Effi Briest

Ein weites Feld

Von den Meisterwerken Theodor Fontanes ist sein 1896 erschienener Roman «Effi Briest» das bekannteste, es gibt Theater-Adaptionen und nicht weniger als sechs Verfilmungen dieses Klassikers. Inspiriert wurde der Autor durch einen authentischen Fall, den er deutlich abgeändert als Vorlage benutzt hat. Sein dem bürgerlichen Realismus verpflichteter Gesellschafts-Roman ist ein Meilenstein der deutschen Literatur. Er demaskiert mit seiner Ehebruch-Thematik den Ende des 19ten Jahrhunderts zur reinen Farce herabgesunkenen, gesellschaftlichen Ehrenkodex.

Die lebenslustige, 17jährige Effi heiratet den ehemaligen Verehrer ihrer Mutter, Baron Innstetten, ein 21 Jahre älterer, karriere-orientierter Beamter. Sie erhofft sich von der Ehe sozialen Aufstieg und Befreiung aus der für Effi eintönigen, brandenburgischen Provinz. In dem Ostsee-Städtchen, wo ihr Mann als Landrat arbeitet, erwartet sie aber ein ebenso monotones Leben wie daheim, und auch die Geburt von Annie ändert daran nichts. Ihr Mann ist oft auf Reisen, sie fühlt sich vernachlässigt und geht schließlich auf die Avancen des draufgängerischen Majors Crampas ein, den ihr Mann noch aus seiner Militärzeit kennt. Die heimliche Liaison der Beiden erweist sich mit der Zeit als moralisch sehr bedrückend. Sie sind schließlich sogar froh, als Innstetten, zum Ministerialrat befördert, nach Berlin berufen wird, denn mit dem Umzug enden dann zwangsläufig auch ihre heimlichen Treffen. Sechs Jahre später findet Innstetten zufällig die Liebesbriefe seines einstigen Nebenbuhlers. Er tötet ihn im Duell und lässt sich scheiden, die Tochter wird ihm zugesprochen. Und auch Effis Eltern verstoßen sie brüsk, sie darf nicht mehr ins Elternhaus zurück. In Berlin führt sie ein bescheidenes Leben und beginnt schließlich zu kränkeln. Auf Fürsprache ihres Arztes hin, der die seelischen Ursachen ihres zusehends schlechteren Gesundheits-Zustands erkennt, kehrt sie zu den Eltern zurück und stirbt schließlich als gerade mal Dreißigjährige.

Der für seinen anheimelnden Plauderton geschätzte Autor erzählt seine motivisch reiche Geschichte in epischer Breite. Dabei bezieht er neben der auktorialen Erzählerstimme auch die perspektivische seines Figuren-Ensembles mit ein, in Form der erlebten Rede oder monologisch in Briefform. Dominant aber ist bei ihm immer die Konversation, aus der heraus er einen Großteil des Geschehens entwickelt, womit dann auch gleich die zu Grunde liegenden, seelischen Befindlichkeiten verdeutlicht werden. Bei alldem wimmelt es nur so von Verweisen und Anspielungen, die er oft metaphorisch verwendet. Im üppigen Figuren-Ensemble sticht insbesondere Effis Vater hervor, der als Alter Ego des Autors gesehen werden kann. Der alte Briest ist das Urbild eines gradlinig denkenden, gutmütigen Mannes, dessen funkelnde Dispute mit seiner gestrengen Frau zu amüsanten Glücksmomenten für den aufnahmefähigen Leser werden. Aber auch alle anderen Figuren sind liebevoll gezeichnete Charaktere, selbst der ungeschickt agierende Innstetten tut einem leid am Ende, er ist das unglückselige Opfer zweifelhafter Konventionen geworden.

Vom Emanzipatorischen her sieht zum Beispiel Nora Gomringer in ihrem Essay Effi als Opfer eines Mordes. Das reiche Angebot an Lektüre-Schlüsseln beweist, dass dieses kanonische Werk auch heute noch die Gemüter erhitzt und zu allerlei Deutungen anregt. Und beim erneuen Lesen erschließen sich zudem viele Motive neu. Man ist angesichts der mäßigen Hervorbringungen zeitgenössischer Literatur erstaunt über die narrative Souveränität, mit der einst Fontane sein Metier beherrscht hat und auch heutige Leser bestens zu unterhalten vermag. Nicht zuletzt aber weist die leitmotivisch verwendete Redensart des alten Briest, die dann auch den letzten Satz des Romans bildet, auf diese Fülle an Motiven hin. Sie ergeben ja allesamt zu vielerlei Betrachtungen Anlass, die der alte Briest mit seinem «Ach, Luise, lass … das ist ein zu weites Feld» stets lebensklug zu beenden weiß.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Reclam Verlag

Road Princess

Unterschiedliche Welten

Tara und Jay leben beide in Boston, aber ihre Lebenswirklichkeit könnte nicht unterschiedlicher sein. Tara genießt als Tochter des Bürgermeisters viele Privilegien, muss dafür aber ihre Interessen zugunsten der Karriere ihres Vaters opfern. Jay, Enkel eines Steakhouse-Betreibers und Mitglied einer berüchtigten Motorradgang, den Road Kings, hat sich ein Stipendium erkämpft. Mit dessen Hilfe will er Jura studieren, um armen Mitmenschen ein gerechter juristischer Beistand zu sein. Als beide sich am Campus zufällig über den Weg laufen, sind sie sich sofort sympathisch. Mit Jay kann Tara zwanglos reden, ohne sich vor Neidern oder Speichelleckern in Acht nehmen zu müssen. Jay gefällt Taras nette und zielstrebige Art. Aber als Jay herausfindet, dass Tara die Tochter des Bürgermeisters ist, geht er auf Abstand. Auch Taras Vater ist alles andere als erfreut darüber, dass sie Kontakt zu einem Road King aufgenommen hat. Er verbietet ihr den Umgang mit Jay. Tara wird misstrauisch, weil weder ihr Vater noch ihr Großvater über den Grund reden wollen, warum Taras  mit Jays Familie verfeindet ist. Sie beschließt, Nachforschungen anzustellen und kommt trotz aller Widerstände einem alten Familiengeheimnis auf die Spur, das ihr komplettes Leben völlig umkrempeln wird.

Romeo und Julia

Der in sich abgeschlossene Roman erinnert vom Thema her an eine neue Version von Romeo und Julia. Zwei verfeindete Familien, deren Kinder sich ineinander verlieben und diese Liebe trotz aller Widerstände leben wollen. Im Gegensatz zu Romeo und Julia hat dieser Roman zumindest für die Liebenden ein Happy End.

