Doppler

Bösartig unterhaltsam

Einer der Nominierten für den Deutschen Buchpreis 2023 ist der Österreicher Thomas Oláh mit seinem Debütroman «Doppler», der vom deutschen Feuilleton, ganz im Gegensatz zu anderen Büchern aus den großen und bekannten Verlagen, völlig ignoriert wurde. Bei Perlentaucher, verlässliche Informations-Quelle über das Echo in den Medien, findet sich einzig eine Buchkritik des Deutschlandfunks. Ganz anders bei den privaten Kritikern im Versand-Buchhandel, aber auch bei Literaturkritik.de, wo der Roman, wie die anderen Nominierten auch, eine durchaus ‹normale› Beachtung und wohlwollende Aufnahme findet. So weit, so (nicht) gut, denn dem Kostümdesigner und Kulturhistoriker ist mit seinem Erstling ein durchaus lesenwerter Roman gelungen, der mehr Beachtung verdient hätte.

In einem turbulenten Plot erzählt ein namenlos bleibender Junge gleich zu Beginn völlig emotionslos, mit einem verstörenden Fokus selbst auf die kleinsten Details, was bei dem Autounfall 1970 passiert ist, den er als Einziger überlebt hat. Seine Eltern und sein jüngerer Bruder kamen dabei ums Leben, er selbst landete mit Gehirn-Erschütterung im Krankenhaus. Fortan lebt er bei seinen Großeltern auf dem Lande, die in langer Familien-Tradition Weinanbau betreiben. Als nicht-österreichischer Leser lernt man in diesem Roman so einige sprachliche Besonderheiten und viele spezifische Begriffe, zu denen auch der titelgebende «Doppler» gehört. Gemeint ist damit eine Zweiliterflasche, in der landesüblich der Wein abgefüllt wird. Der Autor lässt es sich aber auch nicht entgehen, in einem der Kapitel den von seinem österreichischen Entdecker erstmals theoretisch beschriebenen Doppler-Effekt zu thematisieren und spöttisch, so ganz nebenbei, amüsante Verbindungen zwischen Physik und Wein herzustellen.

Überhaupt spielt der Wein in diesem Roman eine tragende Rolle, es wird hier unglaublich viel getrunken, natürlich auch in der Weinbauern-Familie, wobei dem edlen Getränk ehrfürchtig ‹zugesprochen› wird, es wird goutiert, nicht gesoffen! Die dabei üblichen Rituale permanenter Verkostung werden weitervererbt, sogar der kleine Enkelsohn und Ich-Erzähler bekommt Wein zu kosten und entwickelt nach anfänglichen Schwierigkeiten tatsächlich eine beachtliche Kennerschaft. Er beobachtet, wie auch der Pfarrer das Weintrinken zum andächtigen Ritual erhebt, nicht weniger innig, wie es scheint, als bei der Andacht in seiner Kirche. Religion und Wein, Katholizismus und Alkoholismus gehen hier wie selbstverständlich eine symbiotische Beziehung ein, spottet der Autor. Die Roman-Figuren sind allesamt archetypisch und leben in einer Zeitblase, die keinen Fortschritt kennt. Allein durch ihre Namen schon werden sie vom Autor stimmig charakterisiert, da gibt es den «grausamen Onkel», der die Prügelstrafe wie eine Messe zelebriert, und dessen Söhne sind die «enthusiastischen Cousins», zwei bösartige Volltrottel. Es gibt den «Onkel mit dem wilden Auge», der schielt, oder die «kindische Tante», eine Epileptikerin, schließlich die «lachende Cousine», die, ein paar Jahre älter schon, sich mit dem jungen Ich-Erzähler zum Petting trifft.

«Doppler» ist, ohne erkennbaren biografischen Bezug, offensichtlich eine Abrechnung des Autors mit seiner Heimat zu jener Zeit. Sein Text ist bissig, durch die distanzierte, geradezu lakonische Erzählhaltung aus der Kinderperspektive aber auf bösartige Weise auch unterhaltsam. Der Plot besteht aus lauter erzählerischen Miniaturen, zu denen vor allem die mit beängstigender Phantasie ausgemalten, gewaltgeprägten und saudummen Jungenstreiche zählen. Eine zweite Erzählebene bildet die geradezu mystisch erhöhte Weinwelt mit dem archaischen Leben dort. Dazu gehören auch Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, dessen Ende hier im Ort in einer Rückblende erzählt wird. Die birgt auch Geheimnisse, welche unerreichbar tief im Gedächtnis der Menschen verankert sind. Dieser oft übertrieben bösartige Roman ist vor allem durch seinen schwarzen Humor gekennzeichnet, sein kreativer Wortwitz trägt einiges dazu bei.

Fazit:  3* lesenswert

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Müry Salzmann

Franz Kafka: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen

Franz Kafka: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen. Seit 2016 erscheint bei Galiani die liebevoll gestaltete Ausgabe der Illustrierten Lieblingsbücher. Band 1 war damals Franz Kafka’s Landarzt, der – längst vergriffen – nun aus Anlass des 100. Kafka Jubiläums vom Verlag neu aufgelegt wurde. Abgesehen von den zahlreichen Illustrationen von Kat Menschik befinden sich neben dem Landarzt auch viele andere bekannte Kurzgeschichten Kafkas in dieser farbenfrohen Lektüre. Werke der Weltliteratur und andere Lieblingstexte, in Szene gesetzt von Kat Menschik.

Das Bunte aus Kafka herausholen

Odradek, vielleicht von dem tschechischen Verb “odradit” abgeleitet für “abraten” oder “widerraten”. Das hauptwörtliche Odradek wäre dann ein Abrater oder Meckerer, wie Max Brod erläutert. Aber in der Geschichte seines Schützlings, Franz Kafka stellt sich der Erzähler selbst die Frage, was aus dem Odradek einmal werden soll, wenn er nicht mehr ist. “Alles was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben”, klagt der Erzähler, aber ein Odradek? Zumindest is eines sicher: der Odradek wird ihn überleben. Kat Menschik hat natürlich auch diesen Odradek abgebildet, für alle die sich darunter noch nichts vorstellen können. Noch viel bunter wird es in der Geschichte “Elf Söhne”, denn Menschik hat den Ehrgeiz entwickelt gleich alle elf auf einer Doppelseite unterzubringen. Der Vater ist auch drauf, aber der steht abseits, fast deplatziert, an den Rand gedrängt. Der elfte Sohn weiß Bescheid, er ist der letzt dem er vertraut, aber wenigstens der Letzte. Auch das ein Privileg. Denn er wird noch leben, wenn alles gut geht, wenn alle anderen schon das zeitliche gesegnet haben. Um einiges brutale geht es dann schon in der nächsten Geschichte “Ein Brudermord” weiter. Hier blitzt gleich das blanke Messer noch bevor die Erzählung richtig los geht, gruselt es schon.

