Nach welchem ausgeklügelten Prinzip wählt man als literaturbegeisterter Vielleser sein nächstes Buch aus? Man sitzt in einer Bäckerei in Kapstadt, entdeckt im Buchregal ein Taschenbuch mit deutschem Titel, nimmt es aus Langeweile einfach mal in die Hand, entdeckt auf der ersten Innenseite eine handschriftliche Widmung des Autors für Hannelore und Hartmut, et voilà – der neue Lesestoff ist gefunden. Weiterlesen
Archiv
Stimmen im Wald
Miss Merkel. Mord in der Uckermark
Frechheit kommt weiter. Und wer in seinem Roman die gerade im Ruhestand angelangte Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel als Protagonistin einsetzt, der darf damit rechnen, weiterzukommen. David Safier hat die coole Ausgangskonstellation mit »Miss Merkel« als Detektivin gewählt, die zu allem Überfluss auch phonetisch noch an die literarische Kunstfigur »Miss Marple« von Agatha Christie erinnert. Angela Merkel kann sich gegen eine derartige Vereinnahmung kaum wehren, da sie als Person der Zeitgeschichte natürlich auch in die Kriminalliteratur eingehen kann. Weiterlesen
Das Schlupfloch
Bei vielen Aufenthalten an diversesten Orten dieser Welt hat es sich für mich als netten Einstieg ins Lokalkolorit erwiesen, ein Buch eines Schriftstellers aus der Region zu lesen. Man erfährt viel über die Kultur, die Denke, den sprachlichen Slang und bekommt nebenher manchmal auch Tipps für angesagte Cafés, gute Restaurants und aktuelle In-Locations. Besonders eignen sich Krimis mit ihren meist rasch wechselnden Schauplätzen. So auch die Intention bei Mike Nicols Roman „Das Schlupfloch“. Nicol lebt in Kapstadt und gilt sogar international als zunehmend beachteter Autor im Genre Kriminalromane. Weiterlesen
Montecristo
Die Guten sind die Guten und die Bösen sind die Bösen. In den meisten Krimis und Thrillern konventioneller Machart ist die Welt einfach noch in Ordnung. So ist es in aller Regel auch in gängigen Mainstream-Filmen der Fall – klare Strukturen, der Leser oder Zuschauer muss keine kognitiven Dissonanzen reduzieren. Irritierend wird es, wenn diese wohlbekannte Zuordnung ins Wanken gerät, wie zum Beispiel in der amerikanischen TV-Serie „Better Call Saul“, wo sich die Haupt-Protagonisten zu „moralischer Flexibilität“ bekennen. Wie moralisch flexibel ist Martin Suter oder besser seine fiktive Hauptfigur Jonas Brand im Krimi „Montecristo“? Weiterlesen
Taubenblut
Lutz Kreutzer legt mit seinem schwarz-humorigen »Taubenblut« einen rasant geschriebenen Kriminalroman vor, der sich sehen und vor allem lesen lassen kann. Weiterlesen
Wölfe im Münsterland
Anfang April 2016 riss ein Wolfsrüde drei Schafe in der Nähe von Oelde. Nach Jahrhunderten gab es damit wieder Wölfe im Münsterland. Nun nimmt die im Outback von Drensteinfurt lebende Diplom-Pädagogin Sabine Gronover sich des Themas als Ausgangspunkt für einen Regionalkrimi an. Weiterlesen
Schneemann
Jo Nesbø zählt zu den bekanntesten Krimiautoren Norwegens. Die Krimis des 1960 geborenen Musikers und Autor stehen auch international auf den vordersten Plätze der Bestsellerlisten. »Schneemann« ist einer seiner Welterfolge, der von Hollywood nach Ansicht vieler Kritiker trotz der ausgezeichneten Romanvorlage missglückt verfilmt wurde. Weiterlesen
Wilde Schafsjagd
„Das Lied ist aus, aber die Melodie schwebt noch im Raum.“ Der Protagonist und Ich-Erzähler von „Wilde Schafsjagd“ ist gezeichnet von den Sechzigern, deren Vorhang sich auf der Weltbühne schön langsam senke. In seinem Lieblingscafé, wo er immer Bier trinkt und viele Zigaretten raucht, spielen sie immer noch Hardrock, aber „das Knistern der Atmosphäre war verschwunden“. Sein Körper ist oft von Alkohol voll gesogen “wie ein Waschlappen“, denn er leidet vor allem an der Trennung seiner Frau. Er isst gerne Sandwiches und Omeletts. Dazu Whiskey oder Bier. Auch wenn er schnell wieder eine Freundin (mit schönen Ohren) findet, die ihm bei seinem ersten „Fall“ auch kräftig unter die Arme greift. Und dann wäre da noch „Ratte“, sein bester Freund, der immer wieder auf ungeklärte Weise verschwindet und wieder auftaucht. Und Bückling, sein alter Kater. Eine neue bibliophile Ausgabe des Murakami Klassikers “Wilde Schafsjagd” ist bei Dumont erschienen.