Mit diesem Thema verflochten ist auch das der Motorradgang, das für meinen Geschmack etwas zu romantisch verklärt wird. Auf der anderen Seite drücken Motorräder den Hang zur Freiheitsliebe aus. Die verspürt auch Tara, wobei ihre Freiheit durch die Erwartungen ihres Vaters und der Familie nicht zum Ausdruck kommen darf, die sie sich aber im Laufe der Geschichte erkämpft.

Überhaupt ist sie eine sehr starke Julia, die mit Beharrlichkeit und dem Willen zur Selbstfindung schließlich die Freiheit gewinnt, über ihr eigenes Leben und Lieben zu bestimmen. Durch diese Beharrlichkeit erkämpft sie auch die Wahrheit und ein besseres Leben für die Familie ihres Herzensmannes. Der ist im Vergleich zu ihr eher passiv und mitunter durch die Stärke der Frau ein wenig überfordert, weil er noch durch das alte Rollenbild geprägt ist – zumal Tara, klein und blondhaarig, zunächst dem Bild einer folgsamen Tochter und Frau zu entsprechen scheint. Durch ihren Mut, ihre Intelligenz, ihre Willensstärke und ihr stark ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit und Soziales widerspricht sie allerdings jedem Blondinenklischee (das interessanterweise nur für Frauen gilt, inklusive der diskriminierenden Blondinenwitze). Auf der anderen Seite ermutigt Jay sie aber auch bzgl. der Berufswahl nicht auf ihren Vater, sondern auf ihr Herz zu hören. Er hat durch seine Empathie für Tara und andere und seine Intelligenz also mehr zu bieten als nur ein hübsches Äußeres und Muskeln.

Sozialkritisch ist der Roman ebenfalls, wenn er die sichtbaren und unsichtbaren Schranken anspricht, die die High Society von den normalen Menschen und erst recht von der “Unterschicht” trennt.

Trotzdem ist der Roman in erster Linie ein Liebesroman, der sich flüssig lesen lässt und durch die Detektivarbeit Taras und den Konflikten zwischen Arm und Reich immer den Spannungsbogen aufrecht erhält.

Fazit

Flüssig zu lesender Liebesroman für junge Erwachsene mit einer starken und doch sanften Julia.


Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

Karte und Gebiet

Mit ministerieller Leseempfehlung

Auch in seinem 2010 mit dem Prix Goncourt prämierten Roman «Karte und Gebiet» greift Michel Houellebecq auf für ihn typische Motive zurück, er kritisiert den wuchernden Kapitalismus ebenso wie die bindungsarme, selbstverliebte Konsum-Gesellschaft zu Beginn des 21ten Jahrhunderts. Deren Dekadenz wird hier aber etwas weniger bissig angeprangert, der Ton des Enfant Terrible der französischen Literatur ist milder geworden. Nach wie vor jedoch spaltet er das Feuilleton in zwei Lager, was auch bei diesem Roman deutlich wird. Einer der Protagonisten ist nämlich ein gewisser Michel Houellebecq, der natürlich auch im Roman ein umstrittener Schriftsteller ist. In dieser Figur nimmt er sich als auktorialer Erzähler ironisch selbst aufs Korn, ein kreativ erdachter narrativer Coup mit einer wahrlich nicht alltäglichen Wirkung auf den verblüfften Leser.

«Die Welt ist meiner überdrüssig, und ich bin es ihr gleichermaßen» lautet ein vorangestelltes Zitat von Karl, dem Herzog von Orleans. Ein solcher Überdruss kennzeichnet auch Jed Martin, Sohn eines erfolgreichen Architekten, dessen Frau sich das Leben nahm. Als Halbwaise im Internat erzogen, hat der eigenbrötlerische 25Jährige nach dem Kunst-Studium erste Erfolge als Fotograf. Er stellt seine am Computer künstlerisch nachbearbeiteten Fotografien von Michelin Straßenkarten den entsprechenden Satellitenbildern gegenüber. Mit dem überraschenden Ergebnis: «Die Karte ist interessanter als das Gebiet». Später wendet er sich der Malerei zu und findet schließlich auch einen Galeristen für seinen Bilder-Zyklus «Serie einfacher Berufe». Bei den Vorbereitungen für seine erste Ausstellung hat Jed die Idee, Michel Houellebecq für das Vorwort zum Katalog zu gewinnen. Und tatsächlich gelingt es ihm, den berühmten Schriftsteller zu überzeugen. Jed verspricht ihm, neben dem Honorar von zehntausend Euro ein Portrait von ihm zu malen und es ihm dann nach der Vernissage zu schenken. Prompt wird Jed zum gefeierten Star der französischen Malerei, er erzielt Höchstpreise, alle Bilder werden verkauft, schlagartig ist er ein reicher Mann – und hört endgültig auf mit dem Malen.

Während in dem dreiteiligen Roman, auch durch diverse Rückblenden, zunächst die Geschichte von Jed Martin erzählt wird, ist der dritte Teil ganz dem Schriftsteller Michel Houellebecq gewidmet, der Opfer eines bestialischen Mordes wird. In zwei Handlungssträngen wird so ein durchaus spannender Krimi mit dem Künstler-Roman verknüpft. Im Jahre 2035 erleben wir Jed dann am Ende als 60jährigen in seinem festungsartig abgesicherten, riesigen Landsitz. Dort hat er sich filmisch zunächst der lebenden Vegetation gewidmet, die er mit extremem Zeitraffer in kurze Sequenzen verdichtet. Später beschäftigt er sich künstlerisch mit dem allmählichen Zerfall von Gegenständen, die er auf gleiche Weise erfasst und dann mit den Pflanzenvideos zusammenmischt. «Die Vegetation trägt den endgültigen Sieg davon» lautet sein resignatives Motto.

Seine zwei sozial verkümmerten Protagonisten schildert Houellebecq als harmlose Egozentriker. Mit einer Fülle von Motiven und durch allerlei zeitkritische Reflexionen angereichert, beschreibt er nüchtern und beiläufig so unterschiedliche Gegenstände wie den von der Geldschwemme befeuerten Kunstmarkt, die Technik von professionellen Fotoapparaten oder die Tücken einer akustisch virilen Heizung. Er beschäftigt sich aber auch mit Hunden, Insektensammlern, Silikonbrüsten, dem Schweizer Sterbetourismus und anderem mehr. Sprachlich souverän und anspielungsreich vereint der Autor diese disparaten Motive in einem wagemutig konstruierten Plot, stellt die Persiflage auf seine Person neben den Horror-Thriller, fügt Beziehungs-Geschichten und Vater-Sohn-Probleme ein. Am Ende ist Frankreich dann zum reinen Tourismusland geworden, eine postkapitalistische Dystopie. Genau deshalb hat Wirtschafts-Minister Montebourg diesen Roman zum Lesen empfohlen, – dem schließe ich mich rein literarisch gerne an!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by DuMont