Franz Kafka modern illustriert

Der Affe weiß es in seinem Bericht an die Akademie am besten: “Nebenbei: mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzu oft. Und so wie die Freiheit zu den erhabensten Gefühlen zählt, so auch die entsprechende Täuschung zu den erhabensten.” Von seinen Lehrern erhofft er nicht diese Erhabenheit, sondern einfach nur, dass sie nicht selbst “äffisch werden, bald den Unterricht aufgeben und in eine Heilanstalt gebrach werden”. Wenn es drauf ankommt, empfiehlt der Affe, “sich einfach in die Büsche zu schlagen”. Am besten mit einer Lektüre aus der Bibliothek der Illustrierten Lieblingsbücher. Bisher sind 18 Exemplare erschienen. “Im übrigen will ich keines Menschen Urteil, ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Herren der Akademie, habe ich nur berichtet.” Weitere Geschichten von Kafka in diesem Band sind u.a. “Auf der Galerie”, “Vor dem Gesetz”, “Sorge eines Hausvaters”, “Ein Traum”, insgesamt sind es vierzehn, die alle von Kat Menschik illustriert sind.

Kat Menschik
Franz Kafka: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen
Illustrierte Lieblingsbücher, Band 1
2016/2024, Hardcover, 112 Seiten
ISBN: 978-3-86971-132-4
Galiani Berlin
22.-€


Genre: Bildband, Erzählungen, Illustrationen, Literatur

Robert Doisneau. Paris

Robert Doisneau. Paris: Das ikonische Foto am Cover dieser Monographie zum Werk des französischen Fotografen Robert Doisneau “Paris” dürfte vielen bekannt sein, da es gerne auch zitiert wird. Unlängst sah ich es in einer Reprise des Werks des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski. Aber auch in anderen Zusammenhängen taucht es immer wieder gerne auf. Es gilt als ikonisch und episch zugleich, denn das Motiv, der Kuss, ist aus der Kunst nicht wegzudenken. Ebensowenig das andere Werk von Robert Doisneau aus Paris, das dieser Tage die Olympiade beherbergt, wegzudenken ist.

Porträtist des alten Paris

Autor und Herausgeber Jean Claude Gautrand war ein langjähriger Freund Doisneaus und durfte deswegen auf das umfangreiches Bildarchiv des Jahrhundertfotografen zurückgreifen. Der “Poet der Straße“, wie er gerne wegen seiner improvisierten und nicht inszenierten Fotografie genannt wird, hatte auch einen Sinn für die Sorgen und Nöte der Menschen, weswegen er auch als Vertreter der “Photographie humaniste” gefeiert wird. Die große Zeit dieses Genre waren sicherlich die 1950er-Jahre in der Doisneau die meisten seiner beseelten Bilder von Paris aufnahm. Alltägliche Begebenheiten, die ihm in Paris vor die Linse kamen, machen auch seine eigenen Emotionen sichtbar. Das menschliche Leben in all seiner Pracht und Widersprüchlichkeit steht im Zentrum seines fotografischen Schaffens, das in vorliegender Monographie in seiner ganzen Bandbreite präsentiert wird. Abgesehen von diesen Hauptwerken, die es bereits zu einiger Berühmtheit gebracht haben, bemüht sich der Bildband aber auch um eine Retrospektive seines spektakulären Œuvres von weniger bekannten Aufnahmen. „Ganz normale Handlungen ganz normaler Menschen in ganz normalen Situationen“ umschreibt es wohl am besten und entbehrt auch nicht seines Humors, der stets voller Empathie für die Welt und ihre Bewohner war. Zitate entrücken die Fotografien in jenes himmlische Pantheon an dem wir Sterblichen selbst gerne teilnähmen.

Raritäten wie Farbfotos und Archivaufnahmen

Robert Doisneau zeigt uns die tristen Vorstädte seiner Jugend, die Welt der Arbeiter, die er liebte, sein Atelier und die Ateliers vieler Künstler seiner Zeit. Darüber hinaus finden sich auch einige weit weniger bekannte Farbaufnahmen, die uns in die Banlieue von heute führen und in denen uns ein ganz anderer, kritischerer Robert Doisneau begegnet, in vorliegender Publikation des Taschen Verlages zu Leben und Werk Robert Doisneaus ihre Abbildung. TASCHEN Autor und Freund Doinseaus, Jean Claude 8autrand, durfte wie anfangs schon erwähnt auf Doisneaus umfangreiches Bildarchiv zurückgreifen. Er ist Experte für Fotografie, war selbst als Fotograf tätig und veröffentlichte auch als Historiker, Journalist und Kritiker. Für TASCHEN verfasste er die Bücher Brassaï, Paris. Porträt einer Stadt, Robert Doisneau und Eugène Atget. Das Vorwort wurde von Doisneaus Töchtern Francine Deroudille und Annette Doisneau verfasst und zeigt, dass Tradition nicht bedeutet die Asche anzubeten, sondern die Glut zu entfachen…

Jean Claude Gautrand
Robert Doisneau. Paris
2024,Hardcover, XL, 556 Seiten
ISBN 978-3-8365-9948-1
English, French, German
TASCHEN
€ 50


Genre: Fotobuch, Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Ein Hund kam in die Küche

Eine fatale Fehlentscheidung

Das Kinderlied «Ein Hund kam in die Küche» hat dem Schriftsteller Sepp Mall als Titel für seinen historischen Roman gedient, in dem der Südtiroler von einer tragischen Periode in der Geschichte seiner Heimat erzählt. Durch das «Hitler-Mussolini-Abkommen» war die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols damals vor die Wahl gestellt, sich nach dem Motto «Heim ins Reich» nach Deutschland oder aber nach Süditalien umsiedeln zu lassen. Etwa 75000 Menschen wählten das Deutsche Reich als neue Heimat. So entschied sich 1942 auch die Familie von Ludi, dem anfangs 11jährigen Ich-Erzähler des Romans. Dessen Vater ist ein fanatischer Nazi. der es kaum erwarten kann, sich als Soldat für die deutsche Wehrmacht zu melden.

