Schiffbruch mit Tiger

Literarischer Schiffbruch

Der kanadische Schriftsteller Yann Martel hat mit seinem Roman «Schiffbruch mit Tiger» 2002 den Durchbruch geschafft, das Buch wurde  mit dem Booker Prize ausgezeichnet. In einer selbst-ironischen, klammerartigen Vorgeschichte erklärt er zunächst, wie er durch den Tipp eines alten Mannes zu seinem Stoff gekommen sei und den «Helden der Geschichte» dann auch leibhaftig getroffen habe. «Ich fand es nahe liegend, dass Mr Patel sie in der Ichform erzählt». Das deutsche Feuilleton war allerdings wenig begeistert und bemängelte verärgert «Spielzeugton» und «plumpe Komik», sprach gar von «literarischem Schiffbruch»! Ja wie denn nun?

Piscine Molitor Patel, genannt Pi, Sohn eines indischen Zoodirektors, überlebt als einziger den Schiffbruch des Frachters, mit dem der väterliche Zoo nach Kanada umgesiedelt werden soll. Außer ihm befinden sich ein Tiger, eine Tüpfelhyäne, ein Orang-Utan und ein Zebra auf dem einzigen Rettungsboot, das zu Wasser gelassen werden konnte. Durch einen Irrtum des Zollbeamten wurde der im Ausland gekaufte, bengalische Tiger auf den Namen ‹Richard Parker› getauft, der sechzehnjährige Pi kennt ihn schon lange. In dem sofort ausbrechenden Überlebenskampf ist das Zebra das erste Opfer, es wird von der Hyäne gefressen, anschließend wird der Orang-Utan ihre Beute. Als der unter die Persenning des Bootes gekrochene, seekranke Tiger schließlich hervorkommt, frisst er die Hyäne. Als Nächster wäre Pi an der Reihe, aber in seiner Not kommt er auf die rettende Idee, aus den vorhandenen Rettungswesten und Rudern ein Floß für sich zu bauen. Das schwimmt nun, an einem langen Tau befestigt, dem Boot hinterher und dient dabei auch noch als Schwimmanker, was bei hohem Wellengang ein Kentern des Rettungsbootes verhindern hilft, indem es dessen Bug in die Wellen dreht. Durch seine Erfahrung mit Tieren gelingt es ihm sogar, sich ‹Richard Parker› vom Leibe zu halten, indem er dessen Seekrankheit ausnutzend das Boot heftig ins Schlingern bringt und gleichzeitig in eine schrille Signalpfeife bläst. Beides verbindet sich für das Raubtier zu einer äußerst unangenehmen Erfahrung, und schon bald reagiert der Tiger nur noch auf das Pfeifen und zieht sich unter seine Persenning zurück. Durch das Markieren mit seinem Urin als eigene Reviergrenze und regelmäßiges Füttern mit selbstgefangenen Fischen gelingt es Pi, den Tiger auf Abstand zu halten.

Die immer abenteuerlicher werdende Geschichte beginnt allmählich märchenhafte Züge anzunehmen. Deren Höhepunkt bildet nach vielen Monaten auf See eine von Erdmännchen besiedelte, schwimmende Algeninsel mit fleischfressenden Bäumen, die da plötzlich auftaucht. Auf ihr bringen Süßwasserseen wundersamerweise tote Fische hervor, die den Erdmännchen als Nahrung dienen, und sie selbst wiederum sind für ‹Richard Parker› ein gefundenes Fressen. Im letzten Kapitel der dreiteiligen Geschichte schildert der Autor einen Besuch japanischer Ermittlungs-Beamter, die den nach seiner Rettung in einem mexikanischen Krankenhaus liegenden Piscine Molitor Patel über die unglaubwürdigen Umstände seiner robinson-artigen, 227tägigen Odyssee befragen. Vor allem aber interessieren sie sich für Details beim ominösen Untergang des Frachters.

Im ersten Teil des Romans wird die Vorgeschichte mit der Jugend von Pi erzählt, die neben vielen interessanten Fakten über Tiere im Allgemeinen und Zootiere im Besonderen sich intensiv der Religion widmet. Wobei Pi, eine originelle Idee von Yann Martel, neben seinem Hinduismus sich auch für den Islam begeistert, um sich dann sogar noch taufen zu lassen. Aus diesem gerade heutzutage vorbildhaften, friedlichen Nebeneinander dreier Weltreligionen leitet er verblüffende Erkenntnisse ab, denen er, leider völlig unreflektiert, die moralfreien Instinkte wilder Tiere gegenüberstellt. Verglichen beispielsweise mit «Herr der Fliegen» ist dieser Roman mit seiner plumpen Botschaft eher ein Abenteuerbuch, keinesfalls jedoch prämierwürdige Hochliteratur.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Schiffbruch mit Tiger

Der in Kanada lebende Schriftsteller Yann Martel erzählt in seinem wundervollen Roman »Schiffbruch mit Tiger« die Geschichte des indischen Schülers Piscine Molitor Patel, der seinen französischen Vornamen einem prächtigen Schwimmbad verdankt. Es dauert jedoch nicht lange, und der Geistesblitz des Bösen durchfährt einen seiner Mitschüler, der eines grauen Tages ruft: »He da kommt Pisser Patel«. Auf dem Haupte des Jungen lastet fortan eine Dornenkrone. Immer wieder wird er mit der Frage konfrontiert: »Ich muss mal. Wo ist denn hier für Pisser?« Selbst die Lehrer, die ihm nichts Böses wollen, sprechen seinen Namen aus schierer Trägheit falsch aus.

