Spiegelbild eines Jahrhunderts
Mit dem seltsamen, aus dem Arbeitsschutz stammenden Begriff «Schwebende Lasten» hat die in Magdeburg geborene Schriftstellerin Annett Gröschner einen Roman betitelt, der am Beispiel ihrer Protagonistin ein ganzes Jahrhundert deutscher Geschichte spiegelt. Hanna Krause, die Heldin dieses Romans, 1913 ebenda geboren und als 79Jährige nach dem Mauerfall gestorben, ist eine toughe Frau, deren Credo «anständig bleiben» sich wie ein roter Faden durch die gesamte Erzählung zieht. Sie hat als Blumenbinderin in der Weimarer Republik und Kranfahrerin in der DDR gearbeitet, sechs Kinder geboren und zwei davon frühzeitig verloren, ohne sie begraben zu können, «und starb rechtzeitig, bevor sie die Welt nicht mehr verstand», wie es im Klappentext heißt. Die Autorin setzt mit diesem für den deutschen Buchpreis 2025 nominierten Roman all denen ein Denkmal, die millionenfach Ähnliches erlebt haben, aber unsichtbar geblieben sind. Hanna ist eine, die das Leben nimmt wie es kommt, die sich partout nicht unterkriegen lässt, die ihren versoffenen und nach einem Arbeitsunfall beinamputierten Mann auch noch mit durchschleppt und doch immer auch das kleine Glück erlebt, das die geliebten Blumen für sie verkörpern, mit denen sie in intimen Momenten sogar auch spricht.
Zu den Berührungspunkten der Autorin mit ihrer Erzählung gehört neben Magdeburg, dem Ort der Handlung, auch das verwackelte Coverfoto. Es stammt aus einem Schmalfilm, wie sie im Interview erzählt hat, «den mein Vater gemacht hat, 1963 im Sommer. Und hier vorne, das ist meine Mutter, und in dieser Mutter bin ich». Man könnte den vorliegenden Roman als Pendant zu ihrem Debüt vor 25 Jahren bezeichnen: «Weil ich gedacht habe, ich finde die Konstellation in meiner Familie so interessant, dass der väterliche Teil in so eine industrielle Familie eingeheiratet hat und der mütterliche Teil proletarisch war – was eigentlich im Westen nie zusammen gegangen wäre – ich wollte es einfach erzählen». Bei gleicher Gelegenheit hat ihre Lektorin erklärt: «Sie ahnen nicht, wie entfernt der deutsche Osten wirkte – und zwar von Süddeutschland aus gesehen, von Düsseldorf und von Hamburg aus gesehen». Insoweit ist dieser Roman eine Art Reiseführer durch den Osten Deutschlands, durch eine inzwischen vergangene Welt. Obwohl Hanna zwei Weltkriege erlebt und zwei Diktaturen über sich ergehen lässt, ist sie nie politisch, der Inbegriff eines freien Menschen, der sich trotz allen Widrigkeiten immer beherzt durchs Leben schlägt.
Im Roman ist jedem der 25 Kapitel die Kurzbeschreibung einer Pflanze voran gestellt. Eines Tages verirrt sich im Jahre 1938 ein sehr gut angezogener Mann, der ganz offensichtlich nicht hier wohnt, in ihren kleinen Blumenladen im prekärsten Viertel Magdeburgs. Er zeigt Hanna das Bild eines Gemäldes von Ambrosius Boschaert mit dem Titel «Blumenvase in einer Fensternische» und erteilt ihr den Auftrag, original diesen Blumenstrauß für ihn anzufertigen. Als Vorschuss zahlt einen großzügig bemessenen Betrag im Voraus, obwohl sie ihn darauf hinweist, dass viele dieser Blumen zu ganz unterschiedliche Zeiten blühen, dieses Stillleben also weitgehend irreal sein dürfte, – er meldet sich dann auch nie wieder bei ihr. Jahrzehnte später fahren ihre Töchter extra mit ihrer alten Mutter nach Holland in das Mauritshuis, in dem dieses Gemälde, das sich in ihrem Kopf regelrecht eingebrannt hat, ausgestellt ist. Und noch später, am Ende des Romans, gelingt es ihr dann sogar, bis auf eine Blume alle gleichzeitig zu bekommen, die modernen Treibhäuser und Transportmittel machen es nach mehr als fünfzig Jahren nun doch möglich, – eine ebenso raffinierte wie anrührende narrative Klammer!
Stilistisch unprätentiös und chronologisch voranschreitend ist dieser Roman einer tapferen Frau in einer angenehm lesbaren Sprache geschrieben. Der kreative Plot wird älteren Lesern in vielen Details bekannt vorkommen, auch und weil die dezenten Seitenhiebe auf Nazi-Diktatur und DDR-Misere überhaupt nicht aufgesetzt wirken und auch Feminismus absolut keine Rolle spielt. Ein gelungener und bereichernder Roman also mit einer überaus sympathischen Alltags-Heldin!
Fazit: erfreulich


Nachdem mir das Buch Nexus des Autors so gefiel, wollte ich mehr von ihm lesen; warum nicht mal eine Graphic Novel? Hararis Vorwort des DIN A 4 großen Buches mit seinen 275 Seiten klingt gut:
In der Ruhe liegt der Wahnsinn. Der sympathische 39-jährige Engländer mit inzwischen deutscher Staatsbürgerschaft veröffentlichte schon mehrere Bücher im Beck Verlag. Mit seinem neuen vielversprechenden Buchtitel legt er ein sehr persönliches Zeugnis ab, das mit englischem Humor und deutscher Gründlichkeit eine Beziehungsachterbahnfahrt schildert. Konfliktpotential: die Babyfrage.
Gute Unterhaltung
Literarisch ein Zwitter
Schäferidylle kontra Wolf
Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. Mit einem neuen Kapitel. Das schon 2023 zum Bestseller avancierte Sachbuch des außenpolitischen Korrespondenten der ZEIT wird 2024 mit einem neuen Kapitel zur Stabilität von Putins Herrschaft nach dem Aufstand und Tod Prigoschins neu aufgelegt. Michael Thumann ist einer der besten Russlandkenner und lebt in Moskau.
„Spannend… intensiv, verführerisch, erotisch…“, so überschlagen sich Literaturkritiker diverser renommierter Medien bei ihren Rezensionen zu Euphoria. Kombiniert mit dem Wortklang des Titels und dem nach einem fiktiven Pseudonym klingenden Namen der Autorin verführen spätestens Keywords aus der Inhaltsangabe wie „Dreiecksbeziehung in exotischem Setting“ zu völlig unzutreffender Kategorisierung. Also Vorsicht vor voreiligen Schnellschlüssen, denn das Buch bietet aus diesem Genre relativ wenig, aber dafür viel mehr Höherkarätiges.
Der Turm schützt uns
Fanal selbstbestimmten Sterbens
Made in Washington. “Keine andere Nation ist seit 1945 derart rabiat aufgetreten“, schreibt der Mitarbeiter des Berliner Kollegs Kalter Krieg in seinem Vorwort und die Bilanz der Außenpolitik der Supermacht USA der letzten 100 Jahre fällt in der Tat ernüchternd aus. Keine andere Nation hat mehr Militärstützpunkte als die USA und gibt mehr Geld für Rüstung aus.
Moralisch absurder Schelmenroman
Blitzlicht auf einen vergessenen Poeten
