Der Apfelbaum

Der apfelbaumEinundneunzig Jahre alt ist die Mutter des Autors und träumt sich immer wieder in neue Abenteuer hinein, dabei will er doch, bewaffnet mit einem Kassettenrekorder, ihre wechselhafte Geschichte aufzeichnen, gerne auch das, was bisher verschwiegen wurde. Aus diesen Stückchen, die es zusammenzufügen gilt, will er seine eigene Geschichte „neu erfinden“, und nicht mehr davor weglaufen, heißt auf dem Umschlagdeckel.

Und es gelingt ihm dank seiner Erzählkunst; mit Spannung und Anteilnahme lesen wir über deutsche Schicksale im letzten Jahrhundert.

Es beginnt mit dem Vater des Autors, der vor vier Jahren verstorben war. Otto wurde in den Monaten vor Ende des Ersten Weltkriegs in einer Berliner Arbeiterfamilie geboren. Sein Vater Otto war gefallen, Anna, die Mutter hatte ihn sehr geliebt und gehofft, mit ihm zusammen sozial aufzusteigen. Der Friseur war geschickt und konnte auch kleine Operationen durchführen. Das Söhnchen wird Otto genannt und soll es einmal besser haben,. In ihrer Erziehung achtet sie schon beim kleinen Otto darauf, etwa, dass er nicht so balinaht, wie seine Schwestern.

Erst sieht es kaum nach Aufstieg aus, Otto ist klein und zierlich, aber als er seinen Muskelaufbau systematisch fördert, kann er sich gegen den prügelnden Stiefvater und auch andere Widersacher durchsetzen. Er gerät bald an einen Verein, der Kraftübungen mit organisiertem Verbrechen verbindet, als die Schlüsselszene passiert, wie sich Berkels Eltern kennenlernen: Während er Anfang der dreißiger Jahre im bürgerlichen Friedenau in eine Wohnung einbricht, gelangt er in einen Traum von Bibliothek und interessiert sich für ein dickes Geschichtsbuch. Dazu kommt die dreizehnjährige Sala Nohl.

Die Polizei verfolgt die Einbrecher. Er versteckt sich und Sala deckt ihn souverän, als die Polizisten nach Einbrechern fragen. Otto geht stolz, mit der römischen Geschichte unter dem Arm, die er am nächsten Tag im Tiergarten lesen will.

Dort fällt er Salas Vater Jean wegen des Buches auf. Jean, als bekennender Homosexueller täglich im Tiergarten auf der Pirsch, interessiert sich für Otto und sie reden über das Buch. Otto wird eingeladen und kommt am nächsten Tag als Gast wieder in die Friedenauer Wohnung. Forsch teilt Otto Salas Vater mit, dass er die Tochter heiraten möchte (er war 17, sie 13 Jahre alt). Das hält Jean davon ab, sich weiter sexuell für ihn zu interessieren. Auch seine Persönlichkeit spricht nicht nur Sala an, fortan wird Otto als Arbeiterkind von den Gebildeten gefördert. Es beginnt eine schöne Zeit für das junge Liebespaar. Sie besuchen Filme und Theater, Sala lernt seine Familie kennen und schätzen, wenigstens sind sie zwar rau, aber ehrlich miteinander. Otto macht Abitur, studiert Medizin, Sala geht zur Schule und will Schauspielerin werden.

„Sie übt sicher wieder eine dramatische Rolle,“ denkt Jean und lauscht hinter der verschlossenen Tür. Hören muss er, dass Sala in einer gestellten Szene ihrer Mutter Iza vorwirft, sich nicht um sie zu kümmern, und ihr zu alledem noch ihr jüdisch Sein vererbt hat, denn in ihrer Umgebung musste ihr bewusst werden, dass es nicht gut ist, Jüdin zu sein, ein Stigma, unter dem sie ihr Leben lang leiden wird.

Iza, Tochter aus gehobenen jüdischen Kreisen in Polen, hat die Familie vor einigen Jahren wegen eines deutlich jüngeren Künstlers verlassen und lebt jetzt in Madrid in Anarchistenkreisen, später wird sie zum Tode verurteilt, um dann über mehrere Jahre in Franco’s Gefängnissen zu überleben. Salas Versuche, ihrer Mutter nahezukommen werden scheitern. Noch als Hochbetagte streitet sie sich mit ihrem Sohn über ihre (und seine) jüdischen Anteile.