Aus den Papieren eines Wärters

“Aus den Papieren eines Wärters” ist sicherlich für Neulinge im Kosmos Dürrenmatt schwierig, aber um Dürrenmatts Werk zu verstehen und zu begreifen, ist meines Erachtens, dieser Band der Wichtigste. Hier finden wir die Urformen vieler späteren Werke. Werke, die immer wieder von ihm bearbeitet wurden, weil er noch mehr aus dem Stoff herausholen musste. Weiterlesen


Genre: Kurzprosa
Illustrated by Diogenes

7 Minuten am Tag – endlich gesünder leben

Laut Autorin reichen 7 Minuten am Tag aus, um sich (wenn möglich) zu einem gesünderen Lebensstil hinzuwenden. Tatsächlich sind die Vorschläge recht schnell umgesetzt, weil einfach. Allerdings braucht es bei einigen Tipps Vorbereitungs- und/oder Nachbereitungszeit, die nicht in die 7 Minuten einkalkuliert werden. Weiterlesen


Illustrated by Knaur/Menssana

Die Ballade von Halo Jones

Die Ballade von Halo Jones: Alan Moore braucht man nicht extra vorzustellen. Wie kaum ein anderer hat er das Comic-Genre revolutioniert. Auch mit diesem 2020 erstmals auf Deutsch erschienenen Science-Fiction Abenteuer aus dem Jahre 1984 nahm der gutgelaunte Engländer vieles vorweg. Halo Jones lässt grüßen, und das beinahe in Breitbandformat!

Halo Jones: Reich des Müßiggangs

Im 50. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung gibt es nicht nur Müllströme durchs Weltall, sondern auch „Zenaten“, eine Mischung aus Zen und „Granate“, die zur Beruhigung mit Alphawellen auch von Halo Jones‘ Freundin Rodice eingesetzt wird. „…und dann, wenn du eins bist mit dem Jetzt, kannst du deinen Kopf völlig leeren“, schwärmt sie über die Segnungen der Zenate. „Manche habe dabei weniger zu tun als andere“, fügt ihre Kollegin lakonisch hinzu und steuert das Raumschiff in eine andere Richtung. Was hier so munter beginnt und voller eigener Idiome versucht, eine neue Welt zu erschaffen, ist nichts anderes als ein knallbuntes Science-Fiction-Abenteuer in den unendlichen Weiten des Weltalls, das mit flotten Sprüchen auch mal Gesellschaftskritik übt. „Lasst uns in Ruhe, Ihr Discountertussis“, droht die eine, mit ihrem „Kotzstik“ in der Linken. Cybertollwut grassiert allerorten und manche Mitbewohner des Planeten sind bereits lobotomisiert worden. Und der Planet selbst ist von einem „Ring“ umgeben, in dem sich das Reich des Müßiggangs befindet. Alle Einkunftslosen der Zukunftsgesellschaft befinden sich hier und können in Zenate-Gelassenheit ihren Hobbies nachgeben.

Der Ring: eine riesige Müllkippe

Mit anderen Worten: der Ring ist „eine riesige Müllkippe, auf der Amerika seine Arbeitslosen ablud“. Und wer den hellsten Stern am Himmel genießen will, muss bald wie Helo Jones feststellen, dass dies „unser Abfallentsorgungsanhänger“ ist. Aber es gibt da einen Millionär, Lux Roth Chop, der den Krieg gegen Freie Kolonialweltn in Tarantulanebel finanziell unterstützt. Mit dem Schiff Clara Pandy macht sich Halo Jones als Freiwillige in Begleitung des Blechhundes und einer Glyphe auf in die unendlichen Weiten des Weltraums und ein neues Abenteuer beginnt, das insgesamt auf neun Teile ausgedehnt werden sollte. Das laut Moore „großartigste Comic der Galaxis ist ein knallbuntes Sci-Fi-Abenteuer voller skurriler Einfälle und einem ganz eigenen Jargon, den man natürlich erst erlernen muss, um in den vollen Genuss zu kommen. „Oh, ja. Spiel’s nochmal, Yortelbuzzgubbly.“

Alan Moore

Die Ballade von Halo Jones 1

Zeichner: Ian Gibson

Autor: Alan Moore

2020, Hardcover, 72 Seiten

ISBN: 9783741620690

Panini

17,00 €

Alan Moore

“Die Ballade von Halo Jones 2”

Originaltitel: The Ballad of Halo Jones 2

Zeichner:   Ian Gibson

Autor:       Alan Moore

2021, Hardcover, Science-Fiction, 64 Seiten

ISBN: 9783741621642

Panini


Genre: Comic, Futurismus, Humor, Science-fiction
Illustrated by Panini Comics

Predigt auf den Untergang Roms

Ein kühnes Unterfangen

Mit dem Roman «Predigt auf den Untergang Roms» hatte Jérôme Ferrari 2012 seinen Durchbruch als Schriftsteller, er gewann den Prix Goncourt, die wichtigste literarische Auszeichnung Frankreichs. Wie in seinen anderen Werken geht es auch hier um das Scheitern, schon der Titel spielt ja auf die Warnung von Augustinus an, der von der Überheblichkeit der Römer und vom Untergang des römischen Reiches gepredigt hat. Der Autor nutzt sein Wissen als Philosophie-Lehrer und seine Milieu-Kenntnisse, um die hehren Gedanken des Kirchenvaters vom Werden und Vergehen auf eine Bar in einem korsischen Dorf anzuwenden, Religion und Philosophie also der für eine Bar spezifischen Männergier nach Alkohol und Frauen gegenüber zu stellen. Ein kühnes Unterfangen!

Philosophie-Student Matthieu, ein Leibnitz-Apologet, und sein aus Sardinien stammender Freund Libero, leidenschaftlicher Augustinus-Spezialist, übernehmen eine schlecht gehende Dorfkneipe im Landesinneren von Korsika, an der schon viele Pächter ökonomisch gescheitert sind. Mit kreativen Ideen in eine Bar verwandelt, haben sie dort sehr schnell großen Erfolg, zu dem vor allem vier junge, attraktive Frauen beitragen, die sie als Kellnerinnen eingestellt haben. Von weit her kommt nun Kundschaft angefahren, das Geschäft floriert. Und auch ein Gitarrist belebt mit seinem – leider unüberhörbar stümperhaften – Spiel gleichwohl die Tristesse der ehemaligen Kneipe. Besonders die kesse Annie lockt die Männer an, sie küsst jeden männlichen Gast zur Begrüßung und fasst ihm dabei wie selbstverständlich zwischen die Beine. Schon vor der Neueröffnung lautete der gutgemeinte Rat eines in der Branche erfahrenen Freundes: «Und vor allem dürft ihr die Kellnerinnen nicht ficken». Irgendwann aber hält sich Matthieu nicht mehr daran. Damit läutet er dann letztendlich den Niedergang ein, Annie nimmt Geld aus der Kasse, es gibt Eifersüchteleien, das bisher so gute Betriebsklima leidet. Während Leibnitz-Jünger Matthieu sich in der besten aller Welten wähnt, in der Milch und Honig fließen, ekelt sich der von Augustinus intellektuell geprägte Libero inzwischen geradezu vor dem zwielichtigen Milieu, in das er da hineingeraten ist, er will aussteigen.