Wilde Schafsjagd: Etwas zerbricht
„Wilde Schafsjagd“ ist mehr als nur ein Roman der Kriminalliteratur, die sich an amerikanischen Vorbildern wie etwa Raymond Chandler orientiert, denn dessen Protagonist hat existentielle Probleme, die ihn beinahe aus der Bahn werfen. Nachdem er bemerkt, dass seine Frau von den Fotos aus den gemeinsamen Fotoalben ihr Gesicht herausgeschnitten hat und auch sonst nichts zurückgelassen hat, erfährt er seine Evokation: „Mir war, als wäre ich von Geburt an mein ganzes Leben lang allein gewesen und würde auch von jetzt an immer allein bleiben.“ Mit 26 und 30 Jahren hätten sie beide noch ein gemeinsames langes Leben vor sich gehabt. „Doch in dem Moment, da wir beide dachten, dass es ewig so weiterginge, zerbracht irgendetwas. Eine Winzigkeit nur, aber es wurde nie mehr wie früher.“
Von Schafen und Schafsköpfen
Im Sommer trinke er Bier, im Winter Whiskey und er versucht nicht vor der Langeweile davonzulaufen, wie alle anderen, bekennt er, sondern er versucht hineinzukommen. „Gegen die Langeweile kämpfen selbst Götter vergebens“, soll schon Nietzsche gesagt haben, so Murakami. Doch dann bekommt er einen merkwürdigen Auftrag, indem er das Schaf eines Fotos einer seiner Werbekampagnen suchen muss, um dem alten Chef einer ominösen Organisation, der im Koma liegt, damit das Leben zu retten. Denn das geheimnisvolle Schaf von dem Foto hat magische Kräfte und rettet wohl nicht nur dem Chef das Leben, sondern auch dem Protagonisten. „Die Leute glauben, es sei eine Gnade Gottes, wenn ein Schaf in einen Menschen fährt. In einer Schrift aus der Yüan-Dynastie wird beispielsweise berichtet, Dschingis Khan sei von einem `weißen Schaf, welches einen Stern trug´ bewohnt worden.“ Wird es ihm gelingen das geheimnisvolle Schaf aufzuspüren oder wird vielmehr es ihn finden? Ein amüsanter Lesestoff nicht nur für Schafzüchter.
Haruki Murakami
Wilde Schafsjagd
Roman
Aus dem Japanischen von Annelies Ortmanns
ISBN: 978-3-8321-7899-4
2017, DUMONT
Vintage. Eine Reise zum Blues
Der 25-jährige Thomas Dupré arbeitet in einem Gitarren-Shop in Paris als Aushilfe. Gitarren sind für ihn keine verstaubten, unantastbaren Reliquien, sondern „Waffen, an denen noch das Blut der Revolution klebt“, denn wie so viele seiner Altersgenossen, träumt auch Thomas davon ein Rockstar zu werden. Ein Vintage-Roman aus Frankreich? Da bekommt er eines Tages plötzlich das Angebot des Jahrhunderts: er soll für seinen Chef Alain de Chévigné eine Gitarre nach Inverness in Schottland liefern, denn der Käufer legt Wert auf Diskretion. Lord Charles Dexter Winsley – so sein voller Name – ist ein Gitarrensammler, der im mysteriösen Boleskine House nahe des Loch Ness, wo schon Aleister Crowley und Jimmy Page gewohnt haben sollen, mehrere Gitarren im Wert zwischen 300.000 und einer Million Dollar an den Wänden hängen hat, darunter etwa auch eine Les Paul Deluxe mit gebrochenem Hals zusammen mit einer Notiz „Für Charlie von Pete.“ Hervier macht damit eine zärtliche Verneigung vor Pete Townshend von The Who, der es bevorzugte, seinen Gitarren auf der Bühne den Hals zu brechen. „Man muss glauben, um zu sehen“, gibt Lord Winsley seinem neuen Schützling mit auf den Weg. Oder ist es etwa doch umgekehrt?
