Narratives Können und gedankliche Tiefe
Die amerikanische Schriftstellerin Sigrid Nunez hat in ihrem neuesten Roman «Die Verletzlichen» die Zeit der Corona-Pandemie mit allen ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft thematisiert. Schon mit dem Buchtitel wird auf Covid 19 hingewiesen, denn vulnerabel waren nicht nur Alte und Vorerkrankte, unter dem Lockdown litten auch die medizinisch nicht betroffenen Menschen. Die Autorin und ihre namenlose Protagonistin sind beide Schriftstellerinnen im Alter um die siebzig, wohnen in New York, arbeiten als Dozentinnen für kreatives Schreiben. Sie sind kinderlos, beide unverheiratet geblieben, und sie lieben Tiere, quasi als die besseren Menschen. In diesem zeitlich im Frühjahr 2022 angesiedelten, autofiktionalen Roman markiert ein kleiner Papagei, ein grüner Ara namens Heureka, narrativ eine rote Linie durch den fast ereignislosen Plot, denn gerade diese Spezies leidet ebenso unter Einsamkeit wie der Mensch, kann daran sogar zu Grunde gehen.
Eine in einem anderen Bundesstaat lebende Freundin bittet die alternde Protagonistin, sich um einen Ara zu kümmern, der in einer luxuriösen New Yorker Wohnung ganz in ihrer Nähe Opfer des Lockdowns geworden ist. Denn sein mit ihr eng befreundetes Besitzerpaar wurde auf einer Reise von der Pandemie überrascht und kann nun wegen der strengen Restriktionen nicht mehr zurückkehren. Und so geht die Protagonistin täglich für mehrere Stunden in die fremde Wohnung, nicht nur um den Papagei zu füttern, sondern auch, um mit ihm zu spielen und zu ihm zu sprechen. Eines Tages ist plötzlich ein junger Mann in der Wohnung, der schon vor ihr den Vogel versorgt hatte und sich nun wieder um ihn kümmern will. Trotz des großen Altersunterschieds und dem anfänglichen Unmut zwischen den Beiden kommt es zu interessanten Gesprächen zwischen ihnen zu den verschiedensten Themen, wobei ihr lebhafter Gedanken-Austausch manchmal sogar durch gemeinsames Kiffen wohltuend beflügelt wird.
In der typisch amerikanischen, schnörkellosen Schreibweise verfasst, ähnelt dieses Buch durch seine Fülle an tiefgründigen Gedankengängen eher einem Essay als einer autofiktionalen Erzählung. Der Papagei dient der Autorin dabei als Katalysator für ihre Selbst-Beobachtungen zu Themen wie Älterwerden, Einsamkeit und Erinnern sowie den Schreibprozess als solchen, wobei sie auf Texte, Zitate und Äußerungen von berühmten und weniger bekannten Kollegen aus der schreibenden Zunft zurückgreift. Es ist ein Füllhorn literarischer Erfahrungen und Erkenntnisse, die sie unermüdlich vor dem Leser ausbreitet, immer eng verbunden mit dem Schreiben als schöpferische Tätigkeit, an der die raue Wirklichkeit gespiegelt wird. Wer halbwegs belesen ist, begegnet bei der Lektüre so manchem ihm wohlbekannten Schriftsteller. Man wird allerdings auch mit amerikanischen Autoren konfrontiert, deren Namen man noch nie gehört hat, die nicht auf der eigenen Leseliste stehen und deren Bedeutung man als an die deutsche Sprache gebundener Leser nicht einzuschätzen vermag. Sigrid Nunez trifft mit ihrem melancholischen Roman einen Nerv der Zeit, der die eigene Verletzlichkeit ebenso aufzeigt wie die vielen Leerstellen in den zwischen-menschlichen Beziehungen, die das Miteinander erschweren oder sogar völlig unmöglich machen.
Obwohl vom Stil her essayartig angelegt, wird diese allumfassende Erkundung des eigenen Innenlebens leichthändig, oft humorvoll und unterhaltend erzählt, ohne dadurch an Relevanz einzubüßen. Besonders stechen dabei die vielen Anekdoten der zitierfreudigen Autorin hervor, die pointiert fast alle Felder der Literatur abdecken. So ganz nebenbei gewähren sie viele erhellende Einblicke in eine Kunstgattung, die wie keine andere als unabdingbare Voraussetzung für die kulturelle Entwicklung des Homo sapiens gelten muss. Narratives Können und gedankliche Tiefe verbinden sich hier auf unterhaltsame Weise zu einer lang nachwirkenden Lektüre.
Fazit: erfreulich
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