Leben mit dem Stern

Leben mit dem Stern. “Gestern wurde ich 53 Jahre alt, denn ich bin so alt wie dieses seltsame Jahrhundert“, schrieb Weil 1953 an einen Freund. Diesen Satz liest man mit Freude, denn so weiß man sogleich, dass der Autor sowohl die nationalsozialistische als auch die stalinistische Katastrophe “dieses seltsamen Jahrhunderts” überlebt hat. Für bedeutende tschechoslowakische Schriftsteller wie Josef Škvorecký, Ladislav Fuks, Ivan Klíma oder Jiří Kolář ist Jiří Weil heute ein großes Vorbild. Allerdings galt er in der ehemaligen Tschechoslowakei, seit der Veröffentlichung seines hier vorliegenden Romans 1949 bis zu seinem Tod 1959, als Unperson, ja sogar als “Schädling“.

Zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus

Wer diesen Roman “Leben mit dem Stern” liest, wird alsbald verstehen warum. Die totalitäre Katastrophe, die er in seinem Roman beschreibt, könnte sowohl eine kommunistische als auch eine faschistische Diktatur meinen. Tatsächlich saß der Autor schon in den Dreißiger Jahren in der Sowjetunion im Gulag, später dann als Jude im “Protektorat Böhmen und Mähren” ebenso in der Falle, wenn auch nicht im Lager, dem er sich zu entziehen wusste. 1933, vom Kommunismus begeistert, ging er nach Moskau, um dort als Journalist und Übersetzer marxistischer Literatur zu arbeiten. Nach dem Ausschluss aus der Partei und der Deportation nach Mittelasien im Zuge der ersten stalinistischen Säuberungen kehrte Weil 1935 dann aber doch wieder nach Prag zurück. “Leben mit dem Stern” beschreibt minutiös den Zeitraum der Umsiedlung bis zur Flucht in den Untergrund des Protagonisten Josef Roubíček. Dabei geht es aber vor allem um den Bewußtwerdungsprozess, ob er sich – so wie die anderen – in sein Schicksal fügen soll oder doch dagegen aufstehen soll. Hätte Jiří Weil es dann nicht getan, könnten wir dieses unglaubliche Zeugnis der wohl größten Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts heute nicht mehr lesen. Wie sich dann der Protagonist Josef Roubíček entscheidet, erfahren Sie auf den letzten Seiten des Romans. Jiri Weil gelang es durch einen vorgetäuschten Selbstmord.

Erschütternd authentisch über den Alltag des Holocaust

Philip Roth nannte “Zivot s hvezdou“, so der tschechische Originaltitel, “einen der herausragendsten Romane über das Schicksal der Juden unter den Nazis. Ich kenne keinen vergleichbaren“. Weils Roman ist nämlich nicht nur ein sprachlich exzellent geschriebener Roman, sondern auch ein großes Stück Literatur mit seltenem Tiefgang. Josef Roubíček, ein ehemaliger Bankangestellter, darf aufgrund der Rassengesetze im besetzten Prag nicht mehr arbeiten. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich sein Essen zum Überleben selbst zu organisieren. Da es ein kalter Winter ist, verheizt er nach und nach alle Möbel seiner kleinen Mansarde am Stadtrand. Zigaretten dreht er sich aus gefundenen Kippenresten und getrocknetem Laub, als Angehörige hat er nur noch einen Onkel und eine Tante, die im Prager Zentrum leben. Tagsüber ist er mit der Essensbeschaffung beschäftigt, abends füttert er einen ihm zugelaufenen Kater und träumt von Růžena. Sie kann nicht bei ihm sein, da sie verheiratet ist. Es wird aber nie ganz klar, ob sie nicht nur ein Tagtraum ist. Auch wenn sie es ist, die ihm stets rät zu fliehen. Rührend ist die Geschichte von seinem Kater, den er den (ungläubigen) Thomas nennt. Denn ebenso ungläubig und absurd ist das, was Josi (so nennt ihn Růžena) jeden Tag passiert. Auf allem liegt ein feiner Hauch von (absurdem) Humor und das, obwohl Jiří Weil das Schrecklichste beschreibt, was Menschen anderen Menschen je angetan haben. Angesichts des unglaublichen Leids, das ihm und anderen Verfolgten widerfahren ist, staunt man über die feine Feder dieses Schriftstellers, der beschreibt ohne anzuklagen, ohne Wut oder Hass, aber mit sehr viel Liebe und Verständnis für die Seinigen.

Gemeint: Totalitarismus von links und rechts

Die Sprache in der Jiří Weil den Weg in den Untergang des jüdischen Volkes schildert ist sehr schön und steht in krassem Widerspruch zur Handlung. Denn die Dystopie, die er beschreibt ist präzise beobachtet und könnte  in jedem Jahrhundert in jedem Land der Welt spielen. Natürlich ist das Protektorat und die deutsche Besetzung der Tschechoslowakei gemeint, aber stets vermeidet es Weil, die Deutschen direkt anzusprechen. Selbst wenn er von “ihrer Sprache” spricht, nennt er “sie” nie beim Namen. Dieser dramaturgische Kniff macht seine schreckliche Gegenwart zu einer noch erschreckenderen Zukunftsvision als etwa “1984” oder “Fahrenheit 451”. Der Totalitarismus und die Verfolgung einer Minderheit, im vorliegenden Fall die Juden, ist austauschbar und könnte überall passieren: Es kann jeden treffen. In der Absurdität der Anordnungen der Behörden liegt der eigentliche Terror und Schrecken. Die Besetzer behandeln die Bewohner der besetzten Gebiete wie Tiere, ihr Interesse und ihre Gier gilt allein ihren “Dingen”. Sie sehen keine Menschen, sondern nur Mittel zur Bereicherung und wen sie daran beteiligen, der wird mitkorrumpiert. “Teile und herrsche” wird zu einem Schreckensszenario des Alltags und schuld daran ist nur die “Hoffnung“. Und das perfideste daran ist, dass jene, die Widerstand leisten, zu den eigentlichen Schuldigen erklärt werden. So funktioniert eine totalitäre Gesellschaft.

Jiří Weil arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg am Jüdischen Museum in Prag. Als Redakteur und Autor, war er in seiner schriftstellerischen Tätigkeit durch ein siebenjähriges Publikationsverbot stark eingeschränkt. Erst 1956 wurde er rehabilitiert, starb aber leider schon drei Jahre später an Leukämie. Aber seine Stimme ist immer noch zu hören: in seinen Büchern. Seit 2020 wird an einer ersten Gesamtausgabe seines Werkes in Prag gearbeitet. Im Wagenbach Verlag ist auch sein Buch “Mendelsohn auf dem Dach” erschienen und hoffentlich bald auch seine anderen Werke, wie etwa “Moskau – Die Grenze” (1937) u.a. Ein großes Werk, das mehr Beachtung verdient.

Jiří Weil
Leben mit dem Stern
Aus dem Tschechischen von Gustav Just
2020, Broschur, 256 Seiten
ISBN 978-3-8031-2825-6
Wagenbach Verlag
14,– €


Genre: Holocaust, Nationalsozialismus, Protektorat, Roman, Stalinismus, Tschechoslowakei
Illustrated by Wagenbach

Das schwarze Königreich

Das schwarze Königreich von Szczepan Twardoch

Das 2019 ebenfalls bei Rowohlt erschienene Werk „Der Boxer“ zeigte Twardochs Protagonisten, Jakub Shapiro, am Höhepunkt seines Lebens und Wirkens. In „Das schwarze Königreich“, der Fortsetzung,  ist er nur mehr ein Schatten seiner selbst und auf fremde Hilfe angewiesen.

Das schwarze Königreich des Jakub Shapiro

Aus Zorn und Hass ist mein Lebenswille gewebt, Zorn und Hass sind schwer und nicht leicht zu tragen, doch mitnehmen muss man sie, denn ohne sie endet man vorzeitig dort, wo ohnehin alle enden.“ Der einstige „König der Warschauer Unterwelt“ muss zusehen wie nicht nur sein Reich zerfällt, sondern auch das Warschau, das er kannte. Die deutsche Besatzung Polens 1939, die Warschauer Aufstände, das Ghetto sind die Echokammern eines Romans, der nicht nur intelligent gebaut ist, sondern auch den Leser in einen Strudel hinabreißt, aus dem es kein Entrinnen gibt. Twardoch erzählt den vorliegenden 2020 erstmals bei Rowohlt auf Deutsch erschienen Roman aus zwei Perspektiven, die er immer wieder wechselt. Der halbwüchsige Sohn David, der sich nach der Trennung seiner Mutter Emilia von seinem Vater Jakub um seinen Bruder Daniel und seine Mutter kümmert ist die eine Stimme des Romans. Die andere Stimme des Romans ist Ryfka, die einst ein Bordell leitete, wo Jakub in seinen besseren Zeiten Stammgast war. Sie liebt ihn so sehr, dass sie sich auch um den kranken Mann kümmert, der er jetzt geworden ist.  Ihr Zorn und ihr Hass sind es, die das gemeinsame Überleben sichern.