Vintage: „Sur la route de Memphis”
Der dritte Roman des französischen Schriftstellers aus Villeneuve-Saint-Georges hat alles was sich ein Leser wünschen kann. Er ist zugleich Roadmovie und Kriminalroman und so spritzig, frivol und elegant geschrieben, dass es eine wirkliche Freude macht, ihn von der ersten bis zur letzten Seite in einem Zug durchzulesen. Denn die Reise von Thomas Dupré führt von Schottland auch in den mystischen Süden der USA, dort wo der Blues einst geboren wurde und der eigentliche McGuffin der Story, die Gibson Moderne, einst hergestellt wurde. Denn Thomas muss für Lord Winsley Beweise für die Existenz dieser Gitarre finden, die ihm von einem Gitarrenbauer gestohlen wurde. Und von dieser Gibson Moderne soll es drei Stück gegeben haben, aber einzig ein Musiker aus der Nähe von Kalamazoo soll sie virtuos beherrscht und gespielt haben. Die Reise von Thomas Dupré ist auch eine Reise in den tiefen Süden der USA, die Sümpfe des Missisippi und in die Lebensbedingungen der Schwarzen in den Dreißiger Jahren, die in sog. Juke Joints ihrem einzigen Vergnügen nachgehen konnten: dem Blues.
Blues aus dem Bayou als Vintage
Virtuos geschrieben und voller Liebe zum Detail eröffnet Grégoire Hervier dem Leser die Welt des schwarzen Amerika mit Martin Luther King, den „Little Rock Nine“, James Meredith, der NAACP und dem legendären Robert Johnson, der damals, 1938, an der Kreuzung des Highway 61 und 49 seine Seele dem Teufel verkauft hatte. Robert’s son Li Grand Zombi Robertson wird sogar exhumiert, aber die Details dazu sollte lieber jeder selbst nachlesen, denn die Geschichte ist haarsträubend witzig und voller Liebe zum Detail, ganz abgesehen von den erstaunlichen Sachkenntnissen, die Hervier über Gitarren im Allgemeinen und die Geschichte des Blues im Speziellen zu Protokoll gibt. Geschickt verknüpft Hervier Realität und Geschichte mit seiner Fiction, die so amüsant zu lesen ist, dass man auch sehr oft erleichtert auflachen kann, etwa über den White Trash Amerikas. Denn im 40. Todesjahr des King, darf natürlich auch der „King“ nicht fehlen, der in „Vintage“ eine Hommage in Form des Elvis-Imitators Bruce und seiner „The Bruce Pelvis Presley Band“ bekommt, als Thomas eine Spur in Memphis, Tennessee verfolgt. Einige Seitenhiebe auf das Pärchen Bruce und Shelby und deren europäische Geographiekenntnisse sowie die Lebensbedingungen des White Trash inklusive.
Die rasanteste Suche nach der Nadel im Heuhaufen – oder der Gitarre im Bayou – ist einer der wohl besten Rock`n´Roll Romane der Literaturgeschichte, voller Verve und dramatischer Schwingungen, ganz so wie die Gibson Moderne von Li Grand Zombi Robertson. Eine fulminante Hommage an einen Lebensstil.