Als Piscine auf die Oberschule wechselt, entschließt er sich zu einer Radikalkur. Der Unterricht beginnt, wie stets am ersten Schultag, mit dem Aufsagen der Namen. Als Piscine an der Reihe ist, springt er auf und läuft an die Tafel. Bevor der Lehrer etwas einwenden kann, greift er ein Stück Kreide und schreibt mit, was er sagt: »Ich heiße Piscine Molitor Patel, besser bekannt als …«, und er unterstreicht doppelt die ersten beiden Buchstaben seines Vornamen, » …Pi Patel«. Um es noch deutlicher zu machen, fügt er hinzu: »Pi = 3,14« und zeichnet einen großen Kreis, den er dann mit einem Strich durch die Mitte in zwei Hälften teilt, damit auch der Letzte begreift, auf welchen Grundsatz der Geometrie der Junge anspielt. So wird der »Pisser« zu Pi, und ein neues Leben beginnt für den jungen Mann.

Pi Patel wächst in einem Paradiesgarten auf: Sein Vater ist Direktor eines gepflegten Zoologischen Gartens, der in der südindischen Stadt Pondicherry betrieben wird. Er erfährt viel über die verschiedenen Tiere und das aus Sicht der Zooleute gefährlichste aller Lebewesen: den Menschen. Im Zoobetrieb geht es darum, die Tiere an den Menschen zu gewöhnen und ihre natürliche Fluchtdistanz zu verringern, das ist der Abstand, den ein Tier zu seinem natürlichen Feind hält. Pi lernt, dass gesunde Zootiere nicht aus Hunger oder Mordlust angreifen, sondern weil der erforderliche Abstand zu ihnen unterschritten wird. Und er begreift die Rolle des Alphatieres: wenn zwei Geschöpfe sich begegnen, wird derjenige, dem es gelingt, den anderen einzuschüchtern, als der Ranghöhere anerkannt, und zu einer solchen Rangentscheidung ist kein Kampf erforderlich, in manchen Fällen genügt eine Begegnung.

Diesem Wissen soll der junge Mann sein Leben verdanken. Denn die Familie entscheidet sich, mit Sack und Pack, einschließlich der meisten Tiere, von Indien nach Kanada auszuwandern. Die weite Reise erfolgt auf einem Überseedampfer, das indes bei Nacht und Nebel kentert und spurlos versinkt. Pi Patel überlebt das Inferno und flüchtet sich in ein Rettungsboot. Wie groß ist jedoch sein Schreck, als aus den Fluten weitere Überlebende auftauchen, die das Rettungsboot als ihre Insel ansehen: eine grässliche Tüpfelhyäne, ein Orang-Utan, ein Zebra und ein bengalischer Königstiger, der auf den Namen »Richard Parker« hört und eine Attraktion im Zoo war.

Die Überlebenden massakrieren sich bald gegenseitig, nur Pi Patel und Richard Parker bleiben zurück. Der Junge versucht anfangs, sich auf ein selbst gebasteltes Floß vor der Bestie zu flüchten. Doch dann beginnt er vorsichtig, seinen eigenen Bereich abzustecken, den das Tier schließlich akzeptiert. Er zähmt den Tiger, der ihm gehorcht, zumal er von ihm mit frisch geangelten Fischen gefüttert wird. Hilflos treiben sie im Ozean. Es beginnt eine monatelange Odyssee, die Martel mit derartig großer sprachlicher Anmut und sensiblem Einfühlungsvermögen erzählt, dass der Leser jede Phase des Zusammenlebens zwischen Mensch und Tier mitempfinden kann.

»Schiffbruch mit Tiger« ist eine sowohl witzige wie auch abenteuerliche Erzählung mit philosophischem Tiefgang. Obwohl die Handlung zwischen permanenter Todesangst und listigen Überlebensstrategien pulst, enthält sie herrliche Szenen voller Komik und Humor. Der Text bietet dem Leser leichten Zugang auf verschiedensten Ebenen und berührt auch Fragen des religiösen Verständnisses. Die Story endet skurril, die Schiffbrüchigen entdecken ein seltsame Insel aus Algen und werden schließlich an Land und in ein neues Leben gespült.


Genre: Romane
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main