Mimis Reise zu sich selbst und ihrer Familie
Den Vater bei einem Unfall verloren, die Mutter seit Jahren im Koma – die beiden Schwestern Mimi und Kodachi haben es nicht leicht. Als junge Frauen ziehen beide von der Pflegefamilie weg nach Tokio, um Abstand zu ihrer Vergangenheit zu gewinnen und zusammen ein neues Leben aufzubauen. Aber eines Tages wird dieser vorübergehende Frieden zerstört, denn Kodachi verschwindet spurlos, als sie ihre Mutter in ihrem Heimatdorf besucht. Mimi, die nun ganz allein dasteht, beschließt, wieder in ihre Heimat zurückzukehren und Kodachi zu suchen. Dabei begibt sie sich auf die Spuren ihrer Vergangenheit, taucht tiefer in die Geschichte des Dorfes ein, sucht den Rat von Wahrsagerinnen und führt überfällige Gespräche mit ihrer Pflegefamilie. All das bringt sie nicht nur Kodachi und ihrer Mutter näher, sondern sie macht sich so auch auf den Weg zur eigenen inneren Heilung.
Altbekanntes und eine Neuerung
Der vorliegende in sich abgeschlossene Roman ist wohl laut Yoshimotos Ankündigung im Buch ihr letzter, da sie sich in den Ruhestand begeben will. Dabei wagt sie sich hier zum Abschluss ihrer Schreibtätigkeit auf Neuland: Sie betritt die Welt der Phantastik. Das macht sie zusammen mit den Leser*innen, indem sie Mimi auf die Suche nach ihrer Familie und zu sich selbst schickt und die Protagonistin nach und nach von den phantastischen Geschichten erfährt (und diese auch hautnah erlebt), die sich um ihr Heimatdorf ranken. Die Autorin verbindet hier wie selbstverständlich Spirituelles, Zombies und Außerirdische mit dem japanischen Alltag und den Mythen.
Leichtigkeit im oft schwierigen Alltag
Wie immer in Yoshimotos Romanen haben es die Charaktere nicht einfach – trotzdem ist den Romanen/dem Schreibstil eine Leichtigkeit zu eigen, die die Leser*innen mühelos durch schwerere Passagen trägt, ohne diese zu verleugnen oder zu verharmlosen. Das habe ich in dieser Art nur bei Banana Yoshimoto jemals gelesen und erlebt, und ich bewundere diese Schreibkunst sehr, v.a. da wir momentan mit Jugend- und Young-Adult-Romanen überschwemmt werden, die sich anscheinend darin überbieten, wie schwer es die Figuren haben und mit wie vielen Traumata belastet sie sind. So liest es sich dann leider oft auch. Das ist und war bei der japanischen Autorin glücklicherweise anders, denn eine gewisse Geborgenheit und ein realistischer Optimismus schwingen immer mit und nehmen sowohl die Figuren als auch die Leser*innen selbst bei schwererer Kost an die Hand und lassen sie damit nicht im Stich. Damit werden Triggerwarnungen wie in o.g. Büchern unnötig.
Entwicklungsroman
Dabei machen alle ihre Figuren, auch in diesem Roman, eine Entwicklung (s. Entwicklungsroman) durch und entdecken ihre eigene Stärke, meist durch eine innere und/oder äußere Reise. Yoshimoto wählt als Hauptfiguren immer Frauen, weshalb ich mich auch gut in die Charaktere hineinversetzen kann. Ganz nebenbei wird auch auf das Thema Integration eingegangen, wenn Yoshimoto z.B. erzählt, wie die taiwanesische Küche in das japanische Dorf Eingang gefunden hat. Oder wie man sich mit freundlicher Offenheit und Neugierde an Leute herantastet, die anders sind. Mischwesen, in diesem Fall Mischlinge hervorgegangen aus Menschen und Außerirdischen, haben einen Platz in der Gesellschaft – sie können Brücken bauen, wenn man sie denn nur ließe. Damit spielt die Autorin natürlich auch auf menschliche Mischlinge an, die Brücken bauen könnten zwischen Völkern. Der Tod wird mit stiller Würde und Respekt behandelt (Grabwächter), aber auch auf die Zombies mit Mitgefühl eingegangen und wie falsch es ist, Tote nicht ruhen zu lassen. Dabei wird nie der pädagogische Zeigefinger erhoben, alles fügt sich ganz natürlich in die Geschichte ein.