Ludis Mutter ist eher skeptisch, fügt sich aber der folgenschweren Entscheidung des Vaters. Erste Station der Umsiedlung ist Innsbruck, wo die Familie für die Einbürgerung einige Formalitäten erledigen muss, zu denen auch eine ärztliche Untersuchung gehört. Ludis innig geliebter, fünfjähriger Bruder Hanno ist geistig und körperlich behindert, die Ärzte ordnen deshalb seine Einweisung in eine Spezialklinik an. Ohne ihn zieht die Familie weiter in den Reichsgau Oberdonau im heutigen Oberösterreich, wo ihnen in einem kleinen Ort eine Wohnung zugewiesen wurde. Zwei Wochen später werden dort auch ihre Unzugsmöbel angeliefert, kurz darauf muss der Vater seinen Dienst in der Wehrmacht antreten. Ludi, der alle seine Freunde und Schulkameraden aus dem Bergdorf in Südtirol verloren hat, findet sich nun in einer fremden Umgebung wieder, wo er niemanden kennt. Statt in den Bergen wohnt er nun im Flachland an der Donau, aber er findet dort bald schon einen Freund, mit dem er durch die Gegend streunt. Irgendwann kommt dann ein Brief aus der Heil- und Pflegeanstalt, in dem der Tod von Hanno angezeigt wird, er sei an einer Lungenentzündung gestorben.

Man weiß als Leser von Anfang an, dass Hanno der Euthanasie zum Opfer fallen wird, es war einfach heuchlerisch von den Ärzten, von Heilung in einer Spezialklinik zu sprechen. Sepp Mall versteht es, durch die kindliche Perspektive des Ich-Erzählers selbst dieses Grauen ganz naiv zu schildern, die Wahrheit wird hier nicht mal angedeutet. Und auch der Mutter bleibt nichts anderes übrig, als zu glauben, was ihr amtlich mitgeteilt wird, Zweifel kommen ihr nicht. Nach dem Krieg kehren Ludi und seine Mutter illegal über die grüne Grenze in ihr Heimatdorf nach Südtirol zurück. Sie haben sich an der Donau nie wohlgefühlt und sind dort immer nur Fremde geblieben. So geschieht es ihnen nun auch in Südtirol, man betrachtet sie misstrauisch, sie sind ja Deutsche geworden. Die ehemaligen Freunde aber sind durch die Umsiedlungen in alle Winde zerstreut, daran können sie nicht wieder anknüpfen, sie sind nun auch hier in ihrer alten Heimat Fremde geworden. Das ändert sich auch nicht, als der Vater als seelischer Krüppel aus Kriegs-Gefangenschaft zur Familie heimkehrt. Er kann die Schrecken des Krieges und der Lagerhaft nicht verarbeiten und ertränkt sie im Alkohol. Die Folgen all dieser unheilvollen Veränderungen wirken bis heute nach in nicht wenigen Südtiroler Familien.

Neben der äußerst behutsamen Schilderung dieser familiären Katastrophe gibt es auch rohe Szenen, beim Metzger nebenan beispielweise werden immer wieder Tiere geschlachtet, es fließt ständig Blut im Hof. In einer Szene findet Ludi mit seiner Freundin einen toten Hirsch im Wald. Das Tier ist schon eine Weile in Verwesung, sein Anblick aber wird hier in allen ekligen Details geradezu masochistisch beschrieben. Man ist schockiert, aber auch das ist der kindlichen Erzähl-Perspektive geschuldet, deren Empfindungen noch weitgehend unbelastet sind. Im Gegensatz dazu steht die berührende Schilderung der innigen Bruderliebe von Ludi, der noch jahrelang nicht nur im Traum mit Hanno spricht. Der Bruder ist als Geist geradezu körperlich präsent, er kann dann richtig sprechen und sich auch normal bewegen. Betroffen stellt man als Leser fest, dass hier nicht der Hund aus dem titelgebenden Kinderlied erschlagen wird, sondern auch das ganze Lebensglück dieser unschuldigen Familie.

Fazit: lesenswert

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Leykam Buchverlag Wien

Vorbeigehuscht

 

KURZREZENSION

Um es gleich zu sagen: Es ist immer wieder geradezu erfrischend, Geschichten zu lesen, die einen realen und persönlichen Hintergrund besitzen. Sie sind nicht irgendwie aufgesetzt, sondern man spürt deren Authentizität.

Wie es Hans Peter Götze in seinem Vorwort beschreibt, besteht das Buch aus Fundsachen, Erinnerungen, Begegnungen, auf Reisen Gesammeltes, Erlebnissen und Alltagsbeobachtungen. Sie führen uns beispielweise auf seine vielfältigen Reisen, in seine Familie oder zu seiner Liebe zur Musik. Bei Hans Peter Götze ist es damit aber nicht getan. In fast jeder Geschichte findet sich ganz schnell ein Bezug zu gesellschaftskritischen Themen, zur Politik oder zur Kunstkritik. Bei aller Ernsthaftigkeit werden diese teilweise satirisch, humorvoll und witzig oder gar sarkastisch verhandelt. Genau das macht dieses Buch so lesenswert. Seine Lektorin Linde Gerster bezeichnet dies als Fabulierkunst des Autors, der von Einfällen übersprudelt und diese gewandt in Worte zu fassen weiß.

Niemand würde etwa erwarten, dass man sich bei der Lektüre der Episode über den Aufenthalt im Frauenkloster Frauenwörth auf Frauenchiemsee mit den Fragen befassen muss, ob Spinnen depressiv werden können oder gar suizidfähig sein könnten. Ähnlich verhält es sich bei der Frage, wie Götze es schafft, bei der Beschreibung seiner Malreise nach Andalusien den Schlenker zu den pannenbehafteten Bauprojekten Berliner Flughafen und Stuttgart 21 hinzukriegen.

Und schon sind wir beim begnadeten Maler und Fotografen Götze. Einige seiner Anekdoten sind mit seinen Aquarellen und Fotografien illustriert und mehrere seiner Werke sind im Anhang zu bestaunen.

Alles in allem ein sehr gelungenes Werk, das insbesondere Freunden der Kurzgeschichte eine amüsante Lektüre bereiten wird.

