Der Mann schläft

Bitterböse Lektüre für Masochisten

Auch wenn der Titel «Der Mann schläft» suggerieren mag, man habe einen Liebesroman von Sibylle Berg vor sich, ist doch genau das Gegenteil der Fall. Die im Feuilleton als «leidenschaftliche Hasspredigerin» apostrophierte Schriftstellerin erzählt vielmehr eine für sie typische, pessimistische Geschichte eines Paares, das sie ganz ohne Liebe zueinander finden lässt. Kann das denn gut gehen?

Die namenlos bleibende Ich-Erzählerin ist eine sich selbst unattraktiv findende Frau Mitte vierzig, die das Leben als völlig sinnlos empfindet. Zutiefst misanthropisch, hat sie eine desillusionierte Sicht auf die Welt, besonders was die Zweisamkeit anbelangt. Sie erträgt einfach nicht die Nähe anderer Menschen, weicht ihnen aus, ist lieber für sich allein. Nach vielen kläglich gescheiterten Versuchen, einen Mann fürs Leben zu finden, trifft sie plötzlich auf ihren ‹Mister Right›, ein Wunder, auf das sie nicht mehr zu hoffen gewagt hat. «Der Mann», wie er im Roman immer nur genannt wird, ist ein dicker, schweigsamer Typ, mit dem sie eine innere Verbindung zu haben scheint. Er ist der erste Mann, an den sie sich anlehnen und ihren Weltekel vergessen kann. Sie mag ihn, ganz einfach weil er sie liebt und mit seinem eher phlegmatischen Charakter ihre Launen geduldig erträgt. Und so folgt sie ihm denn auch ins Tessin, wo er wohnt und arbeitet, ihrer freiberuflichen Tätigkeit als Übersetzerin von Bedienungs-Anleitungen kann sie auch von dort aus nachgehen.

In zwei chronologisch aufeinander zulaufenden Handlungs-Strängen wird abwechselnd in vielen kurzen Kapiteln von ihrer vier Jahre andauernden Zweisamkeit erzählt, in der «der Mann» letztendlich allenfalls eine Nebenrolle spielt. Er ist gutmütig, genügsam, alles andere als charismatisch, aber er verkörpert den sicheren Hafen im tosenden Meer menschlichen Lebens, in dem die Protagonistin ständig unterzugehen droht. In soweit alles «Friede, Freude, Eierkuchen»! Bis Sibylle Berg die Beiden nach vier Jahren plötzlich aus ihrer stillen Idylle zu einer Reise nach Hongkong aufbrechen lässt. Sie haben sich auf einer kleinen Insel eingemietet und entdecken dort das ihnen fremde China. Eines Tages fährt «Der Mann» mal wieder mit der Fähre nach Hongkong hinüber, um einige Besorgungen zu machen, er sei in zwei oder drei Stunden zurück. Aber er kommt nicht zurück, sie erstattet eine Vermisstenanzeige, es findet sich jedoch keine Spur von ihm. Die Erzählerin trifft zufällig auf Kim, ein zehnjähriges Mädchen aus der Nachbarschaft, das beim verwitweten Großvater aufwächst, der als Masseur arbeitet. Sie empfindet eine gewisse Seelen-Verwandtschaft mit dem altklugen Mädchen, lernt ihren Opa kennen und geht schließlich auf sein Angebot ein, zu ihnen in das schon lange leerstehende Gästezimmer zu ziehen, das sei gut für Kim. Auf ihren Streifzügen über die Insel beobachtet sie die Inselhure, eine querschnitts-gelähmte Frau, die gleichwohl ihrem Gewerbe nachgeht. Wie sich herausstellt, ist sie die Mutter von Kim, die ihr Kind beim Großvater leben lässt, weil es bei ihr geschäfts-schädigend wäre. Zeitweise verfällt die Protagonistin schließlich dem Alkohol und willigt zuletzt ein, notgedrungen mit dem Masseur und Kim zusammen zu bleiben.

Dieser Sibylle-Berg-typisch schlecht gelaunt erzählte, fatalistische Roman ist eine zynische Absage an das Leben, das hier als vollkommen sinnlos dargestellt wird. «Allen wohnte die gleiche Gier und Beschränktheit inne, sie quälten andere, weil sie es konnten. Sie zeigten den Nachbarn an wegen des Hundes, der an ihr Auto uriniert hatte, sie bespitzelten sich, stritten sich, misshandelten sich, als ob es kein Morgen gäbe …». Die bitterböse, zudem noch ziemlich unlogische Geschichte ist durchgängig mit derart gehässigen ‹Lebensweisheiten›gespickt, was dann auf Dauer nur noch nervt. Denn in all der vermeintlichen Ausweglosigkeit scheint Suizid die einzige Chance zu sein. Eine Lektüre also, die allenfalls für weltfremde Masochisten geeignet ist!

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Oben am Drahtseil, unten im Löwenkäfig. Geschichten über mutige Frauen

Wer in früher Jugend noch einen wandernden Zirkus in seinem Heimatort erleben durfte, der erinnert die schmetternden Fanfaren der Zirkuskapelle, den Geruch der Sägespäne, den flirrenden Zauber der Manege und die knisternde Spannung, wenn wilde Tiere durch Feuerreifen sprangen. Oft waren es Familiendynastien wie Renz, Busch, Krone, Barnum, Knie, Althoff und Probst, die den Wanderzirkussen ihre klingenden Namen verliehen. Dabei gab es zahlreiche mutige Frauen, die sich in Löwenkäfige wagten und unter der Zirkuskuppel auf dem Drahtseil tanzten. Dem Historiker und Direktor des »Wiener Circus- und Clown-Museum Wien« Robert Kaldy-Karo ist es zu danken, diesen starken Frauen ein literarisches Denkmal gesetzt zu haben. Weiterlesen


Genre: Sachbuch, Variete
Illustrated by Rokko´s Adventures Wien

Schicksal mag Bestimmung sein, aber…

Familienstellen & Co.

Das Folgebuch von “Erzählende Seelen” greift dessen Prinzip der Verknüpfung von Sachwissen, praktischen Übungen und eigenen Erfahrungen wieder auf und verbindet dies informativ und unterhaltsam.

Diesmal geht Autorin und Heilpraktikerin für Psychotherapie Kristine Weitzels auf weitere alternative Methoden ein, um Menschen mit psychischen und psychosomatischen Problemen zu helfen: Familienstellen (bzw. das Aufstellen/Aufstellungen allgemein),  morphische Felder, selbsterfüllende Prophezeiungen – positiv angewandt. Ihr Motto: Schicksal mag Bestimmung sein, aber jede*r kann selbst entscheiden, wie sie/er mit diesem Schicksal umgeht. Für Menschen, die nicht nur klagen und sich in ihr vermeintlich festgefügtes Schicksal fügen wollen, hat Weitzels dieses Buch geschrieben, um neben der Reinkarnationstherapie auf weitere Möglichkeiten aufmerksam zu machen, das eigene Schicksal zum Guten zu wenden.

Bzgl. der selbsterfüllenden Prophezeiung, die meist negativ besetzt ist, gibt Weitzels folgende Denkanregung: Wenn schon das Negative, das man sich ausmalt, tatsächlich in Erfüllung geht, klappt das auch umgekehrt. Man stelle sich also seine Wünsche vor und lasse diese los. Letzteres sei wichtig, damit sie tatsächlich eine Chance auf Erfüllung haben. Die Autorin erklärt dieses Prinzip mit der Theorie der alternativen Realitäten. (Ich habe es so verstanden: Diejenige alternative Realität, die unserer am nächsten ist, hat die beste Chance, zu unserer Realität zu werden. Mir persönlich schossen beim Lesen dieser Erklärung folgende Gedanken durch den Kopf: Wenn es alternative Realitäten gibt, gibt es dann auch sozusagen eine Skala von demselben Leben, das am einen Ende der Skala schlechtestmöglich verläuft, am anderen bestmöglich und dazwischen eine große Bandbreite von schlecht bis super existiert? Und wenn ja: Was passiert mit dem Ich einer alternativen Realität, wenn man ihm sozusagen sein Leben klaut und in das eigene Leben rübertransferiert? Geht es ihm dadurch schlechter? Sollte man nicht generell vorsichtig sein mit dem, was man sich wünscht?)