Natürlich kommen auch Frauenthemen zum Zug: Mimi z.B. interessiert, ob ihre schwangere Schwester ein übergroßes Baby zur Welt bringen wird – davon hängt schließlich die Gesundheit oder gar das Leben einer Frau ab. Also natürliche Geburt oder Kaiserschnitt? Auch die Schwesternschaft unter Frauen, die vor dem Einbruch des Patriarchats so natürlich war, ist Thema: Die drei Frauen – die beiden Töchter und die Mutter – stehen füreinander ein.
Das Außergewöhnliche im Alltag
Das Außergewöhnliche im Alltag, das bringt Yoshimoto auf den Punkt. Hier ein treffendes Zitat aus dem Buch: „Das ist mal ein seltsames Abenteuer – so ohne jeden Höhepunkt, dachte ich. Keine gerechte Sache, um die es geht, kaum Mysteriöses, nur reichlich Absonderliches, irgendwie banal unspektakulär – normal eigentlich. Vielleicht ist das die Realität: weil es nämlich auch Abenteuer im Alltag gibt.“ (S. 268) Die Phantastik bricht in den Alltag ein, der Alltag in die Phantastik. Das Paranormale ist eigentlich normal und natürlich, auch wenn man es in einer vermeintlich naturwissenschaftlichen Welt verleugnet, da die Naturwissenschaften (noch) nicht in der Lage sind, alles in der Natur Vorkommende zu erfassen.
„Und wie gut wäre es doch, wenn sich die Menschen immer auf solche Weise zwischen dieser und anderen Welten hin- und herbewegen könnten, denn so ließe sich die Traurigkeit auf Erden doch beträchtlich vermindern.“ (S. 268) Yoshimoto spricht hier die Spiritualität im Alltag an, die v.a. eine weibliche Spiritualität war, bevor andere Religionen diese zerschlagen haben. Nicht nur in Japan, auch in Europa finden sich noch Reste dieser weiblichen Spiritualität in Form u.a. von Frau Holle im deutschsprachigen Raum („Frau“ als ehrerbietiger Begriff für eine Göttin): Holle (ihr Baum ist der umfassend heilende Hollunder) als Göttin der Ungeborenen, der Verstorbenen, der den Toten Geborgenheit Gebenden, der Anführerin der Wilden Jagd in den Raunächten, der Heilenden usw. Die Frau u.a. als weise und unabhängige Alte, im Patriarchat als „Hexe“ verteufelt, die Magie im Alltag webt durch ihren reinigenden Besen und ihren transformativen Kessel. All das sieht man übrigens auch in den Animes von Studio Ghibli, aktuell im neuesten in den Kinos laufenden Werk „Der Junge und der Reiher“.
„Wir essen, schlafen und erträumen uns das Leben. Doch müssen wir uns davor hüten, den Traum eines anderen zu träumen. Jeder lebt seinen eigenen Traum, und den respektieren die anderen. So, wie man selbst deren Träume respektiert, ohne sie mit eigenen Vorstellungen auszuschmücken. Die Träume überschneiden sich und stimmen sich allmählich aufeinander ab. Das müssen sie, sie können nicht anders.“ (S. 291) Ganz klar hier der Appell, jede Person so leben und sein zu lassen, wie sie ist und leben möchte. „Jeder einzelne Fehler wurde mir verziehen, jede Marotte toleriert und eins nach dem anderen in Pluspunkte umgewandelt. Langsam, aber sicher löste sich alles in Wohlgefallen auf.“ (S. 301) Aus Fehlern kann man lernen und so mancher Umweg hält einen bunten Strauß an Erfahrungsblumen bereit. Yoshimoto lässt ihre Figuren ihre Erfahrungen machen und Schlüsse daraus ziehen, die sie weiter durch das Leben tragen.
Weitere Werke
Banana Yoshimoto hat u.a. an Büchern geschrieben: Kitchen (ihr bekanntester Roman), Erinnerungen aus der Sackgasse, Tsugumi, Federkleid, Eidechse, Moshi Moshi, N.P., Amrita, Sly, Dornröschenschlaf, Hard Boiled Hard Luck.
Fazit
Banana Yoshimoto hinterlässt als Abschiedsgeschenk an ihre Leser*innen ein Buch, das in bekannter Leichtigkeit trotz Schicksalsschlägen der Figuren daherkommt – und das eine Neuerung bietet: Sie wagt sich mit Erfolg und in ihrer ganz eigenen Interpretation an das Genre der Phantastik heran.