Der Freund

Memoir über die Trauer

Die US-amerikanische Autorin Sigrid Nunez wollte schon als Kind Schriftstellerin werden, aber erst in ihrem 44ten Lebensjahr erschien 1994 ihr Debütroman. Nach sechs weiteren Veröffentlichungen gelang ihr 2018 mit «The Friend» schließlich der literarische Durchbruch. In deutscher Übersetzung erschien das Buch unter dem Titel «Der Freund», vom Verlag als Roman bezeichnet, was manche Kritiker beanstandet haben. Denn es handelt sich unverkennbar um ein Memoir, also ein aus der Ich-Perspektive erzähltes Sachbuch. Thematisiert wird darin der Verlust, den der Suizid eines geliebten Menschen bedeutet, wobei hier neben der trauernden Erzählerin auch der plötzlich herrenlos gewordene Hund ihres besten Freundes zutiefst leidet. Sie nimmt die achtzig Kilo schwere Deutsche Dogge notgedrungen bei sich auf, obwohl Hunde laut Mietvertrag nicht erlaubt sind und sie damit rechnen muss, ihr preiswertes kleines Appartement in New York City zu verlieren.

Es kann kaum überraschen, dass die namenlos bleibende, einsame Ich-Erzählerin eine akademisch gebildete Schriftstellerin und Dozentin für «Creative Writing» ist – und dass auch ihr lebensmüder Freund Schriftsteller war. Er hat, was jeden Freitod für Hinterbliebene besonders schmerzlich macht, keine Zeile über die Beweggründe für seine Verzweiflungstat hinterlassen. Es waren wohl bekannt gewordene, sexuelle Eskapaden mit seinen Studentinnen, darf vermutet werden. In einer essayistisch knappen und sachlichen Sprache schildert die Autorin die Annäherung der vom Schicksal aneinander gefesselten Zufallsgemeinschaft, die ihre Trauer auf tierische und menschliche Weise verarbeitet. So bleibt es nicht aus, dass der Leser tief hineingezogen wird in die Nöte des Hundes, der mit seinem Herrchen die Leitfigur verloren hat. Dieses nonverbale Leiden der Kreatur wird an vielerlei Beispielen immer wieder aufs Neue thematisiert, zunehmend ergänzt und ersetzt durch die behutsame Annäherung der tierliebenden Erzählerin an ihren neuen Lebensgefährten.

Auffallend wenig erfährt man über die Beziehung der Schriftstellerin zu ihrem einstigen Freund. Zwar ist von Liebe die Rede, aber der Verlust scheint auf der menschlichen Ebene eher unbedeutend zu sein. Es fehlt zwar der Gesprächspartner und auch der Mentor in literarischer Hinsicht, aber Liebesschmerz oder Sehnsucht wird allenfalls angedeutet. Dafür glänzt dieses Memoir mit einer Fülle von geistreichen Zitaten, Anekdoten und Hinweisen auf die Literatur, eine oft auch humorvolle Kritik an dieser speziellen Branche selbst und an ihren Irrtümern und Schwächen. Leser also, die sich, den literarischen Kern ihrer Passion betreffend, als «belesen» bezeichnen können im wahrsten Sinne des Wortes, kommen hier voll auf ihre Kosten! Es wimmelt nur so von Textauszügen, aber auch von subtilen Andeutungen, die nur versteht, wer viele der Klassiker gelesen hat, die diese US-Amerikanerin in ihren Kanon aufgenommen hat und die sie zu Recht als wichtig ansieht.

Sigrid Nunez wendet sich zumeist im inneren Monolog an den toten Freund, Vieles ist außerdem tagebuchartig oder essayistisch erzählt. Nach dem Motto «Sex sells» ist mit dem ungehemmten Liebesleben des promiskuitiven Freundes überflüssiger Weise auch noch abstoßende Verbalerotik eingestreut in diesen «Roman ohne Plot». Das assoziative Erzählen erschließt dem Leser auf subtile Art die eigentliche Thematik des Buches, Trauer und das Zusammenstehen in seelischer Leere. Stilistisch ist neben dem Assoziativen die episodische Anlage des Textes kennzeichnend, er besteht im Wesentlichen aus aneinander gereihten Reflexionen und Erzählschnipseln. Sie bilden bunt gestreut und zumeist ohne erkennbaren Zusammenhang den Erzählstoff, das Poetische vermischt sich hier manchmal unvermittelt mit dem Poetologischen. Dazu gehören denn auch Passagen, in denen die Autorin über die Entstehung des Textes selbst reflektiert, ihre Schreibarbeit also mit einbezieht in ihr Memoir.