Aufstellungen verbindet Weitzels mit morphogenetischen Feldern. Aufstellungen mit Aufstellungsleiter*innen werden normalerweise mit Personen durchgeführt. Diese Personen stehen für bestimmte andere Personen (z.B. Familienangehörige der Klientin /des Klienten, auch verstorbene) oder für zahlreiche andere Dinge wie eigene Zukunftsaussichten in zur Wahl stehenden Berufen, Partnerschaften, ungute Beziehungskonstellationen usw. Weitzels meint, dass man im Prinzip zu jedem Thema aufstellen könnte. Solche Aufstellungen kann man aber auch allein durchführen, z.B. mit der Zettelmethode, die Weitzels in einer ihrer Übungen beschreibt. Auf ihrer Webseite sind u.a. zu diesem Thema weitere Informationen zu finden, die in ihrem Buch keinen Platz mehr fanden.

Laut SecretWiki werden morphische und morphogenetische Felder so erklärt:

“Morphische oder morphogenetische (morphé = Form, geneá = abstammend) Felder nach dem Biologen Rupert Sheldrake sind form- oder strukturgebende Felder. Sheldrakes Theorie besagt, dass alle Formen und Verhaltensweisen in der Natur durch ein Form-verursachendes Feld entstehen und ein selbstorganisiertes dynamisches System bilden.

Sheldrakes Theorie

Seiner Theorie nach werden biologische Informationen nicht nur über die Gene weitergegeben, sondern über eine “morphische Resonanz”, auf die sich ein Organismus einschwingt. Sheldrakes Experimente um die Hypothese der morphischen Felder zu beweisen sind reproduzierbar und auch von anderen Forschern positiv wiederholt worden.

Der begriffliche Unterschied liegt im Fokus:

  • bei “morphisch” liegt er auf dem Ist-Zustand des Feldes. Nach Sheldrake ist “morphisch” vergleichbar mit der übergeordneten Gattung des Begriffs.[1]
  • bei “morphogenetisch” liegt der Fokus auf der Dynamik, die zu dieser Prägung geführt hat. Nach Sheldrake ist “morphogenetisch” begrifflich eine Unterspezies von der Gattung “morphisch”.

Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang auch die Legende mit den hundert Affen auf einer Insel:
Nachdem zufällig ein Affe angefangen hatte, eine Banane zu pellen (oder eine Kartoffel zu waschen) vorm Verzehr, griffen die andern Affen dieses Verhalten auf. Ab einer bestimmten Anzahl von Nachahmern sei dieses in das morphische Bewusstseinsfeld eingeprägt worden und über den Resonanzweg von Affen weit entfernt aufgenommen worden. Auf diese Weise habe sich das Verhalten verbreitet, ohne dass die Affen die Möglichkeit hatten, es voneinander abzuschauen.

Diese Geschichte über die Erreichung einer “kritische Masse” für einen evolutionären Bewusstseinssprung wurde mit Sheldrakes Theorie vom morphischen Feld untermauert – wobei die ursprünglichen Fakten aber laut Wikipedia verändert worden sind und das Ganze so zu einer esoterischen Legende geworden ist.” Vgl. https://secret-wiki.de/wiki/Morphogenetische_Felder#:~:text=%20Morphogenetische%20Felder%20%201%201%20Sheldrakes%20Theorie.,Familienstellen%20arbeitet%20erfolgreich%20mit%20morphogenetischen%20Feldern…%20More%20

Das Familienstellen nach Bert Hellinger, auf das Weitzels mithilfe ihrer eigenen Erfahrungen in der Ausbildung bei Bert Hellinger ausführlich eingeht, arbeitet mit morphogenetischen Feldern. Die Familiendynamik hat ein morphogenetisches Feld geprägt, in das man hineingeboren wird. Stellvertreter*innen für Familienmitglieder können diese Dynamik erspüren und ihr Ausfruck verleihen. So ist es möglich, dass man heilende Informationen in dieses Feld geben kann. Weitzels persönlich hat mit Aufstellungen und deren Kraft viele Erfahrungen machen können, die sie im vorliegenden Buch schildert. Sie geht hierbei auch ausführlich auf ihre eigenen Vorstellungen und ihre Vorgehensweise ein.

Weitzels zeigt in ihrem Buch, dass auch bekannte Persönlichkeiten wie Bert Hellinger ganz normale Menschen sind, die Fehler machen und auch unangenehme Eigenschaften und Charakterzüge haben. In ihren Erfahrungsberichten bzgl. der Leiter*innen der Aufstellungen wird dies sehr deutlich. Sie plädiert aufgrundessen an die Kritikfähigkeit ihrer Leserschaft, die diese Kritik auch äußern, für sich selbst einstehen und nur das für sie Passende raussuchen, sowie alles andere links liegen lassen soll. Sie persönlich hat alle vorgestellten Methoden an sich selbst ausprobiert und anfangs zum Üben kostenlose Seminare veranstaltet. Außerdem pflegt sie eine Fehlerkultur, da man aus Fehlern lernen kann.

Zudem pflegt sie eine ganzheitliche Betrachtungsweise in ihrer Arbeit: Körper und Seele sind in ihrer Ganzheit zu betrachten, und aus dem Werkzeugkasten der psychologischen Instrumente (sowohl der anerkannten als auch der alternativen) die für die einzelne /den einzelnen Klient*in das oder die passenden Werkzeuge herauszusuchen. Was der einen hilft, muss für den anderen noch lange nicht gut sein. Dabei verliert Weitzels nicht die Bodenhaftung: Die vorgestellten Therapien sind kein Allheilmittel. Schon gar nicht nur einzeln angewandt.

Fazit

Das vorliegende Buch gibt gut verständlich und ausführlich eine Übersicht aus verschiedenen alternativen psychologischen Heilmethoden wie z.B. das Familienstellen, verbindet diese miteinander, wo es sinnvoll erscheint, stellt dazu Übungen vor und garniert das Ganze mit eigenen Erfahrungsberichten. Gelungen!


Illustrated by Schirner Verlag

Jesus – Die Anerkennung des mütterlichen Ursprungs und das Ende der väterlichen Allmacht

Humus und Humanität, liebevolle Ganzheitlichkeit versus patriarchales Denken

Autor und Theologe Lothar Beck gibt in seinem neuen Buch nicht nur eine kurze Zusammenfassung über matriarchalisches Denken, sondern er geht noch einen Schritt weiter: Er deutet die ursprüngliche Jesus-Tradition, die anscheinend dem Matriarchat und der Jäger-Sammler-Tradition (s. Buch “Wahrheit über Eva”) deutlich näher steht als der patriarchalischen Auslegung der von der katholischen Kirche genutzten paulinischen Tradition, mit eigens dafür geschriebenen Geschichten matriarchalisch um bzw. gibt dieser Jesus-Tradition ihren Ursprung zurück.

Aber zunächst zu seinen Erkenntnissen zum Matriarchat (in Auszügen):

– Wie in seinem letzten Buch “Die Weisheit der Mütter” weist er darauf hin, dass matriarchalische Religiosität sich quasi von selbst erklärt. Sie fußt auf Beobachtungen der Mutter Natur, die in einer solchen religiösen Tradition ohnehin einen zentralen Stellenwert einnimmt. Das Weibliche ist in der Natur dasjenige Geschlecht, das Leben gebiert – und damit die Schöpfer(innen)rolle inne hat. Denn sie ist diejenige, die Leben erschafft und gebiert. Das Männliche dagegen ist das Geschöpf. Dem geht Lothar Beck nach, indem er z.B. auf die ursprünglichen Jahwe-Traditionen verweist, in der Jahwe vor seiner patriarchalen Umformung ein Regengott und der Sohngeliebte der Aschera war. Er verweist auf die Göttlichkeit der Natur und die Natürlichkeit Gottes. Nichts kommt von oben, alles kommt von unten, von der Erde, und kehrt wieder zur Erde zurück. Humanität kommt von Humus und Mutterliebe aus der Materie. Im Humus sind Leben und Tod integriert. Zur Humanität gehört auch der Humor als Ausdruck der Lebensfreude und des Lachens. Die Wurzel “Mt” steht für “Mut” und “Mutter”. Die Natur ist die Mutter der Menschlichkeit und die Menschlichkeit die Möglichkeit der Natur. Die Mutterlinie (Symbol hierfür ist der Baum, s. auch Weltenbaum; Terebinte, Zeder und Palme waren im alten Israel göttliche Sinnbilder) und die Mutterliebe waren der Kern der matriarchalen Gesellschaft. Im Gegensatz zu heute, in der der Frau viel zu oft der Löwenanteil der Verantwortung für die Erziehung aufgebürdet wird, gab es im Matriarchat viele Mütter und Mutterbrüder, die sich um die Kinder gekümmert haben. Das stimmt auch mit den Erkentnissen des Buches “Die Wahrheit über Eva” überein. Bindungsfähigkeit war zentral, um das gute Gelingen der Gemeinschaft zu garantieren, ebenso (Hoch-)Sensibilität. Wohin die Abwertung der sogenannten Softscills und der (unterbezahlten, wenn überhaupt bezahlten) humanitären Berufe in einer patriarchalen Gesellschaft führt, erfahren wir tagtäglich. Das Rautennetz ist Symbol für das Lebenskontinuum, den planetarischen Lebenszusammenhang. Die/der Einzelne ist hierbei der Schnittpunkt in diesem Netz. Es gibt viele Glieder, aber es gibt nur einen einzigen Leib. Wenn ein Glied leidet, leiden alle. Wenn es einem Glied gut geht, freuen sich alle.  Göttin Bet: Bett, beten, Beet, bio (= Leben) gehören in diesen Zusammenhang. Diese Weltsicht ist uralt und war global verbreitet.