Sala verlässt Deutschland, als es zu gefährlich wird, erst geht es nach Paris zu einer Tante, Schwester von Iza, die ein exquisites Modegeschäft führt. Sie studiert an der Sorbonne und genießt ein Luxusleben. Es wird gespeist mit mehreren Gängen und passender Weinbegleitung. Erst in dem Folgebuch über ihre Tochter Ada (link!) wird dieser das Judentum bei einem Besuch einer Bar Mitzwa Feier nahegebracht. Bei Sala wird es verdrängt.

Aber nach kurzer Zeit wird Paris besetzt, und sie muss auch hier weiterziehen. Geplant ist die Flucht über Marseille. Kurz vorher trifft sie sich mit Otto, der in der Uniform eines Wehrmachtsarztes überraschend kommt, sie entdecken ihre Liebe wieder.

Unterwegs nach Marseille wird sie gefasst, kommt in das berüchtigte Lager in Gurs. Salas Beobachtungen des Lagerlebens sind eindrucksvoll: man hungert, aber spielt auch Theater, Veränderungen, die sie auch bei sich selbst wahrnimmt. Nach und nach die werden Insassen in Zügen abtransportiert, in andere Lager in Osteuropa, man weiß, dass niemand je zurückgekommen ist. Sie wird in einem Zug gesetzt, der nach Leipzig fährt, während der Fahrt durch Frankreich setzt sie sich in ein anderes Abteil zu einem deutschen Ehepaar. Diese ahnen, dass sie eine geflohene Jüdin ist und helfen ihr nach dem Outing beim Weiterkommen in Leipzig. Sie bekommt einen deutschen Pass, pikanterweise mit dem Vornamen Christa und macht eine Ausbildung als Krankenschwester. Eine Kollegin, Molly, die ohne Salas Wissen in ihre Situation eingeweiht worden war, wird von nun an ihre Vertraute, deren Rat immer gut ist.

Otto ist kaum wiederzuerkennen, als er von der Front zu Besuch kommt und sie finden wieder zueinander. Sala wird schwanger und kann in Leipzig die Tochter Ada gebären. Nach Kriegsende ist ihr Deutschland keine Heimat mehr, es ist schwer sich im neuen Leben zurechtzufinden. Von Otto weiß man nichts, hofft, er wäre in Gefangenschaft in der Sowjetunion, also am Leben.

Er scheint Tagebuch geschrieben zu haben, auch über die Hilflosigkeit der deutschen Soldaten, die mit der Niederlage umgehen müssen. Er betreut sie als Arzt, muss auch bei sich selbst die Diagnose Dystrophie stellen; er erschrickt bei seinem Spiegelbild. Berkel wechselt nun ab, Erfahrungen von Sala mit Ada und Otto zu beschreiben. Ottos Überlebensstrategie: russisch lernen, viel beobachten, nachdenken und sich nicht aufgeben.

Sala redet mit Überlebenden in Deutschland, lernt deren Strategien kennen, aber sieht keine für sich, sie entschließt sich auszuwandern. Erst zu Iza nach Madrid, es ist der zweite Versuch Salas, der Mutter zu begegnen, diesmal mit Ada, Mutter und Tochter kommen auch jetzt nicht zusammen. Sie will dann weiter nach Argentinien, wo eine weitere Schwester Iza’s mit Ehemann lebt.

Sie arbeitet als Nanny bei einer wohlhabenden Familie, es geht anfangs gut. Sie träumt von Otto und will, dass er auch auswandert. Er kann mit dieser Vorstellung nichts anfangen, und ob das Kind von Ihm ist? Der Briefwechsel wird kränkend. Als der Vater der von ihr betreuten Kinder ihr nachstellt, geht sie, auch eine zweite Arbeitsstelle läuft nicht gut, bis Ada endlich sagt: „Ich will weg hier.“

Zurück in Deutschland nimmt Molly die Dinge in die Hand und nötigt sie Otto anzurufen. Er ist inzwischen HNO-Facharzt, dabei, sich niederzulassen und verheiratet mit Waltraut, die ihm mit ihren gehobenen Konsumvorstellungen zunehmend abstößt. Zehn Minuten nach dem Telefonat treffen sie sich im Kaffee Kranzler und Otto weiß schnell, dass er sich scheiden lässt.