Fazit: lesenswert


Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Was fehlt dir

Vom Ende aller Dinge

Nach ihrem Überraschungs-Erfolg mit «Der Freund» hat Sigrid Nunez nun einen Roman unter dem banal klingenden Titel «Was fehlt dir» vorgelegt, der im Original mit «What Are You Going Through» seine Thematik weitaus besser beschreibt. Es geht um das emphatische Einfühlen in das Schicksal anderer Menschen und die Frage, inwieweit das eigene Leben davon betroffen ist. Die New Yorker Schriftstellerin geht dieser Frage eher in essayistischer Form nach denn in erzählerischer, erst nach der Hälfte des Buches beginnt der eigentliche Plot um das schwierige Thema selbstbestimmtes Sterben.

Eine der Autorin ähnelnde Schriftstellerin (sic) soll ihre unheilbar an Krebs erkrankte beste Freundin beim geplanten Suizid begleiten, und auch in dieser Figur ist unschwer Susan Sontag zu erkennen, die Mutter von David Rieff, dem Exfreund der Autorin. Die namenlose Ich-Erzählerin hat sich über Airbnb bei einer Witwe eingemietet, um ihre in der Nähe im Krankenhaus liegende Freundin jederzeit besuchen und ihr beistehen zu können. Das Buch beginnt mit dem Satz «Ich machte mich auf den Weg, um mir den Vortrag eines Mannes anzuhören». In apokalyptischen Bildern sagt ein bekannter Professor da den längst unabwendbar gewordenen Untergang der Menschheit voraus als Folge der sich häufenden globalen Krisen. Mit diesem Einstieg spiegelt Sigrid Nunez den menschlichen Tod am bevorstehenden, selbst verschuldeten Ende der Zivilisation und weist darauf hin, was es bedeutet, gerade jetzt zu leben. Der Vortragende ist, erfährt man erst im Nachhinein, der Ex-Mann der Erzählerin. In ihm, den sie lange nicht gesehen hat, findet sie nun plötzlich einen kompetenten Gesprächspartner für die schwierigen Fragen, mit denen sie sich in ihrer bedrückenden Rolle als Sterbebegleiterin auseinander setzen muss. Ein weiterer Themenbereich dieses Buches ist die Frage, wie sich denn überhaupt darüber schreiben lässt, woran Menschen leiden, was der Tod für sie bedeutet, wie sie mit seiner Unabwendbarkeit umgehen.

Um dieses Themenspektrum herum entwickelt die Autorin in vielen anekdotischen Abschweifungen und Anspielungen aus Film und Literatur ihre literarische Tour d’Horizon ums Sterben und um die Frage, wie Mitgefühl die Sicht auf unser Leben verändern kann. Wobei das Altwerden hier im Roman vor allem ein Problem der Frauen ist. Sei es, dass sie vom Schlankheits-Wahn betroffen sind, ein passender Mann nicht zu finden ist, eine Paranoia zur absoluten Vereinsamung führt. In einer Anekdote erkennt eine krebskranke Frau, dass ihr ungeliebter Mann angesichts ihres nahen Todes immer führsorglicher wird und geradezu auflebt, nun regelrecht glücklich erscheint. Und sarkastisch wird die Geschichte eines Mannes und einer Frau kommentiert, die im Fahrstuhl stecken bleiben und nach der glücklichen Befreiung spontan beschließen, zu heiraten. Aber einem «Sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage» setzt Nunez trocken ein «Well, no» entgegen, so simpel ist das Leben halt doch nicht.

Eine «allertraurigste Geschichte» folgt der anderen, und mit Ford Madox Ford ist hier auch schon einer der vielen intertextuellen Verweis genannt, Faulkner, Sontag, Kafka, Bachmann und andere ergänzen diese literarischen Bezüge und werden teilweise ausführlich zitiert. Und es wimmelt von Aphorismen: «Eine Jugend, die belastet ist von dem Wissen, wie traurig und schmerzhaft Altern ist, würde ich überhaupt nicht Jugend nennen», lässt Nunez ihre Erzählerin sagen. In einer einfachen Sprache werden da, zuweilen recht amüsant, viele kluge Gedanken ausgebreitet, so wenn sie an einer Stelle fragt: «Und ist das nicht das Schöne am Lesen, dass es dich von dir selbst ablenkt». Auch Walter Benjamin kommt am Ende zu Wort: «Der Leser fühlt sich vom Roman angezogen in der Hoffnung, dass er sein zitterndes Leben mit einem Tod wärmen kann, über den er liest». Da scheint was dran zu sein, wird man sich nach der Lektüre dieses klugen Buches sagen, ob man es nun als Roman gelesen hat oder als Essay.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin