Der vor allem in der Filmbranche als Drehbuch-Schreiber und Schauspieler bekannte Curt Goetz hat während seines Exils in den USA 1944 die Novelle «Tatjana» geschrieben. Die von ihm als «Eine Legende» bezeichnete Erzählung teilt mit dem gleichzeitig erschienenem, einzigen Roman aus seiner Feder das Motiv ‹älterer Mann liebt blutjunges Mädchen›. Zehn Jahre später ist, sicher nicht durch Zufall, «Lolita» von Vladimir Nabokov erschienen, der als großer Verehrer von Curt Goetz gilt und «Tatjana» gekannt haben dürfte. Neben dem Grundmotiv und der männlichen Erzählperspektive haben beide Erzählungen allerdings keine Gemeinsamkeiten. Lolita nämlich nutzt den frischgebackenen Ehemann ihrer Mutter schamlos aus, ohne ihn zu lieben, und verlässt ihn schließlich mit einem gleichaltrigen Liebhaber, während Tatjana sich Hals über Kopf in den deutlich älteren Mann verliebt und ihn schließlich sogar heiraten will.
Curt Goetz baut in seine Novelle eine Rahmenhandlung ein, in der er von einer Autofahrt erzählt, bei der er einen Anhalter mitnimmt. Dieser wortkarge Mitfahrer lässt sich von ihm an einem Friedhof absetzten und betritt den wie ein Park wirkenden Gottesacker, in dem Amerika-typisch keine Gedenksteine oder Kreuze zu sehen sind, sondern nur kleine, ins Gras eingelassene Tafeln. Kurz entschlossen fährt der Autor mit seinem Auto in den Friedhof hinein, – denn selbstverständlich haben alle US-amerikanischen Friedhöfe einen großen Parkplatz, wie er süffisant anmerkt. Er will sich in der Kapelle das berühmte «Last Supper Window» ansehen, die von einer Italienerin als Glasmalerei geschaffene Replik des «Abendmahl»-Freskos von Leonardo da Vinci. Es gäbe schließlich sogar Leute, die jeden Tag vorbeikommen und das Bild betrachten, erklärt er. In der Urnenhalle trifft er den Anhalter wieder, der eine Urne mit der Aufschrift «Tatjana 1920-1933» betrachtet, und lädt ihn spontan zum Essen ein. Nachdem sie gut gegessen haben, lockern die Drinks seinem Begleiter allmählich die Zunge, und was folgt ist «eine der seltsamsten Geschichte, die ich je gehört habe», – das eigentliche Thema der Novelle.
Er sei Arzt von Beruf, berichtet er, und habe in jungen Jahren Cello gespielt, ohne Erfolg allerdings. Nun habe er sich anlässlich eines Konzerts in Kolberg an der Ostsee in die junge, russische Cellistin Tatjana verliebt, ein dreizehnjähriges Wunderkind, dem er als zufällig im Konzertsaal anwesender Arzt bei einem Schwächeanfall habe helfen können. Vertrauensvoll bittet Sie ihn flüsternd, für sie in Berlin etwas sehr Dringendes zu erledigen, noch in dieser Nacht, wozu er sofort bereit ist. Ihre Mutter sei aus Berlin schon vorgereist nach Kolberg, und sie habe die leere Wohnung nutzen können für ein Rendezvous mit ihrem Freund. Der sei aber plötzlich tot umgefallen, und sie habe die Wohnung in Panik verlassen. Der Arzt setzt sich ins Auto und fährt nach Berlin, setzt den Toten nachts auf eine Parkbank und ist am frühen Morgen wieder zurück in Kolberg. Tatjana weicht ihm nicht mehr von der Seite, sie hat sich unsterblich in ihn verliebt und will ihn heiraten, – auch die Mutter kann sie davon nicht abhalten.
Curt Goetz erzählt seine «Legende» von der in jenen Zeiten noch als strenges Tabu angesehenen Mesalliance in einem lockeren, fast amerikanisch knapp anmutenden Ton, leicht lesbar und mit feiner Ironie unterlegt. Dabei konzentriert er sich formal streng auf das Besondere seiner Geschichte, die Unmöglichkeit einer solchen Beziehung, die er auf die Spitze treibt, wenn sein Held alle familiären Brücken hinter sich abbricht, mit Tatjana auf Konzertreise geht und sie, in den USA angekommen, dann tatsächlich auch heiraten will, was nur dort möglich ist. Als Musikfreund liest man auch gern die mitreißenden Passagen, wo es um das Genie der kindlichen Tatjana geht, die mit wahren Begeisterungs-Stürmen gefeiert wird wegen ihrer ebenso virtuosen wie jugendlich vorwärts stürmenden Spielweise. Nach über achtzig Jahren wird diese grandiose Novelle immer wieder neu aufgelegt und findet begeisterte Leser, – literarisch ein Klassiker also!
Fazit: erfreulich
Meine Website: https://ortaia-forum.de