Die Kindheit Jesu

Vom Circulus vitiosus des Begehrens

Der Roman «Die Kindheit Jesu» des südafrikanischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers J. M. Coetzee erinnert in seiner Thematik unwillkürlich an «Utopia» von Thomas Morus. «Ein», wie es im lateinischen Beitext von 1516 heißt, «wahrhaft goldenes Büchlein, nicht minder heilsam als unterhaltsam», das vor mehr als fünfhundert Jahren den Anstoß zum literarischen Genre der Sozialutopie gab. Auch bei Coetzee geht es um eine ideale Gesellschaft, deren detaillierte Beschreibung den Effekt hat, immer wieder neue philosophische Aspekte aufzugreifen. Der Leser wird in eine bezwingend klare, moralisch nachdenklich machende Gedankenwelt mitgenommen, die auch kafkaeske Züge trägt.

Auf einem Auswanderer-Schiff nimmt sich Simon, ein 54jähriger Mann, dem etwa fünfjährigen David an, der mutterseelenallein unter den Emigranten ist. David hat einen Brief, den er um den Hals bei sich trug und der seine Herkunft hätte klären können, verloren. Über seine Vergangenheit kann er keinerlei Auskünfte geben, nicht einmal seinen richtigen Namen weiß er. Auch Simon ist, wie es im Roman heißt, «reingewaschen von der Vergangenheit», die Einwanderungs-Behörde hat ihnen beiden einen neuen Namen zugewiesen und sorgt auch für eine Unterkunft. Simon hat sich vorgenommen, Davids Mutter zu finden, die vor ihm hierher gekommen sein muss, da ist er sich sicher. Er findet eine Arbeit als Schauermann im Hafen am Pier für Getreide. Über eine steile Leiter und eine schmale Planke muss er die schweren Säcke aus dem Schiffsrumpf an Land tragen, eine mühsame und ungewohnte Arbeit für ihn.

Der Vorarbeiter und die Kollegen sind äußerst nett zu ihm, er wird schnell in ihren Kreis aufgenommen. Als er nach einiger Zeit seinen Vorarbeiter fragt, warum diese schwere Arbeit nicht mit Hilfe eines Krans erledigt wird, löst er großes Erstaunen auch bei den Kollegen aus. Man hält ihm vor, das würde ja viele von ihnen als Arbeitskraft ersetzen, und dann wäre es ihnen ja sehr langweilig. Nach intensiver Diskussion beschließen die Männer gleichwohl, von der Baubehörde einen Kran auszuleihen und ihn probeweise einzusetzen. Aber nach einem anfänglichen Unfall mit herabfallender Ladung kehrt man wieder zur alten Methode zurück. Auch die Tatsache, dass in dem riesigen Getreidespeicher der Stadt eine Rattenplage herrscht, wird als ganz normal hingenommen. Die Bevölkerung ernährt sich fast ausschließlich von Brot und Wasser, höhere Ansprüche hat man nicht. Alle Wohnungen sind kostenlos und werden jedem von einer Behörde zugeteilt, und auch das Busfahren ist umsonst. Den Menschen ist eine leidenschaftslose Gelassenheit zueigen, sie sind absolut anspruchslos und kennen keinerlei Neidgefühle. Simon findet schließlich in einer Tennisspielerin die Mutter für David, und er kann sie tatsächlich überzeugen, diese Rolle anzunehmen. Der Junge erweist sich als hochintelligent, aber auch als sehr störrisch und eigensinnig. Die vielen Passagen seiner – extrem antiautoritären – Erziehung sind entschieden zu lang geraten und beeinträchtigen dadurch leider deutlich spürbar die eigentliche, gesellschafts-kritische Intention des Autors!

Ironisch weist Coetzee mit dem Buchtitel auf die Bibel hin, während er sich in seiner Geschichte dann aber auf Cervantes und den «Don Quichotte» bezieht, dem besten Buch der Welt, wie eine von der Nobelstiftung ausgewählte Jury aus 100 bekannten Schriftstellern im Jahre 2002 befand. Ein zeitloses Werk, das sinnbildlich für einen idealisierenden Heroismus steht. Das Streben nach mehr, so die Botschaft auch von Coetzee, erweist sich als sinnlos, weil hinter der Erfüllung der Wünsche dann gleich wieder ein neues Verlangen wartet, ein Circulus vitiosus also, der symptomatisch verkörpert ist im kapitalistischen System mit seinem Konsumterror. Das Begehren ist den Bewohnern dieses seltsamen Landes nämlich absolut fremd, ihre Bedürfnislosigkeit existiert sogar beim Sex, den es hier eigentlich nur auf Krankenschein gibt. Intellektuell auf hohem Niveau, brennt der Autor geradezu ein Feuerwerk ab an tiefschürfenden philosophischen Diskussionen, die bereichernd sind und oft sogar recht amüsant!