Überleben als Rache und Sühne

“Der Boxer” erschienen bei Rowohlt 2019

Auffallend am Stil dieses Romans ist aber auch die Konzeption. Die Tempuswechsel in der Erzählung von Ryfka Kij, die stets zwischen Präsens und Präteritum wechselt, charakterisieren die Brisanz ihres Narrativs.  Denn sie ist noch am Leben und nur deswegen kann sie all die Schrecken und den Terror des Krieges uns Nachgeborenen schildern. Sie war dabei und hat überlebt. An der Seite eines „bösen Mannes“, der nicht nur seine Frau und die Zwillinge enttäuschte. „Auf diese Art kann ich ihn bestrafen, indem ich ihn am Leben halte, so kann ich mich selbst strafen, und nur so kann ich auch weiter lieben. Die Liebe zu diesem bösen Mann ist alles, was mir geblieben ist.“ Szczepan Twardoch, Jahrgang 1979,  erzählt von Juden, Polen, Deutschen, von Tätern und Opfern, Kollaboration und Terror und macht auch vor den Sowjets nicht halt. Denn von diesen von Hitlers Wehrmacht befreit zu werden ist wahrlich kein einfaches Schicksal. Twardoch erzählt nämlich auch vom Holodomor, der Hungerkatastrophe, die durch Stalins Zwangskollektivierung Millionen Opfer nicht nur in der Ukraine forderte. „Der Krieg wird irgendwann zu Ende sein, und die Deutschen werden ihn verlieren, dann wird es gut sein, ans Licht zu kommen und wieder Mensch zu sein.“

Ein erschütternder und auch trauriger Roman, der dennoch Hoffnung macht, weil er zeigt, dass man trotz der vielen Opfer überleben kann und muss. Um diese und andere Geschichten zu erzählen und Sühne zu verlangen.

Szczepan Twardoch

Das schwarze Königreich

Übersetzt von: Olaf Kühl

2020, Hardcover, 416 Seiten

ISBN: 978-3-7371-0073-1

24,00 €

Verlag: Rowohlt Berlin


Genre: Deutsche, Juden, Noir, Polen, Warschauer Ghetto, Weltkrieg
Illustrated by Rowohlt

Venedig. Wintertage in der Serenissima


Venedig. Wintertage in der Serenissima.
Venedig Connaisseur und Liebhaber Wolfgang Salomon lädt wieder zu einer Reise in die Lagune ein, dieses Mal im Winter. Er bietet dem/r geneigten Leser/in einen “Slowtravel” mit Tonspur an, denn zusätzlich zu den zumeist selbst geschossenen anmutenden Bildern und Texten, ergänzt er seine Ausführungen mit Empfehlungen aus seinem ganz persönlichen Venedig Soundtrack.

Venedig für Liebhaber

Salomon beginnt seinen Lagunenreigen mit einem Inselhüpfen und landet als erstes auf der Friedhofsinsel San Michele, die 2019 einmalig mit einer Pontonbrücke mit Venedig verbunden wurde. Das Wahlgeschenk des Bürgermeisters kam aber schlecht an und wurde sogleich wieder abgeschafft. Aber dafür gibt es ja die beiden anderen traditionellen Pontonbrücken im Juli und November an anderen Stellen in Venedig. San Michele jedenfalls steht bei Salomon nicht für Thomas Manns Novelle “Tod in Venedig”, sondern für Baron Corvo auch bekannt als Frederick Rolfe, der offener und skandalöser über Homosexualität schrieb, als der deutsche Schriftsteller es sich je zu träumen gewagt hätte. Das teils autobiographische Werk des Engländers Rolfe “The Desiree and Pursuit of the Whole” (1909) schildert die Liebe zu einem hermaphroditen Gondoliere. Der Autor selbst blieb bis zum bitteren Ende ein Bewohner Venedigs, schlief am Strand von Lido oder auf seiner privaten Gondola. Dafür wurde er aber in Hugo Pratt’s Corto Maltese (Favola di Venezia) als Baron Corvo verewigt und zumindest so unsterblich. Selbst der große Cantautore Paolo Conto verneigt sich in seinem Song “Sirat Al Bunduqiyyah” vor Rolfe und Pratt, was Salomon einen eigenen Tonspur-Tipp wert ist.

Venedig. Wintertage in der Serenissima.

Orte zum Aufwärmen” nennt Salomon seine Hinweise für kalte Wintertage, an denen man zwischen ausgedehnten Spaziergängen auch einmal ein “Bedürfnis” verspürt. Dem kann zum Beispiel im kürzlich neu eröffneten Sisi-Trakt des Museo Correr nachgegangen werden, oder aber in der Area Forte Marghera, das mit dem Pendelzug vom Bahnhof Santa Lucia bis Mestre und dann mit dem Bus 15 vom Bahnhof Mestre aus erreichbar ist. Dort haben schon länger einige kreative Köpfe ihren Platz gefunden, mittlerweile aber auch die Kunstbiennale einige Pavillons bespielt. Erinnerungen an Edgar Allen Poe’s Erzählung “Das Fass Amontillado“, in der der Erzähler seinen Erzfeind zur Zeit des venezianischen Karnevals in einen Keller lockt, werden beim Autor wach, als er sich in die Krypta der Chiesa die Santi Simeone e Giuda verirrt. Die Kirche, die vis a vis vom Bahnhof Santa Lucia steht, kennt jeder Tourist vom Warten auf seinen Zug, aber wenige die wenigsten haben sie wohl je betreten. Wer sich lieber in einem Café oder einer Bar aufwärmt den führt Wolfgang Salomon zu den Klängen von Angelo Badalamenti, dem Soundtrack zur Novelle “The Comfort of Strangers” von Ian McEwans Verfilmung durch Paul Schrader zur besten Pizzeria Venedigs. Pizzeria Aciugheta (Campo Santi Filippo e Giacomo) befindet sich in der Nähe des Ristorante Albiubagiò (Fondamente Nove 5039) in einer weniger touristischen Gegend Venedigs. Wer lieber Süßes mag, dem empfiehlt Salomon etwa die Pasticceria Tonolo, die die einzigartigen Martinsfritelle erfunden hat. Mit Rosinen, Zabaione-Creme oder Chantilly. Aber nur im November, wenn der Hl. Martin Geburtstag hat. So wie es auch die Castradina nur zum zur selben Zeit stattfindenden Salute Fest gibt. Im Grandhotel Palazzo dei Dogi gibt es noch ein Unikum, den letzten Eiskeller Venedigs, die Grottin del Giasso. Für die ganz Mutigen hier ein letzter Tipp: Venice Kayak, auf der gleichnamigen Homepage gibt es Bootstouren im Angebot, es sei denn die Kanäle sind mal wieder zugefroren. Zuletzt passierte das 1929, wovon man sich im Netz unter “Laguna Ghiacciata” überzeugen kann. Aber viele weitere brauchbare Tipps finden sich ohnehin in vorliegendem Reiseführer der besonderen Art.

Auch wenn Venedig seinen dekadenten Höhepunkt im 18. Jahrhundert hatte und damals Feste gefeiert wurden von denen man heute nur mehr träumen kann, spielt die Stadt doch auch bei den Celebrities des 21. Jahrhunderts immer noch eine Rolle, weiß Salomon. So heiratete etwa George Clooney seine Frau im Palazzo Papadopoli oder Cole Porter sorgte mit einem Auftritt von Josephine Baker für einen Skandal. “Wintertage in Venedig” bietet aber auch einen Livebericht vom 12.11.2019 als 90% der Stadt unter Wasser standen: Salomon war vor Ort! Weiters: Einkaufstipps wie Dogen-Schlapfen aus Radgummireifen bei Piedàterre Rialto, Antiche Drogerie Màscari, WEnice, etc.

Wolfgang Salomon
Venedig. Wintertage in der Serenissima.
2021, Broschur, 16,8 x 24 cm; 176 Seiten
ISBN 978-3-222-13664-1
Styria Verlag
€ 28,00

 


Genre: Kulinarik, Lagune, off the beaten track, Reiseführer, Sightseeing, Venedig
Illustrated by Styria Verlag Graz

Robinson Crusoe. Neu übersetzt und ungekürzt.

Robinson Crusoe, der Roman in Neuübersetzung. “To be born is to be wrecked on an island“, schrieb James Matthew Barrie und meinte damit vielleicht nicht unbedingt Robinson Crusoe alleine, wiewohl er bestimmt schon von ihm gehört hatte. Denn jede/r kennt Robinson Crusoe. Aber die wenigsten kennen ihn im Original oder ungekürzt, was die hier vorliegende Prachtausgabe in Leinen des mare Verlages nun erstmals auch deutschen Leser/innnen ermöglicht.