Für dieses Buch hat Christian Berkel viel recherchiert, dutzende von Briefe, gerade von und nach Argentinien gefunden und bearbeitet. Seine Mutter hat, so wie damals, als sie jünger war, vieles von ihrer Geschichte verdrängt. Und sich weggeträumt: Am Tag vor ihrem Tode hatte sie ein Date mit Putin im Borchardt und ihren Sohn gezwungen dort anzurufen, weil sie sich ein wenig verspäten würde. Sie mochte die Entourage von Putin nämlich nicht.


Genre: Biographien, Historischer Roman
Illustrated by Ullstein

Ada

Berkel erzählt die Geschichte seiner großen Schwester in Ichform. Bald nach ihrer Geburt, bei Kriegsende in Leipzig, verlässt die Mutter Deutschland mit ihr, sie wandern aus nach Argentinien. Der Vater ist, wenn er überhaupt noch lebt, in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Sie wächst bei einer Gutsbesitzerfamilie auf, die Mutter ist Nanny für deren Kinder und diese schikanieren die kleinere Ada. Die ersten Jahre verweigert sie die Sprache, dann aber, als sie neunjährig wieder zurück nach Deutschland kommt, spricht sie fließend Spanisch, aber kaum Deutsch. Auch hier bleibt sie Außenseiterin.

Und geträumt wird viel, zusammen mit der Freundin Uschka, die auch anderes als die anderen Kinder ist, an liebsten träumen sie von Reisen, ins westliche Ausland—bloß weg von hier.

Die Mutter versucht, sich in Deutschland eine Heimat zu schaffen. Sie war als Jüdin im Lager Gurs interniert und als Schwangere vom Transport in ein Vernichtungslager geflohen. Zwei Männer könnten Ada Vater sein, beide lernt Ada als etwa Zehnjährige kennen, einen Hannes, der schöne Hände hat, aber ein Parfum, das kitzelt, und Otto, der HNO-Arzt aus Berlin. Ada darf wählen, wer der Papa sein soll und entscheidet sich, ohne zu zögern, für Otto, da er das gewünschte Kinderfahrrad schenkt.

In den fünfziger Jahren etabliert sich die kleine Familie in Berlin. Für Ada stabilisiert sich eine Zeit des Nichtverstandenwerdens. Kinder werden dumm gehalten und dann, wenn etwas sie interessiert, ins Bett geschickt. Niemand in der Familie spricht über die Vergangenheit, deren Schwere die Eltern beide, jeden auf seine Art, belasten. Die Mutter kämpft mit der ihren, auch damit, dass ihre eigene Mutter sie als Siebenjährige verlassen hatte, um in Spanien gegen den Faschismus zu kämpfen. Auch sie hatte als Kleinkind das Sprechen verweigert.

Der Vater, ein Arbeiterkind, spricht nicht über seine Zeit als Kriegsgefangener. In den Dialogen werden die vielen belastenden Erfahrungen eben nicht ausgesprochenen, manches gezielt verschwiegen. Ada ahnt vieles, kann aber nur mit ihrer Freundin Uschka darüber sprechen, deren Anderssein besteht darin, dass sie eine adlige Tochter eines Widerstandkämpfers ist, der nach dem Attentat auf Hitler umgebracht wurde. Einige Mitschüler sehen das als Verrat.

Berkel, der 1957 geborene, schafft wunderbare Szenen der hilflosen Auseinandersetzung mit der Geschichte und mit dieser Zeit. In Berlin-Frohnau, wird ein Haus gekauft, der beginnende Wohlstand genossen. Hier muss ich, die Rezensentin, mich als katholische Arzttochter outen, die, zwei Jahre jünger als Ada, auch in Frohnau aufgewachsen ist. Regelmäßig trifft sich die Familie zu Diskussionen mit anderen Arztfamilien (nein, meine zählte nicht dazu!) aber der katholische Priester Krajewski, der auch mir in Erinnerung geblieben ist, kommt gerne. Bei diesen Diskussionen wird etwa das Buch „Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von einer der Mütter als wichtiger Ratgeber vorgestellt, nur ein Teilnehmer weist darauf hin, dass es schon in der Nazizeit hochgelobt wurde.