Format: 17 x 24 cm, 136 Seiten
ISBN: 948-3-00-078563-4
Erschienen 2024

Preis: 18,50 € + 3,50 € Versand

Bücher


Illustrated by Verlag Vor dem Weiher

Atlas eines ängstlichen Mannes

Schicken Sie Ihre Phantasie auf Reisen oder testen Sie einfach nur Ihre Geografiekenntnisse, indem Sie Nadeln in eine imaginäre Weltkarte stecken. Osterinsel, China, Brasilien, Kalifornien, Marokko, Andalusien, Island, Griechenland, Wien, Neuseeland, Neu Delhi, Nepal, Bolivien, Mexiko, Juan Fernandez Archipel, Irland, Laos, Nordpol, Ontario, Kambodscha, Yokohama, Valparaiso, Pitcairn, Jemen, Sydney, Irland. Stopp! Das sind nur etwa die Hälfte der Orte und Ziele, die Christoph Ransmayr in seinem Atlas eines ängstlichen Mannes wie auf einer geografischen Perlenkette auffädelt.

In siebzig Episoden erzählt der österreichische Autor Kurzgeschichten für Menschen, die gerne reisen und in denen die Ferne immer eine unstillbare Sehnsucht auslöst. Aber seine Zielgruppe sind ohne Zweifel auch all jene Menschen, die nicht gerne reisen, weil er es versteht, Kopfkino vom Feinsten zu entfachen. Man muss schier gar nicht in Burma oder Thailand gewesen sein, denn Ransmayr schafft es, jeden mitzunehmen. Andererseits fragt man sich als Viel- und Dauerreisender, ob man die großartigen Bilder wirklich sehen kann, wenn man niemals an griechischen, arabischen oder asiatischen Orten war?

Nach kurzem Zögern denke ich: Ja, nur eben andere, nicht weniger schöne, nicht weniger bewegende. Denn der Stil, in dem Ransmayr schreibt, ist farbenprächtiger als jeder Film und jede Reisedokumentation. Man kann gar nicht anders, als einzutauchen, wenn er am verschneiten Ufer eines Bergsees im westlichen Himalaya entlang wandert oder wenn er einer Elefantenherde im Urwald von Sri Lanka ausweicht. Seine literarischen Fähigkeiten lassen jede Leserin, jeden Leser erblassen, ziehen einen in den Bann. Vor allem, wenn man selbst gerne schreibt, lässt einen der Autor mit untherapierbaren Minderwertigkeitskomplexen zurück. Seine lyrische Ader ist Garant für 3-D-Bilder im Kopf, für seufzende Emotionen, für ein so häufiges, neidisches Kopfschütteln wie bei kaum einem anderen Autor zuvor. So etwas kann man wahrscheinlich nicht lernen. Das haben auch schon andere erkannt – Ransmayr erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und Bert Brecht benannten Literaturpreise, den Kleist-Preis und einige mehr. Literaturkenner halten den Nobelpreis schon lange für angemessen.

Bleibt noch die Frage – warum dieser Titel? Atlas, ja, das drängt sich auf. Aber ängstlich?

Ängstlich – weil er sich ohne den Input von außen, vor allem seiner langjährigen Lebensgefährtin, vielleicht nie und nicht so häufig auf den Weg gemacht hätte. Aber vielleicht auch ängstlich, weil große Teile dieses Buches entstanden, als Ransmayr mit einer lebensbedrohlichen Diagnose konfrontiert wurde und dieses Buch vielleicht sogar schon so etwas wie sein Vermächtnis zu werden drohte, ein Rückblick auf ein beispiellos volles und erfülltes Leben.

In diesem Mann sind Erfahrungen, Abenteuer, Wahrnehmungen und Gefühle gespeichert, die jeden Quantencomputer überfordern würden. So viele Bilder, Eindrücke, an denen ein Kopf zu platzen, ein Geist zu explodieren droht. Mit großer Sicherheit muss er auch genau deshalb schreiben, sein Ventil, um all das ein Stück weit zu verarbeiten, beherrschbar zu machen.

Zum Glück, denn so können wir an seinem Leben ein wenig teilhaben, den Weg einige Abschnitte weit mitgehen. Und unseren Vorteil daraus ziehen, uns – in sehr positiver und nicht merkantiler Absicht – bereichern. Der deutsche Philosoph Odo Marquard äußerte sich einmal in diesem Sinne dazu: Wer den Erzählungen und Geschichten anderer Menschen folgt, lebt deren Leben ein Stück weit mit. Und weil das einzelne menschliche Leben eigentlich viel zu kurz ist, muss man das sogar unter allen Umständen tun, muss lesen, zuhören, mitleben. Kaum jemand kann einem so viele Leben schenken wie Christoph Ransmayr.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Memoiren, Reisen
Illustrated by Fischer Verlag

Zeitzuflucht

Amnesie statt Anästhesie

Der kryptische Titel «Zeitzuflucht» des neuen Romans von Georgi Gospodinov steht für eine kreative Thematik. Der Ich-Erzähler, ein bulgarischer Schriftsteller, hat sich einen Psychiater als Protagonisten erschaffen, den er Gaustin nennt, ein Zeitreisender, der durch die Jahrzehnte des 20ten Jahrhunderts flaniert. Mit seiner amüsanten Dekonstruktion nostalgischer Sehnsüchte desavouiert der Autor gekonnt den aktuellen politischen Rechtsruck in Europa, der alles andere als lustig ist. Nicht zuletzt deshalb, und für die literarisch exzellente Umsetzung des Stoffes, erhielt der Autor 2023 den International Booker Prize für fremdsprachige Erzählungen.

Die Figur des Gaustin hat sich im Roman quasi verselbständigt, der Autor und er arbeiten eng zusammen, diskutieren miteinander und vertreten sich gegenseitig. Bei der Behandlung von Demenzkranken ist Gaustin auf die Idee gekommen, den Patienten durch einen Rückgriff auf die Vergangenheit zu helfen. Und zwar durch eine vertraute Umgebung, an die sie sich erinnern können und wo sie sich dann auch wieder zurechtfinden im Leben, immer nach dem Motto: «Amnesie statt Anästhesie!» Er baut in Zürich eine Klinik auf, in der in jedem Stockwerk ein anderes Jahrzehnt des 20ten Jahrhunderts detailgetreu wie im Museum rekonstruiert ist. Ein therapeutischer Ansatz, der sich als äußerst erfolgreich erweist und andernorts viele Nachahmer findet. Alle haben die Hoffnung, durch diesen Zeitenwechsel den Schrecken der Gegenwart entfliehen zu können, und schon bald verwandelt sich die Therapie in ein politisches Programm. In kürzester Zeit werden ganze Stadtviertel in ein vergangenes Jahrzehnt zurückversetzt, bald auch ganze Städte. Schließlich ist die Sehnsucht nach Vergangenheit so groß, dass einzelne Staaten und dann auch die gesamte EU sich in die Vergangenheit zurückversetzen wollen. In verschiedenen Ländern werden Referenden abgehalten, bei denen die Bevölkerung das vergangene Jahrzehnt wählen kann, in dem die Menschen künftig wieder leben wollen.

