Verrat, Hierarchien, Durchbrechen alter Strukturen
“Stur, die junge Hexe aus der Krähen-Kaste, kennt nur ein Gesetz: Beschütze die deinen! Denn von den übrigen Kasten im Königreich werden die Krähen geschmäht. Dabei versorgen sie Sterbende und Tote, ein wichtiger Dienst in einem Land, in dem seit Generationen die Sündenseuche wütet.
Als Sturs Krähen-Rotte für eine Bestattung zum Palast gerufen wird, geschieht Unerwartetes: Der angeblich tote Kronprinz verlangt ihre Hilfe! Um eine Intrige zu verhindern, müssen er und sein Leibwächter heimlich Verbündete treffen – unter Sturs Obhut. Aber kann sie dem Prinzen und seinem besten Freund wirklich trauen?” (Inhaltsangabe des Verlags)
Kastensystem, Monarchie, Einforderung von Rechten und Wertschätzung
Wie bei Fantasy-Romanen meist der Fall, ist auch hier die Monarchie als Herrschaftssystem eine gute Ausgangsbasis, um Spannung durch systembedingte Probleme aufzubauen. Verschärft werden diese Probleme noch durch das Kastensystem, das – wie das reale indische – in seiner Undurchlässigkeit Ungerechtigkeiten zementiert.
Die Autorin wendet hier einen Kniff an: Sie macht die unterste, rechtlose Kaste zum Hauptakteur der Handlung und hier wiederum eine Frau (die Frau ist hier nicht das Opfer, sondern die Akteurin – auch eher in von Frauen geschriebener Fantasy anzutreffen). Das garantiert ein Maximum an Spannung, denn Veränderung von unten ist immer schwierig und damit eine dankbare Ausgangsbasis für eine gelungene Geschichte.
Sie stellt außerdem die Stärke der Frau in dieser untersten und rechtlosen Schicht heraus. Die Frau ist es, die letztlich die Veränderung einleitet und am Laufen hält. Das erinnert sehr an die Realität, in der Frauen die existentielle Basis am Laufen halten, aber mitnichten die (auch finanzielle) Wertschätzung erhalten, die sie eigentlich notwendig und gerechterweise dafür verdient hätten. Wie im realen Leben müssen die Entrechteten selbst für ihr Recht sorgen.
Stur fordert diese Wertschätzung ein, schlägt das Maximum an Bezahlung heraus und weist immer wieder auf ihren eigenen Wert und den ihrer Kaste hin. Damit weist die Autorin indirekt einen Lösungsweg auch für die Realität auf: Frauen müssen immer wieder auf ihren eigenen Wert hinweisen, diesen vehement einfordern und – nicht zuletzt – das Maximum an finanzieller Entlohnung ihrer Leistungen fordern und für dessen Einhaltung kämpfen.
Schlimm genug, dass das überhaupt notwendig ist. Aber da dürfen sie sich ruhig am Mann orientieren, der sich selbst wie selbstverständlich wertschätzt (dabei spielt keine Rolle, ob er diese Wertschätzung tatsächlich verdient hat), das auch immer wieder lautstark kommuniziert und seinen Wert definitiv nicht unter den Scheffel stellt. Schon gar nicht finanziell.
Frauen sind auch da leider immer noch zu leise (systembedingt: eine Frau ist immer noch die bessere, weil besser kontrollierbare Frau, wenn sie wenig bis kein Selbstbewusstsein hat) und halten ihre Leistungen (siehe Dreifachbelastung Haushalt, Kind, Arbeit – in der Pandemie mehr denn je) für selbstverständlich, obwohl sie es nicht sind.
Stur zeigt, dass man nur dann gehört wird, wenn man lautstark, mit Druck (sie erpresst die Königskaste) und nachhaltig, sowie hartnäckig und nachdrücklich den Mund aufmacht. Veränderung kommt nicht von oben, sie kommt von unten. Die Oberen wollen natürlich nicht, dass sich etwas ändert, denn dann gehen ihre Privilegien verloren. Im Fall von Stur ermöglicht die Frau durch die Abhängigkeit des Prinzen von ihrer Kaste Zugeständnisse und wirkt an forderster Front und mit Einsatz ihres Lebens mit, dass diese erfüllt werden.