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
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Schande

Tribut an Südafrikas Geschichte

Er sei ein Schriftsteller, «der in zahlreichen Verkleidungen die überrumpelnde Teilhabe des Außenseitertums darstellt», hat das Nobelkomitee die Preisvergabe an John Maxwell Coetzee begründet, es hat damit sehr treffend auch den Roman «Schande» von 1999 charakterisiert. Die Rezeption seiner Werke ist eine einzige Erfolgsgeschichte, schon sein erstes Buch wurde international positiv aufgenommen. Der Titel «Disgrace», wie der Roman im Original heißt, ist mehrdeutig, er bedeutet einerseits «Ungnade», andererseits aber auch «Schande», – für die Problematik im Roman sind beide Bedeutungen zutreffend. Südafrika ist untrennbar mit der unrühmlichen politischen Periode der Apartheid verbunden, die also auch hier die Dramatik des Plots im Wesentlichen mitbestimmt, wie bei vielen anderen Schriftstellern aus diesem Lande ja auch.

M. Coetzee, wie er als Autor genannt werden will, tritt hier unverkennbar als Kunstfigur in der Person seines Protagonisten David Lurie auf. Dieser 52jähriger Professor für Kommunikations-Wissenschaften in Kapstadt ist zweimal geschieden, beruflich wenig erfolgreich, er ist zudem von einem unwiderstehlich Drang zum weiblichen Geschlecht getrieben, – die Zahl seiner Affären ist beachtlich und schließt auch Studentinnen mit ein. Bis ihm die Affäre mit einer seiner Schülerinnen zum Verhängnis wird und er, jede Reue ablehnend, in «Ungnade» aus dem Dienst entlassen wird. Um Abstand zu gewinnen flüchtet er auf die kleine Farm seiner Tochter Lucy in der Provinz Ostkap und wird dort auf dem Land mit einem für ihn fast archaischen Milieu konfrontiert. Nach einigen Wochen werden sie beide am hellerlichten Tage auf der Farm von drei Männern überfallen, Prof. Lurie wird brutal in die Toilette gestoßen, mit Spiritus übergossen und angezündet, er erleidet Verbrennungen am Kopf. Das Haus wird geplündert, die Verbrecher flüchten mit seinem Auto. Die sonst so tatkräftige Lucy steht unter schwerem Schock, ist zu nichts mehr fähig, und erst nach Wochen gesteht die Lesbierin ihrem Vater, brutal, geradezu hasserfüllt vergewaltigt worden zu sein, ihr wurde eine unsägliche «Schande» angetan. Sie hatte damals aber nur den Raubüberfall der Polizei gemeldet, der Versicherung wegen, und weigert sich im Übrigen beharrlich, als alleinstehende junge Frau in diesem offensichtlich gefährlichen, abgelegenen Landstrich, ihre Farm aufzugeben und damit ihren Lebensinhalt.

Für einen europäischen Leser ist es ziemlich seltsam, dass Coetzee konsequent verschweigt, welcher Ethnie seine jeweiligen Romanfiguren angehören, nur bei dem Protagonisten holländischer Herkunft und seiner Tochter ist dies eindeutig klar. Auf dem Land aber handelt es sich mutmaßlich um Farbige, auch für die Verbrecher darf man das selbstverständlich annehmen, erwähnt wird es mit keinem Wort, – eine übertriebene, fast schon abartige Political Correctness. Auch nach Überwindung der Apartheid ist die indigene Bevölkerung zumindest ökonomisch weitgehend abgehängt und lebt in prekären Verhältnissen, aus denen heraus sich ein grenzenloser Hass entwickelt, der sich dann in solchen Gewaltexzessen entlädt. Nur so ist auch die geradezu demütige Haltung von Lucy zu verstehen, die vorher überaus selbstbewusste, emanzipierte Frau will sich resigniert dieser harten Realität beugen.

In parallelen Handlungssträngen werden neben der zentralen ethnischen Problematik auch das Verhältnis Mensch-Tier, der Geschlechterkonflikt und die der Sprache innewohnenden Probleme thematisiert. Ein köstlicher Nebenstrang ist zudem der Versuch von Prof. Lurie, als Laie eine Kammeroper über die Affäre von Lord Byron mit Teresa Guiccioli zu komponieren, – um ein besser Mensch zu werden! In einfachen Worten wird hier zielstrebig und lakonisch eine spannende Geschichte erzählt, eine düstere Parabel über die menschliche Natur, in der am Ende allerdings Lucys Resignation als Tribut an Südafrikas Geschichte doch arg konstruiert erscheint.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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