Den einzelnen Kapiteln seines Buches hat der Autor jeweils hochtrabende, tief religiöse Zitate von Augustinus vorangestellt, das letzte Kapitel ist sogar ganz dem Kirchenvater gewidmet. Das in Alltagssprache der Jetztzeit geschilderte, eher derbe Geschehen steht in eklatantem Gegensatz dazu. Als originär weltliche Bühne dient dabei die Bar mit ihrem ständigen Kommen und Gehen, mit all den zweifelhaften Figuren, die derartige Orte so gerne bevölkern. Wohl um den Untergang des französischen Kolonialreichs als weiteren Beleg seiner Thesen mit einzubinden, hat Ferrari auch noch eine Passage über den Großvater von Matthieu eingefügt, der diese Zeit als Soldat und späterer Diplomat miterlebt hat. Und seine Schwester, die erzählerisch den Außenblick auf Matthieu repräsentiert, ist an archäologischen Grabungen in Hippo Regius beteiligt, dem einstigen Bischofssitz von Augustinus. Der schmale Band mündet mit seiner hoch verdichteten Erzählweise in dessen These ein, dass Werden und Vergehen auf dieser Welt unterliege einem ewigen Kreislauf, in dem sich alles wiederholt und nichts wirklich verschwindet, weil die geistige Welt ja ewig bestehen bleibe.

Nach der Lektüre stellen sich Zweifel ein, ob das Gegeneinanderstellen von philosophischer Hochkultur aus den «Sermones» des Augustinus und der schnöden Underground-Szenerie einer korsischen Bar ein gelungenes Verfahren ist, den Impetus des Autors zu verdeutlichen. Denn eine wirklich tragfähige Verbindung hat er nicht herstellen können, die Augustinus-Thematik wird der mitreißend bunten, korsischen Geschichte regelrecht aufgepfropft. Stilistisch störend sind zudem die prätentiös wirkenden Satzkonstruktionen, die das Lesen dieses ambivalenten Romans schwierig machen. Das Lesen aber – lohnt sich trotzdem!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Secession Verlag Zürich

Treffen sich zwei

Love it or leave it

Mit dem deskriptiven Titel «Treffen sich zwei» hat Iris Hanika die Thematik ihres Romans bereits angedeutet, es geht um Zweisamkeit in konventioneller Form, in der heterosexuellen also. Ein ‹weites Feld› mithin, und ein reichlich beackertes zugleich, die Zahl die Liebesromane ist ja Legion. Umso kühner also der Versuch der Autorin, diesem abgedroschenen Thema, jenseits der Herz/Schmerz-Trivialität, neue Facetten abgewinnen zu wollen.

Die Zwei, die sich da treffen, sind bereits über vierzig, beide sind mit ihren diversen Partnerschaften jeweils grandios gescheitert. Senta arbeitet in einer nur nachmittags geöffneten Bilder-Galerie, die ein kunstbesessener Notar und Rechtsanwalt sich quasi als Hobby leistet. In einer Bar trifft sie auf Thomas, beide schauen sich wie vom Blitz getroffen in die Augen, sie fühlen sich unwiderstehlich zueinander hingezogen. Kaum haben sie ein paar Sätze gewechselt, da verlassen sie auch schon gemeinsam die Bar und landen wie selbstverständlich in Sentas Bett, die Anziehungskräfte sind einfach übermächtig. Als Thomas sie morgens überhastet verlässt, weil er zur Arbeit muss, sagt er ihr, er würde sie anrufen. Senta merkt, dass sie von ihm nichts weiß, außer seinem Vornamen und dass er IT-Systemberater ist. Sie hat ihm nicht mal ihre Telefonnummer gegeben, so sehr waren sie in ihrem Sexrausch versunken. Nach zwölf ähnlich wilden Tagen kommt es zum Eklat, sie betrinkt sich in der Bar, weil er sich heute wegen einer geschäftlichen Verpflichtung nicht gemeldet hatte. Beim verzweifelten Grübeln wird ihr klar, dass Thomas ja überhaupt kein Mann zum Heiraten ist. Als er sie spätabends aber doch noch anruft, ist sie bereits stockbetrunken, und als er dann in die Bar kommt, um sie abzuholen, macht sie ihm vor allen Gästen eine Szene. Sie beschuldigt ihn, er würde sie ja sexuell nur ausnutzen, sie hingegen würde nicht mal zum Orgasmus kommen mit ihm. Alles vorbei also?

Beide haben ihre große Liebe gesucht und, überstrahlt von der gierig genossenen Lust, scheinbar auch gefunden, aber es ist ihnen nicht gelungen, dieses Glück dann auch zu bewahren. In ihrem Katzenjammer bricht die hysterische Senta auch noch einen Streit mit ihrer besten Freundin vom Zaun, die, anders als sie, ihren Mann fürs Leben gefunden hat, glücklich verheiratet ist und Kinder hat. Senta, die nah am Wasser gebaut hat, ist tagelang in Tränen aufgelöst vor Verzweiflung. Thomas ist entsetzt und auch sehr wütend, dass sie ihn in der Öffentlichkeit derart blamiert hat. Ein alles andere als überraschender Plot, der garniert ist mit allerlei peripheren Schilderungen aus dem Stadtteil Berlin-Kreuzberg, in dem die Handlung angesiedelt ist. In epischer Breite wird da zum Beispiel von der Geschichte des Landwehrkanals berichtet, an dem die Zwei gerne spazieren gehen. In einer Art Jobbeschreibung wird die Tätigkeit eines IT-Systemberaters erklärt und die spezielle Konzeption der Software, mit der Thomas so überaus erfolgreich arbeitet.

