Der blinde Mörder

Ambivalente Familiensaga

Die im englischsprachigen Raum vielfach geehrte, kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood hat für den Roman «Der blinde Mörder» im Jahre 2000 ihren ersten Booker Prize erhalten. Im Jahre 2019 erhielt sie dann ihren zweiten, sie gehört damit zu den vier Autoren, die ihn zweimal verliehen bekamen. Obwohl also hochgeehrt im englischen Sprachraum, ist die Rezeption im deutschen eher verhalten, insbesondere das Feuilleton zeigt sich hier skeptisch. Warum eigentlich?

Wie immer bei Atwood stehen in dieser drei Generationen umfassenden Geschichte die Frauen und ihre Rolle in der Gesellschaft im Mittelpunkt. In Rückblenden erzählt die 84jährige Iris als Ich-Erzählerin, wie sie und ihre jüngere Schwester Laura in den 1930er Jahren als wohlbehütete Töchter eines erfolgreichen Fabrikanten in Ontario aufwachsen. Als in der Depression die Firma an den Rand des Ruins gerät, heiratet Iris auf Druck des Vaters den neureichen Geschäftsmann Richard. Die fünfzehnjährige, als schwierig geltende Laura hat derweil eine heimliche Affäre mit Alex, einem gesuchten kommunistischen Aktivisten, dem eine Brandstiftung angelastet wird. Aber auch Iris verfällt ihm sexuell. Er lebt im Untergrund und zieht später mit einer kanadischen Brigade in den Krieg. Gegen Kriegsende fällt er, und als Laura erfährt, dass er auch mit Iris ein Verhältnis hatte, bringt sie sich um. Die schon einige Zeit getrennt von ihrem Mann lebende Iris entdeckt ein skandalträchtiges Roman-Manuskript von Laura mit dem Titel «Der blinde Mörder». Darin wird auktorial und mit namenlosen Figuren sehr freimütig von ihrer skandalösen Affäre erzählt, die hier als zweite Erzählebene eingeflochten ist. Nicht genug damit, ist in dieser Binnen-Geschichte eine weitere enthalten, in der Alex nach dem Sex der Geliebten Teile seiner dystopischen Story erzählt, mit Frauen in einer grotesk untergeordneten Sklavenrolle, er hält sich damit finanziell über Wasser. Ergänzend werden für die politischen Hintergründe und gesellschaftlichen Ereignisse immer wieder fiktive Zeitungs-Meldungen eingefügt, die dem Erzählten einen authentischen Touch verleihen. Das Ganze ist das handgeschriebene Manuskript von Iris, die 1999 stirbt. Sie wendet sich damit direkt an ihre in der Welt herumgeisternde Enkelin, um ihr all ihre Erinnerungen nun eben in Schriftform zu hinterlassen, wenn sie ihr schon nicht persönlich davon erzählen kann.

Mit ihrer kunstvoll verschachtelten Erzähl-Struktur breitet die Autorin in diesem Roman das üppige Panorama einer tragischen Familien-Geschichte vor dem Leser aus, angereichert mit einem interessanten sozialen und historischen Hintergrund. Gleichzeitig ist diese Saga vom allmählichen Niedergang einer einst stolzen, reichen und glücklichen Familie auch ein opulentes Sittenbild des zwanzigsten Jahrhunderts, das motivisch unwillkürlich an Thomas Mann erinnert. Der Roman ist überfrachtet mit Nebensächlichem, man weiß als Leser genau, dass die Zigaretten in einer silbernen Schatulle im Wohnzimmer verwahrt werden, weil man es gefühlt hundert Mal gelesen hat. Für männliche Leser fast unerträglich sind die ausufernden Schilderungen der Garderobe aller weiblichen Figuren, ihr Seelenleben wird hingegen sträflich vernachlässigt. Besonders die Ich-Erzählerin Iris bleibt als Mensch farblos, eine blutleere Figur ohne nennenswerte Entwicklung, und das über Jahrzehnte hinweg.

Beeindruckend jedoch ist die funkelnde Sprache, in der hier erzählt wird, angereichert mit stimmigen Metaphern und wunderbar schwarzem Humor, der besonders in der Rahmen-Geschichte der betagten Iris mit sarkastischen Anmerkungen überzeugt. Die für klare Worte bekannte Autorin spart auch nicht mit harscher gesellschaftlicher Kritik, so wenn sie zum Beispiel vom protzigen abstrakten Gemälde eines Neureichen spricht, «zusammengesetzt aus kostspieligen bunten Klecksen». Da verzeiht man dieser ambivalenten, aber auch unterhaltsamen Familiensaga dann gern ihre unübersehbaren, kleinen Schwächen.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Die Zeuginnen