300 Jahre Robinson Crusoe

Der Roman (Erstveröffentlichung 1719), der vor rund 300 Jahren von Daniel Defoe (1660-1731) geschrieben wurde, wird zumeist der Abenteuer- oder Jugendliteratur zugerechnet. Jedoch wurde sowohl dem Autor als auch dem Werk damit großes Unrecht zugefügt. Schließlich war Defoe schon 59 Jahre alt als er Robinson Crusoe verfasste und hatte durchaus auch ein reales Vorbild in der Person von Alexander Selkirk, den der Journalist in der Bahia Cumberland kennenlernte, gefunden. Zudem war Defoe ja schon zuvor, also vor Robinson Crusoe, als Journalist und Autor in Erscheinung getreten. Dennoch gilt sein Spätwerk als der “erste Abenteuerroman” der europäischen Literaturgeschichte. Dies ist vor allem den zumeist gekürzten und vereinfachten Versionen, die in deutschsprachigen Ländern in Umlauf sind, verschuldet. Wer sich dem “Klassiker der Meeresliteratur” in seiner ganzen epischen Breite widmet, wird feststellen, dass zwischen seinen Buchdeckeln auch sehr viel Weisheit liegt und nicht nur die Sprache, sondern auch das Denken, das darin enthalten ist, sehr modern ist. Natürlich ist eine deutsche Übersetzung immer noch kein Original, aber dem hält Günther Wessel im lesenswerten Nachwort entgegen, dass die englische Sprache sich – in den letzten 300 Jahren – sehr viel weniger verändert habe als die deutsche. Gerade das habe aber eine Neuübersetzung des zuletzt 1973 (!) ins Deutsche übersetzten Textes zwingend erforderlich gemacht. Und so können wir in der Version von Rudolf Mast endlich einen Text in Händen halten, der so nahe wie möglich am Original ist und so vielleicht für weniger Missverständnisse sorgt wie bisher. Denn auch der Defoe angekreidete “Kolonialismus eines Konquistadors” (Crusoe “benennt” Freitag und sich “Herr”) kann dadurch relativiert werden, dass Defoe sich Zeit seines Lebens gegen die damals und heute durchaus übliche Ausländerfeindlichkeit einsetzte in seinem Gedicht “The true-born Englishman” diesen Ausdruck als “a contradiction in terms, in speech an irony, in fact fiction” bezeichnete. Das klingt doch sehr modern für 17. Jahrhundert. Eine klare Absage an Rassismus und Rassenlehre also.

Neuübersetzung nahe am Original

Daniel Defoe hat aber nicht nur eine literarische Gattung begründet, sondern sie zugleich auch lust- und absichtsvoll zerstört, wie ich Günther Wessel beipflichten möchte. Denn nicht nur dass eigentlich sehr wenig Abenteuer im Abenteuerroman schlechthin enthalten ist (genau genommen nämlich nur am Anfang und am Ende), sondern vielmehr noch steckt in Robinson Crusoe, dem Roman, die Sehnsucht nach der Ferne, zugleich aber auch die Weltflucht und Kontemplation, die vielleicht einige Jahrhunderte später genau jene Revolution auslöste, die die Herrschaft der Könige und Kaiser beendete. Denn die 28 Jahre, die Robinson Crusoe, der Mensch, auf der Insel verbrachte hatten ihm vielleicht genau jene Einsicht eingebracht, die vielen von uns auch heute noch fehlt: schau nicht auf das, was dir fehlt, sondern auf das, was du hast. Und so gesehen sind wir alle Glückliche, egal auf welcher Seite des Lebens wir stehen, denn leben selbst ist das größte Geschenk, das uns nur einmal (im Leben) gereicht wird. Wenn wir auch nicht alle das (Un-)Glück haben, auf einer einsamen Insel zu stranden, um uns der wesentlichen Dinge des Lebens bewusst zu werden, ist Robinson Crusoe, der Roman, doch eine gute Gelegenheit eben dorthin zu entfliehen. Zumal die Ausgabe des mare Verlages nicht nur ungekürzt und so nahe am Original wie möglich ist, sondern auch noch in einer wunderbaren bibliophilen Ausgabe gedruckt wurde und im Schmuckschuber auch Reisen schadlos überstehen kann.

Daniel Defoe
Robinson Crusoe
Roman
(Originaltitel: The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe)
Aus dem Englischen von Rudolf Mast
2019, Leineneinband im Schuber, 416 Seiten
ISBN: 978-3-86648-291-3
Mare Verlag
42,00 €

 

 

 

 

 

 


Genre: Abenteuerroman, Jugendliteratur, Neuübersetzung
Illustrated by Marebuchverlag Hamburg

Batman – Krieg dem Verbrechen

Batman – Krieg dem Verbrechen. Nicht nur die XL-Maße (26 x 36 cm) dieses Xtra-vaganten Batman-Abenteuers haben es in sich. Autor Paul Dini und Zeichner Alex Ross haben eine preisgekrönte Interpretation des Dark Knight Mythos geschaffen, das sich gegen andere wie die Sixtinische Kapelle ausnimmt. Einblicke in die Straßenschlachten Gotham Citys und die Schöpfungsgeschichte des wohl umstrittensten Verbrechensbekämpfers des 20. Jahrhunderts. Eine Hommage.

Batman – Krieg dem Verbrechen mit der Aura der Angst

Bruce Wayne ist seit der Ermordung seiner Eltern dazu verdammt, zwei Leben zu führen. Einerseits das des reichsten und einflussreichsten Mannes von Gotham City und andererseits das von Batman, des dunklen Schergen, der eine Maske trägt, wie seine größten Widersacher. “Ein Wesen, das in den Schatten lebt und offenbar unmenschliche Kräfte besitzt. Fantasie und Aberglaube machten ihn zu einem Geschöpf, das man meidet.“, schreibt Paul Dini. Die “Aura der Angst” die ihn umgibt, ist auch sein Schutz, denn allzu freundlich darf er auch nicht zu jenen sein, die er eigentlich beschützt. Genauso als Bruce Wayne: auch diese seine andere Identität ist dazu verdammt, auf allzu enge soziale Beziehungen zu verzichten. Bruce Wayne benutzt öffentliche Events als Informationsquelle: “eine Arena, um Kontakte herzustellen, die mir helfen, andere Schlachten zu gewinnen“. Wenn er wirklich zu dem geworden wäre, als was andere ihn sehen? Er sich von Verführungen hätte verlocken lassen? Natürlich sehnt auch er sich nach Stabilität, Sicherheit, Familie, allein, es ihm ein anderes Schicksal beschieden.

Arena der traumatischen Identitäten

Im ehemaligen Bayside Industriegebiet von Gotham City sollen neue Wohnhäuser und Geschäfte entstehen, um die Gegend aufzuwerten. Der soziale Brennpunkt soll damit der Vergangenheit angehören und einige Multimillionäre noch reicher machen. Einer der Investoren heißt Randall Winters und wird sowohl für Bruce Wayne als auch Batman zum Gegenspieler in einem großformatigen, im frühen Zeichenstil der Batman-Geschichten gehaltenen Abenteuer. Der kleine Marcus, der Batman mit einer Waffe bedroht ist gerade in dem Alter, in dem Bruce Wayne seine Eltern verlor. Aber er hat kein Familienimperium hinter sich. Seine Welt ist die der Gangs und Verbrechen. Denn sie bieten ihm Arbeit und Schutz. Genauso wenig wie Bruce kann auch Marcus irgendjemand seine Eltern zurückbringen. Aber er kann sich entscheiden zu dem zu werden, das ihre Familien getötet hat oder zu dem, was sie schützt. “Wenn ich ein Kind zurückgewinnen kann, gibt es auch Hoffnung für andere“, resümiert Batman, denn er weiß, gegen das Verbrechen ist auch er machtlos. Aber jeder Tag ist eine neue Herausforderung und auch kleine Siege führen zum Ende des Krieges. Vorläufig.

Alex Ross/Paul Dini
Batman – Krieg dem Verbrechen
(Original Storys: Batman: War On Crime)
2021, Hardcover, 76 Seiten, Maße ca. 26 x 36 cm.
ISBN: 9783741623394
27,00 €
Panini


Genre: Batman, Biographie, Comics, Graphic Novel
Illustrated by Panini Comics

Triest für Fortgeschrittene

Triest für Fortgeschrittene. Die “südlichste Stadt des Nordens“, war und ist ein Freihafen, der immer schon Venezianer, Griechen, Slowenen, Serben, Juden, Armenier und Norddeutsche sowie allerhand “Abenteurer, Hochstapler und Parvenüs, Künstler, Dichter, Philosophen und Intellektuelle” anzog, schreiben die Autoren, wobei Bernard eher die Texte und Desrues eher die Fotos beisteuerte.

K.u.k. Freihafen Triest

Der Hafen ist auch heute noch der größte Arbeitgeber der Stadt und anscheinend sogar der größte Hafen Italiens unter den zehn bedeutendsten Europas. Der historische “Alte Hafen” wurde kürzlich wieder eröffnet und steht Radfahrern, Joggern und Touristen offen. Die dortige Hydrodynamische Zentrale, die einst die Aufzüge und Kräne antrieb, ist sogar in “giallo Austria“, also dem berühmten Schönbrunn-Gelb gehalten. Bis 1988 stand sie Tag und Nacht in Betrieb und kann heute als Beispiel für eine Ruine des Industriezeitalters besichtigt werden. Aber der Alte Hafen (“porto vecchio“) hat heute wieder eine blendende Zukunft: Museen sollen dort angesiedelt werden, die auch die Geschichte der und des Vertriebenen erzählen werden. Das kleine Wahrzeichen des Hafens, der Kran Ursus, “la nostra piccola torre Eiffel“, wurde durch die Bora sogar einmal auf’s Meer hinausgetrieben, aber wieder eingefangen. Heute steht er wieder fest im Ponton verankert als Wahrzeichen für eine prosperierende Zukunft Triests.