Stilistisch sind in diesem Roman vom Scheitern die verschiedensten Erzählformen vertreten, journalistisch nüchterne Beschreibungen, essayistische Abhandlungen, Internet-Recherche, Passagen in Form des Dramas mit szenischen Anmerkungen. Allzu häufig wird auch aus englischen Songtexten zitiert, die kaum jemandem etwas sagen, der sich nicht bestens in dieser Szene auskennt, Gleiches gilt für den mit seiner Penthesilea zitierten Kleist. So ganz ohne Pathos geht es also nicht ab in diesem Roman, obwohl all das unübersehbar ironisch unterlegt ist, ein Großstadt-Märchen mit dem (unheilvollen?) Credo «Wir schaffen das». Störend sind auch all die satztechnischen Mätzchen, mit denen zum Teil Seiten geschunden werden, die anbiedernd postmodern erscheinen, ohne erkennbar etwas zu bewirken. ‹Love it or leave it› ist hier das Motto für den Leser, der Roman, dessen Protagonisten kaum Empathie zu wecken vermögen, wirkt jedenfalls stark polarisierend. Sein Unterhaltungswert aber tendiert gegen Null.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by btb München

Yakuza goes Hausmann 1-4

Yakuza goes Hausmann 1Yakuza goes Hausmann 2Yakuza goes Hausmann 3Yakuza goes Hausmann 4Vom Vollzeit-Yakuza zum Vollzeit-Hausmann!

“Immortal Tatsu” galt in der Unterwelt als gefürchtete Legende. Seit seiner Heirat aber schlägt er einen völlig neuen Weg ein: der des Hausmanns. Und zwar des Vollzeithausmanns! Da man aber auch immer Kind seiner Vergangenheit ist, kann selbst Tatsu seine nicht ganz hinter sich lassen. Das führt oft zu skurrilen Situationen: Seine liebevoll gehegte Küchenkräutersammlung auf dem Balkon z.B. wird zu einem Hanf-Verdachtsfall bei der Polizei. Die hat den ehemaligen Kriminellen sowieso auf dem Kieker. Aber auch die Gratis-Fitnesswoche oder das Mütter-Yoga kann nostalgische Yakuza-Erinnerungen wecken: “Das ist doch die Mein-Boss-Hat-Mir-Mit-Nem-Holzschwert-Ordentlich-Eine-Geballert-Pose!… Die Astreiner-Kopfschuss-Pose!” Der Kampf mit Kakerlaken, die Verkleidung als Weihnachtsmann für die Kids vom Kiez, das Volleyballspiel mit Müttern und der Gang, der Einkauf beim Fischhändler oder der Verkauf von niedlichem Selbstgestrickten auf dem Flohmarkt – die Verbindung zu seiner Vergangenheit, und sei sie noch so unwahrscheinlich, ist immer präsent.

Vergleich von Äpfeln und Birnen

Und gerade das macht einen Großteil der (Situations-)Komik dieser Reihe aus. Die Serie lebt von diesem ungewöhnlichen Vergleich von Äpfeln und Birnen, wobei man als Leser*in immer wieder staunt, dass dieser Vergleich tatsächlich gelingt. Richtig schräg wird es, wenn das astreine Kriminellen-Gesicht nicht nur beim Aerobictraining lächeln soll und die durchtrainierte Figur Tatsus in einer niedlichen, rüschenbewehrten und knallengen Hausfrauenschürze steckt. Aber gerade dies regt das im alltäglichen Trott verhaftete Hirn der Leser*innen zum Nach- und Umdenken an. Und zwar auf eine sehr amüsante Art und Weise, was auch die Cover schön verabschaulichen.

Rollentausch

Zum Umdenken regt aber auch der Rollentausch an, und dieser gleich in mehrfacher Hinsicht. Zum einen natürlich der Tausch vom gefürchteten und gefährlichen Kriminellen zum Vollzeithausmann. Zum anderen aber auch (und nicht zuletzt) der Tausch der weiblichen und männlichen Rolle. Tatsus Frau ist die Alleinverdienerin der Familie und wird von ihrem Göttergatten auch so behandelt. Dafür schätzt sie ihn (im Gegensatz zum alleinverdienenden Mann, der seine Hausfrau eher wenig schätzt und alles, was sie für ihn und andere tut, als selbstverständlich nimmt). Er umsorgt seine Herzensdame, die schwer gestresst von der Arbeit kommt, aufs Sorgfältigste und Liebevollste und das bin hin zu ernährungstechnisch-medizinischen Details. Er macht sich immens viele Gedanken um ihr Wohlbefinden, sorgt sich auch um Nachbarskinder und um hilfesuchende Kumpels und geht voll in seiner neuen Rolle als Hausmann auf.

So einen liebevollen, empathischen und die Hausarbeit tatsächlich ernst nehmenden Mann findet frau in der Realität leider viel zu selten. Tatsu ist vom Inneren her komplett das Gegenteil seines Äußeren. An dieser Stelle seien auch die hervorragenden aktuellen Dokumentationen des SWR von “betrifft:” empfohlen, die das Thema des Männerbildes und der (krank machenden) Superwoman-Rolle der Frau mit all ihren Konsequenzen zeigen:

https://www.swrfernsehen.de/betrifft/familie-heute-was-muetter-leisten-100.html

https://www.swrfernsehen.de/betrifft/familie-heute-wie-vaeter-sich-veraendern-100.html

Gerade letztgenannte Doku geht auf Väter ein, die tatsächlich Väter sein wollen – bis hin zum Hausmann, der in einer Gesellschaft, in der die traditionellen Geschlechterrollen immer noch in den Köpfen der Menschen (Gesellschaft, Wirtschaft, Politik) herumspuken, sich erst noch seinen Status erkämpfen muss. Aber v.a. die Männer, die tatsächlich ihre 50% zur Kindererziehung und im Haushalt leisten oder selbst Hausmann werden wollen, sind von Frauen gewollt und auf kurz oder lang das Zukunftsmodell Mann. Die Doku über Mütter zeigt, was Alleinerziehende leisten, wie tradititionelle Rollen die Frauen immer noch (zusätzlich zu ihrem Job) belasten und dass Homeschooling und Homeoffice (v.a. in Verbindung) ein Geschlecht hat, und das ist nicht männlich… Mich packt die nackte Wut, wenn ich sehe und höre, wie sich viel zu viele Männer immer noch mit erstaunlich viel Energie und Fantasie aus allem, was nur geht, herausreden und der Frau alles, was nur geht, aufbürden!

Der Manga zeigt in humovoller Art, wie es anders gehen kann. Und allein dafür gebührt ihm das Bundesverdienstkreuz.

Fazit

Humorvoller Manga, der gekonnt Äpfel mit Birnen vergleicht und dabei Rollenklischees komplett über den Haufen schmeißt! MEEEEEEHHR davon!!!


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen Manga!

