreien sucht. Die drehbuchartig kurzen Szene-Beschreibungen und anfangs sehr kurzen Sätze, die die Frau an ihren im Koma liegenden Mann richtet, entwickeln zunehmend eine beklemmende Dramatik. Was sie dem Bewusstlosen erzählt, könnte sie ihm sonst niemals sagen, es wäre ihr sicherer Tod, aber gerade darin liegt ja wohl auch der Reiz für ihre Geständnisse. Wie der magische «Stein der Geduld» muss er jetzt aber alles ertragen oder er wird platzen, wenn es nämlich zuviel wird für Gott, der sich in Wahrheit in dem Stein verbirgt.

Die Frau erzählt, zunächst sehr zögerlich, dann aber immer selbstbewusster werdend, in Rückblenden von ihrem schweren Leben unter der Fuchtel der Schwiegermutter, oder vom gewalttätigen Vater, der mit der Zucht von Kampf-Wachteln Geld zu verdienen sucht. Schließlich fügt sie sogar scheherazadeartig eine märchenhafte Königs-Geschichte ein, in der es um ein an Ödipus gemahnendes Dilemma geht. Immer beteiligt sind bei alldem ihr Koran mit der noch aus dem Paradies stammenden Vogelfeder als Lesezeichen, ferner ihre geduldig mit den 99 Namen Allahs herunter gebetete schwarze Kette. In der poetischen Prosa von Atiq Rahimi bilden Ameisen, eine Fliege und eine Spinne das Personal für raffiniert eingeschleuste Szenen von signifikant Insignifikantem, mit dem das Geschilderte eine erstaunlich authentische Note bekommt. Der Befreiungsakt der nicht mehr so ganz geduldigen Frau endet hochdramatisch mit dem Zerspringen des titelgebenden Steins.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Ullstein

Der Apfelbaum

Der apfelbaumEinundneunzig Jahre alt ist die Mutter des Autors und träumt sich immer wieder in neue Abenteuer hinein, dabei will er doch, bewaffnet mit einem Kassettenrekorder, ihre wechselhafte Geschichte aufzeichnen, gerne auch das, was bisher verschwiegen wurde. Aus diesen Stückchen, die es zusammenzufügen gilt, will er seine eigene Geschichte „neu erfinden“, und nicht mehr davor weglaufen, heißt auf dem Umschlagdeckel.

Und es gelingt ihm dank seiner Erzählkunst; mit Spannung und Anteilnahme lesen wir über deutsche Schicksale im letzten Jahrhundert.

Es beginnt mit dem Vater des Autors, der vor vier Jahren verstorben war. Otto wurde in den Monaten vor Ende des Ersten Weltkriegs in einer Berliner Arbeiterfamilie geboren. Sein Vater Otto war gefallen, Anna, die Mutter hatte ihn sehr geliebt und gehofft, mit ihm zusammen sozial aufzusteigen. Der Friseur war geschickt und konnte auch kleine Operationen durchführen. Das Söhnchen wird Otto genannt und soll es einmal besser haben,. In ihrer Erziehung achtet sie schon beim kleinen Otto darauf, etwa, dass er nicht so balinaht, wie seine Schwestern.

Erst sieht es kaum nach Aufstieg aus, Otto ist klein und zierlich, aber als er seinen Muskelaufbau systematisch fördert, kann er sich gegen den prügelnden Stiefvater und auch andere Widersacher durchsetzen. Er gerät bald an einen Verein, der Kraftübungen mit organisiertem Verbrechen verbindet, als die Schlüsselszene passiert, wie sich Berkels Eltern kennenlernen: Während er Anfang der dreißiger Jahre im bürgerlichen Friedenau in eine Wohnung einbricht, gelangt er in einen Traum von Bibliothek und interessiert sich für ein dickes Geschichtsbuch. Dazu kommt die dreizehnjährige Sala Nohl.

Die Polizei verfolgt die Einbrecher. Er versteckt sich und Sala deckt ihn souverän, als die Polizisten nach Einbrechern fragen. Otto geht stolz, mit der römischen Geschichte unter dem Arm, die er am nächsten Tag im Tiergarten lesen will.