Mythen und Seuche
Die Autorin nimmt Mythen auf und verarbeitet sie. Zunächst zu den Protagonisten, den Krähen. Die Krähen im Roman stellen die unterste Kaste dar, die im Gegensatz zu den anderen Kasten keinerlei Rechte haben und vogelfrei sind. Außerdem besitzen sie im Gegensatz zu allen anderen keine angeborenen Zauberkräfte, ausgenommen die Hexen der Krähen. Sie benennnen sich mit Schimpfnamen, haben wie Landstreicher kein eigenes Zuhause und sind zuständig für die im Reich am niedrigsten angesehene Arbeit: die Betreuung der Sterbenden und Toten. Sie leisten, weil sie immun gegen die Seuche sind, tatsächlich aber die existentielle Arbeit im wahrsten Sinn des Wortes, denn kommen die Krähen nicht, dann sterben die Menschen dorf-, städte- und landstrichweise. Die Krähen haben ihre eigenen Traditionen und Sagen, für die sich die anderen Kasten allerdings nicht interessieren, weil sie die Krähen nicht als Menschen betrachten. Da sie vogelfrei sind, werden sie von einer Ku-Klux-ähnlichen Organisation systematisch gejagt und getötet. All das will Stur nicht nur für ihre eigene Krähen-Rotte ändern.
Wie die Krähen im Roman wird der Krähe als Vogel eine Neigung zum Diebstahl nachgesagt. Sie steht mythisch auch mit dem Tod in Verbindung. Feen sollen sich in der keltischen Mythologie in Krähen verwandeln, um Botschaften aus der Anderswelt zu überbringen. Die Unterwelt- und Kriegsgöttin Morrigan tauchte oft in Gestalt einer Krähe am Schlachtfeld auf, um die Seelen der Verstorbenen zu sich zu holen. Damit setzen auch die Figuren in diesem Roman Krähen v.a. mit negativen Eigenschaften in Bezug. Man sagt den Tieren aber auch nach, dass die am Wegrand sitzenden Vögel prüfen, wie mutig die Helden sind, die vorbeigehen. Stur prüft die Gesinnung und den Mut des Prinzen und seines Lebwächters immer wieder. Sie sollen auch hellserherische und schicksalhafte Kräfte haben und mit den Nornen die Schicksalsfäden weben. Stur nutzt die Zähne und Knochen der anderen Kasten, um deren Zauberkräfte anzuzapfen und sie für ihre Kaste zu nutzen. Außerdem ist sie dabei, das Schicksal der Krähen, aber auch das der anderen Kasten grundlegend zu ändern. Dazu passt, dass die Krähe einen zentralen Status in Bezug auf Transformation und Veränderung hat. Dabei ändert Stur nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst. Krähen als Tiere sind sehr anpassungsfähig. Auch das trifft auf diese Kaste zu. Die Krähen im Roman müssen anpassungs-und widerstandsfähig sein, um zu überleben. Das macht hartgesottene Menschen aus ihnen, die mit allem, was das Leben ihnen zumutet, zurecht kommen. Die Krähe lüftet Geheimnisse und durchschaut Geheimniskrämerei. Stur ist dabei, die Machenschaften der herrschenden Kasten aufzudecken und zu durchkreuzen. Die Krähe gilt als Hüterin der heiligen Gesetze. Stur und die Krähen hüten die mythischen Schätze ihrer Kaste. Als Indianerstamm gibt es den Stamm der Absarokee (veraltet: Crow), die einer der bedeutensten Stämme der norwestlichen Plains waren. Die Krähen im Roman sind wichtig, aber ihre Bedeutung wird von den anderen Kasten marginalisiert und abgewertet. Perchta, die Vogel- oder Steinfrau, die mit großer Nase dargestellt wird (Hinweis auf einen Vogelschnabel), steht für die klare Sicht der Dinge und Wahrheit. Beides nennt Stur ihr eigen und trifft mit ihren Aussagen den Nagel auf den Kopf.