Mit nicht zu übersehendem Spott berichtet der Schriftsteller von den Diskussionen mit seinem Protagonisten Gaustin, der ziemlich entrückt das Geschehen aus der Ferne verfolgt und dann immer wieder mal für Jahre spurlos verschwunden ist. Genüsslich schildert Georgi Gospodinov das von ihm erdachte, aberwitzige Szenario, berichtet von seinen Erlebnissen in den verschiedenen Jahrzehnten, die er besucht. – Wohlgemerkt, man besucht nicht mehr Orte, sondern Zeiten! Und geschickt nutzt der Autor auch das entstandene Chaos zu vielfältigen Reflexionen über politische und historische Gegebenheiten, so wenn er gegen Schluss ausführlich über die Referenden in den einzelnen Staaten Europas berichtet. Dabei lässt er sich kenntnisreich und amüsant über dortige Animositäten, Befindlichkeiten und Sehnsüchte aus. All das ist eine kontemplative Tour d’Horizont auf nostalgischen Pfaden der europäischen Geschichte, prall gefüllt mit Anekdoten, Ereignissen, Wegmarken und Irrwegen. Konsequent lässt er die Menschen in diesem speziellen Setting alle historischen Stationen durchlaufen, auch Erster und Zweiter Weltkrieg nicht ausgeschlossen, er thematisiert die Balkankriege ebenso wie den Brexit oder Donald Trump. Besonders aber die ehemaligen Ostblockstaaten werden kritisch durchleuchtet in ihren Befindlichkeiten. Viel Raum nimmt dabei natürlich Bulgarien ein, das zwar mit Spott und Häme überzogen wird, letztendlich aber immer die Heimat des Autors bleibt, soviel Patriotismus sei ihm erlaubt!

Diesen Roman zu schreiben ist ein wahrhaft schwieriges Unterfangen mit vorhersehbaren Problemen gewesen, die der Autor aber souverän zu unterlaufen versteht mit allerlei literarischen Tricks. Zu denen gehört insbesondere die scheinbar eigenmächtig handelnde Figur des Gaustin, Spießgeselle des Autors. Es gibt dermaßen viele historische Verweise, literarische Bezüge und philosophische Thesen, dass der Leser über so manche surreale Konstellation hinweg liest oder das Fehlen von Realität partout nicht empfindet. Er schwebt vielmehr gedanklich in anderen Jahrzehnten, zumal wenn er zu den «älteren Semestern» zählt.

Fazit: erstklassig

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin

Knife- Gedanken nach einem Mordversuch

Salman Rushdie sollte im Rahmen eines Projektes für in ihren Ländern verfolgte Autoren eine Rede halten, darüber „wie wichtig es ist, sich für die Sicherheit von Schriftstellerinnen und Schriftstellern einzusetzen.“ Er sieht den Mann aus dem Publikum im Staat New York aufstehen und auf ihn losrennen—ein Sicherheitsdienst war nicht vorgesehen.

Weiterlesen


Genre: Literatur
Illustrated by Penguin

Weil da war etwas im Wasser

Alles ist letztendlich Nichts

Der Debütroman «Weil da war etwas im Wasser» von Luca Kieser wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. Damit gehörte er also zu den zwanzig Neuerscheinungen des Jahres 2023, die als Vorauswahl aus 196 eingereichten Titeln für die werbe- und verkaufsträchtige Longlist ausgewählt wurden. Betrachtet man im Nachhinein anhand von Feuilleton-Rezensionen und Leser-Kommentaren die Rezeption dieses Buches, so ist das Ergebnis auffallend negativ. Denn die Rezeptions-Ästhetik geht nun mal davon aus, «dass nicht die Intention des Autors im Vordergrund steht, sondern dass der Leser selbst maßgeblich an der Erzeugung des Textsinns beteiligt ist.» Genau das aber gelingt mit diesem Roman nicht! Neben dem Diktum der Literatur-Wissenschaft ist aber auch die demonstrative Nichtbeachtung des Feuilletons ein deutlich ablehnendes Signal, von den überregionalen Zeitungen gibt es nur eine einzige Rezension. und in den Kommentaren der Leserschaft herrscht weitgehend Unverständnis. Man scheitert nicht an der postmodernen Erzählweise, sondern schlicht und ergreifend am kaum zu entschlüsselnden und schon gar nicht nachvollziehbaren Textsinn!

Der Autor hat für sein Roman-Experiment ein eigenwilliges Setting gewählt, in dem Tier- und Menschenwelt eng ineinander verflochten sind, wobei ein Riesenkalmar, einem aktuellem Trend folgend, im Mittelpunkt steht. Er ist einem Frosttrawler in der Antarktis beim Krillfang ins Netz geraten und liegt nun auf dem Oberdeck, das Netz ist zerrissen. Seine riesigen Tentakel führen ein ungewöhnliches Eigenleben, denn zu den vielerlei Perspektiven, aus denen in diesem Roman erzählt wird, gehören eben auch seine sprechenden Fangarme, die Namen tragen wie beispielsweise «Der Blendende», «Der Süße», «Der Halbe», «Der Schüchterne», «Der Müde» und ähnliche mehr. Als ein monströser, weiblicher Tintenfisch ein Tiefseekabel berührt, erwacht sein sexueller Trieb, und von einem zufällig vorbei schwimmenden Männchen wird es dann geschwängert.