LTB: Weltreise 1

LTB-WELTREISE-Nr-1-EUROPA-Lustiges-TaschenbuchEntenhausener Weltreise beginnt in Europa

“Sicher und sorgenlos einmal um den ganzen Globus reisen: Das bietet ab dem 11. Februar die neue Sonderreihe des Walt Disney Lustiges Taschenbuch (LTB) “Weltreise”. Der Anfang wird in Europa gemacht. Die Weltenbummler Donald Duck und seine drei Neffen machen unter anderem Station in Deutschland, der Schweiz, Norwegen und Italien. Ihre Abenteuerlust hält nichts und niemand auf. Auch Micky Maus erlebt mit seiner Herzensdame Minnie Maus spannende Urlaubstage. Angefangen bei einer kulinarischen Reise durch die Schweiz, getoppt von einer Begegnung mit Erzfeind Plattnase in London und gekrönt von einem kaiserlichen Krimi in Frankreich!” (Inhaltsangabe des Verlags)

Der Band beinhaltet folgende 14 Geschichten, darunter 8 Erstveröffentlichungen: Der mysteriöse Mommentaler, Reise duch Europa, Jagd durch Berlin, Das Geheimnis der Schachfiguren, Das kaiserliche Biskuit, Weltenbummler unterwegs: Paris, Der Schiefe Turm von Pisa, Urlaub auf Schloss Wahnstein, Mit Indiana Goof auf Reisen: Dick aufgetragen!, Der Krake im Fjord, Seeluft: Ein Tag am Meer, Das Geheimnis von Sparta, Weltenbummler unterwegs: Gipfelstürmer, Der zauberblaue Stein – Teil eins bis vier

Abenteuergeschichten und Anspielungen

Laut Verlag soll diese LTB-Sonderreihe im weiteren Verlauf nicht nur Europa in den Blick nehmen, sondern auch Nordamerika, Afrika, Ozeanien, Südamerika und Asien. Die Storys sind meist als Abenteuergeschichten aufgemacht. Die erste beginnt für Micky und Minnie Maus im Käseland Schweiz und ist eine Mischung aus Detektivgeschichte und humorvollem Blick auf Restaurantkritiker. Nebenbei fließt ein, dass in der Schweiz in kleinen Käsereien per Hand hochwertiger Käse hergestellt wird. (Das wird bei Comics meist unterschätzt: Auch sie können Wissen transportieren oder auf solches in Form von Anspielungen verweisen.) Weitere detektivische Fähigkeiten sind bei Minnie und Micky gefragt, als sie dem Kriminellen Plattnase in London auf die Spur kommen wollen. Auch in Frankreich werden Micky und Minnie ungewollt in kriminelle Machenschaften verwickelt.

Detektivischen Spürsinn müssen auch die Ducks beweisen, als sie Gundel Gauckley zuvorkommen und den zauberblauen Stein finden wollen. Schon auf der ersten Seite wird Wissen vermittelt: Ultramarin war im Mittelalter der aus fein gemahlenem Lapislazuli und Bindemittel gewonnene ebenso ultrateure und beständige Farbstoff. Auch die Namenserklärung ist gut getroffen: Ultramarin kommt aus dem Lateinischen und bedeutet ungefähr “jenseits des Meeres”, weil der Edelstein damals aus Afghanistan über das Meer kam. Ansonsten wird vom Aussehen her natürlich auf den Renaissance-Maler und Architekten Raffael angespielt, der (wie im Comic angedeutet) von seinem Vater als erstem Lehrmeister in der Malerei ausgebildet wurde. Auch Szenen wie das Malen seines Selbstportraits sind gekonnt umgesetzt, da das Portrait dem des echten Raffael sehr ähnelt – und, pfiffig eins obendrauf- und umgesetzt, Raffael Duckzio sich in gleicher Pose zu seinem Schüler umdreht.

Anspielungen finden sich auch in Form von Adalberto Echo, der die Duckifizierung von Umberto Eco ist, hier in der Form des Reiseleiters und Kunsthistorikers. Kindern müssen die Anspielungen nicht auffallen, die Geschichten funktionieren auch ohne deren Verständnis. Allerdings kann aus dem Lesen solcher Gechichten ein Interesse für die realen Personen und die Historie erwachsen. Erwachsene Leser*innen können sich an den Anspielungen und am Nachspüren erfreuen, warum sie wie verwendet wurden.

Fazit

Lustige und spannende Abenteuergeschichten mit Anspielungen.


Illustrated by Egmont Ehapa, Egmont Ehapa Media

Nach Hause schwimmen

Alles andere als literarisch frigid

Mit seinem fünften Roman «Nach Hause schwimmen» ist der Schweizer Schriftsteller Rolf Lappert von der Jury des Frankfurter Buchpreises 2008 auf die Longlist gewählt worden, er wurde damit erstmals einem größeren Lesepublikum bekannt. Das Werk wurde im gleichen Jahr auch mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet, es ist sein bisher größter Erfolg. Auch sieben Jahre später war er mit «Über den Winter» Finalist in Frankfurt, thematisch verwandt sind beide Romane mit ihren wegen psychischer Defekte am Leben scheiternden Protagonisten.

Das Unglück verfolgt Wilbur, seit er geboren wurde. Seine Mutter stirbt bei der Frühgeburt, der Vater verschwindet spurlos, das Kind kommt ins Waisenhaus. Bis seine irischen Großeltern ihn zu sich holen und die Großmutter den kleinwüchsigen Jungen umsorgt. Als sie bei einem Unfall stirbt, kommt er zu puristischen Pflegeeltern, die ihn so gängeln, dass er irgendwann Feuer legt und in der Besserungsanstalt landet. Bis ihn dort schließlich Alice befreit, die nette Schwester, die ihn schon im Säuglingsheim geliebt hat und ihn nun adoptiert und nach Amerika holt. Was Wilbur widerfährt wird in einem hoch komprimierten Plot erzählt, der sich als ein wahres Füllhorn an Erlebnissen, Schicksalsschlägen und überraschenden Wendungen erweist. Orte der Handlung sind Amerika, Irland und Schweden, Erzählzeit sind die Jahre seit der Geburt Wilburs 1980 bis zu seinem zwanzigsten Geburtstag. Geradezu verschwenderisch wird da vom Ertrinken erzählt, vom Feuerlegen, von Suizidversuchen, von kriminellen Machenschaften in der Besserungsanstalt, vom Alkoholismus, sogar ein Goldschatz fehlt da nicht. Wilburs Inselbegabung lässt ihn mühelos zum besten Schüler werden, zum überaus talentierten Cellospieler zudem, aber auch zum begeisterten Buchleser, Bibliothekar, Cineasten und Verfasser eines dicken Buches über sein Schauspieler-Idol Bruce Willis, in dessen Actionthrillern voller Gewaltexzessen er sich begeistert mit dem Helden identifiziert.