– Das matriarchale Weltbild ist naturgegeben zyklisch: Leben-Tod (mit verschiedenen Lebensaltern), Jahreszeiten, Mondzyklus – das alles steht auch in Zusammenhang mit der Frau, deren Menstruation sich z.B. in natürlicher Form dem Mondzyklus angleicht. Demenstsprechend nehmen Mond- und Fruchtbarkeitsaspekte der Göttin einen großen Raum ein. Die Jungfrau ist die selbstschöpferische Göttin. Eva ist im Hebräischen Heva/Chawwah, die “Mutter allen Lebens”. Freja heißt “Die Freie”, von ihr kommt “Frau”. Das Schwein (griechisch Hys) symoblisierte die Gebärmutter (griechisch Hystera) und damit die Urmutter Bet. Bärin als Göttinnentier und “gebären” stehen ebenfalls in einem engen Zusammenhang. Holle galt als Mutter der Seelen. Sie verband laut Beck ihre urmütterliche Anderswelt mit der Natur und der Kultur. Später identifizierte man die geschöpfliche Welt mit dem solaren Heros der Göttin. Er war als ihr Sohn in den Jahreskreislauf eingebunden, auferstand im Frühling und erstarb im Herbst. Als Lichtkind wurde er an Mittwinter wiedergeboren. Der Heros erhielt von der Göttin den Apfel der Liebe und der Weisheit. Der Apfel ist ebenfalls ein matriarchales Symbol. Die Hecksen sind als Heckensitzerinnen die Grenzwächterinnen von Diesseits und Jenseits. Die Schnitterin sichelt zum Erntefest das Korn (s. auch Demeter als Korn- bzw. Fruchtbarkeitsgöttin/Göttin des Ackerbaus). Der Tod gehört zum Leben dazu. Die heilige Kommunio und die Wiedergeburt sind die wichtigsten Topoi der matriarchalen Sonnenfeste.

– Auch die ursprünglichen Ausformungen der germanischen Götter Wotan, Tyr und Thor sind matriarchalen Usprungs. Wodan war wie Dionysos und Cernunnus ein Mondsohn. Die transalpinen Mondsöhne wurden mit dem Hirsch und dem Geweih identifiziert. Sie waren die Geweihten der Bet. Im alten Orient waren das El, Baal oder Jahwe, die im Stierkalb dargestellt wurden. Der Stier ist ebenfalls ein matriarchales Tier. Ihre Priester waren die Gehörnten der Mondgöttin. Die Mondsöhne stehen unter dem Schöpfungsprimat des Weiblichen-Mütterlichen und verkörpern die Sohnschaft des Männlichen. Thor/Donar (Donnerstag) ist stark und hat die Aufgabe, die Erde für’s Keimen und Fruchttragen vorzubereiten und alles Steinharte und das Eis zu zerkleinern. Er ist Gärtner und Bauer. Für diese Aufgabe hat er von der Erdmutter den Hammer geliehen bekommen. Der Wetzstein in seinem Kopf erinnert ihn, dass Mühsal und Arbeit zum Leben gehören und die Naturmächte nicht etwas sind, das man(n) endgültig besiegt. Ohne den Wetzstein ergibt er sich dem Schlaraffenland und lässt die Polkappen schmelzen: Thors Torheit. Arbeitspausen, Musestunden und Arbeit wechseln natürlichwerweise miteinander ab. Wodan/Odin (Whednesday, Mittwoch) ist der Mystiker, der Seelenmann unter den transalpinen Söhnen. Er ist Waldmann und Poet und liebt die Weitherzigkeit. Er ist der kreative Geist (od, odem odin), dessen Inspiration uns mit seinem von der Göttin geliehenen Speer trifft. Er begleitet am Ende des Jahres mit Göttin Percht die Seelen der Verstorbenen in die Anderswelt. Er untersucht, forscht und sammelt. Das Opfer eines seiner Augen bewahrt ihn davor, seine beiden Augen nur der Außenwelt zuzuwenden: Wodans Wahn. Er braucht sowohl Außen- als auch Innensicht, um weise zu sein und alles ganzheitlich zu sehen. Er verbindet so seine Forschungen mit Seele und sieht im natürlichen Gegenüber ein gleichwertiges Subjekt. Er ist der Wanderer zwischen den Welten. Tyr/Ziu  (Tuesday, Dienstag), sprachverwandt mit Zeus, Deus, Theos, schlichtet bei Konflikten und versöhnt bei Verletzungen. Er soll den Frieden richten, heilen und den Zusammenhalt in den Familien stärken. Von der Göttin hat er dafür die Scheide (Calibur) mit dem heiligen Schwert geliehen bekommen, um es als Mahnung zwischen die Parteien zu legen. Nur der Friedensstifter kann das Schwert aus der Scheide ziehen (Ex-Calibur). Erst bei Einigung der zerstrittenen Parteien steckt er das Schwert wieder in die Scheide. Durch die Forderung, das mühselige Schlichten durch schnelle Richtersprüche zu ersetzen, ein Machtwort zu sprechen, griff er schließlich selbst zum Schwert und wurde so zur Bedrohung für das Matriarchat und Verfechter der patriarchalen Ordnung mit totalitärem Anspruch. Er beanspruchte jetzt für sich, Schöpfer zu sein, Gesetzgeber und allmächtiger Herr der Geschichte: Zius Zwang. Deshalb hat er seine schlagende Rechte dem Fenriswolf, dem Schöpfertier, geopfert. So weiß er, dass seine Macht endlich und er sterblich ist. Frieden kann nur durch den langen Prozess der Liebe gewahrt werden: kennenlernen, zuhören,  verstehen, verhandeln, sich einigen. Werden die drei Mondsöhne von ihrem mütterlichen Ursprung getrennt, werden sie zur Gefahr für die Welt.

– Jesus übt durch seine Praxis eine durchgehende Kritik an der patriarchalen Ordnung. Er steht als matriarchaler Sakralkönig, Frauengesalbter und damit der Göttin Geweihter, für die matriarchale Basilea und in Opposition zur patriarchalen Ordnung. Er identifiziert sich mit der emotionalen Perspektive des Opfers: “Was ihr einem der Geringsten getan habt, habt ihr mir getan.” Das entspringt dem natürlichen Interesse am Gegenüber und dem natürlichen Wunsch, dessen Not zu lindern. “Sie fordert immer den Täter und sein System heraus, entlarft ihn und greift ihn an.” Er ist ein Erneuerer und Neubergründer der ursprünglichen Ordnung. Er ist Muttersohn und Menschensohn bzw. Erdsohn (Ben-Adam) und nicht Gott. Maria Magdalena wurde im Zuge des Patriarchats ihrer sakral-religiösen Bedeutung beraubt.

– Beck kommt zu folgender Erkenntnis für die spätpatriarchale Kleinfamilie, v.a. für die Frau dieser Familie: “Die spätpatriarchale Kleinfamilie ist die am stärksten wirtschaftlich ausgebeutete und unter Stress gesetzte Lebenseinheit. In ihr steht v.a. die Mutter sehr unter Druck. Der Stress der Kleinfamilie setzt sich aus vielen alltäglichen Stressoren zusammen, die in ihrer Gesamtheit die Grenze bio-psycho-sozialer Belastbarkeit erreicht haben.” Diese Stressoren, v. a. für die Frauen, füllen bei Beck seitenweise sein Buch… Corona hat das auch nach außen hin sichtbar gemacht und noch verschärft, da die Familien wieder ( bzw. noch mehr als sonst) in traditionelle Rollenbilder abgerutscht sind. Er bringt diese Erkenntnisse auf den Punkt.

