Sind Sie das? Eine Spurensuche

Wie viel vom tatsächlichen Leben eines Autors steckt in seinen Romanen? Diese Frage taucht nahezu in jedem Publikumsgespräch mit Autoren auf. Aber auch Literaturwissenschaftler und Rezensenten beschäftigen sich teilweise akribisch und streng wissenschaftlich mit dieser Thematik. Charles Lewinsky hat sich mit seinem neuesten Buch auf Spurensuche im eigenen Werk begeben.

Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, ist ein bekannter zeitgenössischer Schweizer Autor. Sein Werk ist in 14 Sprachen erhältlich, er gilt als einer der erfolgreichsten und vielseitigsten Schriftsteller der Schweiz.

Eines seiner Frühwerke war gerade erschienen, ein Roman über einen deutschen Gymnasiallehrer, der sich in ein französisches Dorf zurückzieht, weil er wegen einer Affäre mit einer Schülerin seinen Beruf aufgeben musste. Und da bei Autoren die Pflicht nach der Kür kommt, saß Lewinsky jeden Abend an einem anderen Ort vor Publikum und las aus seinem Werk.

An einem Abend fragte ihn der Moderator, ein lokaler Gymnasiallehrer: »Die Hauptfigur ihres Romans ist ein Pädophiler. Sind Sie das?« Offensichtlich konnte sich dieser Zuhörer überhaupt nicht vorstellen, dass jemand über Fantasie verfügt und sich in seine Kunstfigur hineinzudenken vermag. So antwortete der gequälte Autor, er kenne nur zwei Arten von Leuten, die derartige Fragen stellten: Solche, die noch nie ein Buch gelesen haben und Gymnasiallehrer. Danach war die Veranstaltung sehr schnell zu Ende.

Charles Lewinsky

Foto: Maurice Haas /© Diogenes Verlag

Anlässlich seines 75. Geburtstag legte sich Charles Lewinsky diese Frage selbst vor. Er wollte überprüfen, wie viel eigenes Erleben er im Laufe eines langen Lebens in seine schriftstellerischen Arbeiten einfließen ließ. Er wollte nicht darauf warten, dass seine Bücher von Germanisten und Literaturkritikern durchforstet werden. Dazu las Lewinsky alle seine Romane vom ersten zum letzten Satz durch und zwar in der Reihenfolge, in der sie auch geschrieben wurden. Zu all dem, was ihm bei der Lektüre auffiel, schrieb er Anmerkungen. Daraus sollte sich keinesfalls eine Autobiografie entwickeln, Lewinski vertritt nämlich die Ansicht, niemand solle eine Autobiografie schreiben, bevor er tot sei.

Begleitet der Leser den Autor nun auf seinem Streifzug durch dessen eigenen Werke, dann lernt er einen humorvollen, kompetent und auf den Punkt schreibenden Mann kennen, dessen Anmerkungen mit großem Vergnügen gelesen werden können.

Ehrlich schildert Lewinsky, wie sein erstes Buchprojekt ihn nach einem Co-Autor suchen ließ, um möglichst viele Aspekte der erfundenen Historie berücksichtigen zu können. Vermutlich war das ein Selbstbetrug, er hatte sich noch nicht zugetraut, ganz allein ein Buch zu schreiben und suchte einen Sparringspartner.

Lewinsky geht offen mit seinem Scheitern um, weil er ein für sein Projekt ungeeigneten Autor als Zeitzeugen mit ins Boot nahm, der viel zu fantasievoll schrieb. Erst im zweiten Ansatz kam es zu einer erfreulichen Partnerschaft, die ergänzende Sichtweisen repräsentiert. Es entstand »Hitler auf dem Rütli«.

Die Frage, ob der Protagonist als Alter Ego oder als eigener Schatten wie Regisseur Alfred Hitchcock sich in jedem seiner Werke zeigt, wird also auch weiterhin nach jeder Autorenlesung erfolgen. Es kommt immer wieder vor, dass ein naiver Leser den Unterschied zwischen Schreiber und Beschriebenem nicht kennt und den Autor mit seinen Figuren verwechselt. Beantwortet wird sie auch meistens eher stereotyp. Denn eine Krimischreiberin wie Agatha Christie war keine Mörderin, Fantasyautorin Marion Zimmer Bradley konnte nicht zaubern, und der Science-Fiction-Autor Stanislaw Lem studierte Philosophie statt Raumfahrttechnologie.

Für Lewinsky ist Schreiben in allererster Linie Handwerk. Er vertritt die uneitle Auffassung, ein Autor müsse Worte und Sätze so zusammensetzen, dass sie einen Sinn ergeben. Ob der Maurer dann einen Hühnerstall daraus baut oder eine Kathedrale – im Hintergrund steht immer noch die Fähigkeit, Steine so aufeinanderzustellen, dass sie nicht umfallen.

Bei seiner Recherche stieß Lewinsky auch auf die Tatsache, wonach sich alles, was sich eingeschlichen hatte, aus seiner Jugendzeit stammt. Offensichtlich nimmt man als junger Mensch alles sehr viel stärker und sehr viel farbiger wahr, schlußfolgert er daraus. Ansonsten sieht er das Experiment, sich über die Recherche selbst besser kennenzulernen, als gescheitert an. Es hat ihm lediglich Gelegenheit gegeben, in alten Erinnerungen zu wühlen – mehr jedoch nicht.

Überrascht hat ihn, dass diejenigen Menschen, die ihm auf der emotionalen Ebene am nächsten sind, die geringsten Spuren hinterlassen haben. Leben und Schreiben scheinen sich für ihn als Schriftsteller in zwei getrennten Welten abzuspielen.

» Sind Sie das?« ist mehr als eine persönliche Spurensuche. Es ist eine intellektuelle Reflektion zur Frage des Sichfindens im eigenen Werk, spannend für den Leser wie für jeden, der schreibt.


Genre: Autobiografie, Sachbuch
Illustrated by Diogenes

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