Dort fällt er Salas Vater Jean wegen des Buches auf. Jean, als bekennender Homosexueller täglich im Tiergarten auf der Pirsch, interessiert sich für Otto und sie reden über das Buch. Otto wird eingeladen und kommt am nächsten Tag als Gast wieder in die Friedenauer Wohnung. Forsch teilt Otto Salas Vater mit, dass er die Tochter heiraten möchte (er war 17, sie 13 Jahre alt). Das hält Jean davon ab, sich weiter sexuell für ihn zu interessieren. Auch seine Persönlichkeit spricht nicht nur Sala an, fortan wird Otto als Arbeiterkind von den Gebildeten gefördert. Es beginnt eine schöne Zeit für das junge Liebespaar. Sie besuchen Filme und Theater, Sala lernt seine Familie kennen und schätzen, wenigstens sind sie zwar rau, aber ehrlich miteinander. Otto macht Abitur, studiert Medizin, Sala geht zur Schule und will Schauspielerin werden.

„Sie übt sicher wieder eine dramatische Rolle,“ denkt Jean und lauscht hinter der verschlossenen Tür. Hören muss er, dass Sala in einer gestellten Szene ihrer Mutter Iza vorwirft, sich nicht um sie zu kümmern, und ihr zu alledem noch ihr jüdisch Sein vererbt hat, denn in ihrer Umgebung musste ihr bewusst werden, dass es nicht gut ist, Jüdin zu sein, ein Stigma, unter dem sie ihr Leben lang leiden wird.

Iza, Tochter aus gehobenen jüdischen Kreisen in Polen, hat die Familie vor einigen Jahren wegen eines deutlich jüngeren Künstlers verlassen und lebt jetzt in Madrid in Anarchistenkreisen, später wird sie zum Tode verurteilt, um dann über mehrere Jahre in Franco’s Gefängnissen zu überleben. Salas Versuche, ihrer Mutter nahezukommen werden scheitern. Noch als Hochbetagte streitet sie sich mit ihrem Sohn über ihre (und seine) jüdischen Anteile.

Sala verlässt Deutschland, als es zu gefährlich wird, erst geht es nach Paris zu einer Tante, Schwester von Iza, die ein exquisites Modegeschäft führt. Sie studiert an der Sorbonne und genießt ein Luxusleben. Es wird gespeist mit mehreren Gängen und passender Weinbegleitung. Erst in dem Folgebuch über ihre Tochter Ada (link!) wird dieser das Judentum bei einem Besuch einer Bar Mitzwa Feier nahegebracht. Bei Sala wird es verdrängt.

Aber nach kurzer Zeit wird Paris besetzt, und sie muss auch hier weiterziehen. Geplant ist die Flucht über Marseille. Kurz vorher trifft sie sich mit Otto, der in der Uniform eines Wehrmachtsarztes überraschend kommt, sie entdecken ihre Liebe wieder.

Unterwegs nach Marseille wird sie gefasst, kommt in das berüchtigte Lager in Gurs. Salas Beobachtungen des Lagerlebens sind eindrucksvoll: man hungert, aber spielt auch Theater, Veränderungen, die sie auch bei sich selbst wahrnimmt. Nach und nach die werden Insassen in Zügen abtransportiert, in andere Lager in Osteuropa, man weiß, dass niemand je zurückgekommen ist. Sie wird in einem Zug gesetzt, der nach Leipzig fährt, während der Fahrt durch Frankreich setzt sie sich in ein anderes Abteil zu einem deutschen Ehepaar. Diese ahnen, dass sie eine geflohene Jüdin ist und helfen ihr nach dem Outing beim Weiterkommen in Leipzig. Sie bekommt einen deutschen Pass, pikanterweise mit dem Vornamen Christa und macht eine Ausbildung als Krankenschwester. Eine Kollegin, Molly, die ohne Salas Wissen in ihre Situation eingeweiht worden war, wird von nun an ihre Vertraute, deren Rat immer gut ist.

Otto ist kaum wiederzuerkennen, als er von der Front zu Besuch kommt und sie finden wieder zueinander. Sala wird schwanger und kann in Leipzig die Tochter Ada gebären. Nach Kriegsende ist ihr Deutschland keine Heimat mehr, es ist schwer sich im neuen Leben zurechtzufinden. Von Otto weiß man nichts, hofft, er wäre in Gefangenschaft in der Sowjetunion, also am Leben.