Triest für Fortgeschrittene

Die Bora bringt uns auch zu einem weiteren wichtigen Charakteristikum der Stadt: erstens sie liegt am Meer und zweitens es bläst ständig ein Wind. Die Bora entsteht durch die Mischung der warmen Luft des Landesinneren mit jener kalten des Meeres. Sie bläst teilweise über 100km/h und es wird geraten, sich anzuhalten. Wer etwa den Hausberg Triests besteigt, wird dankbar über die eisernen Handläufe sein, die an den dortigen Häusern angebracht sind. Aber man kann auch die Tramway nach Opicina nehmen, die einzige der Welt, die auf einen Berg und gleichzeitig in ein anderes Land führt. Wer lieber in die andere Richtung geht oder fährt, landet auf einem der Badeplätze Triests, denn genau diese Stadt ohne Sandstrand war es, die erstmals 1824 das Baden im Meer institutionalisierte, so die Autoren.

Insidertipps für Triestliebhaber

Neben Tipps für Fischrestaurants und den besten Badeplätzen, wartet der vorliegende intelligente Reiseführer auch mit eigenen Kapiteln zum Triestiner Dialekt, der Fauna und Flora, Buschenschanken und Buffets, Märkte, Kaffee, Habsburger, Museen und Übernachtungsmöglichkeiten auf. Als Appetitanreger und Einführung in das Triester Leben und seine Geschichte und Kultur empfehle ich das Kapitel “Die Blaue Tram” über die Strassenbahnlinie 2 nach Opicina. Obwohl die Tram 2016 wegen eines Unfalls eingestellt wurde, zeigt diese Erzählung alles das, was Triest den Besucherinnen und Besuchern zu bieten hat. 2022 soll sie ohnehin wiedereröffnet werden und so wird auch eine der spektakulärsten Aussichten auf Triest und das Hafenbecken wieder ermöglicht. Wer also von Triest mehr als nur die prächtige Piazza dell’ Unità d’Italia sehen will, liegt mit vorliegender Publikation, die reich und ansprechend illustriert ist, genau richtig. Insidertipps der Triest-Kenner und Slowfood-Experten inklusive.

Die Autoren

Georges Desrues, geboren 1966 in Paris, aufgewachsen in Wien, lebt als freier Autor und Fotoreporter seit fünfzehn Jahren in Italien, die letzten fünf davon in Triest. Spezialgebiete sind Reisen, Essen und Trinken sowie Landwirtschaft. Zahlreiche Publikationen im In- und Ausland, darunter in „Profil“, „Der Standard“, „Die Welt“, „Gourmet Traveler“, „Welt am Sonntag“, „Port Culinaire“, „A la Carte“ und in vielen anderen Medien.

Erich Bernard, geboren 1965, lebt als Architekt und Autor in Wien und Triest. Studium an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Zahlreiche kultur- und architekturhistorische Publikationen. Er beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit der Architektur- und Kulturgeschichte von Triest. Gründungspartner von BWM Architekten in Wien. Zu seinen gestalterischen Arbeiten zählen u.a. das Hotel Gilbert, das Gasthaus Figlmüller und das Sacher-Eck in Wien.

Georges Desrues/Erich Bernard
Triest für Fortgeschrittene
2021, Broschur, 16,8 x 24 cm; 192 Seiten
ISBN 978-3-222-13668-9
Styria Verlag
€ 28,00


Genre: Geschichte, Habsburg, Hafenstädte, Italien, Reiseführer, Tourismus
Illustrated by Styria Verlag Graz

Spider-Man. Vol. 1. 1962–1964

Spider-Man. Vol. 1. 1962–1964. In einer nummerierten Erstauflage von 5.000 und einer Collector’s Edition von 1.000 nummerierten Exemplaren erscheint in der Reihe Marvel Comics Library dieses Mammutwerk über Spiderman, den menschlichsten aller Superhelden. Stan Lee und Steve Ditko erschufen den Netzschwinger, dem nun im Hulk-Format mit seinen ersten 21 Spider-Man-Geschichten aus den Jahren 1962–64 gehuldigt wird.

Spider-Man: Seine Freunde, seine Feinde, seine Liebe

Spiderman unterscheidet sich von den anderen Superhelden nicht nur durch sein Alter: er ist Teenager. Als Markensymbol verwendet er eine Spinne, eine Gattung, die eigentlich von allen gehasst wird. Zudem ist er in seiner Identität als Peter Parker eher unsicher und hat Pech in der Liebe. Sein Chef J. Jonah Jameson, Herausgeber des Daily Bugle, schreit ihn immer wieder an. Seine Gegner sind da auch nicht viel anders: Geier, Doctor Octopus, Sandmann, Echse, Electro, Kraven der Jäger, Mysterio und der Grüne Kobold. Wirklich sorgen tut sich Peter Parker aber nur um seine Tante May, die, ebenso wie er, im uncoolen Queens wohnt. Aber als Stan Lee 1962 zum ersten Mal Spider-Man in der Reihe Amazing Fantasy, die eigentlich eingestellt werden sollte, vorstellte, ging die spektakuläre No. 15 – mit Spider-Man auf dem Cover – durch die Decke. Das todgeweihte Heft katapultierte sich durch den Teenagerhelden an die Spitze der Marvel-Bestsellerliste des Jahres und verjüngte das Heldenarsenal des Marvelverlages um eine ganze Generation. Batman und Superman waren ja bekanntlich schon drei Dekaden früher entstanden.

Sammlertraum im XXL-Format und in Farbe

Miterfinder und Zeichner Steve Ditko trug einen großen Teil zum Erfolg des Jünglings bei. Er hatte einen guten Einblick in das Leben von Teenagern und ihren Problemen und ließ Spider-Man leichtfüßig durch die Straßenschluchten von New York schwingen, ein Gefühl das damals wohl viele Jugendliche und junge Erwachsene suchten. Der vorliegende Sammlertraum im XXL-Format zeigt aber nicht nur die ersten 21 Geschichten im Großformat, sondern enthält auch ein ausführliches Essay von Marvel-Redakteur Ralph Macchio, Originalkunstwerke, seltene Fotografien und vielen anderen Kostbarkeiten und Kleinodien. In enger Zusammenarbeit mit Marvel und der Certified Guaranty Company wurden die am besten erhaltenen Comics aufgeschlagen und für die Reproduktion abfotografiert und mit modernen Retuschetechniken digital überarbeitet. MARVEL COMICS LIBRARY ist übrigens eine exklusive, langfristige Zusammenarbeit zwischen TASCHEN und Marvel, die schon die seltensten Comic-Klassiker, darunter Spider-Man, Avengers und Captain America, in ihrer ursprünglichen Schönheit in extra-großem Format akribisch reproduziert hat. Jeder Band enthält ein Essay eines Comic-Historikers sowie Hunderte von Fotos und Fundstücken, sowie seltene Original-Comiczeichnungen.

 

David Mandel, Ralph Macchio
Marvel Comics Library.
Spider-Man. Vol. 1. 1962–1964
2021, Hardcover, 28 x 39,5 cm, 4,83 kg, 698 Seiten
Ausgabe: Englisch
ISBN 978-3-8365-8233-9
TASCHEN Verlag
€ 150


Genre: Comics, Erstausgaben, Graphic Novel, Sammlereditionen, Spiderman
Illustrated by Panini Comics

Alles Dunkel dieser Welt

Alles Dunkel dieser Welt. “Sing backwards and weep” (so der amerikanische Originaltitel) ist ein beklemmendes Geständnis eines Musikers, der die Neunziger mit seiner Band “Screaming Trees” ebenso prägte wie als Solist die heutige Zeit. Seine Kollaborationen mit Kurt Cobain, Pearl Jam, Marianne Faithfull, Moby, Queens of the Stone Age, UNKLE, Greg Dulli, PJ Harvey oder Isobell Campbell sind legendär. Der aus Ellensburg, Washington stammende Musiker lebt heute in Los Angeles.