Berichtet wird ferner von einem Seemann namens Sanz, der 1861 beim Anblick eines Riesenkraken derart entsetzt war, das er schockiert seinen Beruf aufgeben musste und in Luxemburg eine Familie gegründet hat, deren Stammbaum im Anhang des Romans abgebildet ist. Alle dort verzeichneten Nachkommen verdanken ihr Leben letztendlich also einem angriffslustigen Riesen-Tintenfisch. Diese Genealogie wird im Roman immer wieder mit dem Kalmar in Verbindung gebrach, die Familien-Mitglieder tauchen regelmäßig in jeweils einem der Kapitel dieses Romans auf und bilden so einen losen Rahmen für die unkonventionelle Erzählung. Die Studentin Sanja Sanz, im Jahr 2000 geboren und jüngstes Mitglied der Familie, absolviert auf dem Frosttrawler in der Antarktis ein Praktikum. Sie muss damit klar kommen, dass dort ein halbes Jahr lang Dunkelheit herrscht. Sanja ist es auch, die ein Herz hat für den Riesenkalmar, der den Krillfängern ins Netz geraten ist und nun am Oberdeck liegt, sie versucht alles, um ihn am Leben zu erhalten. Ihr Tagebuch bildet das Ende des Romans. Es gibt auch literarische Verweise, zum Beispiel auf Jules Verne, der in «20.000 Meilen unter dem Meer» eine solche Riesenkrake publikums-wirksam zum Monster hochstilisiert hat,

Luca Kieser verwendet eine angenehm lesbare Diktion, bei der immer auch ein gewisses Pathos mitschwingt. Von einem Plot allerdings kann man nicht sprechen bei dieser chaotischen Erzählung, die vor allem durch wilde Zeitsprünge und geradezu irre Perspektiv-Wechsel gekennzeichnet ist. Der Text wird häufig durch längere Fußnoten ergänzt, wie sie zwar in Sachbüchern üblich sind, in der Belletristik aber den Lesefluss nur stören, ebenso wie es auch die gelegentlichen Verweise des Autors zu anderen Kapiteln seines Buches tun. Kaum gelungen erscheinen auch die philosophischen Exkurse, zum Verhältnis zwischen Leib und Seele beispielsweise oder zur Evolutionstheorie mit der Beziehung zwischen Mensch und Natur. Die Intention des Autors, seine gigantische Themenfülle zudem, überfordert (fast) alle Leser, denn: ‹Alles ist letztendlich Nichts› !

Fazit: mäßig

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Picus Verlag Wien

Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort

Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort. “Sie erinnerte mich an alles, was ich nie zu vergessen hoffte.” Zum 100. Geburtstag von James Baldwin erscheint bei dtv eine Neuauflage seiner Werke. Sein vierter Roman, der hier in gebundener Ausgabe vorliegt, erschien 1968, ein Jahr, das auch große politisch Bedeutung erhielt. Der Protagonist, Leo Proudhammer, wächst in den Straßen Harlems auf und schafft es als Schauspieler auf die Bühnen der Welt.

Erschütternder Realismus als Ausweg

Der Schauspieler überlebt einen Herzinfarkt und kommt dank seiner Freunde gleich ins Spital. Aus dieser Perspektive erzählt er dem Leser sein Leben, das an Aufregungen nicht arm war. Als Sohn eines Lagerarbeiters und einer Heimarbeiterin in Harlem, New York gehört seine Familie nicht gerade zu den Privilegierten. Sein Vater stammt von einer Insel, aber nicht Manhattan. Sie sind schwarz und Leo zudem noch bisexuell oder homosexuell, das wird ihm selbst erst im Laufe des Romans klar. Vorerst kann er es gemeinsam mit Hilfe der weißen Schauspielerin Barbara King und ihren Kontakten zu den besseren Kreisen zu einem Engagement in der “Werkstatt” schaffen, die von zwei reichen Weißen geführt wird. Wir lernten gerade wie Pirandello es ausdrückt “unser Spiel zu leben und unser Leben zu spielen”, als der unvermeidbare Bruch mit seinem älteren Bruder Caleb und seinen Eltern Leo den notwendigen Freiraum verschafft, sein eigenes Leben zu leben. In einer fesselnden Sprache und dramaturgisch klug konstruiert erfahren wir in Rückblenden immer mehr über die Genese des Leo Proudhammer, der als Schauspieler von allen bewundert wird, als Mensch aber immer etwas vermisst. Einerseits geht es um die Beziehung zu seinem älteren Bruder, den er liebt und verehrt, andererseits auch um den alltäglichen Rassismus im Amerika der 1940er Jahre. Mit viel Einfühlungsvermögen beschreibt Baldwin, wie sich Leo fühlt, wenn er in dem weißen Viertle von Barbara angestarrt wird und wenig später als Einbrecher verhaftet wird. Ein “Spaziergang” mit Barbara wird zu einem Hürdenlauf, da sie auf der Straße nicht nur von Augen fixiert, sondern auch von Mündern bespuckt und beschimpft werden.

Identifikationsfigur der Intersektionellen

“Eigentlich wollte ich aber sagen, egal wie dramatisch die erwähnten Grenzen auch sind, die dramatischste, abstoßendste bleibt jene unsichtbare Grenze, die amerikanische Städte teilt, Weiß von Schwarz.” Treffende Worte und tolle sprachliche Bilder machen den vorliegenden Roman zu einem Lesehighlight, der nicht nur Shakespeare’s Othello zitiert, sondern auch in die innersten Winkel einer Seele blicken lässt, die auf der Suche nach Wahrhaftigkeit sogar bereit ist, sich selbst zu opfern. “Meine Ehre, mein Verstand und meine Erfahrung sagten mir allesamt, dass Freiheit, nicht Glück, der Edelstein war.” James Baldwin lotet alle Möglichkeiten der Liebe aus und beschreibt anhand der Biographie Leo Proudhammers auch seinen eigenen Leidensweg. Als “Son of a Preacher Man” gehörte auch er zu den schwarzen Predigern, die sich nicht auf den kirchlichen Raum beschränkten, sondern auch jene miteinschlossen, die sich außerhalb in ihren eigenen Räumen versperrten. Zwischen Malcolm X und Martin Luther King oszillierend befanden sich damals viele schwarze Amerikaner, denen die Black Panther zu radikal waren. Schwarze Virilität galt damals als die Antwort auf einen sozialen Inferioritätskomplex. Vielleicht ist gerade deswegen die Lektüre von Baldwin so spannend, da er in der Zärtlichkeit des eigenen Geschlechts die Radikalität findet, die das gesellschaftliche Ganze wirklich umzuwälzen vermochte. “Schwarz, bisexuell, Künstler und glaubenslos”, zitiert Elmar Kraushaar eine zeitgenössische Spiegel-Rezension im lesenswerten Nachwort, hätten ihn zum vierfachen Außenseiter gemacht, als “Martin Luther Queen” sei er verspottet worden, aber niemand konnte seinen Stolz brechen. Heute, ein halbes Jahrhundert später ist James Baldwin längst Kult und sein Konterfei auf vielen Black Lives Matter T-Shirts zu sehen.