Er scheint Tagebuch geschrieben zu haben, auch über die Hilflosigkeit der deutschen Soldaten, die mit der Niederlage umgehen müssen. Er betreut sie als Arzt, muss auch bei sich selbst die Diagnose Dystrophie stellen; er erschrickt bei seinem Spiegelbild. Berkel wechselt nun ab, Erfahrungen von Sala mit Ada und Otto zu beschreiben. Ottos Überlebensstrategie: russisch lernen, viel beobachten, nachdenken und sich nicht aufgeben.

Sala redet mit Überlebenden in Deutschland, lernt deren Strategien kennen, aber sieht keine für sich, sie entschließt sich auszuwandern. Erst zu Iza nach Madrid, es ist der zweite Versuch Salas, der Mutter zu begegnen, diesmal mit Ada, Mutter und Tochter kommen auch jetzt nicht zusammen. Sie will dann weiter nach Argentinien, wo eine weitere Schwester Iza’s mit Ehemann lebt.

Sie arbeitet als Nanny bei einer wohlhabenden Familie, es geht anfangs gut. Sie träumt von Otto und will, dass er auch auswandert. Er kann mit dieser Vorstellung nichts anfangen, und ob das Kind von Ihm ist? Der Briefwechsel wird kränkend. Als der Vater der von ihr betreuten Kinder ihr nachstellt, geht sie, auch eine zweite Arbeitsstelle läuft nicht gut, bis Ada endlich sagt: „Ich will weg hier.“

Zurück in Deutschland nimmt Molly die Dinge in die Hand und nötigt sie Otto anzurufen. Er ist inzwischen HNO-Facharzt, dabei, sich niederzulassen und verheiratet mit Waltraut, die ihm mit ihren gehobenen Konsumvorstellungen zunehmend abstößt. Zehn Minuten nach dem Telefonat treffen sie sich im Kaffee Kranzler und Otto weiß schnell, dass er sich scheiden lässt.

Für dieses Buch hat Christian Berkel viel recherchiert, dutzende von Briefe, gerade von und nach Argentinien gefunden und bearbeitet. Seine Mutter hat, so wie damals, als sie jünger war, vieles von ihrer Geschichte verdrängt. Und sich weggeträumt: Am Tag vor ihrem Tode hatte sie ein Date mit Putin im Borchardt und ihren Sohn gezwungen dort anzurufen, weil sie sich ein wenig verspäten würde. Sie mochte die Entourage von Putin nämlich nicht.


Genre: Biographien, Historischer Roman
Illustrated by Ullstein

Unsere Welt neu denken: Eine Einladung

Titel Maja GöpelDies ist ein kleines Büchlein (200 Seiten), aber es hat es in sich: Die Klimakrise wird nicht erst beschrieben, es geht darum, welches Wirtschaftssystem nötig wäre, um sie aufzuhalten. Wir sind eingeladen, mitzudenken. Am Ende jeden Kapitels stehen weitergehende Gedanken zum Gesagten, wie ein Abspann.

Unsere Utopien haben sich in Dystopien verwandelt, Ursache ist die derzeitige Produktionsweise. Diese wird von ihren Kollegen Wirtschaftswissenschaftlern als gottgegeben gelehrt. Maja Göpel, die promovierte Volkswirtin und Professorin, nimmt uns mit in eine Vorlesung, als sie junge Studentin war: Es ging darum, wie sich Menschen entscheiden, um ein Auskommen zu haben. Gelehrt wurde, dass Arbeiter immer den höchsten Lohn anstreben, auch wenn es bedeutete, dass sie ins Ausland müssten. Als sie fragte, ob berechnet worden war, „ab wieviel Armut vor Ort und Lohnunterschied Menschen denn ihre Familie verlassen würden und (warum) für einen solchen Aufwand aufseiten der Arbeiter*innen keinerlei Kosten in dem Modell auflaufen würden, wurde es plötzlich still im Hörsaal.“

Dem verblüfften Prof fiel nur ein: “Seht her, da spricht ja ein warmes Herz.“ Sie nahm das als Anstoß, sich mit den volkswirtschaftlichen Theorien zu befassen, und dies später in ihrer Promotion zu vertiefen.