Grégoire Hervier
Vintage
Roman
Aus dem Französischen von Alexandra Baisch und Stefanie Jacobs
2017, Diogenes, 391 Seiten
ISBN: 978-3-257-07002-6
Illustrated by Diogenes Zürich
Benzin
Axel Hollmann liefert mit „Benzin“ einen spannenden Krimi, der im zweiten Drittel voll durchstartet und bis zum Höhepunkt rasant durchhält. Seine Geschichte spielt im Milieu der neuen Berliner Mitte und erzählt vom Aufbegehren der „Ureinwohner“ gegen das Profitstreben unersättlicher Baulöwen und ihrer Helfershelfer. Weiterlesen
The Drop – Bargeld
Dennis Lehane schreibt gerne Krimis über schwarze Schafe, doch der Protagonist des vorliegenden Mafia-Thrillers, der Barkeeper Bob Saginowski, wirkt beinahe harmlos im Vergleich zu den anderen Personen, die dieses Buch bevölkern. „Seine“ Kneipe – da wo er arbeitet – ist eine „Drop“-Kneipe, das bedeutet, dass Mafiageld dort gesammelt und zwischengelagert wird, bis „jemand“ kommt und es abholt. Wer wäre so dumm und würde eine solche Kneipe überfallen? Der sichere Tod wartete auf ihn. Als Cousin Marv, Sully, Donnie, Paul, Stevie, Sean und Jimmy dort zusammensitzen, um auf das 10-jährige Verschwinden von Richie „Glory Days“ Whelan anzustoßen, geschieht jedoch genau das: zwei Maskierte holen sich die Tageslosung, aber nicht den „drop“. Zufall? Absicht? Oder Training Day?
Erfolg ohne Vergangenheit
Der schüchterne Bob kramt einen verletzten Pitbull aus einer Müllkippe vor dem Haus von Nadia und so entsteht auch eine Liebesgeschichte, die sich durch einen knallharten Mafiathriller zieht wie Marillenmarmelade durch eine Sachertorte: „Er spürte eine plötzliche Rückkehr dessen, was er empfunden hatte, als er den Hund aus der Mülltonne gezogen hatte – etwas, das er mit Nadia verschwunden geglaubt hatte. Verbundenheit.“ Dennis Lehane verbindet die Geschichte der beiden unterschiedlichen Charaktere auf eine geschickte Weise, denn stets steckt der Schlüssel zur Gegenwart in der Vergangenheit seiner Figuren. Und die ist oft sehr dunkel: „Ein erfolgreicher Mann konnte seine Vergangenheit verbergen, aber ein erfolgloser Mann verbrachte den Rest seines Lebens damit, nicht in seiner zu ersaufen.“
Katze im Hals
Die „Via Dolorosa“ des Anti-Helden Bob Saginowski zieht sich durch East Buckingham, ein Viertel Bostons, in dem sich früher ein Gefängnis befand, selbst die Straßen erinnerten noch daran: Pen’ Park, Justice Lane, Probation Avenue und die älteste Kneipe im Viertel namens „Zum Galgen“. Wer hier lebt, den kann auch der Polizist Evandro Manolo Torres, dem „eine Glocke im Herz regelmäßig die Stunde schlägt“ (Anspielung auf eine Roman Hemingways) nicht mehr erschrecken. Denn auch wenn Torres Saginowski immer dicht auf den Fersen ist, kommt er ihm doch nie nahe genug. Drastische Bilder wie „er blickte mich mit den stumpfen Augen eines Maulwurfs an“ oder „mein Hals fühlst sich an, wie wenn ne verdammte Katze reingefallen ist und jetzt versucht, sich mit den Krallen hochzuarbeiten“ wechseln sich ab mit brutalen Gewaltszenen oder Worten wie diesen, die die Freundin Evandros an ihn richtet: „Du siehst nur dne Teil von mir, der wie du aussieht. Was nicht mein bester Teil ist, Evandro.“
Bürger im Käfig
„Wir befreien uns nicht aus unseren Käfigen“ sagt Bob an einer Stelle zu Nadia, weil er genau weiß, dass die Bewohner von East Buckingham zwar nicht in einem Gefängnis leben, das Gefängnis aber in sich tragen. „Eines morgens rollte man im Bett auf die andere Seite und sah eine völlig neue Welt.“, heißt es am Ende eines packenden Leseabenteuers, also genau das, was einem beim Lesen von Dennis Lehane auch passieren kann.