Psychologisch klar nachvollziehbar wird in diesem Roman die Leidens-Geschichte eines körperlich gehandicapten Außenseiters geschildert. Dessen Wut gegen die Welt sowie seine partiell auftretende, emotionale Bindungs-Unfähigkeit stürzen ihn immer wieder in größte Probleme und lösen irrationale, verzweifelte Reaktionen aus. Ein stabiler Platz in der Gesellschaft scheint somit unerreichbar für den Hochbegabten, der sich fleißig und erstaunlich talentiert mit niederen Gelegenheits-Arbeiten weit unter seinem Niveau durchschlägt. Gleich zu Beginn treffen wir den zwanzigjährigen, lebensmüden Protagonisten in einer psychiatrischen Anstalt. Er erzählt aus der Ich-Perspektive, warum er der Welt so glücklos abhanden gekommen ist. «Glück ist dein Lieblings-Song aus dem Radio eines Autos, das an dir vorbeirast und in einen Abgrund stürzt», erklärt er resigniert. Parallel wird in einem zweiten Handlungsstrang, abwechselnd und zeitlich gegenläufig, auktorial von Wilburs Kindheit erzählt, bis die beiden Handlungs-Stränge am Ende zusammentreffen.

Dieser unterhaltsame Entwicklungs-Roman übertreibt es allerdings mit seinem extrem vielschichtigen Plot, in dem eine spannende Geschichte atemlos Schlag auf Schlag vorangetrieben wird, – weniger wäre da mehr gewesen. Als wahre Stärke erweist sich hingegen die bewundernswerte Fähigkeit des Autors, seine vielen Charaktere mit allen ihren schrulligen Eigenarten mit wenigen Worten anschaulich zu beschreiben, in ein paar Sätzen ihr ganzes Leben zu erzählen. Und dies auch bei Nebenfiguren, von jedem hat man ganz schnell erfasst, was für einen Menschen man vor sich hat. Aus den Figuren heraus werden stimmige Bilder erzeugt, entwickelt sich das turbulente Geschehen in diesem Pageturner. Erzählt wird stilistisch unprätentiös, angenehm lesbar und sprachlich durchaus kreativ, er sei «kulinarisch frigid», erklärt Wilbur beispielsweise mal. Wer nicht ‹literarisch frigid› ist, wird diesen komplexen Roman lieben.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Die morawische Nacht

Bilanz eines verbiesterten Dichterlebens

In «Die morawische Nacht» erzählt Peter Handke von der selbstkritischen Lebensbilanz eines namenlosen Ex-Schriftstellers, in der sich zwar etliche Parallelen zum Autor zeigen, die aber kaum autobiografisch gedeutet werden können. Der Buchtitel bereits weist mit der Morava als Nebenfluss der Donau auf den Balkan hin, und so ist denn der Ort der Rahmenhandlung tatsächlich ein Hausboot, auf das jener Schriftsteller zu später Stunde sieben Freunde einlädt, um ihnen, da er ja nicht mehr schreibt, nun eben mündlich von seiner gerade erst beendeten, langen Reise durch Europa zu berichten.

Überraschend befindet sich auch eine, im allegorischen Sinn schöne Frau an Bord, die bei der Bewirtung hilft, deren Beziehung zu dem als frauenfeindlich geltenden Gastgeber aber im Dunkeln bleibt. Im Laufe der Nacht erzählt nun der «ehemalige Schriftsteller» den einzeln, an getrennte Tische platzierten Freunden, alles Männer natürlich, von seiner Reise, auf der er auch einige der Zuhörer getroffen hat. Die lösen ihn dann ihrerseits zeitweise als Erzähler ab und berichten von dem gemeinsam Erlebten. Einer der Gäste unterbricht immer wieder mal als vorlauter Zwischenrufer den Erzählfluss und stellt Fragen zu unklar gebliebenen Details. Die mit einem klapprigen, uralten Bus der österreichischen Post begonnene Reise aus der serbischen Enklave, wo das Hausboot vor Anker liegt, führt zunächst nach Belgrad. Von dort geht es weiter auf die fiktive Adriainsel Cordura, mutmaßlich Krk, wo Handke einst seinen ersten Roman geschrieben hatte. Nächste Station ist eine gottverlassene Hochebene in Spanien, wo ein Kongress über Lärm und Geräusche stattfindet. In Wien gerät der Erzähler zufällig in ein nicht minder merkwürdiges ‹Festival der Mundorgelspieler› aus der ganzen Welt, danach besucht er das Grab seines Vaters im Harz und fährt nach Kärnten, seiner als «Stammgegend» bezeichneten Heimat.

Die Rahmenhandlung dieser nicht nur von der Textmasse her üppigen Erzählung dient als Vehikel für eine großangelegte, radikale Selbstprüfung des «ehemaligen Autors» in Form einer «imaginierten Reportage». Voller Ironie werden dabei in ebenso lebendigen wie präzisen Bildern, oft phantastisch anmutend, markante Figuren gezeichnet, geheimnisvolle Orte beschrieben, wundersame Begebnisse geschildert. Mit vielen Fragezeichen durchsetzt ist diese handketypisch kleinteilige Prosa in Satzschnipsel zerhackt, üppig mäandrierend und immer wieder durch Ergänzungen, Zweifel, Klarstellungen unterbrochen, meist in Klammern gesetzt. Dieses Buch ist somit auch eine fragmentarische Erzählung über das Erzählen selbst, versinnbildlicht durch die ständigen Korrekturen des bereits Gesagten als untrennbar zum Prozess des Schreibens gehörig. Und bei diesem Prozess kann eine Frau ja nur stören. Schriftsteller zu sein und Liebhaber in einer Person, das erscheint somit völlig unmöglich. Es ist zumindest kontraproduktiv und kann im schlimmsten Fall sogar in Mord und Totschlag enden. Folglich ist die Frau im Buch nur anfangs in einer Nebenrolle sichtbar, ansonsten eher kurz mal als Vision, wie auch ganz am Ende.

Es ist müßig, abzuschätzen, inwieweit diese Selbstbefragung eines Schriftstellers wirklich nur den ‹ehemaligen› oder doch auch den nobelpreis-gekrönten Autor selbst betrifft, und wenn letzteres zutrifft, inwieweit sie ernstgemeint ist. Hier wird, oft meditativ anmutend, anhand von Erinnerungen, Reflexionen und präzisen Alltags-Beobachtungen beschrieben, wie einer mit sich selbst nicht klarkommt. Einer, der sich selbst im Wege steht, der keinen an sich heranlassen will, für den das Alleinsein höchstes Glück bedeutet, ein Misanthrop par excellence. Der am Ende seiner Reise dann auch kein Hausboot mehr vorfindet, alles ist weg. Er ist nun wunschgemäß völlig mit sich allein, seine Geschichte aber haben offensichtlich die Freunde aufgeschrieben. Als (selbstironische?) Bilanz eines verbiesterten Dichterlebens ein intensives Leseerlebnis!

Fazit: lesenswert

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Genre: Erzählung
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Mädchen, Frau etc.