Wir erhalten grundlegendes Wissen zu den immer wieder zitierten Größen des Fachs. Wir lernen, dass der „homo oeconomicus“ unersättlich ist. Dazu aus dem Abspann des Kapitels Mensch und Verhalten: „Die Mehrheit der Ökonomen denkt den Menschen immer noch als eine egoistische Kreatur, der es nur um den eigenen Vorteil geht und die dadurch auf wundersame Weise für alle Wohlstand schafft. Dieses Menschenbild ist falsch und muss dringend einem Update unterzogen werden…“

Während sich in der Natur über Milliarden von Jahren stabile Kreisläufe herausgebildet haben, auch durch Korrekturen immer wieder ausgeglichen wurden, ist unsere industrielle Produktionsweise nur auf ihre Endprodukte ausgerichtet, wie ein Fließband, das immer weiterläuft. Wenn Produkte nicht mehr gebraucht werden, werden sie nicht wieder in den Kreislauf eingespeist, sie werden Müll, der zunehmend die Umwelt belastet. Weiteres Wachstum ist angestrebt, auch wenn wir inzwischen wissen, dass mehr Produktion auch mehr Planetenzerstörung bedeutet. Dazu heißt es im Abspann des Kapitels Technologischer Fortschritt, dass das, was Fortschritt ist, neu gedacht werden muss.

Seit wann gibt es diese Bedenken? 1983 setzten die Vereinten Nationen eine Kommission ein, die „sich Gedanken machen sollte, wie sich unser Wirtschaften mit den Grenzen des Planeten vereinbaren lässt.“ Geleitet wurde sie von Gro Harlum Brundlandt. Die Definition, die als Grundlage für weitere Umweltabkommen gefunden wurde, lautet: „Dauerhafte (nachhaltige) Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ Im selben Jahrzehnt erhält der US-Ökonom Solow den Nobelpreis für sein Konzept von Wachstum, welches die Rolle von Erfindungen in den Vordergrund setzt, auch diejenigen, die Naturkapital ersetzen können (Substituierbarkeit). Maja Göpel erläutert, wie dies die Definition der Brundlandt Kommission verwässert, und dafür bekommt er den Nobelpreis? Auf diesem Hintergrund verstehen wir, wie etwa die US-amerikanische Firma Walmart dazu kommt, im Jahr 2018 ein Patent für eine Blütenbefruchterdrohne anzumelden: Wenn Bienen aussterben, dann können sie doch durch eine Drohne substituiert werden!

In den reichen Ländern sind Verhaltensänderungen notwendig, dazu ein Leitsatz: „Konsumiere so, wie Du Dir wünschen würdest, dass alle es tun!“ Wir haben gelernt, das Ich im Mittelpunkt zu sehen, es gelte, nun das Wir mehr zu bedenken.

Die Stärke dieses Buches ist die von der (jungen) Wissenschaftlerin gelebte Erfahrung, wie sich die Welt im letzten Vierteljahrhundert entwickelte: Sie ist in den neunziger Jahren als Freiwillige vom BUND bei einer Demonstration in Cancun dabei, als Protest gegen eine Tagung der WTO (Welthandelsorganisation). Diese war 1994 gegründet worden, als nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die Vorteile einer globalisierten Weltwirtschaft formuliert worden waren.

Sie ist Geschäftsführerin des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung, und auch Mitbegründerin der Scientists for Future, die wissenschaftliche Belege für die Jugendlichenbewegung Fridays for Future liefern. Sie hat die Bildung der Oligopolisten (Marktführer mit wenig Konkurrenz) beobachtet und wissenschaftlich begleitet, die Finanzkrise, bei der Großbanken mit Steuergeldern gerettet wurden, und, und, und …

Es ist dies das erste wirtschaftswissenschaftliche Buch, das ich gerne, und bis zum Schluss, gelesen habe. Und ich habe endlich verstanden, was mich so störte, als ich vor Jahren meinen Master in Management machte: Nicht alle, nur wenige Menschen ticken so, wie sie es nach dem Menschenbild der Ökonomen tun. Im Gegenteil: Warme Herzen können einen scharfen Geist befördern!