Dennis Lehane
The Drop – Bargeld
Diogenes, 2014, 224 Seiten
ISBN 978-3-257-60451-1
€ (D) 17.99 / sFr 23.00* / € (A) 17.99
Die siebte Sprachfunktion
Laurent Binet gelingt mit diesem abgedrehten Wissenschaftskrimi über die siebte Sprachfunktion etwas Einzigartiges: Er führt seinen Leser mit vergnüglicher Leichtigkeit durch die hoch intellektualisierte Welt philosophischer und semantischer Theorien und entfaltet gleichzeitig einen faszinierenden Kriminalroman, in dem er raffiniert Fiktion, berühmte Zeitgenossen, Wissenschaftstheorie und Wirklichkeit vermengt. Wer glaubt, aus diesen Komponenten ließe sich kein schmackhaftes Gericht komponieren, darf sich bei der Lektüre eines Besseren belehren lassen: Der Autor beschert mit seinem witzig-satirischen Krimi ein farbenfrohes Lesevergnügen. Weiterlesen
Twin Peaks 3.0.: Das langersehnte Wiedersehen
Mit dem Ausspruch „If you miss it tonight, you won’t know what everyone’s talking about tomorrow“ warb der amerikanische Sender ABC für die zweite Staffel der wohl besten Serie über einen der „wunderbarsten und zugleich seltsamsten Orte“ des Nordwestens der USA und wenn 2017 das Twin Peaks Fieber anlässlich der dritten Staffel wieder ausbrechen wird und alle Münder nach einem „Damn Good Coffee“ und Kirschkuchen verlangen werden kann man sich jetzt schon sicher sein, dass die TV-Landschaft danach wieder nicht mehr dieselbe sein wird. Schon vor 25 Jahren revolutionierte Twin Peaks nämlich das Genre indem es das Zeitalter der „Autorenserien“ eröffnete und das Ende des Mediums zweiter Wahl einläutete. Twin Peaks 3.0 wird von Showtime ausgestrahlt werden und wahrscheinlich wieder in 30 Episoden aufgeteilt sein. Mit dabei sind natürlich wieder die Gründer der Serie allen voran David Lynch und Mark Frost sowie Kyle MacLachlan als Special Agent Dale Cooper.
Twin Peaks: Hommage an den Cliffhanger
„I will see you again in 25 years“, sagte Laura Palmer in der surrealen Traumsequenz der finalen Episode vom 10. Juni 1991 und tatsächlich wird es nun beinahe auf den Tag genau zu einem Wiedersehen kommen. Grund genug dafür, das bisher Geschehene nochmals auf 100 Seiten zusammenzufassen und in die nunmehr ein Vierteljahrhundert zurückliegenden Ereignisse erneut einzutauchen. Dabei hilft nun besonders der hier vorliegende kleine Reclam-Führer der nicht nur mit genauen Personenbeschreibungen, sondern auch schönen Grafiken zu Twin Peaks aufwartet. Zudem erfährt man natürlich auch, was in der Dritten Staffel geschehen wird und wer alles wieder mit dabei sein wird, aber auch was in den vergangenen 30 Episoden alles geschehen ist. Mit dem Satz: „Und da gibt es diesen Wind, der durch die Bäume streift“ soll David Lynch damals den ABC-Programmverantwortlichen davon überzeugt haben, sich an die Serie zu wagen, die damals alles bisher in der TV-Geschichte Dagewesene in den Schatten stellte. Leider war es dann auch ABC, die für den Einbruch der Einschaltquoten verantwortlich war, als der Mörder von Laura Palmer schon in der 18. Episode gestellt wurde. Natürlich war für den Einbruch auch die Sendeplatzverlegung auf den „graveyard slot“ verantwortlich, aber sicher nicht die Serie selbst, die man auch als Hommage an den Cliffhanger bezeichnen könnte.
2017: Give Peaks a chance!
Die vorliegende liebevoll zusammengestellte Publikation erzählt auch vom COOP (Citizens Outraged at the Offing of Peaks), die 1991 schon „All we are saying is give Peaks a chance“ skandierten. Auch Kritik an der zweiten Staffel ist zu vernehmen, die cinematographischen Vorbilder der Serie werden genannt sowie die Twin Peaks eigene Magie erklärt, etwa schon beim Vorspann: „mit seinen sanften Überblendungen steht für die Entdeckung der Langsamkeit, Entschleunigung, Kontemplation, für eine Traumreise, er erzeugt eine hypnotische Wirkung, lässt einen eintauchen in eine fremde Welt, entführt einen an einen idyllischen Meditationsort“. Wenn der Vorspann dann verklungen ist, sei man in einer Traumwelt angekommen, in der immer wieder die Gesetze der Wirklichkeit außer Kraft gesetzt würden.