James Baldwin
Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort. Roman
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Miriam Mandelkow
Mit einem Nachwort von Elmar Kraushaar
2024/1965, Hardcover, 672 Seiten
ISBN : 978-3-423-28402-8
dtv
EUR 28,00 [DE] – EUR 28,80 [AT]

 

 

 


Genre: Homosexualität, Rassismus, Roman
Illustrated by dtv München

Risse

Literarische Zumutung

Das neue Buch «Risse» von Angelika Klüssendorf trägt nur auf dem Vorsatzblatt verschämt die Bezeichnung Roman, nicht aber auf dem Cover, wo es ja verkaufsfördernd wäre. Der Text besteht aus zehn Kurzgeschichten, die schon 2004 unter dem Titel «Aus allen Himmeln» erschienen sind. Mit gleicher Thematik erschien 2013 der erfolgreiche Debütroman «Mädchen» als Teil einer Trilogie. Es geht in diesen allesamt autofiktionalen Werken um die verheerenden Auswirkungen eines lieblosen und teilnahmslosen, aber auch chaotischen, sadistischen Elternhauses auf die Entwicklung der in solch prekären Milieus aufwachsenden Kinder. «Kein Wohlfühlroman», ist meine Buchbesprechung von «Das Mädchen» betitelt, und das gilt für das jetzt vorliegende neue Buch der Autorin gleichermaßen, nichts für literarische Hedonisten also!

Entsprechend den zehn Kurzgeschichten als Grundlage ist «Risse» in zehn Kapitel aufgeteilt, in denen die einzelnen Motive ihres Erzählbandes über ein von Armut geprägtes Kinderleben in ein Ganzes übertragen wurde. Ergänzend sind jeweils kursiv gesetzte Kommentare der Autorin als Ich-Erzählerin zwischen die Kapitel eingefügt, die ihre Arbeit an dem Buch selbst verdeutlichen sollen. Ihre in der DDR der sechziger und siebziger Jahre angesiedelten Kurzgeschichten sind von erschütternden Szenen der seelischer Grausamkeit an dem Mädchen geprägt, die ihre teilnahmslosen Eltern, manchmal sogar mit sadistischen Übergriffen, an ihr und ihrer Schwester begehen. Die nur ganz selten mal beim Namen genannte, bedauernswerte Heldin schwankt zwischen depressiver Erduldung und verzweifeltem Aufbegehren, um die eigenen Eltern «auszuhalten».

Einzig der große Kirschbaum im Garten ist zuweilen ein Trost für sie. Es ist dieser Kirschbaum, der als Leitmotiv fungiert und ihre Sehnsucht nach Geborgenheit symbolisiert. Auf seine Weise wirkt er tröstend für das Mädchen, verheißt ihm Verlässlichkeit und Beständigkeit trotz all der traumatischen Zumutungen, denen es ausgesetzt ist. Für den Leser stellt der Kirschbaum außerdem so etwas wie einen hilfreichen roten Faden dar im Seelenchaos des emotionslos und allzu sprunghaft erzählten, unübersichtlichen Plots. Aber auch die Beschäftigung mit Büchern liefert dem Mädchen Halt, sie taucht dann wenigstens zeitweise in andere Welten ein. Und dem Lesen folgt quasi automatisch auch das Schreiben, aus dem sich einst mit den Kurzgeschichten ihre erste Veröffentlichung ergeben hatte. Die autofiktionalen Geschichten und der zu ihnen hinführende Schreibprozess sind hier ineinander verwoben. Eine geradezu klassische Konstellation vom Buch-im-Buch also, die, wie ja auch die Autofiktion, zunehmend populärer wird im Genre der Belletristik, – und geradezu eine Domäne weiblicher Wortakrobaten zu sein scheint!

Von sexuellen Übergriffen wird in Angelika Klüssendorfs Geschichten berichtet, von ersten Versuchen der Selbstbefriedigung, von einer überraschenden ersten Menstruation des Mädchens. Ausgerechnet auf der Beerdigung des Vaters läuft ihr das Blut am Bein herunter. Es gibt keine Körperflüssigkeit, von der hier nicht die Rede ist, Blut, Eiter, Schweiß, Sperma, Rotz, Urin, Kot. Erzählt wird auch von einer Entjungferung in den Dünen oder von den Anstiftungen der Mutter zum Ladendiebstahl. Das geht so weit, dass die Mutter ihrer Tochter einen «Diebstahlzettel» schreibt, auf dem sie genau notiert hat, was das Mädchen wo für sie stehlen soll. Und natürlich ist bei allem Schnaps im Spiel, die Mutter ist, wie der Vater auch, alkoholkrank. Der Vater hat zudem schon viele Suizidversuche hinter sich, nun versucht er es mit Gas in der Küche. Vater und Tochter liegen nebeneinander auf dem Küchenboden, als die Mutter hinzukommt. Das Mädchen wird im Krankenhaus gerettet, für den Vater kommt jede Hilfe zu spät. Ob Verdrängtes ans Tageslicht befördert wurde mit der späten «Selbstbefragung» der Autorin, das kann nur sie selbst beurteilen. Viele Kritiker aber schütteln nur den Kopf angesichts dieser literarischen Zumutung!

Fazit: miserabel

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Gittersee

Verrat und Gegenverrat im Teenager-Milieu

Es ist sicher kein Zufall, dass neben Anne Rabe auch Charlotte Gneuß mit «Gittersee» einen DDR-Roman geschrieben hat, der es als Debüt immerhin auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 geschafft hat. Anders als ihre schreibende Kollegin ist Charlotte Gneuß ein Wessi, eine Schwäbin ohne jede DDR-Prägung, ihre Geschichte beruht also auf Erzählungen und Recherchen, nicht auf eigenem Erleben. Ihre Protagonistin schildert als 16jährige Ich-Erzählerin sehr anschaulich ihr Leben in einer zerrissenen Familie mit den «werktätigen» Eltern, einer strengen Oma und der kleinen Schwester. Die zu hüten ist ihre ständige Pflicht, was ihr eigenes Leben als Pubertierende zwar stark einschränkt, was Karin aber gerne tut, sie liebt das Kleinkind inniglich. Schauplatz des Geschehens ist der titelgebende Stadtteil «Gittersee» von Dresden, der durch seinen Bergbau bekannt ist. Erzählzeit ist das Jahr 1976, das von den innerdeutschen Verträgen ebenso geprägt war wie von der KSZE. Das stelle, wie die Autorin im Interview erklärt hat, für Ostdeutschland eine ähnliche Zäsur dar wie das Jahr 1968 für Westdeutschland.