Genre: Politik und Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft
Illustrated by Ullstein

Ada

Berkel erzählt die Geschichte seiner großen Schwester in Ichform. Bald nach ihrer Geburt, bei Kriegsende in Leipzig, verlässt die Mutter Deutschland mit ihr, sie wandern aus nach Argentinien. Der Vater ist, wenn er überhaupt noch lebt, in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Sie wächst bei einer Gutsbesitzerfamilie auf, die Mutter ist Nanny für deren Kinder und diese schikanieren die kleinere Ada. Die ersten Jahre verweigert sie die Sprache, dann aber, als sie neunjährig wieder zurück nach Deutschland kommt, spricht sie fließend Spanisch, aber kaum Deutsch. Auch hier bleibt sie Außenseiterin.

Und geträumt wird viel, zusammen mit der Freundin Uschka, die auch anderes als die anderen Kinder ist, an liebsten träumen sie von Reisen, ins westliche Ausland—bloß weg von hier.

Die Mutter versucht, sich in Deutschland eine Heimat zu schaffen. Sie war als Jüdin im Lager Gurs interniert und als Schwangere vom Transport in ein Vernichtungslager geflohen. Zwei Männer könnten Ada Vater sein, beide lernt Ada als etwa Zehnjährige kennen, einen Hannes, der schöne Hände hat, aber ein Parfum, das kitzelt, und Otto, der HNO-Arzt aus Berlin. Ada darf wählen, wer der Papa sein soll und entscheidet sich, ohne zu zögern, für Otto, da er das gewünschte Kinderfahrrad schenkt.

In den fünfziger Jahren etabliert sich die kleine Familie in Berlin. Für Ada stabilisiert sich eine Zeit des Nichtverstandenwerdens. Kinder werden dumm gehalten und dann, wenn etwas sie interessiert, ins Bett geschickt. Niemand in der Familie spricht über die Vergangenheit, deren Schwere die Eltern beide, jeden auf seine Art, belasten. Die Mutter kämpft mit der ihren, auch damit, dass ihre eigene Mutter sie als Siebenjährige verlassen hatte, um in Spanien gegen den Faschismus zu kämpfen. Auch sie hatte als Kleinkind das Sprechen verweigert.

Der Vater, ein Arbeiterkind, spricht nicht über seine Zeit als Kriegsgefangener. In den Dialogen werden die vielen belastenden Erfahrungen eben nicht ausgesprochenen, manches gezielt verschwiegen. Ada ahnt vieles, kann aber nur mit ihrer Freundin Uschka darüber sprechen, deren Anderssein besteht darin, dass sie eine adlige Tochter eines Widerstandkämpfers ist, der nach dem Attentat auf Hitler umgebracht wurde. Einige Mitschüler sehen das als Verrat.

Berkel, der 1957 geborene, schafft wunderbare Szenen der hilflosen Auseinandersetzung mit der Geschichte und mit dieser Zeit. In Berlin-Frohnau, wird ein Haus gekauft, der beginnende Wohlstand genossen. Hier muss ich, die Rezensentin, mich als katholische Arzttochter outen, die, zwei Jahre jünger als Ada, auch in Frohnau aufgewachsen ist. Regelmäßig trifft sich die Familie zu Diskussionen mit anderen Arztfamilien (nein, meine zählte nicht dazu!) aber der katholische Priester Krajewski, der auch mir in Erinnerung geblieben ist, kommt gerne. Bei diesen Diskussionen wird etwa das Buch „Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von einer der Mütter als wichtiger Ratgeber vorgestellt, nur ein Teilnehmer weist darauf hin, dass es schon in der Nazizeit hochgelobt wurde.

Wir erleben in diesen Runden die Kubakrise, die Mutter glaubt, man müsse nun weg von Berlin, das Haus wird verkauft, man wohnt erstmal zur Miete. Es kommt das erste Auto, ein Mercedes, Pfarrer Krajewski weiß zu berichten, dass auch der Papst in einem solchen gefahren wird, und dann passiert der Mauerbau.