Die Reihe “100 Seiten” erscheint bei Reclam als Taschenbuch im Format 11,4 x 17 cm auf 100 Seiten und enthält auch einige Abbildungen. Weitere Themen der Reihe sind: Asterix, Superhelden, David Bowie, Reformation, JOhn F. Kennedy, Resilienz u.v.a. Themen mehr.
Gunther Reinhardt
Twin Peaks. 100 Seiten
Broschiert. Format 11,4 x 17 cm
100 S. 7 Abb. Reclam Verlag
ISBN: 978-3-15-020421-4
Illustrated by Reclam Stuttgart/Dietzenbach
Fremde Gäste
1922, London im Jahr 4 nach dem Ende des ersten Weltkriegs: Die Stadt ist geprägt von sozialen Unruhen, die hermetisch in Klassen abgeriegelte bürgerliche Welt ist im Umbruch. Im vornehmen Süden der Stadt sitzt die alte Mrs. Wray in einer hochherrschaftlichen Villa, die sie kaum noch halten kann. Ihre Söhne sind gefallen, ihr Mann vor Gram und Kummer verstorben, nicht ohne vorher noch das Familienvermögen durch gewagte Investitionen verschleudert zu haben. Geblieben ist ihr nur Tochter Frances, die auf dem besten Weg ist, eine alte Jungfer zu werden. Die beiden Damen müssen ohne Dienstboten auskommen, Frances übernimmt alle Arbeiten im Haushalt und seien sie noch so niedrig. Während die Mutter vor Scham vergeht, scheint es, als ob Frances sich mit der Fron für etwas selbst bestraft.
Die Damen Wray sehen sich in ihren schwierigen finanziellen Verhältnissen gezwungen, Mieter aufzunehmen. Ein junges Paar aus der Arbeiterklasse, Lilian und Leonard, zieht ein. Scheinbar modern sind sie, ausgelassen und jung, sie glauben an eine bessere Zukunft. Mit ihnen verändert sich alles, nicht nur die mühsam gewahrte Ruhe und Routine im Haus. Wecken Lilian und Leonard zunächst nur die Neugier der Damen Wray, üben beide bald schon auf Frances eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Sie zwingen sie, ihre eigenes Leben und einiges aus ihrer gar nicht so unbeschriebenen Vergangenheit neu zu überdenken. Hat sie ihre Verarmung, ihren Rückzug in traditionelle Werte und Pflichten nicht als eine Art Schutzschild mißbraucht?.Dazu kommt vor allem Leonards zupackende Art, mutig und ehrgeizig im Leben voranzukommen, die Frances zeigt, dass es auch in und an einem selbst liegt, was man aus seinem Leben macht.
Doch niemand hätte am Anfang gedacht, wie weitreichend und wie verheerend die Folgen wachsender Vertrautheit zwischen Frances und dem Paar seien könnten. Denn Frances will direkt etwas, was für die damalige Zeit undenkbar und unerhört ist und das führt schließlich zu dem sich entfaltenden Drama. Die Spannungen im Haus gipfeln in einem tödlichen Streit, der letztlich eine schwer vermeidbare Folge der neuen Ordnung und ihrer Möglichkeiten war. Ab diesem Punkt entwickeln die Ereignisse ein Eigenleben, es ist fast ein Schneeballsystem, das Lilian und Frances in Gang setzen. Die Frage ist zum Schluß nur noch, werden sie die Letzten sein in diesem System oder doch diejenigen, die damit durchkommen?
Mehr soll hier an dieser Stelle nicht verraten werden, denn Sarah Waters erzählt über fast 600 Seiten zwar eine fesselnde Geschichte, doch die Spannung speist sich hauptsächlich aus ihrer Erzählkunst. Der eigentliche Plot wirkt zusammengefasst betrachtet recht banal, aber Waters macht aus der zugrunde liegenden Situation, dem Verlust des Schutzes der Klassenzugehörigkeit, eine quälend spannende von Zärtlichkeit und Leidenschaft getragene Sozialstudie.