Dieses Buch fesselt von der ersten Seite an, es lebt von der aufmerksamen Beobachtung und Beschreibung der Protagonisten. Wir lernen mit Anteilnahme und Humor ein Dutzend britischer Frauen während der letzten hundert Jahre kennen, alle Generationen sind vertreten, viele kennen sich untereinander.

Manche kommen aus gutem Hause, andere hatten ledige Mütter, manche entdecken für sich den Feminismus der sechziger Jahre (Betty Friedan!), andere sind oder werden lesbisch, nie verschämt, mal kämpferisch. Amma etwa nimmt sich vor, nur einmal mit derselben zu schlafen, und als sie sich ein Kind wünscht, lässt sie sich von ihrem schwulen Freund Roland (künstlich!) befruchten. Die Tochter Yazz ist inzwischen eine Studentin, strotzt vor Selbstbewusstsein und wickelt ihre Eltern um den Finger; getrennt, versteht sich.

Wir lesen die Geschichte von Hattie, einer Gutsbesitzerin im Norden Englands, andere sind Lehrerinnen an Schulen, die sich in jungen Jahren an der Aussicht erfreuten, etwas zur Bildung gerade sozial Schwacher beizutragen, dies zeigt sich nach Thatcherschen Schul- und anderen Reformen als Illusion und führt zumindest bei Shirley zu Verbitterung. Dass ihre eigene Mutter sie auch noch mit ihrem Mann betrügt, erfährt sie zum Glück nicht. Es werden Vertreterinnen der weiblichen Linie bis zur Urgroßmutter vorgestellt, und die Spannungen zwischen den Generationen gespiegelt.

Das Buch ist geschrieben, wie man spricht, mit spärlicher Interpunktion, und unter Vermeidung direkter Rede. Es ist das Besondere des Stils, dass es weniger Dialoge gibt, aber dafür werden die Gedanken der Protagonistinnen aufgeschrieben, also auch das, was nicht gesagt wird. Ich habe es erst im englischen Original gelesen, die Übersetzerin ist tapfer, nicht immer gelingt es ihr, den frechen Stil der Autorin wiederzugeben, auch weil diese gerne Abkürzungen verwendet, wie bei der SMS Sprache.

Durchgängig ist im Buch Sex wichtig, jede entdeckt für sich, wie sie es am liebsten hat, ohne Details über erotische Techniken. Alter spielt dabei keine Rolle. Als Penelope sich mit über 70 einen neuen Lover sucht, erwägt sie, sich die Schamhaare färben zu lassen, ist dann aber nicht nötig…

Bei den ganz Jungen, wie Yazz, geht es um Gender-, auch Transgenderfragen, es geht auch darum, welchen Pronomina das selbst gewählte Geschlecht verlangt, hier ist die deutsche Sprache deutlich spröder als das Englische.

Der Aufbau des Buches ist folgender: Amma ist trotz ihrer aus Afrika stammenden Eltern eine erfolgreiche Dramaturgin am National Theater geworden. Heute Abend ist Premiere ihres Stückes und die meisten Menschen, die sie in ihren über fünfzig Jahren begleitet haben, werden kommen, auch danach zur Premierenfeier.

Das Theaterstück wurde vor zehn Jahren von Amma geschrieben, (und so lange dauerte es, bis sie es auf inszenieren durfte) über das vorkoloniale Benin, in dem der König, aus Angst vor männlichen Rivalen seine Sicherheitsgarde aus Frauen gebildet hatte. Mehrere Hundert waren es, formal mit ihm verheiratet, und sie durften von keinem Mann gesehen, geschweige denn, berührt werden. Irgendwann wenden sie sich gegen ihn, dann zueinander und genießen ihr lesbisch Sein.

Im Buch folgen nach Ammas Gedanken auf dem Weg zum Premierenabend die Biographien der (sie selbst eingeschlossen) zwölf Frauen, die alle afrikanische Vorfahren haben. Es geht um Kindheiten in Nigeria, auf Barbados und die schwierigen Eingewöhnungszeiten in England, die Diskriminierungen als Schwarze, die manche schon als Kinder, alle als Erwachsenen erfahren haben, werden präzise und ohne Larmoyanz beschrieben.

Die Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen werden aufgeführt, in London werden Stadtviertel gentrifiziert, auf dem Lande erlebt Hattie die Industrialisierung der Landwirtschaft.

Und was ist mit den Männern? Sie gibt es als Väter, Brüder, Ehegatten und (Schwieger)Söhne, wie die Frauen sie wahrnehmen. Auch sie wurden als Kinder des britischen Empire irgendwann Briten. Anders verlief nur die Jugend von Hatties Mann Slim: er war ein US-Soldat aus Georgia, Nachfahre von Sklaven, der wegen Hattie in England blieb und die Engländer als viel respektvoller empfand: Niemand hier hat ihn je Boy gerufen. Ironie des Schicksals: in einem Geheimfach von Hatties Vorfahren findet er Dokumente, die belegen, dass Grundstock des Vermögens Sklavenhandel war. Und Hattie muss beobachten, wie die gemeinsamen Kinder Besuchern erzählen, ihr Vater wäre ein angestellter Landarbeiter.

Nur Rolands Gedanken werden uns, wie die der Frauen, im O-Ton beschrieben. Er ist von sich sehr angetan, immerhin gehört er zum Establishment als TV Promi, Prof. für Soziologie, und das als Einwandererkind, das mit zwei Jahren aus Gambia gekommen war! Leider will keiner der langjährigen Bekannten, die er auf der Premierenparty trifft, seine langen Predigten über das Theaterstück, oder Ergüsse zu anderen Aspekten des Lebens anhören. Es sind Szenen wie diese, die sich mit

Vergnügen lesen, weil Menschenkenntnis und Humor zusammentreffen.

Überhaupt ist die Premierenfeier, auf der reichlich Prosecco fließt, und wo so unterschiedliche Menschen zusammengewürfelt werden, ein Genuss, schon die Beschreibungen der Outfits, viele haben einen afrikanischen Touch. Erfrischend ist, welche Schlüsse gezogen werden, etwa, dass Frauen mit festem Schuhwerk wahrscheinlich lesbisch sind.

Und wir sehen, wie sich Menschen entwickeln können, wie alte Überzeugungen gepflegt, oder eben geändert werden. Nochmal zum Sex: Amma bevorzugt jetzt Dreier, gerne in langjährigen Beziehungen.

Das Buch ist spannend, flott geschrieben und überzeugt durch die klug gewählten und gut getroffenen Persönlichkeiten. Das ist einfach guter Stoff. Zum Schluss gibt es dann noch einen Epilog, mit dem sich ein Kreis schließt …


Genre: Frauenliteratur, Politik und Gesellschaft
Illustrated by Tropen Verlag