Beck kombiniert in kluger und nachvollziehbarer Weise die transalpinen Göttinnensöhne mit dem orientalischen Göttinnensohn Jesus. Er arbeitet umsichtig die matriarchalen Ursprünge der Bibeltexte in Bezug auf Jesus heraus. Er ergänzt sie ganzheitlich durch das matriarchale Weltbild, sodass sich matriarchale Ursprünge, die noch in Ansätzen in der Bibel vorhanden sind, zu einem runden Ganzen zusammenfügen. Er verlegt den Gotthelf (Jesus) nach Deutschland, nach Schwaben und lässt ihn im schwäbischen Dialekt (wie ursprünglich im aramäischen Dialekt) reden, um so seine Relevanz auch für Deutschland und in der aktuellen Zeit hervorzuheben. Er verbindet demzufolge die aktuelle Zeit mit ihren Problemen, Aktionen, Protesten auch immer wieder mit der Bibel. Außerdem stellt er immer wieder Jesu’ Bezug zu den Frauen heraus: die Frauen salbten ihn, förderten ihn (auch durch finanzielle Mittel), waren Jüngerinnen, Priesterinnen, gaben ihm ein Zu-Haus-e (Basilea), waren im Tod und bei seiner Auferstehung bei ihm. Er wurzelte in ihnen. Beck stellt das Mutterland dem Vaterland gegenüber, z.B. heilsame Ganzheitlichkeit mit dem Zentrum der Liebe gegen Zergliederung und Pervertierung, Dämonisierung, Unmenschlichkeit, Naturfeindlichkeit. Beck stellt mit seinen Erkenntnissen über das Matriarchat und die behutsame Umformulierung der Mythen das soziale Miteinander und Verhalten, sowie Naturverbundenheit ins Zentrum (ähnlich wie in “Wahrheit über Eva”, in der die Jäger-und Sammlergemeinschaften nur durch dieses überhaupt überlebt haben). Damit hat sein dieses Jahr erschienene Buch angesichts der Klimakatastrophen und der zunehmenden Unmenschlichkeit höchste Aktualität!

Fazit

Höchst aktuelles Buch über matriarchale Ganzheitlichkeit in Verbindung mit den Mondsöhnen Wodan, Tyr, Thor und Jesus, das die heutigen Probleme und die heutige Welt mit den Mythen verbindet und die Mythen, sowie die Bibel im Sinne einer matriarchalisch liebevollen, ganzheitlichen Denkweise behutsam und ursprungsnah umformuliert.


Illustrated by Europa Verlagsgruppe

Das dunkle Schiff

Rastlos, leer und unersättlich

Der 2008 erschienene Roman «Das dunkle Schiff» des in Ost-Berlin geborenen Sherko Fatah behandelt eine derzeit hochaktuelle Thematik. Was bei dem Schriftsteller mit irakisch-kurdischen Wurzeln die Peschmerga sind, ‹Die dem Tod ins Auge sehenden Gotteskrieger› der Kurden im Irak, das sind dieser Tage die Taliban in Afghanistan, die dem Westen eine desaströse Niederlage und einen alle Medien beherrschenden, unrühmlichen Abgang nach einem zwanzigjährigen Krieg beschert haben. Es ist die Konfrontation verschiedener Welten, die das gesamte Werk dieses von zwei völlig unterschiedlichen Kulturen gleichermaßen geprägten Autors bestimmt. Es ist aber auch die gekonnte Einbindung all jener Fährnisse, denen ein aus dieser chaotischen Weltregion in rechtsstaatliche Gefilde fliehender Mensch begegnet, welche diese bedrückende Geschichte so einmalig macht.

Wie kein zweiter versteht es nämlich der Autor, die durch den Krieg verursachten Gewaltexzesse und die daraus resultierenden Folgen für die Zivilbevölkerung, ihre Entwurzelung und erzwungene Flucht ins Exil, in eine spannende Geschichte zu integrieren. Der fettleibige junge Iraker Kerim erlebt den Mord an seinem Vater durch Schergen des Diktators Saddam Hussein. Er schließt sich, als er während einer Autofahrt den Peschmarga in die Hände fällt, dieser terroristischen Befreiungs-Bewegung an. Nach einer Ausbildung an Waffen beteiligt er sich an verschiedenen Kommando-Unternehmen gegen die vorrückenden Amerikaner. Einmal dokumentiert er mit der Video-Kamera ein Selbstmord-Attentat auf einem belebten Marktplatz. Als sich ihm die Gelegenheit bietet, entwendet er einem der Rebellen-Anführer einen hohen Dollarbetrag und flüchtet damit zurück nach Hause. Das viele Geld ermöglicht ihm nun die schon lang ersehnte Flucht in die Freiheit, er will nach Europa. Schlepper bringen ihn außer Landes, als blinder Passagier gelangt er im Laderaum eines Frachters nach Europa und landet schließlich bei seinem Onkel, der seit Jahrzehnten in Berlin lebt. Mit Sonja lernt er eine junge Frau kennen, die ihm das Leben rettet, als er ins Eis einbricht, und erlebt seine Initiation mit ihr. Schließlich wird sogar sein Exilantrag genehmigt, aber die Geister der Vergangenheit holen ihn dann doch wieder ein.

In einer sachlich nüchternen Sprache wird hier behutsam voranschreitend eine Geschichte von den verschlungenen Wegen erzählt, auf denen die Odyssee des Helden ihrem Höhepunkt zustrebt. Ohne stilistische Arabesken zwar, aber in der Fülle von Zufällen und Begebenheiten orientalisch breit ausgeschmückt, ist der Plot gleichwohl durchgängig plausibel. Und er ist von der ersten bis zur letzten Seite spannend wie ein guter Abenteuer-Roman, man ist ans «Wilde Kurdistan» von Karl May erinnert und an Robinson Crusoe. Als Figur bleibt der Protagonist Kerim leider ziemlich farblos, narrativ befindet er sich durchgängig in einer weitgehend passiven Opferrolle, aus der er sich nicht herauslöst. Er ist, und bleibt es auch, ein Getriebener, dem nur durch glücklichste Umstände vieles gelingt.

Wirklich grandios wird dieser bedrückende Roman immer dann, wenn es um die Darstellung der gravierenden kulturellen Unterschiede zwischen Orient und Okzident geht, um die vermeintliche Überlegenheit der westlichen Lebensweise also. In vielen Rückblenden erinnert sich Kerim an die Kampfreden seines Lehrers bei den Peschmerga: «Es geht immer um das Geld, glaube mir, sie sind davon besessen. Es macht sie kalt und hart, und doch ist es das einzige, woran sie wirklich glauben. […] Sie sagen, sie lieben die Freiheit, doch ihre Freiheit ist die Einsamkeit. Sie sagen, sie lieben das Leben, aber dieses Leben ist Gier. Sie sagen Fortschritt, doch dieser Fortschritt bereitet nur das Terrain, das sie morgen ausbeuten und zerstören werden, rastlos, leer und unersättlich». Angenehm für den Leser ist, dass Sherko Fatah sich bei solcherlei kontemplativen Exkursionen wohlweislich aller moralischen Wertungen enthält.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by btb München

Das kurze Glück der Gegenwart

Die zehn besten Bücher der letzten zwanzig Jahre

Wem Literatur mehr bedeutet als ein paar vergnügliche Lesestunden, der wird auch gerne hin und wieder mal ein Sachbuch lesen, das Aspekte seiner bevorzugten Kunstgattung mit wissenschaftlicher Expertise beleuchtet. Richard Kämmerlings hat mit «Das kurze Glück der Gegenwart» ein solches Buch vorgelegt, er widmet sich darin der deutschsprachigen Literatur seit 1989, bei der er als Literatur-Wissenschaftler deutliche Defizite an Gegenwärtigkeit konstatiert und bedauert.

Als Beispiel führt er in der Einleitung an, dass der ultimative Wende-Roman nicht geschrieben wurde, «… so als sei es unter der Würde des Schriftstellers, einen naheliegenden, sich für eine erzählerische Bearbeitung geradezu aufdrängenden Gegenstand zu wählen». Wenn aber der Zeitbezug fehle, wenn gegenwarts-bezogene Erkenntnisse oder Denkimpulse also nicht zu erwarten wären, warum sollte sich der Leser dann überhaupt den Neuerscheinungen zuwenden? Es geht ihm also darum, eine Literatur einzufordern, bei der es nicht nur um das Private oder das Historische geht, sondern auch um die gegenwärtigen Themen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft, also um politische Strömungen, ökonomische Desaster, kulturelle Trends und wissenschaftliche Erkenntnisse.