Waters große Kunst liegt in ihrer Detailgenauigkeit, man könnte fast sagen, Detailversessenheit. “Fremde Gäste” ist ein minutiös aufbereitetes Kostümdrama in Schriftform, die Genres Krimi, Justizdrama und lesbischer Liebesroman als unerwartete, aber unerschrockene Beigabe dazu gemischt. Spannender als der eigentliche Plot ist die Schilderung der Atmosphäre, der Milieus im Nachkriegslondon aus weiblicher, noch dazu aus lesbischer Sicht. Eine Perspektive, ein Aspekt, über den man niemals in Geschichtsbüchern lesen wird. Genauso wie man in Geschichtsbüchern auch nie mit akribischen Schilderungen des Alltags und der Anstrengungen, die es kostet, den Schein bürgerlicher Ordnung wenigstens notdürftig aufrechtzuerhalten, konfrontiert wird. Als reine sachliche Beschreibung wäre dies wohl auch langweilig, aber eingebettet in den Kontext einer Romanhandlung entfalten gerade diese Teile des Romans einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Waters läßt sich viel Zeit, ihre Erzählung zu entfalten, aber es wird an keiner Stelle langweilig. Ein wenig erinnert ihre Erzählweise an die vielgelobten Serien wie Mad Men oder Downton Abbey, deren besonderer Reiz auch in der detailverliebten Zeitbeschreibung liegt.
Sarah Waters lässt mit den fremden Gästen eine verschwundene Epoche wiederauferstehen, mehr noch, sie zeigt die verborgenen Leben, die in dieser Epoche existiert haben und von denen man sonst ganz sicher nie etwas erfahren hätte. Dabei sind beide Milieus, sowohl das Arbeitermilieu als auch das der bürgerlichen Klasse akribisch genau rekonstruiert. Ihre Charaktere sind bis in die kleinste Nebenrolle scharf konturiert und durchweg glaubwürdig, wenn auch nicht immer sympathisch. Ein bißchen ins Lächerliche gezogen sind die Rollen der später hinzukommenden Polizei-Bediensteten, da wäre eine schärfere satirische Abgrenzung nicht verkehrt gewesen, um den teils arg an den Haaren herbeigezogenen Konstruktionen milde begegnen zu können.
Sarah Waters ist eine in Großbritanien sehr erfolgreiche Schriftstellerin. Bekannt wurde sie mit Tipping the velvet, einem Roman, der auch sehr erfolgreich als Fernsehserie adaptiert wurde. In Deutschland ist sie eher einem Nischenpublikum bekannt. Leider wird sie oft auf die Rolle einer Autorin lesbischer Liebesromane reduziert, was ihrem Gesamtwerk meiner Meinung nach ganz und gar nicht gerecht wird. Um für mich zu sprechen: Ich persönlich bin ganz grundsätzlich kein großer Freund von reinen Liebesromanen, gleich welcher sexueller Ausrichtung. Aber ich lese sehr gerne Gesellschaftsromane und Sarah Waters beherrscht dieses Genre ganz eindeutig sehr gut.Ich würde daher die Beschreibung Autorin gut auserzählter und recherchierter Gesellschaftsromane, die (nicht immer) auch lesbische Themen behandeln, bevorzugen.
Auch in Fremde Gäste ist die lesbische Komponente für die Handlung nur insofern entscheidend, als sie die Außenseiterposition klärt und die zu dieser Zeit herrschende Moral literarisch einfängt, es ist keineswegs das entscheidende Merkmal des Romans. Was ich im übrigen gerade sehr gekonnt finde und was mit ein Grund dafür ist, diesen Roman uneingeschränkt zu empfehlen. Zumindest all jenen, die ebenfalls gerne episch lesen.
Cutter und Bone
Vom ersten bis zum allerletzten Satz liefert Newton Thornburg (1929-2011) mit »Cutter und Bone« einen Roman, der sowohl hinsichtlich seiner sprachlichen Eleganz wie in der Auswahl seiner morbiden Protagonisten weit aus dem Meer der Kriminalliteratur herausragt. Der im Freestyle geschriebene Krimi fasziniert und verstört gleichermaßen und zeigt, was in dem Genre abseits des Mainstreams schriftstellerisch möglich ist. Weiterlesen