Alles Dunkel dieser Welt. “Sing backwards and weep” (so der amerikanische Originaltitel) ist ein beklemmendes Geständnis eines Musikers, der die Neunziger mit seiner Band “Screaming Trees” ebenso prägte wie als Solist die heutige Zeit. Seine Kollaborationen mit Kurt Cobain, Pearl Jam, Marianne Faithfull, Moby, Queens of the Stone Age, UNKLE, Greg Dulli, PJ Harvey oder Isobell Campbell sind legendär. Der aus Ellensburg, Washington stammende Musiker lebt heute in Los Angeles.
Autorisierte authentische Autobiographie
“Gott, mach einen anderen Menschen aus mir!” Die Screaming Trees war eine 1985 in Seattle gegründete Band die den sog. Grunge-Sound ebenso mitgestaltete wie prägte. Allerdings blieb die Band um Mark Lanegen und die beiden Conner-Brüder (später kam noch Josh Homme dazu) kommerziell stets unter den Erwartungen zurück. Einzig das in einem mediokren Film über die Seattle-Grunge-Szneen (“Singles“) verwendete “Nearly Lost you” wurde zu ihrem Hit. Aber auch der wurde zum zweischneidigen Schwert: zwar brachte er ihnen Bekanntheit, aber statt ihrem zur selben Zeit erscheinenden AlbumA verkaufte er den Soundtrack des Films. Aber das ist nur eine von vielen Niederlagen, die Mark Lanegan in seinem Leben einstecken musste, wie er selbst entwaffnend und ehrlich wie seine Autobiografie geschrieben ist, zugibt. Als Sohn einer Alkoholikerin, die ihm stets nur Vorhaltungen machte, statt ihn zu lieben, schlitterte er selbst bald in die Drogenszene von Ellensburg. “Mit zwölf war ich ein notorischer Zucker, Jungalkoholiker, Dieb und Pornofan.” Vorerst blieb es zwar bei Gras und Alkohol, aber alsbald landete er bei Heroin und Crack. Ersteres konsumierte er laut eigenen Aussagen aber vor allem, um vom Alkohol loszukommen, denn sein Konsum machte einem gewissen Jim Morrison alle Ehre.
Mit dem Segen von Cash
Aber anders als letzterer, hatte Lanegan stets Geldsorgen und musste sich als Kleinkrimineller betätigen, um seine Süchte finanzieren zu können. Sein Repertoire reichte von einfachem Diebstahl bis hin zu Versicherungsbetrug und Einbruch. Und das alles schon als Minderjähriger. Als Erwachsener betätigte er sich dann lieber als Dealer, damit etwas von dem Stoff auch für ihn abfiel. Nebenbei belieferte er übrigens auch seinen Grunge-Kumpan Kurt Cobain oder sein großes musikalisches Vorbild Jeffrey Lee Pierce von Gunclub, aber auch mal Nick Cave und andere Musikgrößen. Die Erzählungen seiner Drogenkarriere sind schier unglaublich und oft frägt man sich, wie so ein Wrack überhaupt noch auftreten und singen konnte. Aber anders als viele seiner Kollegen der damaligen Ära überlebte Mark Lanegan wider Erwarten und steht heute als einer der gefragtesten Musiker ganz oben auf der Liste internationaler Booking-Agenturen. Denn seine Stimme hat einen Bass und ein Timbre, was selbst einem Johnny Cash Respekt abrollte: “Tut mir leid, dass ich deinen Namen nicht mehr weiß, mein Junge“, sagte Cash einige Zeit nach ihrer ersten Begegnung zu ihm, “aber an deine Stimme erinnere ich mich. Du hast mich fast in den Schatten gestellt bei unseren paar Auftritten“.
Vom Saulus zum Paulus
“Whitey Ford”, “Lucky”, “Old Scratch”, “Red” waren noch einige seiner schmeichelhaftesten Spitznamen mit denen der Rothaarige mit der rauen Stimme von seinen Mit-Junkies bezeichnet wurde. Denn neben seiner Suchtmentalität hatte Mark auch zeitlebens ein Gewaltproblem, das häufig dann auftrat, wenn er keinen Stoff auftreiben konnte. Eine Episode seiner Drogenbeschaffungskriminalität, die in Amsterdam stattfindet, liest sich wie ein Noir aus den Vierzigern, der einem die Gänsehaut aufsteigen lässt. Aber auch sein Verhältnis zum schwachen Geschlecht wird natürlich ausführlich thematisiert. Denn abgesehen davon, dass Lanegen nichts anbrennen ließ, handelte er sich auch allerhand Geschlechtskrankheiten ein. Aber es gab natürlich auch die Liebe in seinem Leben. Abgesehen von Deborah oder Shadow und Maria gab es auch eine gewissen Pattstellung zwischen Selene und Anna, seiner Langzeitbeziehung. Aber auch seine problematische Beziehung zu seiner Mutter, die ausgerechnet eine Dozentin für Elementarpädagogik war, und seiner Schwester wird von Lanegan aufgearbeitet. In seiner Erzählung zum Showdown bei Weihnachtsfest, erinnert Lanegan fast etwas an Raskolnikow, den Protagonisten aus Dostojewskijs “Schuld und Sühne“. Auch Rodion Romanowitsch Raskolnikow wollte die Heirat seiner Schwester verhindern. Wahrscheinlich ist es nur der Musik zu verdanken, dass Lanegan nicht zu einem amerikanischen Raskolnikow wurde. Aber vielleicht trifft das auch auf viele andere Künstler zu.
Ein beeindruckendes Werk, das einem gerade trotz und wegen des ganzen Macho-Shits einen selten empfundenen Eindruck von Authentizität vermittelt. Und vielleicht ist ihm sein in einer Nervenheilanstalt in größter Verzweiflung geäußerte Wunsch in Erfüllung gegangen. “Gott, mach einen anderen Menschen aus mir!” Sein umfangreiches Repertoire seit dem Ende der Screaming Trees im Jahre 2000 und seine vielseitigen Kollaborationen legen ein beeindruckendes Zeugnis davon ab, dass die Wandlung vom Saulus zum Paulus durchaus gelingen kann.
Mark Lanegan
Alles Dunkel dieser Welt. Eine Autobiografie
Aus dem Amerikanischen von Nicolai von Schweder-Schreiner
Originaltitel: Sing backwards and weep
Originalverlag: Orion
Hardcover, Pappband, 448 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-453-27344-3
€ 24,00 [D] € 24,70 [A]