In neun thematisch ganz unterschiedlichen Kapiteln geht Richard Kämmerlings wohlgemut in medias res, wobei er mit Berlin beginnt als «Topos des Terrors». Er konstatiert eine Mitte der neunziger Jahre einsetzende Umwertung der Gegenwartsliteratur, die mit «Faserland» von Christian Kracht eingeleitet wurde und vehement das Hier und Heute ins Zentrum stellt. Aber auch Klagenfurt ist für ihn «… der Ort, an dem sich die Veränderungen, die Verschiebungen des literarischen Feldes manifestieren». Als Enfant terrible ist Maxim Biller für ihn der Vorreiter eines thematischen Umdenkens, das mit dem später verbotenen Roman «Esra» seinen medialen Höhepunkt fand, weil er erzählte Wirklichkeit war und nicht Fiktion. Es folgt das Kapitel über Krieg als gegenwärtiges Thema, bei dem Kämmerlings Ernst Jünger als ihn persönlich prägenden Schriftsteller nennt und die Sprachlosigkeit heutiger Autoren beklagt, denen außer NVA-Klamauk dazu nichts einfalle. Mit Sex als fast nur auf Englisch thematisiertem Stoff, mit der weltweiten Finanzkrise, die literarisch, wenn überhaupt, allenfalls im Krimi oder als Science-Fiction stattfinde, mit dem Ignorieren der rapide wachsenden sozialen Verwerfungen setzt der Autor seine Liste der Sprachlosigkeit fort. Um dann zum Thema Familie zu gelangen, die immer mehr in der Patchwork-Version beschrieben werde, wobei er den Roman «Die Liebe der Väter» als lobenswertes Beispiel erwähnt, dessen Thematik Kämmerlings aus eigenem Erleben bestens kennt. Auch die Herkunft werde bis auf wenige Ausnahmen in der Gegenwarts-Literatur vernachlässigt, Heimat als Thematik versinke entweder im Provinzialismus oder sei allenfalls noch im Migrations-Roman anzutreffen. Beim Tod schließlich, im letzten Kapitel, ist die Gegenwart ebenfalls ausgeblendet, nur einige wenige Schriftsteller hätten dazu literarisch wirklich Überzeugendes geliefert.

Der Erkenntnisgewinn für den Leser dieses Buches liegt in der sachkundigen Tour d’Horizon durch die neuere deutsche Gegenwarts-Literatur, für deren Defizite aber immer auch Gegenbeispiele genannt werden, kenntnisreich analysiert zudem. Mit Anekdoten angereichert erfährt man auch Interna aus dem Literaturbetrieb, liest von den Disputen der Autoren, Kritiker und Lektoren untereinander. Vor allem aber lernt man en passant viele Autoren und Bücher kennen, die man bisher nicht auf dem Radar hatte als Leser. Und so empfiehlt sich das reichhaltige Autorenregister als ergiebiger Quell künftiger Leseabenteuer, auch wenn die Auswahl des Autors natürlich subjektiv ist und damit anfechtbar. Was dann vor allem für die «Zehn besten Bücher der letzten zwanzig Jahre» gilt, die Richard Kämmerlings sich am Ende mutig vorzustellen traut.

Fazit: lesenswert

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Genre: Sachbuch
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Im Banne der AfD

Jeder normale Mensch greift sich doch an den Kopf und würde fragen, ob wir noch alle Latten am Zaun haben. Ich habe so langsam keinen Bock mehr auf den Menschenmüll, der bei uns einläuft.“

Das schrieb 2018 kein AfD-Gegner, sondern ein Mitglied der AfD. Nicolai Boudaghi und Alexander Leschik berichten es im Vorwort Ihres Buches »Im Banne der AfD«. Jahrelang haben sie für diese Partei und deren Jugendorganisation gearbeitet, erreichten hohe Positionen. Bis sie sich eingestehen mussten, dass sie einem Irrweg gefolgt sind. Jetzt zogen sie einen Schlussstrich und haben über ihre Erfahrungen berichtet. Mit vielen Zitaten aus internen E-Mails, Foren und Veranstaltungen. Weiterlesen


Illustrated by Europa Verlag Wien

Das Jahresbankett der Totengräber

Geradezu revolutionär

Der neue Roman des französischen Schriftstellers Mathias Énard mit dem burlesken Titel «Das Jahresbankett der Totengräber» ist ein bildungssattes Epos über das Leben auf dem Lande, in dem ein Anthropologe dessen spezifische Merkmale in einer Felduntersuchung für seine Doktorarbeit ergründen will, und gleichzeitig ist dies auch ein Werk über Leben und Tod. Hier ist es nun ausnahmsweise mal der letzte Satz, der, wie von Poe für den ersten apostrophiert, ‹oft die ganze Geschichte enthält›: «Ich startete den Motor, legte den ersten Gang ein, und wir fuhren los, den Planeten zu retten».

Der Roman beginnt mit dem ersten Eintrag ins neue ethnografische Feldtagebuch, wo der Pariser Anthropologe David Mazon den Ort seines bescheidenen Quartiers in der französischen Provinz für seine Studien beziehungsreich «Das wilde Denken» tauft. Er will durch genaues Beobachten seiner Umgebung und mit Hilfe vieler Interviews Material sammeln, um damit eine bahnbrechende Monografie über das Landleben im 21ten Jahrhundert zu schreiben. Unerwartet und ungewollt gerät er jedoch immer weiter von der Position des distanzierten Beobachters in die Rolle des unmittelbar Beteiligten hinein. Er gewinnt neben den Erkenntnissen neue Freunde unter den Dörflern und fühlt sich in dem 500-Seelen-Kaff immer mehr zuhause. In sieben Kapiteln, von denen die äußeren in Tagebuchform verfasst sind, entwickelt Mathias Énard ein lebenspralles Panorama menschlicher Existenz, zu der als untrennbares Faktum der Tod gehört. Ihm wird im titelgebenden Mittelteil gehuldigt, das vom jährlichen Treffen der 99 Totengräber aus der Region zu ihrem zweitägigen, orgiastischen Fress- und Saufgelage berichtet. Die fortwährend neu aufgetischte, endlos scheinende Speisefolge wird öfter mal unterbrochen durch Redebeiträge einzelner Mitglieder der Zunft. In seiner Begrüßungsrede fordert der Großmeister die Gesellschaft auf: «Lasst uns, Freunde, über unser trauriges Schicksal nachsinnen und die Ärzte preisen, die für unser täglich Brot sorgen». Andere Redebeiträge berichten, mit Zitaten gespickt, aus der Mythologie, von Melusine oder Gargantua, aber es gibt auch Fachvorträge wie «Einführung in die Ökologie des Sarges». Und am Schluss dann steht, als letztes zelebriertes Ritual, «Fröhliches Trinken und warten auf den Tod».

In barocker Fülle brennt Mathias Énard ein wahres Feuerwerk an skurrilen Ideen ab. Er fügt zwischen seine Kapitel jeweils eine als Chanson bezeichnete Vignette ein, mit Titeln wie «In den Kerkern von Nantes», «Klagelied des heiligen Nikolaus» oder, zuletzt, «Jean Petite muss tanzen», wo genüsslich eine satanische Hinrichtung beschrieben wird. Kommunikative Zentrale des Dorfes ist das ‹Anglercafé›, in dem man sich fast täglich trifft, für den Anthropologen eine hochwillkommene Quelle für seine Recherchen. Neben dem Wirt hält der Bürgermeister und örtliche Bestatter in Personalunion alle Fäden in der Hand. Davids bäuerliche Vermieter gehören ebenso zu den Gästen wie Max, ein durchgeknallter Künstler, der versoffene Pfarrer, die aufmüpfige Gemüsebäuerin Lucie oder der Metzger. Zeitlich reicht dieser mit Geschichten prall gefüllte Landroman von der Antike bis in die Zukunft. Da kommt zum Beispiel ein Wildschwein, das vorher der Pfarrer war, ins Bardo und wird Mitte des 21ten Jahrhunderts in einem apokalyptischen Szenarium als Dachs wiedergeboren. Denn alles, was da lebt, kehrt in neuer Gestalt irgendwann zurück ins Leben, – die buddhistische Idee der Reinkarnation feiert hier fröhliche Urständ.