Autorisierte authentische Autobiographie

“Gott, mach einen anderen Menschen aus mir!” Die Screaming Trees war eine 1985 in Seattle gegründete Band die den sog. Grunge-Sound ebenso mitgestaltete wie prägte. Allerdings blieb die Band um Mark Lanegen und die beiden Conner-Brüder (später kam noch Josh Homme dazu) kommerziell stets unter den Erwartungen zurück. Einzig das in einem mediokren Film über die Seattle-Grunge-Szneen (“Singles“) verwendete “Nearly Lost you” wurde zu ihrem Hit. Aber auch der wurde zum zweischneidigen Schwert: zwar brachte er ihnen Bekanntheit, aber statt ihrem zur selben Zeit erscheinenden AlbumA verkaufte er den Soundtrack des Films. Aber das ist nur eine von vielen Niederlagen, die Mark Lanegan in seinem Leben einstecken musste, wie er selbst entwaffnend und ehrlich wie seine Autobiografie geschrieben ist, zugibt. Als Sohn einer Alkoholikerin, die ihm stets nur Vorhaltungen machte, statt ihn zu lieben, schlitterte er selbst bald in die Drogenszene von Ellensburg. “Mit zwölf war ich ein notorischer Zucker, Jungalkoholiker, Dieb und Pornofan.” Vorerst blieb es zwar bei Gras und Alkohol, aber alsbald landete er bei Heroin und Crack. Ersteres konsumierte er laut eigenen Aussagen aber vor allem, um vom Alkohol loszukommen, denn sein Konsum machte einem gewissen Jim Morrison alle Ehre.

Mit dem Segen von Cash

Aber anders als letzterer, hatte Lanegan stets Geldsorgen und musste sich als Kleinkrimineller betätigen, um seine Süchte finanzieren zu können. Sein Repertoire reichte von einfachem Diebstahl bis hin zu Versicherungsbetrug und Einbruch. Und das alles schon als Minderjähriger. Als Erwachsener betätigte er sich dann lieber als Dealer, damit etwas von dem Stoff auch für ihn abfiel. Nebenbei belieferte er übrigens auch seinen Grunge-Kumpan Kurt Cobain oder sein großes musikalisches Vorbild Jeffrey Lee Pierce von Gunclub, aber auch mal Nick Cave und andere Musikgrößen. Die Erzählungen seiner Drogenkarriere sind schier unglaublich und oft frägt man sich, wie so ein Wrack überhaupt noch auftreten und singen konnte. Aber anders als viele seiner Kollegen der damaligen Ära überlebte Mark Lanegan wider Erwarten und steht heute als einer der gefragtesten Musiker ganz oben auf der Liste internationaler Booking-Agenturen. Denn seine Stimme hat einen Bass und ein Timbre, was selbst einem Johnny Cash Respekt abrollte: “Tut mir leid, dass ich deinen Namen nicht mehr weiß, mein Junge“, sagte Cash einige Zeit nach ihrer ersten Begegnung zu ihm, “aber an deine Stimme erinnere ich mich. Du hast mich fast in den Schatten gestellt bei unseren paar Auftritten“.

Vom Saulus zum Paulus

“Whitey Ford”, “Lucky”, “Old Scratch”, “Red” waren noch einige seiner schmeichelhaftesten Spitznamen mit denen der Rothaarige mit der rauen Stimme von seinen Mit-Junkies bezeichnet wurde. Denn neben seiner Suchtmentalität hatte Mark auch zeitlebens ein Gewaltproblem, das häufig dann auftrat, wenn er keinen Stoff auftreiben konnte. Eine Episode seiner Drogenbeschaffungskriminalität, die in Amsterdam stattfindet, liest sich wie ein Noir aus den Vierzigern, der einem die Gänsehaut aufsteigen lässt. Aber auch sein Verhältnis zum schwachen Geschlecht wird natürlich ausführlich thematisiert. Denn abgesehen davon, dass Lanegen nichts anbrennen ließ, handelte er sich auch allerhand Geschlechtskrankheiten ein. Aber es gab natürlich auch die Liebe in seinem Leben. Abgesehen von Deborah oder Shadow und Maria gab es auch eine gewissen Pattstellung zwischen Selene und Anna, seiner Langzeitbeziehung. Aber auch seine problematische Beziehung zu seiner Mutter, die ausgerechnet eine Dozentin für Elementarpädagogik war, und seiner Schwester wird von Lanegan aufgearbeitet. In seiner Erzählung zum Showdown bei Weihnachtsfest, erinnert Lanegan fast etwas an Raskolnikow, den Protagonisten aus Dostojewskijs “Schuld und Sühne“. Auch Rodion Romanowitsch Raskolnikow wollte die Heirat seiner Schwester verhindern. Wahrscheinlich ist es nur der Musik zu verdanken, dass Lanegan nicht zu einem amerikanischen Raskolnikow wurde. Aber vielleicht trifft das auch auf viele andere Künstler zu.

Ein beeindruckendes Werk, das einem gerade trotz und wegen des ganzen Macho-Shits einen selten empfundenen Eindruck von Authentizität vermittelt. Und vielleicht ist ihm sein in einer Nervenheilanstalt in größter Verzweiflung geäußerte Wunsch in Erfüllung gegangen. “Gott, mach einen anderen Menschen aus mir!” Sein umfangreiches Repertoire seit dem Ende der Screaming Trees im Jahre 2000 und seine vielseitigen Kollaborationen legen ein beeindruckendes Zeugnis davon ab, dass die Wandlung vom Saulus zum Paulus durchaus gelingen kann.

 

Mark Lanegan
Alles Dunkel dieser Welt. Eine Autobiografie
Aus dem Amerikanischen von Nicolai von Schweder-Schreiner
Originaltitel: Sing backwards and weep
Originalverlag: Orion
Hardcover, Pappband, 448 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-453-27344-3
€ 24,00 [D] € 24,70 [A]

Heyne Hardcore


Genre: Autobiographie, Grunge, Heroin, Neunziger, Seattle
Illustrated by Heyne Hardcore

Made in Washington

Made in Washington. “Keine andere Nation ist seit 1945 derart rabiat aufgetreten“, schreibt der Mitarbeiter des Berliner Kollegs Kalter Krieg in seinem Vorwort und die Bilanz der Außenpolitik der Supermacht USA der letzten 100 Jahre fällt in der Tat ernüchternd aus. Keine andere Nation hat mehr Militärstützpunkte als die USA und gibt mehr Geld für Rüstung aus.

Außenpolitik der USA: “ein Hauch von Casino”

In neun Kapiteln beschreibt Greiner die “Obsession in prekärer Nähe zu Hysterie und Paranoia“, die die Außenpolitik der Atommacht Nummer 1 seit ihrem Sieg im Zweiten Weltkrieg kennzeichnet. Mit dem Erstschlag gegen Japan machte sich die USA nämlich zur hegemonialen Weltmacht. Dabei hätte der Krieg auch ohne Atombombe beendet werden können, aber die USA legte schon damals wert auf das Prinzip der Abschreckung. Dafür mussten hunderttausende Japaner ihr Leben lassen. Nur die Sowjetunion konnte ihr noch die Stirn bieten und verhinderte eine monopolare, unilaterale Welt. Die “Redeemer Nation” oder auch “Chosen Country” baute in ihrer Sicherheitspolitik stets auf die eigene Sicherheit und weniger auf eine gemeinsame, wie Greiner ausführt. Darin enthalten waren durchaus auch Erstschläge gegen die Sowjetunion, “Operation Eggnog” war der Codename für einen imaginären gegen die UdSSR. Dabei spielte aber auch eine gute Portion theatralischer Gebärden und Bluffs eine Rolle. Gerade bei Nixon und Kissinger, der betonte: “Wann immer wir Gewalt einsetzen, müssen wir es auf eine leicht hysterische Weise tun“. Auch Psycho-Spiele (Psycho-Operationen, “psyops”) und Störmanöver wurden von den USA angewandt, um den scheinbar allgegenwärtigen Gegner zu verunsichern. “Von lupenreinen Glücksspiel zu sprechen, wäre übertrieben“, kommentiert Greiner, “Aber zumindest ein Hauch von Casino hängt beim Umgang mit Atomwaffen in der Luft.

Eine Sache im Stile der Nazis

Als erste Beispiele der folgenschweren Interventionen nennt Greiner im dritten Kapitel Guatemala und Iran, deren einziges “Verbrechen” darin lag, nationale Interessen zu verfolgen und eine eigene, unabhängige Wirtschaft aufzubauen, um das Vermächtnis des Kolonialismus endlich zu zerschlagen. “More bang for the buck” forderte Präsident Eisenhower von seinem Geheimdienst, der mit Hilfe von covert actions (verdeckten Aktionen), bald auch im Rest der Welt gewählte Regierungen aus den Angeln hob. Aber wie sagte es einer der letzten Präsidenten einmal: “Die USA sind die kriegerischste Nation in der Geschichte der Welt, weil wir andere Länder dazu zwingen wollen, unsere amerikanischen Prinzipien zu übernehmen”, so Jimmy Carter im Frühjahr 2019 vier der Bapistentgemeinde seiner Heimatstadt Plains in Georgia.

