Super einsam. “SO36”, die ehemalige Berliner Postleitzahl für einen ganz bestimmten Teil Kreuzbergs, wird in den Achtzigern zu einem Chiffre für politischen Widerstand und linksradikale Aktivitäten. “Mariannenplatz rot verschrien“, sangen damals Ideal. Für Vito, den Protagonisten von Anton Weils Roman, ist es vor allem seine Heimat. Denn in SO36 befindet sich die Wohnung seines Vaters, die er von ihm übernommen hat. Aber eigentlich will er nur raus hier, raus nach Südfrankreich. Oder wohin auch immer.
SO36 Heimat der Heimatlosen
“Der Moment schien eben golden wie unser Bier“, meint Vito tröstend zu sich selbst, um ihn herum peitschen sich die Leute auf dem Klo Zeugs in die Nase oder konsumieren ganz offen, was es an legalen und illegalen Substanzen zu konsumieren gibt. Aber Vito ist nicht so, er besucht lieber einen IKEA Laden mit seinem Vater, denn dort gibt es eine “vorgegeben Route durch den Laden. Endlich etwas das Halt verspricht. Endlich Guidance“. Die Erkenntnis, dass er ob seiner Altersweitsicht eigentlich “Goethe-Augen” hätte, erfreut sein darbendes Gemüt, sein Vater jedenfalls ist sogar stolz darauf. Aber egal, denn jede Eskalation kann ja auch ein Bonding-Moment sein, gerade zwischen Vater und Sohn. Vielleicht sogar ein James-Bonding Moment. Solche Momente haben die beiden bitter nötig, denn Vito’s Mutter ist an Krebs gestorben und so sind beide Männer einsam. Super einsam. Aber Vitos Mutter hat ihm einen Koffer vererbt, den er erst an seinem 25. Geburtstag öffnen darf. Aber er ist noch nicht 25. Erschwerend hinzu kommt noch die Trennung von seiner Freundin Mia, was ihn noch viel super einsamer macht als seinen Vater. Aufgrund der Krisensituation lässt er sich auf einen Schwulenflirt ein, “seine Homophobie war durchwegs gay“, scherzt er vor sich hin, denn das tete a tete endet bei einem Sicherheitsbeamten.
Super einsam Retro-topie
“Fuck, is das hell.” Anton Weil schreibt in kurzen, meist englisch übermittelten Kapiteln witzige Szenen aus dem Alltag seines Protagonisten und meist stellt man fest, dass man selbst noch in diesem Karussell hängt, von dem er hier schreibt. Denn die ganzen gesellschaftsverändernden Utopien der Achtziger oder Sechziger habe längst ausgedient und sind höchstens noch als Retro-topie denkbar. Wer würde denn schon freiwillig auf die 80m2 Wohnung des Vaters verzichten, wenn sie sich noch dazu in Kreuzberg SO36 befindet? Vito jedenfalls nicht. “Vielleicht ist es ein Hoffnungsschimmer, dann könnte ich hier wohnen bleiben. Halt frierend, aber immerhin habe ich eine Heimat.” Der Verlust seiner Mutter, die erst 49 war, traf den damals 17-jährigen wie eine Atombombe: “Ich wollte sehen, wie viel übrig bleibt von einem Menschen, der für mich die Welt, aber für die Welt nur ein Mensch war“, erklärt sich Vitolino sein Verhalten im Krematorium. Am Ende sieht er sie dann doch noch in 4K-Ultra-HD. Und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich zu bedanken. Denn sie war die ganze Zeit über da.
Ein Roman über einen schmerzlichen Verlust, der sich verdoppelt. Schön, dass Vito uns daran teilhaben lässt und so vielleicht auch jenen hilft, die ähnliches durchmachen. Nur den Kopf nicht hängen lassen, irgendwann kommt von irgendwoher wieder ein Lichtlein daher. Meistens wenn man es am wenigsten erwartet…
Anton Weil
Super einsam. Roman
2024, gebunden, 240 Seiten, 12.5 x 19 cm
ISBN: 978-3-0369-5042-6
Kein&Aber Verlag
EUR 22.70