Damit erweitert der Autor äußerst kreativ und zum Thema passend seinen Erzählradius durch eine schöpferische Einbeziehung der Fauna in das sich jeder kurzen Zusammenfassung widersetzende, turbulente Geschehen. Er stellt den eher moralisierenden, aktuellen Landromanen mit ihrer drögen Zurück-ins Dorf-Botschaft eine vor Sprachlust vibrierende, vergnügliche und auch noch intellektuell hochstehende Alternative entgegen. Das ist geradezu revolutionär!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Willkommen neue Träume

Vom Unbehagen in der Kultur

Der dritte von vier bisher erschienenen Zeitromanen des Schriftstellers Norbert Niemann erschien 2008 unter dem – bezogen auf den Inhalt – sarkastischen Titel «Willkommen neue Träume». Dieses eher selten anzutreffende literarische Genre ist durch seine Zeitkritik geprägt, die Zeit selbst also steht im Mittelpunkt dieser Sonderform des Gesellschafts-Romans. Hier ist es die Gegenwart zu Beginn des 21ten Jahrhunderts, und zwar in all ihren politischen, sozialen, ökonomischen, kulturellen und medialen Aspekten.

Ort der Handlung ist eine fiktive Kreisstadt in Bayern, in Alpennähe malerisch an einem See gelegen. Mit dem Zug kehrt der erfolgreiche junge Fernsehjournalist Asger Weidenfeldt aus Berlin zu seiner Mutter Clara zurück, die dort eine pompöse Villa mit eigenem Seezugang besitzt. Als einst gefeierte Filmdiva hat sie sich in ihr Refugium zurückgezogen, und auch für ihren versnobten Sohn ist dies ein Rückzug aus dem Beruf, den er trotz aller Erfolge für sich als zunehmend sinnlos empfindet. Sie haben beide auf Abstand gelebt in den letzten Jahren und fremdeln regelrecht, jeder lebt für sich in der alten Villa. Der Bürgermeister des Ortes steht mit der exzentrischen Diva auf gutem Fuß, beide profitieren voneinander, mehr ist da nicht, obwohl die Leute es glauben. Und so hilft er ihr auch bereitwillig, das zu Ehren ihres Sohnes geplante, große Fest mit den Freunden und Begleitern von einst zu organisieren. Asger ist entsetzt über die illustren Gäste, die als Prominente aus allen Bereichen von Kunst und Kultur stammen und ihn genau so anwidern wie der abgeschmackte Medienbetrieb in der Hauptstadt, vor dem er geflohen ist. Durch ein plötzlich hereinbrechendes Unwetter werden die Disharmonien unter den fragwürdigen Gästen symbolisch überformt, das rauschende Fest endet im Chaos.

Asger nimmt zuallererst Kontakt zu seinem ehemals besten Freund auf, der Leiter des Stadtarchivs geworden ist und nun ein bürgerliches Leben mit Frau und Kindern führt. Beide waren in der Schule besonders bei ihrem inzwischen pensionierten Deutschlehrer für ihre intellektuell beachtlichen, kritischen Beiträge im Unterricht beliebt. Mit der unehelichen Tochter der Sekretärin im Bürgermeisteramt führt der Autor eine weitere Figur ein, die in die Fußstapfen der Diva tritt und eine raketenartige Karriere als TV-Serienstar hinlegt. Der junge neue Pfarrer erweist sich als eifriger Disputant für seine Sache und bleibt in lebhaften Diskussionen mit dem Deutschlehrer, dem Archivar und Asger auf keinen ketzerischen Anwurf eine Antwort schuldig. Der Roman lebt von den philosophischen Disputen ebenso wie von den kontemplativen inneren Monologen seiner diversen Figuren. Jede von ihnen ist auf ihre Weise auf der Sinnsuche, versucht auszubrechen aus den eingefahrenen Wegen, hadert mit den anbrechenden neuen Zeiten und den veränderten Realitäten, die nichts Gutes zu bringen scheinen.

Dieses breit angelegte Panorama der deutschen Gesellschaft wird von den vielen Figuren getragen, deren Rede oft durch den auktorialen Erzähler ergänzt wird. Allzu offensichtlich dienen ihm seine Figuren zur Verkündung eigener Thesen, den handelnden Personen unterlegt er seinen eigenen Duktus in den heftig geführten Debatten. Neben den im Mittelpunkt stehenden künstlerischen und kulturellen Fehlentwicklungen werden auch der ausufernde Konsumterror und die Umwelt-Zerstörung mit allen ihren Folgen thematisiert. Und dazu gehört natürlich auch die Klimakatastrophe, die in den Roman als so noch nie dagewesenes Hochwasser eingebaut ist. Diese radikale Zeitdiagnose ist in einem wortgewaltigen, messerscharf formulierten Stil geschrieben, dessen Prägnanz Satz für Satz wie in Stein gemeißelt erscheint. Auch die Figurenzeichnung ist stimmig, nur der Held, Asger, bleibt relativ farblos in seinem kultur-pessimistischen Selbstmitleid. Und in der Sache kann man den vielen Thesen im Buch ebenso viele Einwände entgegenhalten, – man würde jedenfalls gern mitdiskutieren!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Einfach abnehmen mit den genialen 0-Punkte-Lebensmitteln

Einfach abnehmen mit den genialen 0-Punkte Lebensmitteln0-Punkte-Lebensmittel, langfristige Ernährungsumstellung, Bewegung

Im Prinzip sagt Autorin Simone Fischer einem nichts Neues, belegt dies aber gut verständlich mit Beispielen: Gesunde Ernährung erhöht nicht nur die Gesundheit, sondern hilft auch beim Abnehmen. Deshalb wirbt sie für eine langfristige Ernährungsumstellung und gibt Hilfen an die Hand, wie man mit viel Gemüse (denn v.a. die meisten Gemüsesorten sind ideale 0-Punkte-Lebensmittel) und anderen gesunden Lebensmitteln mithilfe von täglichen Haupt- und Zwischenmahlzeiten ohne Heißhunger über die Runden kommt.

Aber zunächst einmal zu den 0-Punkte-Lebensmitteln selbst. Die Autorin versteht darunter ohne Kalorienzählen oder sonstige Diäten eine Ernährung mit Gemüse, Obst, Eiern, Geflügelfleisch, Fisch und fettarmen Milchprodukten. Dazu zählen auch gute Kohlenhydrate in Form von Vollkornprodukten und gesunde Fette, die zur Aufnahme von Vitaminen unentbehrlich sind. Sie empfiehlt zwei Portionen Obst am Tag (nicht mehr, weil Fructose sonst in Fett umgewandelt wird, die Fettverbrennung hemmt und das Sättigungsgefühl blockieren kann), so viel Gemüse, wie man nur essen kann und will (es steckt voller Vitamine, guter Kohlenhydrate, Eiweiß und Mineralstoffe, hat Ballaststoffe und ist kalorienarm – außer Kartoffeln), beliebigen Mengen Geflügelfleisch ohne Haut sowie Eier, mageres Rind-, Kalb- und Schweinefleisch ab und zu, Fisch und Meeresfrüchte in großer Vielfalt und fettarme Milchprodukte. Auch Pflanzenmilch und deren Produkte in ungesüßter Form, sowie Tofu sind erlaubt. An Süßungsmitteln empfiehlt sie Erythrit als gesunde, nahezu kalorienfreie Alternative und Flavour Drops. Außerdem rät sie dazu, viel Wasser zu trinken, auch aromatisiertes Wasser oder ungesüßten Tee, und Sport zu treiben, weil auch Muskelmasse mehr Energie verbraucht. Das fängt im Alltag mit mehr Bewegung an und endet mit einer Sportart, mit der man sich gut arrangieren kann (sie nennt als Beispiele Heimtrainer, Trampolin, Zumba, Joggen, Radfahren).

Zur gesunden Lebensweise kann man sich motivieren, z.B. mit Belohnungen für jedes (auch kleine) erreichte Ziel bzw. Zwischenziel. Das Ziel bzw. die Ziele soll(en) dabei realistisch sein. Ein realistisches und gesundes Ziel wäre z.B., wenn man pro Woche 300-500 g abnimmt. Dazu gehört auch das wöchentliche, nicht tägliche Wiegen zur selben Zeit. Um das Essen zu genießen, rät sie, sich Zeit für die einzelnen Mahlzeiten zu nehmen und jeden Bissen gut zu kauen. Außerdem rät sie, nur satt einkaufen zu gehen und nur das zu kaufen, was auf dem Einkaufszettel steht. Es sind also ganz lebenspraktische Tipps, die sich gut umsetzen lassen. Zur Hilfe hat sie Wochenpläne für die Mahlzeiten beigegeben. Das alles lässt sich gut umsetzen, wenn man Zeit hat. Wenn diese fehlt, wird es allerdings mit der Ernährungsumstellung schwierig, v.a. wenn man z.B. auf Mahlzeiten in der Kantine oder Schulessen aus Zeitmangel angewiesen ist.