Made in Washington

Aufgrund des Glaubens, die USA seien unter allen Nationen der Welt die beste, leiten sich das Missionsbewusstsein und der amerikanische Imperialismus ab. Aber kann dies als Entschuldigung dafür gelten, dass die USA zwischen Mai 1964 und April 1973 2,1 Millionen Tonen Bomben über Laos abwarfen, dieselbe Menge, die man während des Zweiten Weltkriegs gegen sämtliche Zielgebiete in Europa und Asien eingesetzt hatte? Diese Menge an Bomben war ein Drittel der Zerstörungslast die im Laufe des Vietnamkrieges verbraucht wurde (6,7 Millionen Tonnen). Unvorstellbar was diesen Nationen angetan wurde und welche Konsequenzen das für die dortige Bevölkerung hatte. “Es war eine Sache im Stile der Nazis“, äußerte sich ein Vietnamasoldat im Interview mit dem Journalisten Seymour M. Hersh, der die Massaker in My Lai aufgedeckt hatte.

USA und Welt: eine Konfliktbeziehung

Bernd Greiner hat ein spannendes Buch geschrieben und es gut recherchiert. Markige Zitate der Ex-Präsidentn und anderer Beteiligter kommen ebenso zur Sprache wie Zahlen, Daten und Fakten. Dabei bleibt das Buch aber lesenswert und spannend wie ein Roman, der eben leider von der Realität übertroffen wird. Denn “was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben“, das passt tatsächlich auf keine Kuhhaut mehr. Das Sündenregister einer Großmacht, die mit ihrer “show of force” selbstherrlich und größenwahnsinnig einen ganzen Planeten zugrunderichtet. Im Namen der Freiheit.

Greiner, Bernd
Made in Washington
Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben
2021, Klappenbroschur, 288 S., mit 9 Abbildungen
ISBN: 978-3-406-77744-8
Bibliografische Reihen
C.H.Beck Paperback
16,95 €


Genre: Außenpolitik, Geschichte, Kubakrise, USA, Vietnam, Zeitgeschichte
Illustrated by C.H. Beck München

Batman – Die Maske im Spiegel 3

Batman – Die Maske im Spiegel 3. Im dritten Teil der aufsehenerregende Neuinterpretation des Batman Mythos von Zeichner Andrea Sorrentino und Autor Mattson Tomlin spielt ein Doppelgänger eine undurchsichtige Rolle. Das “Black Label” in dessen Rahmen die vorliegenden Episoden um den Dunklen Ritter stattfinden ist immer wieder für Überraschungen gut.

Bruce und sein Shrink

So hat Batman erstmals in seiner Geschichte auch einen Psychiater, Dr. Leslie Thompinks, die versucht, ihn vom Beenden seines obsessiven, perspektivlosen Kreuzzugs gegen das Verbrechen zu überzeugen. Aber auch eine Polizistin, Blair Wong, die ein ähnliches Schicksal wie Bruce Wayne teilt, ist Batman dicht auf den Fersen. Das gemeinsame Schicksal verbindet sie sogar so sehr, dass sie ein Liebespaar werden, wodurch Bats die Gelegenheit bekommt, in Wongs Polizeiakten zu stöbern und erfährt, dass alle kriminellen Opfer des Batman-Doppelgängers im Blackgate Gefängnis einsaßen und durch eine korrupten Richter vorzeitig entlassen wurden. Der Kammerjäger Otis Flannegan half dem falschen Fledermausritter bei seinen Morden, im Glauben, er würde den echten und gerechten Batman bei seiner ebenso gerechten Sache unterstützen. Der dritte Teil der Serie läuft auf einen Showdown hinaus, der unweigerlich aus einem Duell der beiden Batmans bestehen muss. Oder gibt es doch noch eine andere Möglichkeit?

Batman in neuer Perspektive

“Batman ist eine Belastung für Bruce Wayne”, sagt ihm seine Psychiaterin Dr. Leslie Thompinks, “ich weiß, ich kann dich nicht stoppen, aber ich hoffe du hörst mich an…”. “Wenn du auch nur die Hälfte der Energie erhieltest, die sich Batman nimmt … Wenn Du deine erheblichen Ressourcen zum Wohle der Stadt nutzen würdest… Dann könntest auch du etwas bewirken!” Der falsche Batman, der Doppelgänger oder Imposter, hält dem echten Batman im Grunde nur einen Spiegel vor, die “Maske im Spiegel”. Denn tatsächlich muss erst Bruce Wayne geheilt werden, bevor Batman seinen Rachefeldzug gegen das Verbrechen beenden kann. Die Neuinterpretation des Batman Mythos von Mattson Tomlin und Andrea Sorrentino überrascht nicht nur mit diesem neuen Lösungsmuster und Auftrag für Bruce Wayne, sondern auch mit einem ganz eigenen artwork und Zeichenstil, der wohl ebenso die engen Grenzen des Genres sprengt, wie dessen Inhalt. Und genau das macht das Black Label so ansprechend: dass es mit Tabus bricht. “Es ist (eben) nicht einfach, seinen Namen reinzuwaschen, wenn man sich hinter einer Maske versteckt!” Die eigenständige Alben-Trilogie von Filmemacher Mattson Tomlin (Project Power) und Zeichnerin Andrea Sorrentino (JOKER: KILLER SMILE) ist mit diesem dritten Teil (leider) abgeschlossen.

Mattson Tomlin/Andrea Sorrentino
Batman – Die Maske im Spiegel 3
(Original Storys: Batman: The Imposter 3)
2021, Hardcover, 68 Seiten
ISBN: 9783741625596
Panini Verlag
14,00 €


Genre: Comics, Gothic Novel, Krimi, Noir, Thriller, Trilogie
Illustrated by Panini Comics

Die Säufer und Säuferinnen (Philosophen, Band 1)

Die Säufer der Philosophen

Die Säufer und Säuferinnen (Philosophen, Band 1). Die fünf oben genannten AutoriInnen haben sich im ersten Band auf folgende Säufer und Säuferinnen einigen können: Alan Watts (Der buddhistische LSD-Priester), Helene von Druskowitz (Die Vergessene), Salomon Maimon (Der einsame, dichte Bettler), Ayn Rand (Die Egoistin), Georg W. F. Hegel (Der systematische Trinker), Walter Benjamin (Der Kiffer), Carolin Emcke (Dre etwas andere Säuferin), Friedrich Nietzsche (Der gebrechliche Übermensch). Mit dabei ist natürlich auch der am Cover abgebildete Karl Marx, der “Pöbler”.

Säufer und Säuferinnen der Philosophen

Von letzterem könnte man tatsächlich den Eindruck bekommen als wäre er am Tropfer gehangen. Der Sohn eines Winzers aus Trier soll nicht nur cholerisch, sondern zudem auch rassistisch und antisemitisch gewesen sein. Ein Zeitgenosse meinte über ihn: “Die Existenz des Marx besteht in Pendelschwingungen zwischen Champagner und Pfandhaus” (Edgar Bauer). In London soll er Kneipentouren mit Liebknecht unternommen haben und sogar “seinen” berühmten Imperativ, “Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!”, soll er einer Frau (Flora Tristan) geklaut haben. Übers Saufen sei er auch zur Ökonomie gekommen, wie er sogar selbst sagte. Jetzt weiß man also endlich auch, was er in der rechten Hand unter seinem Frack hält (Titelfoto!). Der Katapult-Verlag, der für seine Grafiken bekannt ist, hat auch diesen Text über Karl Marx sowie all die anderen “SäuferInnen” in vorliegendem Buch reich illustriert und zeigt nicht nur die revolutionären Erhebungen von 1848 sondern auch Marx’ Einflüsse, die bis heute reichen. Etwa zu Michel Foucault, der 1954 am französischen Kulturinstitut in Uppsala arbeitet und sich einen beigen Jaguar kaufte. Berühmt geworden ist er allerdings nicht dafür, sondern für seine unbezahlbare Genialität, die er vielleicht auch durch regelmäßigen LSD-Konsum erwarb.

Ideologien mit Schnaps & Co

Vor Nachahmung wird gewarnt, das eigene Leben als Kunstwerk zu begreifen, das können wir aber vielleicht alle noch von Foucault lernen. Als vergnügungssüchtige Frauen unter den Philosophinnen wird neben Simone de Beauvoir, die gerne Aprikosencocktails schlürfte, auch die Lieblingsmuse der egoistischen Kapitalisten, Ayn Rand genannt werden. Sie habe ihre Bücher stets auf Speed geschrieben und gequarzt wie ein Kamin. Als Verfechterin des uneingeschränkten Egoismus war sie auch gegen Feminismus und Umweltpolitik und natürlich den Sozialstaat. Ihre Familie wurde durch den Bolschewismus enteignet und so wurde der Kollektivismus zum Feindbild ihres abgöttisch verehrten Individualismus. Ein anderes Gegensatzpaar war für sich auch der Altruismus und der Egoismus, Vertreter des ersteren Begriffs bezeichnete sie gar als Monster. Bei der Ideologin des amerikanischen Traums (mit Fleiß und harter Arbeit kann man alle erreichen) finden heute noch viele Politiker ihre Zitate, Donald Trump war nur einer davon.