Als junge Erwachsene geht Ada ihrer Wege und lässt wenig aus. Sie ist beim Konzert der Stones in der Waldbühne, wo 1965 Randale gemacht wurde, geht in einer WG ein und aus, wir werden mit ihr zu Drogenerfahrenen, sie wird sogar kompetente Dealerin. Aber sie geht auch immer wieder nach Hause, und hört sich bekifft die bildungsbürgerlichen Diskussionen der Spießer an. Dabei wird ihr der Vater zum Löwen, die Mutter zum Schwan und der Pfarrer zur Schildkröte. Übrigens eine meiner Lieblingsszenen.

Später hört sie Rudi Dutschke in der FU, ist beim 2. Juni beim Schahbesuch dabei und noch viel später auch in Woodstock, da erfahren wir, wie es ihr beim ersten Mal mit LSD geht. Und als sie die mütterliche Tante, Modedesignerin in Paris, besuchen fährt, ist es im Mai 68. Bei diesem Besuch findet sie ihre jüdischen Wurzeln, katholisch getauft worden war sie in Argentinien, um die Staatsbürgerschaft erhalten zu können. Nachdem sie über Jahre den Kontakt zu der Familie gemieden hat, macht sie Jahre später eine Analyse und kann sich den Ihren wieder annähern.

Und der kleine Christian? Er wurde geboren, als sie 12 war, und danach wurde für sie alles noch schlimmer: Er wurde nicht so streng erzogen, durfte sein Spielzeug im Wohnzimmer liegenlassen, ihres wurde weggeworfen, hatte sie es nicht selbst aufgeräumt. Er ist nicht nur jünger und dem Vater näher, auch als Stammhalter hat er Privilegien. Aber er bewundert sie, liebt, wie sie, die Stones und als sie sich von der WG löst und wie die verlorene Tochter wieder zu Hause einzieht, wird Champagner getrunken.

Bisher habe ich diese Rezension bewusst so geschrieben, dass die geneigten Leser/innen sich der Erzähllust Berkels hingeben können über die Geschichte Westberlin aus der Sicht einer jungen Frau. Für mich war das Lesen ungleich schwieriger, da ich vor einiger Zeit das Buch Der Apfelbaum gelesen hatte, in dem Brendel als der Sohn der Familie spricht. Hier, in Ada, werden Fakten, wenn auch aus anderer Sicht, wiederholt. Im Vorspann lesen wir: “Dennoch sind es Kunstfiguren. Ihre Beschreibungen sind ebenso wie das Handlungsgeflecht, das sie bilden, und die Ereignisse und Situationen, die sich dabei ergeben, fiktiv.“ Die Frage: Warum schreibt Ada das Buch nicht selbst? Ist damit beantwortet, aber es ist an manchen Stellen schwierig, das über die Familie schon Gewusste auszublenden.

Es ist wie eine umgekehrte Verfremdung: Das Publikum, also der Leser, weiß schon vieles, über das sich die Akteure noch nicht im Klaren sind. Während Berkel sich im Apfelbaum mit viel Liebe und Respekt den Eltern nähert und sie bis zu ihrem Tod begleitet, ist Ada eher die gekränkte, ungehobelte, die die psychische Krankheit der Mutter, den Jähzorn des Vaters schonungslos auf- und anzeigt. Vielleicht hatte sie dazu eher Recht?

Beide Bücher sind lesenswert. Meine Empfehlung: Wenn sie beide Bücher lesen wollen, dann fangen Sie mit Ada an! Wenn sie nur eines lesen wollen, dann lieber den Apfelbaum. Eigentlich muss ich den nun auch noch rezensieren.


Genre: Politik und Gesellschaft, Zeitgeschichte
Illustrated by Ullstein

Berlin in hundert Kapiteln, von denen leider nur dreizehn fertig wurden

Berlin in hundert Kapiteln, von denen leider nur dreizehn fertig wurdenDie beiden Journalisten des Buches
Berlin in hundert Kapiteln, von denen leider nur dreizehn fertig wurden kennen sich vom Tagesspiegel, für den sie seit Jahrzehnten schreiben. Manche Kapitel haben sie gemeinsam geschrieben, einige allein. Es geht um ihre immer wieder getrübte Liebe zu Berlin, wo sie trotz alledem gerne leben. Und sie können manche offene Frage mit ihrem profunden Hintergrundwissen aufklären. Es ist pointiert geschrieben, eben mit Herz und Schnauze, wozu sie auch Einiges sagen.