Der angegliederte Rezepteteil unterteilt sich in die Kategorien Frühstück, Suppen, Salate, Gemüsegerichte, Geflügel/Fleisch/Fisch, Snacks für zwischendurch, Desserts und Gebäck und Getränke. Es ist also für so ziemlich jeden Geschmack etwas dabei. Die Rezepte sind auf 2 Portionen ausgelegt, oft mit informativen Tipps versehen und sind relativ schnell nachzukochen. Die Rezepte selbst sind vom Zutaten- und Zubereitungsteil her überschaubar. In den allermeisten Fällen sind es Zutaten, die man im Supermarkt unkompliziert kaufen kann. Die Rezepte sehen von den Fotos her lecker aus und für meinen Geschmack sind sie es auch. Außerdem sättigen sie mich. Dem Rezepteteil angeschlossen ist eine Rezepteübersicht mit Fotos und Seitenangabe zur schnelleren Auffindbarkeit eines Rezeptes.

Fazit

Alles in allem also ein gelungenes, gut verständliches Buch über eine gesunde Art und Weise abzunehmen mit leckeren Rezepten.


Illustrated by Weltbild

All Our Hidden Gifts

all our hidden giftsMaeve Chambers hat im Gegensatz zu ihrer intelligenten Familie keine besonderen Talente. Als sie aber eines Tages in ihrer Schule ein altes Tarot-Kartenset findet, ändert sich ihre Situation grundlegend: Sie kann ihren Mitschülerinnen genau ihre Situation beschreiben und exakte Voraussagen treffen. Die Kartensessions bei ihr sind sehr beliebt – bis sie mit ihrer ehemaligen besten Freundin Lily in Streit gerät und Lily daraufhin spurlos verschwindet. Lilys nichtbinärer Bruder Roe, der wegen Maeves schlechtem Verhalten Lily gegenüber ihr erst einmal skeptisch gegenübersteht, nährt sich ihr aber im Laufe der Zeit. Es entsteht eine nicht unkomplizierte Beziehung zwischen den beiden, in der sie über ihre Gefühle zueinander klar werden müssen. Und beide wollen Lily wiederfinden. Unterstützt werden sie von Maeves neuer Freundin Fiona, die durch ihre asiatische Herkunft Vorurteilen ausgesetzt ist. Sie finden Hilfe in einem esoterischen Laden, dessen Besitzerin Maeve das zweite Gesicht und damit paranormale Fähigkeiten bescheinigt. Die braucht sie auch im Kampf gegen die erzkonservativen Kinder Brigids und deren Anführer Aaron und gegen die Mamsell, eine Macht, die sich aus den Gedanken der Menschen materialisiert hat.

 

Gegen den Strom schwimmen und das Verschwinden als Metapher für den Wunsch einer Mainstreamgesellschaft, nicht-konforme Menschen auszugrenzen, zu bekämpfen und unsichtbar zu machen

 

Der in sich abgeschlossene Roman spricht mehrere nicht-konforme, dem Mainstream entgegenstehende Themen an: Das Leistungsprinzip, vertreten durch die Familie Maeves, die intelligent ist und „es zu etwas gebracht“ hat (wobei Maeve entgegen eines Schwarz-Weiß-Denkens von ihrer Familie nicht unter Druck gesetzt wird). Maeve als ein Mädchen ohne gewinnbringende Talente und mit bescheidenen Noten scheidet aus dieser Leistungsgesellschaft aus. Sie entspricht also in dieser Hinsicht nicht dem Mainstream. Ihre Gabe des zweiten Gesichts wird allerdings unter dem Aspekt des Gewinnstrebens in Form von bezahlten Tarot-Sessions mit ihren Mitschülerinnen von diesen akzeptiert, da die Trefferquote Maeves sehr hoch ist. Mitthematisiert wird außerdem das Ausgrenzen und das (ungewollte) Außenseitertum Maeves und ihrer ehemaligen Freundin Lily. Auch Lily ist nicht gesellschaftskonform und macht deswegen wie Maeve immer wieder bittere Erfahrungen. Maeve will aus diesem Außenseiterstatus raus und entscheidet sich (mit den entsprechenden Konsequenzen) gegen ihre beste Freundin Lily und für zwei Mädchen, die sie letztlich zwar nicht leiden kann, die aber in der Klasse einen höheren Status als sie besitzen. Maeve hofft dadurch in der Hierarchie aufzusteigen, was aber letztlich misslingt. So wird indirekt auch das Hierarchiedenken infrage gestellt und kritisiert, weil es einem guten gesellschaftlichen Klima nicht nützt.

Lilys Bruder Roe ist nichtbinär, lässt sich also keinem Geschlecht zuordnen. Damit steht er ebenfalls außerhalb der Gesellschaft und macht schlechte Erfahrungen durch Repressalien. Die konforme Gesellschaft wird durch die Kinder Brigids in ihrer Extremform vertreten. Sie wollen „Normalität“ unter dem Deckmantel der Religion und greifen die queere Bewegung an. Zuspruch erhalten sie von der Gesellschaft, die im Buch in Form eines Radioreporters, der sich vom Charisma des Anführers der Kinder Brigids einlullen lässt, vertreten wird, aber auch von Roes Eltern, die nicht unbedingt glücklich mit gleich zwei nonkonformen Kindern sind. Aber auch diese Eltern werden nicht schwarz-weiß gezeichnet: Sie machen sich Sorgen um ihre Kinder und lieben sie, anstatt sich von ihnen abzuwenden. Aber selbst die Kinder Brigids sind nicht „normal“: Ihr Anführer Aaron hat wie Maeve das zweite Gesicht – nutzt dieses aber, um andere für seine eigenen Zwecke in Guru- und Sekten-Manier zu manipulieren und auszunutzen.

Fiona hat als Migrantin in zweiter Generation ebenfalls mit Vorurteilen zu kämpfen, die im Buch immer mal wieder angesprochen werden. Alle Hauptpersonen sind also nach eindimensionalen Maßstäben „nicht normal“, finden aber trotzdem einen Weg, in der Gesellschaft zu bestehen. Dieser Weg besteht hier v.a. darin, die Unterschiedlichkeit der anderen anzuerkennen, zu akzeptieren und sich in aller akzeptierten Unterschiedlichkeit zusammenzutun, um etwas gegen Unrecht bewirken zu können. Dabei braucht man sich nur einmal die Natur selbst anzuschauen: Diversität/Artenvielfalt und deren Vernetzung scheint ein grundlegendes Prinzip der Natur zu sein, um Leben zu sichern. Der Weg besteht aber auch darin, die Gegenseite kennenzulernen, um sie besser einschätzen zu können. Parallelen zur irischen Geschichte (die Story spielt in Irland) sind sichtbar. Insgesamt wird aber auch eine gesellschaftliche Haltung hinterfragt, die von Normen und deren starrer Einhaltung ausgeht und die alles, was anders ist, verunglimpft und bekämpft.  Negative Vorstellungen über Kirche und gewisse Parteien drängen sich geradezu auf.

Auch der Titel „All unsere versteckten Gaben“ passt sehr gut zu der erzählten Story. Es müssen nicht immer nur die offiziellen erwünschten Gaben sein, die eine Gesellschaft lebenswert machen. Oft sind es die verschleierten Gaben, die man aufgrund des Unerwünschtseins evtl. selbst erst einmal gar nicht herausfindet, die eine Gesellschaft reich(haltiger) machen.

Verpackt werden all diese Thematiken in eine spannende Story über das Verschwinden eines Mädchens und der Suche nach ihm, mit dem durchgängigen Touch des Mysteriösen und der Anspielung darauf, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als offiziell anerkannt wird. Auch die Selbstfindung ist unter den dargestellten schwierigen Umständen ein zentrales Thema dieses Buches.

Sehr empfehlenswert!


Genre: Jugendbuch
Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

Flughafenfische

Von Fischen und Menschen

Der zweite Roman von Angelika Overath trägt den rätselhaften Titel «Flughafenfische». Das Rätsel klärt sich bereits auf der ersten Seite, denn die titelgebenden Fische leben in einem riesigen Aquarium in der Transithalle eines nicht benannten internationalen Flughafens. In einem kammerspielartigen Setting lässt die Autorin im Gewimmel der Reisenden dort drei Menschen auftreten, deren Leben nicht unterschiedlicher sein könnte. Das verbindende Element dieser solitären Romanfiguren ist ihre inmitten der Menschenmassen irreal wirkende, ganz individuelle Einsamkeit.