Die vorliegende, sehr unterhaltsame Publikation des Katapult Verlages ist so bunt wie ihre Grafiken und geben eine gute Einführung in einige der wichtigsten VertreterInnen der hedonistischen PhilosophInnen. Davon soll es einige gegeben haben, wie die Ankündigung eines zweiten Bandes jetzt schon vermuten lässt. Man darf also gespannt sein, wer noch alles dem Teufel Alkohol oder anderer Substanzen seine eigene Existenz verdankt. Selbstverständlich wären alle oben Genannten aber auch ohne stimulierenden Hilfsmittel ebenso wenn nicht noch mehr genial gewesen.

Benjamin Friedrich/Alexander Fürniß/Sebastian Haupt/Juli Katz/Tobias Müller

Die Säufer und Säuferinnen (Philosophen, Band 1)
2. Auflage, 248 Seiten, Hardcover, 20 Euro (D)
ISBN 978-3-948923-04-4
Katapult Verlag


Illustrated by Katapult

Trauer ist das Glück, geliebt zu haben

Trauer ist das Glück, geliebt zu haben. “Trauer war die Feier der Liebe, diejenigen, die echte Trauer verspüren konnten, hatten das Glück, geliebt zu haben”, schreibt die Autorin von “Americanah”, das 2015 auch bei S. Fischer erschienen ist. Was für ein schöner Titel für ein Buch, was für ein schöner Satz. Auch wenn er leider aus einem traurigen Anlass geschrieben wurde.

Trauer und Verlust des Vaters

Chimamanda Adichie verlor durch die weltweite Pandemie so wie viele andere auch ihren Vater. Sie schreibt stellvertretend für die mit ihr Trauernden über den Verlust eines geliebten Menschen, der durch nichts aufzuwiegen ist. “Nie wieder” schreibt sie, “nie wieder wer ich das Lachen lachen, das ich mit ihm lachte”. Dieses “Nie Wieder” fühlt sich wie eine unfaire Strafe an, denn für den Rest ihres Lebens wird die 42-jährige nun ihre Hände nach etwas ausstrecken, das nicht mehr da ist. Die Nachricht vom Tod ihres Vaters war “wie eine grausame Entwurzelung. Ich werde aus der Welt gerissen, die ich seit meiner Kindheit gekannt habe”. Anfangs glaubt sie, dagegen Widerstand leisten zu können, doch bald ist sie auch mit ihren Erinnerungen allein. All die Kondolenzbriefe und Beteuerungen können die Trauer nicht ersetzen, es sei denn, jemand der anderen Trauerenden erzählt eine konkrete, unverfälschte Erinnerung an ihren Vater, von Menschen, die ihn kannten. Diese Worte trösten am meisten und erfüllen sie mit Wärme, schreibt sie. Aber Trauer bedeutet auch Wut und Zorn. Eine Anklage an die Ungerechtigkeit der Schöpfung und das Ende der Kindheit. Gerade dann, wenn die Eltern sterben, wird man unweigerlich erwachsen: man ist allein.

Memento mori für integre Vaterfigur

“Suche Frieden in deinen Erinnerungen.” Wie viele andere in ihrer Situation stellt sie sich die Frage, wie es möglich ist, dass die Welt sich weiterdreht, unverändert ein und ausatmet, wie man noch funktionieren kann nach so einem Verlust, wie es andere machen, damit zu leben. Sie war ein “Professorenkind” und liebte ihren Vater für seine Integrität. Er war kein Materialist, und das in einem Land, wo der “kompromisslose Ethos der Raffgier” überall herrscht, eine “hemmungslose, allgegenwärtige Habsucht”. In seinen letzten Jahren hatte ihr Vater sich in ihrem Heimatort Abba gegen diesen Materialismus eingesetzt. Ein Milliardär wollt sich das angestammte Land unter den Nagel reißen und verleumdete die Bewohner bei den Behörden. Ihr Vater war sogar entführt worden. “Zur Trauer gehört als eine ihrer vielen schrecklichen Komponenten das Einsetzen des Zweifels. Nein, ich bilde es mir nicht ein. Ja, mein Vater war wirklich wunderbar.”

In 30 kurzen, einfach geschriebenen Kapiteln erzählt Chimamanda Ngozi Adichie von ihrer Trauer über ihren verstorbenen und macht sich zum Sprachohr aller, die mit ihr trauern. Ein hilfreiches Buch für Situationen wie diese. Als leiser Trost bleibt: wer trauert, erfährt die Liebe neu.

Chimamanda Ngozi Adichie
Trauer ist das Glück, geliebt zu haben
Übersetzt von: Anette Grube
2021, Hardcover, 80 Seiten
ISBN: 978-3-10-397118-7
S. Fischer Verlag


Genre: Abschied, Biographie, Corona, Pandemie, Trauer, Verlust
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Starman – David Bowie’s Ziggy Stardust Years. Band 1

Starman – David Bowie’s Ziggy Stardust Years

Starman. Die Überraschung die am Ende dieses Comics auf die LeserInnen wartet, darf verraten werden: Es wird einen 2. Band mit dem Titel “LOW – David Bowie’s Berlin Years” geben. Also quasi eine Fortsetzung der Lebensgeschichte des am 10. Jänner 2016 verstorbenen Popmusikers und Schauspielers.

Starman – David Bowie’s Ziggy Stardust

Reinhard Kleist, der schon ähnliche Bios zu Johnny Cash und Nick Cave verfasst und gezeichnet hat, zeigt uns den Aufstieg von David Robert Jones aus Brixton. Als David schulreif war, zogen die Jones in den Londoner Mittelklasse-Vorort Bromley, was für ihre beiden Söhne Terry und David tödliche Langeweile bedeutete. Aber die beiden Jungs fanden bald Interesse an Musik und begannen, von Amerika zu träumen. Mit gerade einmal 25 Jahren hatte David Bowie seinen Rock’n’Roll-Messias Ziggy Stardust erschaffen und tourte mit den Spiders of Mars durch die USA. Aber schon ein Jahr später, am 3. Juli 1973 ließ er Ziggy Stardust beim letzten Konzert seiner Welttournee im Londoner Hammersmith Odeon sterben. Genau diese Zeit lässt Reinhard Kleist in seiner Erzählung neu auferstehen, erklärt aber auch in Rückblenden wie es dazu kam, was Bowie zuvor machte und geht auch auf die triste, soziale Situation im England der Siebziger Jahre ein.

Major Tom, verloren im Weltraum

Außerdem erfährt der aufmerksame Leser auch, wie David Bowie zu seinen beiden unterschiedlichen Augenfarben kam und wer dafür verantwortlich zeichnete. Aber nicht nur seine Musik und sein Aussehen spielten beim Aufstieg von “Ziggy Stardust” eine wichtige Rolle, sondern auch seine Outfits, die von dem japanischen Designer Kansai Yamamoto stammten. Besonders in Erinnerung bleibt auch die Szene, in der Kleist seinen “Starman” im Weltraumkostüm zu Text von Space Oddity in den Weltraum entschweben lässt. Die autobiographischen Anteile des Textes werden durch die persönliche Situation in die Kleist seinen Protagonisten gezeichnet hat, augenscheinlich. Auch der positive Einfluss den Angie Bowie auf die Karriere ihres Ehemanns hatte wird gewürdigt. Während der Einfluss den Bowie auf Iggy Pop wiederum weniger positiv bewertet wird. Denn bald wird klar: Die Maske zeigt sein wahres Gesicht.

Vom Gender Folk zum Glam Rock

Starman – die Luxusausgabe

Bowie Kalender 2022 im Kleist Design mit 12 Postkarten

Wohl auch aus diesem Grund ließ David Bowie seinen Ziggy sterben und legte sich ein neues Image zu. Aladdin Sane: A lad insane. Gut getroffen sind auch die Zwiegespräche die David mit seinem Spiegelbild hält oder als er in einer typisch englischen Telefonzelle (die auch auf dem Cover des Albums zu sehen ist) mit seinem Bruder Terry telefoniert, der längst in eine Irrenanstalt eingeliefert wurde. Vom Gender Folk zum Glam Rock eines Lou Reed, Marc Bolan oder Gary Glitter war nur eine Etappe der Karriere des Popchamäleons, das noch viele Metamorphosen durchmachte. Die Farbgebung stammt von Thomas Gilke. Einziger Wermutstropfen: das Format ist etwas zu klein. Aber dafür gibt es noch eine Luxusausgabe. Die ist vom Format zwar gleich, ist dafür aber auf besonders hochwertigem Papier gedruckt und mit einem handsignierten Druck ausgestattet und wird in limitierter Auflage angeboten. Zudem ist 2022 noch ein Bowie Kalender erschienen, der auch 12 Postkarten zum Verschicken enthält.

Reinhard Kleist
Starman – David Bowie’s Ziggy Stardust Years. Band 1
2021, Hardcover, 176 Seitenzahl, Größe 198 mm x 265 mm, ab 14 Jahren
ISBN 978-3-551-79362-1
Carlsen Verlag


Genre: Biographie, Comic, Glam Rock, Graphic Novel, Musik, Rockmusik, Siebziger
Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

Catwoman – Anthologie

Catwoman – Anthologie. Der vorliegende Sammelband zeigt das Können der Zeichner Bob Kane, Jim Balent, Sean Phillips, Tim Sale und der Autoren Bill Finger, Dennis O’Neil, Jeph Loeb, Mindy Newell in einer einzigartigen, fast 400 Seiten starken Publikation versammelt, wie es sie noch nie im deutschsprachigen Raum gab. Denn Catwoman ist längst zu einem Archetyp geworden, der nicht nur Comicfans begeistert und diese Hommage längst verdient hat.