Die Hexe galt in der christlichen Vergangenheit als böse, alte Frau mit magischen Kräften, die sie zum Schaden anderer nutzte. Lüftet man den Schleier der christlichen Dämonisierung des sogenannten Aberglaubens, kommt eine kraftvolle, weise, alte Frau zum Vorschein, die mit ihrem Wissen über Kräuter und der Magie der Göttinnen Menschen hilfreich zur Seite stand. Der Kessel und der Mörser, sowohl Gegenstände der alten Frau im Alltag als auch Göttinnensymbole, wurden durch das Christentum verunglimpft. Sie dienten dazu, Essen zu kochen und Heiltränke herzustellen. Der Besen, mit dem die alte Frau ihr Heim auskehrt und reinigt (und der damit auch im spirituellen Sinn Reinigungsfunktion hat), wurde ebenfalls dämonisiert. Die Katze ist eines der heiligen Tiere der Göttin, z.B. Begleiterin der Freya, und wurde zusammen mit den anderen heiligen Göttinnensymbolen verdammt. Stur wird sich ihrer magischen Fähigkeiten bewusst und nutzt sie wie eine weise Greisin, die sich vor nichts und niemandem mehr rechtfertigen und sich nichts mehr gefallen lassen muss. Auch Stur ist, wie die weise Alte, verschroben und tut im Ernstfall, was getan werden muss. Das heißt in ihrem Fall, dass sie als barmherzige Krähe auch Leben nimmt.
Ana, die Knochenfrau, ist die Todesgöttin. Sie ist weiß wie die ausgebleichten Knochen. Wie die Knochen ihres Fleisches entledigt sind, enthüllt Ana den Kern der Dinge. Stur nutzt die Knochen der Lebenden und Toten der anderen Kasten, um ihre Magie zu wirken, und ihre Scharfsicht, um die Wahrheit in einer intriganten und den Krähen feindlich gesonnenen Welt von allem Schleier zu entkleiden.
Spannend wäre auch, die anderen Kasten auf ihre mythologischen Ursprünge zu untersuchen, würde hier aber zu weit führen.
Durch die im Buch beschriebene Seuche ist auch die Aktualität (Corona) gegeben. Und wie im Buch sind es die Pflegekräfte, die eine wichtige Basisarbeit leisten, die dafür aber nicht wertgeschätzt werden (schon gar nicht finanziell). Und wie sollte es anders sein: Der Großteil der Pflegekräfte ist weiblich.
Fazit
Das Buch ist spannend geschrieben und präsentiert – wohl auch, weil eine weibliche Autorin die Urheberin ist – keine in der passiven Opferrolle gefangene, schwache Frau, sondern eine, die weder hübsch sein, noch Männern in irgendeiner Art und Weise gefällig sein und gefallen muss. Stur ist, wie ihr Schimpfname sagt, willensstark, verschroben, scharfsichtig, klug, mutig, gerissen, stahlhart, widerspenstig, kann auf sich selbst und andere aufpassen und tut, was getan werden muss. Damit spiegelt sie reale Frauen wider, die sich in einer sie dikriminierenden Welt diamantene Eigenschaften erwerben mussten, um zu überleben. Denn auch heute noch werden diese diamantenen Eigenschaften mitnichten geschätzt, aber kräftig ausgenutzt. Wird sich die Frau dieser diamantenen Eigenschaften bewusst, wird sie so selbst-bewusst und brandgefährlich wie Stur in diesem Roman. Auch andere Frauen, wie die Tante des Prinzen, werden in mehrerer Hinsicht als starke Menschen dargestellt.
Die Mythologie stützt die Aussagen des Buches und verleiht ihnen Tiefe. Sie stützt auch und gerade die Rolle der Frau als starker, unabhängiger Mensch, der sich von nichts und niemanden in die Knie zwingen lassen muss.
Gern mehr davon!