Da ist zunächst Tobias, der nie verreist, Hüter eines künstlich angelegten Korallenriffs, das mit seinen zwanzig Kubikmetern Wasser wie ein dekorativer Raumteiler eine in den südlichen Ozeanen beheimatete Tier- und Pflanzenwelt beherbergt. Übermüdet von einem strapaziösen Langstreckenflug wartet Elis in diesem Transitbereich auf ihren verspäteten Anschlussflug. Sie ist eine erfolgreiche Fotografin, die rund um den Erdball jettet, mit den unterschiedlichsten Aufträgen für Artikel in angesagten Hochglanz-Magazinen. In ihrem Kopf wirbeln verschiedene Reisebilder aus Afrika und Asien schlaglichtartig durcheinander. Sie ist verblüfft, als sie plötzlich im lauten Trubel des Airports das Ruhe ausstrahlende Aquarium mit seinen stummen Bewohnern sieht. Fasziniert bleibt sie stehen, um durch die Scheiben dem munteren Treiben der bunten, exotischen Lebewesen eines Riffs zuzusehen. Ebenfalls durch Fenster abgetrennt sitzt in der Nähe im Raucherfoyer ein hoch angesehener, namenlos bleibender  Professor der Biochemie, der als Vielflieger von Kongress zu Kongress eilt. Gerade eben hat er eine SMS von seiner Frau erhalten, die ihm nach dreißig Ehejahren überraschend mitteilt, dass sie sich ab sofort von ihm getrennt hat. Zigaretten rauchend grübelt er nun über seine Versäumnisse nach, lässt sein vollständig der Karriere gewidmetes Leben selbstkritisch Revue passieren.

Neben diesen beiden rastlosen Globetrottern stellt Tobias den Gegenentwurf des bodenständigen Mannes dar, der die Erfüllung seines Lebens ausschließlich in der liebevollen Betreuung der ihm anvertrauten Aquariums-Bewohner findet. Als Elis ihn anspricht, erzählt er ihr bereitwillig vom schwierigen Aufbau des künstlichen Riffs, das nur unter ganz bestimmten Bedingungen existieren kann. Es habe mehr als ein Jahr gedauert, bis all die diffizilen Parameter der chemischen Zusammensetzung des Wassers, seiner Temperatur und der erforderlichen Strömungs-Verhältnisse penibel justiert waren. Und auch die fragile Lebensgemeinschaft von Fischen, Krebsen, Muscheln, Anemonen, Schwämmen, Algen sowie der zugehörigen Unterwasser-Flora stellt ein hochkompliziertes System dar, in dem es für einzelne Spezies immer wieder mal zu Rückschlägen kommt.

Der ansonsten dialogfreie Roman aus dem Airport-Kosmos bleibt auch hier völlig unpersönlich, die Zwei am Aquarium kommen sich nicht wirklich näher, sie bleiben sich als Zufalls-Bekanntschaft letztendlich Fremde. Angelika Overaths in 18 Kapiteln erzählte, klug durchdachte Geschichte lebt von der bewundernswerten Beschreibungskunst seiner Autorin, die zuweilen sogar poetische Züge annimmt. In parataktischer Form beschreibt sie kenntnisreich und anschaulich eine nur Wenigen zugängliche, aquatische Welt, die inmitten des umweltfeindlichen Flugwahns wie ein, allerdings unbeachtet bleibendes, Mahnmal wirkt. Ihre immer wieder auf die Unterwasserwelt bezogene Metaphorik erscheint mit der Zeit allerdings etwas aufdringlich. Die nur als «Raucher» bezeichnete, als einzige in Ich-Form sinnierende Figur des Professors wirkt zudem deplaziert, seine Ehe-Thematik stellt keine gelungene, plausible Ergänzung dar. Und Tobias und Elis reden nicht wirklich miteinander, sie tauschen lediglich wechselseitig Monologe aus. Thematik und Impetus dieses Romans verblassen in Anbetracht der stilistischen Erzählkunst seiner Autorin, die hier als ‹L’art pour l’art› nutzlos verschwendet wird. Schade!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by btb München

Adam und Evelyn

Von einem Paradies ins andere

Ingo Schulze hat mit seinem Roman «Adam und Evelyn» einen Wende-Roman geschrieben, der die Zeit vor und nach dem Mauerfall aus östlicher Sicht thematisiert. Das Buch wurde 2008 für den Frankfurter Buchpreis nominiert und zehn Jahre später verfilmt. Erzählt wird die Geschichte eines Liebespaares in der DDR, wobei sich der Autor, wie zuvor schon in anderen seiner Werke, auch hier wieder als Spezialist für die Befindlichkeiten der Deutschen hinter Mauer und Stacheldraht erweist. Denn das junge Paar lebt wahrlich nicht im Paradies, auch wenn ihre biblischen Namen das suggerieren.

Der Held mit Spitznamen Adam, seines markanten Adamapfels wegen, ist ein 32jähriger, von den Frauen verehrter Damenschneider, dessen Künste in dem von trister Mode in schlechter Qualität geprägten DDR-Bekleidungsangebot sehr gefragt sind. Die zehn Jahre jüngere Evelyn durfte nach dem Abitur im Arbeiter- und Bauernparadies nicht ihr gewünschtes Studium antreten und arbeitet frustriert als Bedienung. Kurz vor der geplanten gemeinsamen Urlaubsreise an den Balaton im August 1989 ertappt sie ihn nach einer Anprobe in flagranti beim Sex mit einer drallen Kundin. Erbost fährt sie mit ihrer fluchtwilligen Freundin und deren Cousin aus dem Westen allein nach Ungarn. Adam folgt ihnen reumütig mit seinem uralten, liebevoll gepflegten Wartburg, den er ‹Heinrich nennt›. Er ist ein phlegmatischer Gemütsmensch, der sich pudelwohl fühlt im ererbten Haus mit dem Garten drum herum und nichts vermisst im sozialistischen Deutschland. Er lebt zufrieden vor sich hin, ist immer gut drauf, und wenn es mal wieder an irgendetwas mangelt, nützt er seine guten Kontakte zu solidarischen Helfern.

Im Stil einer Roadnovel erzählt Ingo Schulze von den Liebeswirren des ungleichen Paares, das über verschiedene Zwischenstationen und mit mancherlei Pannen schließlich am Plattensee eintrifft. Evelyn und der Cousin der Freundin beginnen ein Techtelmechtel, er will sie zu sich nach Hamburg mitnehmen, in den Westen, der für sie ein Paradies darstellt, in dem fast alles möglich zu sein scheint. Adam hat unterwegs Katja aufgegabelt, die auf der Flucht in den Westen gescheitert ist und beinahe in der Donau ertrunken wäre. Sie hat dabei alles verloren, er hilft ihr selbstlos als unfreiwilliger Fluchthelfer und nimmt sie vorerst mal mit nach Ungarn. Im Grunde passiert nichts Dramatisches in dieser Erzählung von unpolitischen kleinen Leuten, die hier das Figuren-Ensemble bilden. Sie sind keine Revoluzzer und erleben lediglich die Auswirkungen der politischen Veränderungen auf ihre private Situation. Der auktoriale Erzähler entwickelt seinen rasant vorangetriebene Plot weitgehend in dialogischer Form. Die Gespräche und Diskussionen seiner Figuren sind in ihrer Banalität schon fast peinlich, wirken gerade dadurch aber authentisch. Die große Politik bleibt völlig ausgeblendet, allerdings bindet er auch Kontemplatives mit ein bis hin zur Religion. Adam liest aus Langeweile erstmals die Bibel und ist erstaunt über deren intellektuelle Zumutungen.

Das Paar wird überrascht von den Nachrichten aus der deutschen Botschaft in Budapest und nutzt die Lockerungen der Grenzkontrollen zur Flucht nach Bayern. Als am neunten November die Mauer durch die denkwürdige ‹Revolution von unten› fällt, sind sie schon eine ganze Weile dabei, sich im vermeintlichen westlichen Paradies zurechtzufinden. Während Evelyn problemlos ihr Wunschstudium aufgenommen hat, ist für Adams Schneiderkünste kein Bedarf, hier kauft man die industriell hergestellten Kleider ‹von der Stange›. Alle Figuren sind stimmig beschrieben, wobei insbesondere Adam als stets freundlicher, genügsamer Ossi sehr sympathisch wirkt. Orientierungslos müssen die Beiden ihr Leben ganz neu aufbauen, was besonders Adam schwer fällt, «Der läuft hier rum wie Falschgeld» klagt Evelyn. Das Besondere jedoch ist die private Perspektive, aus der hier fast beiläufig über eine Glückssuche erzählt wird, von einem Paradies ins andere.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Berlin Verlag Berlin