Catwoman Anthologie. Auf dem Index?

Anfangs trat sie noch in eher kindlichen Zeichnungen in einem violetten Kleidkostüm auf, doch bald wurde sie in Lederdress und -peitsche zur Ikone der S/M-Szene. Als Vorbild hielten nicht nur Hedy Lamarr und Jean Harlow her, sondern sie wurde später im Film sogar von Hollywoodgrößen wie Halle Berry oder Kim Basinger und demnächst (2022) – eine weitere Sensation – von Zoe Kravitz (Tochter von Lisa Bonet und Lenny Kravitz) verkörpert. Ursprünglich noch als “The Cat” bezeichnet war Selina Kyles vor allem als Juwelendiebin und Partnerin von Batman Erzfeind The Joker bekannt und berüchtigt. Aber bald schon nahm sie den Reichen und gab den Armen, ganz so wie Robin Hood. Zwischen 1954 und 1966 unterlag sie aufgrund ihres zwielichtigen, ambivalenten Verhaltens sogar dem Comic Code und verschwand gänzlich aus allen Publikationen. Dafür war ihr Comeback danach umso stärker.

Catwoman und Cat- oder Batman?

In einem ihrer ersten gemeinsamen Abenteuer (Batman 1, 1940), das auch in vorliegendem Band abgedruckt ist, betätigt sie sich als Juwelendiebin auf einem Luxusdampfer und Batman lässt sie willentlich entkommen, was den Argwohn seines Mitstreiters Robin erregt. Kann es sein, dass sich der Dunkle Ritter gar verliebt hat? Bemerkenswert ist dies auch deswegen, weil im selben Strip Batman auch als Lehrer auftritt, der seinen jungen LeserInnen zeigen will, wie feige Ganoven sind, die eine Pistole tragen. Und wie elegant solche mit Krallen sind. Ambivalenz also auch hier, auf Seiten des Gesetzes. Aber die Mystery Men – wie die Superhelden damals noch genannt wurden – haben eben auch menschliche Züge und erliegen durchaus auch weiblichem Charme. 1952 erschien ein Batman Comic, in dem selbiger den “King of Cats” bekämpfen musste. Aber letzterer bekommt unerwartete Unterstützung von Catwoman, was die Eifersucht des Dunklen Ritters auslöst, schließlich wäre er selbst gerne der von Catwoman bewunderte und beschützte. Die Pointe lässt nicht auf sich warten und wird hier nicht verraten, nur soviel: schade, dass der King of Cars nie mehr als Protagonist auftauchte. Umso schöner, dass er in vorliegender Anthologie wieder einen – wenn auch zu kurzen – Auftritt hat.

Cat-astrophe im Rotlichtmilieu

Eine weitere Cat-astrophe bedeutet auch das Abenteuer aus dem Jahre 1980 (Batman 323, „The Cat Who Would Be King“). Am Stadtrand von Gotham City in einer Katakombe fängt der furchterregende Cat-Man, der Mann mit den neun Leben, Batman und Catwoman in einem Spinnennetz. Ein aussichtsloser Kampf beginnt, aber das Teamwork sticht dann doch. Ganz schön düster geht es in „Die Autobiographie von Bruce Wayne” (“The Brave and the Bold“, Batman 197, April 1983) zu, denn die LeserInnen erfahren nicht nur intime Details über Bruce Wayne, sondern auch, warum Selina Kyle zu Catwoman wurde. Aber am Ende wird sogar geheiratet! Auch die Story von Mindy Newell, “Catwoman Metamorphose” ist vom Artwork besonders hervorzuheben, nicht nur dass die Story extrem düster ist und im Rotlichtmilieu spielt, es ist auch genau di Geschichte, in der Selina erstmals ihren Leder-Jumpsuit trägt, der sie auch in Hollywood populär machte. Die Story erinnert etwas an V for Vendetta und ist ebenso authentisch wie diese, ein echter Comic Noir aus den Achtzigern. Schließlich darf auch das Werk von Jeph Loeb, “Hush” (Batman 617, 2003), nicht unerwähnt bleiben, in dem die Zeichnungen von Jim Lee ein wahres Feuerwerk im Gehirn entfachen. Denn nicht nur das Lettering und die Farben sind beeindruckend, sondern auch die Perspektiven, Großformate und die Interpretation von Scarecrow sowie Huntress und Catwoman. Davon würde man gerne mehr sehen. Kurzum: eine dicke Hommage an eine weiblich Ikone der Popkultur, die zensiert wurde, weil sie ein zu starkes Frauenbild in einer von Männern dominierten Welt verkörperte. Aber seit 1966 schlägt Catwoman wieder zurück. In einer (leider) immer noch von Männern dominierten Welt.

Bill Finger, Dennis O’Neil, Jeph Loeb, Mindy Newell

Catwoman – Anthologie

Original Storys: Batman (2016) 14, 37, Batman 1, 3, 65, 69, 323-324, 617, Catwoman (1989) 1, Catwoman (1993) 28, Catwoman (2002) 32, Catwoman (2011) 1, Catwoman (2018) 1, Catwoman: When in Rome 4, DC Super-Stars 17, Superman’s Girl Friend Lois Lane 70-71, The Brave and the Bold 197

2021, Hardcover, 396 Seiten

ISBN: 9783741624827

Panini Verlag

39,00 €


Genre: Anthologie, Batman, Catwoman, Comics, Graphic Novel
Illustrated by Panini Comics

Batman/Catwoman 1-3

Batman/Catwoman 1-3: Die Geschichte einer großen Liebe. Zeichner Clay Mann und Autor Tom King haben gemeinsam eine dreiteilige Love-Story umgesetzt, deren erster  und zweiter Teil soeben bei Panini erschienen sind. Schon das Cover zeigt die beiden eng umschlungen. Aber während Catwoman dem Betrachter direkt ins Auge blickt, schweift Batman’s Blick ab. Es scheint als hätte er bereits anderes im Sinne.

Batman und Catwoman: stille Nacht, heilige Nacht

Katze und Fledermaus. Könnte es zwei gegensätzlichere Tiere geben? Aber die beiden Tiere sind ja nur die Embleme und doch verraten sie auch etwas über die Charaktere der beiden Träger. Die ersten scharf konturierten Bilder der Trilogie unter dem DC Black Label werden zu den Klängen von “Stille Nacht” eröffnet und zeigen die rothaarige Andrea Beaumont, die in einem anderen Abenteuer als Phantom zum Racheengel wurde, beim Teetrinken bei Bruce Wayne. Alfred, der Butler von Wayne, lebt nicht mehr. Kenner von Tom Kings Werken wissen, dass Alfred Penyworth in einer anderen Geschichte von ihm (Das Hochzeitsalbum) gestorben ist und Bat und Cat eine Tochter namens Helena haben. Aber auch schon zuvor erfand King eine alternative Batman/Catwoman Welt in der die beiden sich zwar verloben, Selina aber auf eine Hochzeit verzichtet, damit Batman der Welt als Jäger der Schurken erhalten bleibt. Sie opfert also ihr und sein privates Glück dem Weiterbestehen Gothams. Ganz anders in diesem Abenteuer. Schon bei der ersten zeichnerischen Begegnung der beiden fallen sie sich in die Arme und küssen sich innig. Ein Traumpaar. Die Geschichte einer großen Liebe?

Bat und Cat versus The Joker

Natürlich gibt es immer wieder einen, der diese Idylle stört. Der Joker tritt auf und fordert seinen Tribut. Schließlich hatte er einst Selina aus der Gosse geholt und aus ihr Catwoman, die Meisterdiebin gemacht. Und dann taucht noch ein anderer geheimnisvoller Killer auf, der den Wahnsinn des Jokers ergänzt. Aber auch auf der Seite der Guten wächst eine unerwartete Unterstützung heran: Batgirl. „To save us all from Satan’s Power when we were gone astray”, singt der Joker, auch das ein Weihnachtslied, während Selina ihrem Todesengel begegnet. Wird Batman sie vor dem Zweikampf bewahren können? Und was für eine Rolle spielt der Joker bei diesem dunklen Abenteuer, das hoffentlich bald seine Fortsetzung erfährt. Band 2 ist bereits erschienen und wird eine Selina Kyle zeigen, die sich ihres Katzencharakters durchaus bewusst ist. Band 3 wird es wohl im Frühjahr zu sehen und (er)staunen geben. Wenn die Stille Nacht wohl schon vorbei sein wird…

Clay Mann/Tom King

Batman/Catwoman 1

Original-Storys: Batman/Catwoman 1-3

2021, Hardcover, 84 Seiten, Format ca. 21 x 32 cm

ISBN: 9783741624537

Panini

18,00 €


Genre: Catwoman, Comics, Graphic Novel
Illustrated by Panini Comics