Im ersten Kapitel stellen sie sich vor, warum sie wann nach Berlin gekommen sind, wie das war mit Ost und West, dass sie, als Westdeutsche in den Osten durften, aber wir Westberliner nicht, jedenfalls, wenn wir keine Verwandten „drüben“ hatten. Das ist Zeitgeschichte und für jüngere und Neuberliner kaum zu glauben.

Im zweiten Kapitel „Ins Scheitern verliebt“ wird die Schludrigkeit der Berliner Corona Maßnahmen am Beispiel der geschlossenen Spielplätze in Erinnerung gebracht. Aber das ist nur ein letzter Höhepunkt. Eigentlich beziehen sie sich auf einen Karl Scheffler, der 1910 das Buch „Berlin, Ein Stadtschicksal“ schrieb, wo er den Hang zum Scheitern dieser Stadt schon damals erkannte. Früher war eben doch nicht alles besser.

Das dritte Kapitel Die Bürgschaft hat den Untertitel „Eine leider unvollständige Beschreibung der jüngeren Berliner Skandalgeschichte und der Versuch, ein Handlungsmuster zu erkennen.“ Wir werden an viele Bestechungsfälle in der Berliner Baubranche erinnert. Wobei es bemerkenswert ist, wie die CDU, die wesentlich kürzer den Regierenden stellte, als die SPD, doch mit diesen fast gleichzog, was die krummen Dinger anbelangte (Das ist nicht von den Autoren, sondern eine Anmerkung der Rezensentin). Gewarnt werden wir vor den Grünen, die in Friedrichshain-Kreuzberg auch schon das auffällige „Handlungsmuster“ an den Tag legen.

Wir lernen von den Imagekampagnen, dem seit Langem immer wieder geforderten Mentalitätswechsel, bei wem denn nun, fragt man sich allerdings. Natürlich wird der Flughafen BER gewürdigt, und wir sehen, was aus der Untersuchung zum Radikalismus in der Polizeischule herausgekommen ist: Nichts. Auch das ist ein Handlungsmuster.

Recht liebevoll geht man mit den Eigenheiten der Bezirke um, denn früher, als Wohnungen noch zu haben waren, wurde mehr umgezogen, natürlich mit Zapf: dem Spediteur, dessen Betrieb in den Händen der Belegschaft war.

Immer wieder fließen die Außensichten auf Berlin ein, das ja gerne eine Weltstadt sein möchte, allerdings ohne deren Widrigkeiten. Im englischen Magazin Time Out wird der Wedding empfohlen, als Ort, der sich nicht so schnell verändert, wie andere Bezirke, „Berlin als Spielplatz für Menschen, die nicht erwachsen werden wollen.“ Ob Menschen, die nicht erwachsen werden wollen, sich die Miete noch leisten können, wenn sie sich verdreifacht haben wird?

Besonders gefiel der Vergleich von Herrn Martenstein zwischen einer Zeitungsredaktion in München, wo er ein Jahr lang gearbeitet hatte und dem Tagesspiegel: Wie würde man ein Versagen der Politik dem Leser nahebringen? In München wäre es tröstend, mit Hinweisen auf Schönes, den Viktualienmarkt etwa, oder die schönen Frauen. In Berlin wäre, wie schon Marlene Dietrich gesungen hat, der Beifall ehrlich, wenn jemand hinfällt.

Im dreizehnten und letzten Kapitel üben die Autoren Selbstkritik, fragen sich, ob sie zu kritisch waren und nehmen sich vor, ein Buch mit 100 Lobreden zu verfassen. Aber vielleicht reicht es ja, wenn sie einfach weiter ihren Job machen, für eine möglichst lange Zeit, erst in der Zeitung und, falls nötig, mit weiteren Kapiteln über die Stadt, die nicht fertig wird.


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Ullstein