Es passiert nicht oft, dass ein Fortsetzungs-Roman erst 34 Jahre nach dem ersten Band erscheint, die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood hat nun nach dieser langen Zeitspanne mit «Die Zeuginnen» einen an ‹Der Report der Magd› anschließenden Roman veröffentlicht. Mancher heutige Leser war damals noch gar nicht auf der Welt, andere hatten wahrscheinlich auch Wichtigeres zu tun, als Bestseller-Romane zu lesen. Was insoweit aber kein Manko ist, denn das neue Buch ist völlig eigenständig zu lesen, seine Handlung beginnt erst 15 Jahre nach dem Ende des erfolgreichen Vorgängers. Die Inspiration zu diesem Roman habe sie aus den Fragen der Leser des ersten Bandes erhalten, hat die Autorin erklärt, «die andere Inspirationsquelle ist die Welt, in der wir leben». Damit spielt sie auf Trump an, auf die Klimakrise, auf den islamistischen Terror und anderes mehr.

Dieser dystopische Roman handelt vom Niedergang des fiktiven Staates Gilead, der als misogyne Theokratie aus den ehemaligen USA hervorgegangen ist. Atwood treibt mit diesem extrem frauenfeindlichen Staat als zentraler Thematik ihren Feminismus auf die Spitze. Sie erzählt ihre Geschichte abwechselnd aus der Perspektive dreier Frauen, die als Ich-Erzählerinnen zunächst nur lose miteinander verbunden sind, ehe sich die Handlungs-Stränge am Ende des Buches in einem spannenden Finale vereinen. Mächtigste Figur ist ‹Tante› Lydia, die als ehemalige Richterin dazu gezwungen wird, in Gilead ein klosterartig organisiertes System aufzubauen, in dem Sitten-Wächterinnen mit äußerster Härte die Frauen unterdrücken. Dabei stehen Ehefrauen hierarchisch höher als die unverheirateten ‹Mägde›, die als haremsartige Nebenfrauen für Kindersegen zu sorgen haben und zur Hausarbeit verpflichtet sind. Da Scheidungen verboten sind, muss ein Mann, will er seine Frau loswerden, auf die Praktiken von Heinrich VIII zurückgreifen. Überhaupt geht das System brutal mit Menschen um, Verurteilte werden öffentlich hingerichtet, in besonderen Fällen wie in einer römischen Arena von ‹Mägden› in Stücke zerrissen. Lydia, die eng mit der Führungselite verbunden ist, macht heimlich Aufzeichnungen und sammelt Dokumente über den verbrecherischen Unrechtsstaat, sie will mithelfen, ihn eines Tages zu stürzen.

Die junge Agnes, deren Bericht als ‹Zeugenaussage 369A› betitelt ist, will einer drohenden Zwangsheirat entgehen und lässt sich als ‹Tante› ausbilden, sie reflektiert diesen Staat aus einer system-konformen Innensicht. Unter ‹Zeugenaussage 369B› berichtet Nicole, die als Baby von der Widerstands-Bewegung MayDay nach Kanada entführt wurde, aus einer system-kritischen Außenperspektive. Als ‹Die kleine Nicole› nimmt sie einen fast jesusartigen Status im Propagandakrieg der beiden verfeindeten Nachbarstaaten ein, ihr Konterfei hängt in allen öffentlichen Gebäuden Kanadas. Aus Angst vor einem Anschlag muss sie, vom Geheimdienst beschützt, unter falschem Namen leben.

Dieser kunstvoll konstruierte Roman ist reichlich mit Spannungs-Elementen aufgeladen, die das Buch zu einem Pageturner machen und ihm wohl auch den Booker-Price 2019 eingebracht haben. Männer spielen darin kaum eine Rolle, sie sind nur negatives Beiwerk, quasi der Grund allen Übels. Zu den Leerstellen dieser Geschichte gehört die Frage, warum die Frauen sich dem allen klaglos unterwerfen, Hinweise dazu gibt es keine. Der kreative Plot wird flüssig lesbar erzählt und ist, besonders im Bericht von Lydia, stilistisch mit schwarzem Humor angereichert. Sie ist denn auch die markanteste Roman-Figur, bei der oft die Fäden zusammenlaufen. Auffallend ist der völlige Verzicht auf psychologische Deutung der Figuren, Margaret Atwood berichtet distanziert, fast lakonisch, so als ob sie von historisch Verbürgtem spricht. Sie fügt als Epilog sogar «Historische Anmerkungen» hinzu und nennt in ihrer Danksagung auch die vielen Leserbriefe als Ideengeber für das neue Buch. Dessen literarischer Wert ist allerdings ziemlich umstritten!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Berlin Verlag Berlin