Wir erleben in diesen Runden die Kubakrise, die Mutter glaubt, man müsse nun weg von Berlin, das Haus wird verkauft, man wohnt erstmal zur Miete. Es kommt das erste Auto, ein Mercedes, Pfarrer Krajewski weiß zu berichten, dass auch der Papst in einem solchen gefahren wird, und dann passiert der Mauerbau.

Als junge Erwachsene geht Ada ihrer Wege und lässt wenig aus. Sie ist beim Konzert der Stones in der Waldbühne, wo 1965 Randale gemacht wurde, geht in einer WG ein und aus, wir werden mit ihr zu Drogenerfahrenen, sie wird sogar kompetente Dealerin. Aber sie geht auch immer wieder nach Hause, und hört sich bekifft die bildungsbürgerlichen Diskussionen der Spießer an. Dabei wird ihr der Vater zum Löwen, die Mutter zum Schwan und der Pfarrer zur Schildkröte. Übrigens eine meiner Lieblingsszenen.

Später hört sie Rudi Dutschke in der FU, ist beim 2. Juni beim Schahbesuch dabei und noch viel später auch in Woodstock, da erfahren wir, wie es ihr beim ersten Mal mit LSD geht. Und als sie die mütterliche Tante, Modedesignerin in Paris, besuchen fährt, ist es im Mai 68. Bei diesem Besuch findet sie ihre jüdischen Wurzeln, katholisch getauft worden war sie in Argentinien, um die Staatsbürgerschaft erhalten zu können. Nachdem sie über Jahre den Kontakt zu der Familie gemieden hat, macht sie Jahre später eine Analyse und kann sich den Ihren wieder annähern.

Und der kleine Christian? Er wurde geboren, als sie 12 war, und danach wurde für sie alles noch schlimmer: Er wurde nicht so streng erzogen, durfte sein Spielzeug im Wohnzimmer liegenlassen, ihres wurde weggeworfen, hatte sie es nicht selbst aufgeräumt. Er ist nicht nur jünger und dem Vater näher, auch als Stammhalter hat er Privilegien. Aber er bewundert sie, liebt, wie sie, die Stones und als sie sich von der WG löst und wie die verlorene Tochter wieder zu Hause einzieht, wird Champagner getrunken.

Bisher habe ich diese Rezension bewusst so geschrieben, dass die geneigten Leser/innen sich der Erzähllust Berkels hingeben können über die Geschichte Westberlin aus der Sicht einer jungen Frau. Für mich war das Lesen ungleich schwieriger, da ich vor einiger Zeit das Buch Der Apfelbaum gelesen hatte, in dem Brendel als der Sohn der Familie spricht. Hier, in Ada, werden Fakten, wenn auch aus anderer Sicht, wiederholt. Im Vorspann lesen wir: “Dennoch sind es Kunstfiguren. Ihre Beschreibungen sind ebenso wie das Handlungsgeflecht, das sie bilden, und die Ereignisse und Situationen, die sich dabei ergeben, fiktiv.“ Die Frage: Warum schreibt Ada das Buch nicht selbst? Ist damit beantwortet, aber es ist an manchen Stellen schwierig, das über die Familie schon Gewusste auszublenden.

Es ist wie eine umgekehrte Verfremdung: Das Publikum, also der Leser, weiß schon vieles, über das sich die Akteure noch nicht im Klaren sind. Während Berkel sich im Apfelbaum mit viel Liebe und Respekt den Eltern nähert und sie bis zu ihrem Tod begleitet, ist Ada eher die gekränkte, ungehobelte, die die psychische Krankheit der Mutter, den Jähzorn des Vaters schonungslos auf- und anzeigt. Vielleicht hatte sie dazu eher Recht?

Beide Bücher sind lesenswert. Meine Empfehlung: Wenn sie beide Bücher lesen wollen, dann fangen Sie mit Ada an! Wenn sie nur eines lesen wollen, dann lieber den Apfelbaum. Eigentlich muss ich den nun auch noch rezensieren.


Genre: Politik und Gesellschaft, Zeitgeschichte
Illustrated by Ullstein