Im Fokus des Romans steht die Stasi, allgewaltige Spitzel-Krake, deren Tentakel überall hin reichen im Arbeiter- und Bauernstaat, auch bis zu Karin hin. Deren älterer Freund Paul, Bergarbeiter in der Wismut, ihre erste Liebe, macht ihr den Vorschlag, sie bei seinem geplanten dreitägigen Kletterausflug in die Tschechoslowakei zu begleiten. Paul hat eine Schwalbe, ein damals in der DDR außerordentlich weitverbreitetes Kleinkraftrad, auf dem er sie mitnehmen könne. Er schärft ihr ein, aber ja niemandem davon zu erzählen. Wegen ihrer Pflichten in der Familie muss Karin jedoch absagen, Paul fährt mit einem Freund allein los. Nach der ersten Nacht im Zelt ist er spurlos verschwunden, und prompt stehen kurz darauf zwei Stasi-Mitarbeiter vor Karins Tür. Sie wollen von ihr wissen, ob sie von Pauls Plänen gewusst habe. Wenn ja, wäre das eine strafbedrohte Beihilfe zur «Republikflucht», – was für ein perverses Staatsverständnis steckt in diesem Wort! Guten Gewissens beteuert Karin, sie habe keine Ahnung gehabt und wisse nicht, wo Paul sei, sie habe auch keinerlei Lebenszeichen von ihm erhalten.

Von nun an ist die Stasi Dauergast bei Karin, ihre fragile Welt bricht zusammen, nichts ist mehr so. wie es war. Denn auch in der Familie rumort es, ihre Mutter verlässt Mann und Kinder und zieht zu einer Freundin in die Stadt. Sie fühlt sich zu Größerem berufen, möchte sich in anderen sozialen Kreisen bewegen als in der drögen Vorstadt-Gesellschaft mit ihren prekären Lebens-Bedingungen. Der Vater ist alkoholkrank und säuft sich gelegentlich ins Koma, kümmert sich aber immerhin mit Hilfe der Großmutter um die zwei Töchter. Einer der Stasi-Männer ist besonders hartnäckig und führt nun beinahe wöchentlich Gespräche mit Karin. Sie müsse doch etwas gespürt haben, wird ihr vorgehalten, ob ihr denn wirklich gar nichts aufgefallen sei! Schließlich hat er Karin so weit, sie verpflichtet sich als IM, als informelle Mitarbeiterin der DDR-Staatssicherheit, von denen es in ‹Blütezeiten› 200.000 gab, etwa jeder achtzigste also. Karins Motive bleiben unklar: Erhofft sie sich Informationen über Paul? Will sie Karriere machen als Geheimdienst-Mitarbeiterin?

Dieser Roman hält sich strikt an das Private, er beleuchtet auf subtile Weise das zerrüttete Familienleben seiner Heldin Karin, die schon so früh eingespannt ist in die alltäglichen Pflichten. Schule und Freundschaften unter Teenagern sind ebenfalls Themen, die Charlotte Gneuß wichtig sind und von ihr, nicht ohne ironischen Unterton, mit einbezogen werden in ihren Debütroman. Stilistisch ist er durch seine sprachliche Verknappung geprägt, die vor allem in den Dialogen zum Ausdruck kommt. Der Plot ist von diversen Einschüben wirrer Träume durchzogen, lebt nicht zuletzt von einem gewissen Spannungsbogen und lässt auch Vieles im Schwebezustand. Wenig überzeugend allerdings ist das kriminalistisch inspirierte Ende dieser Story von Verrat und Gegenverrat im Teenager-Milieu der DDR.

Fazit: lesenswert

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Paradise Garden

Mix aus Coming-of-Age und Roadnovel

Mit ihrem Debütroman «Paradise Garden» ist Elena Fischer eine flotte Coming-of-Age-Geschichte gelungen. Der Buchtitel weist auf den wohl glücklichsten Tag im Leben der 14jährigen Protagonistin und Ich-Erzählerin Billie hin, als ihre Mutter ihr nämlich in der örtlichen Eisdiele den größten Eisbecher mit dem Namen «Paradise Garden» spendiert. Damit wird eine tragische Zäsur angedeutet, von der die alleinerziehende, in prekären Verhältnissen lebende Mutter und ihre pubertierende Tochter noch nichts ahnen können. Etwa die Hälfte der Geschichte handelt von dem äußerst bescheidenen Leben der Beiden in der kleinen Wohnung einer städtischen Hochhaus-Siedlung. Der erste, nach literarischem Dogma oft schon die ganze Story enthaltende Satz des Romans lautet: «Meine Mutter starb diesen Sommer». Damit wird hier schon gleich auf das verhängnisvolle Ereignis hingewiesen, dem sich dann in der zweiten Buchhälfte ein geradezu klassischer Roadtrip anschließt. Schon früh weist die Autorin listig, en passant nämlich, in einer Szene darauf hin, als die Mutter ihre Tochter auffordert, doch ihr Buch zu Ende zu lesen. Es handelt sich um «Unterwegs», original «On the Road» von Jack Kerouac, dem stilprägenden Kultroman für dieses Genre, Vorlage für den berühmten Spielfilm «Easy Rider».

Billie, in Ungarn geboren und nach dem Willen der dominanten Großmutter mit erstem Vornamen Erzsébet getauft, weiß nicht, wer ihr Vater ist, sie kennt nicht mal dessen Namen. Alle Fragen dazu bleiben unbeantwortet, dieses Thema ist ein absolutes Tabu für ihre Mutter. Die war früher mal Ballett-Tänzerin, Billie findet auf dem Dachboden ein Tutu, das davon zeugt. Und es gibt ein Foto von der Mutter vor einem Gartenhaus, auf dem auch der Arm eines Mannes erkennbar ist, der Rest wurde weggeschnitten. Obwohl die Mutter zwei Jobs hat, reicht das Geld hinten und vorne nicht, oft gibt es dann am Monatsende tagelang immer nur Nudeln mit Ketchup. Trotzdem ist ihr Zusammenleben sehr harmonisch, mit ihrer unbeirrbaren Resilienz meistern die Beiden immer wieder alle Fährnisse des Lebens. Die Mutter versteht es, Billie mit viel Fantasie eine bunte Kindheit zu bieten, in der sie sich prächtig amüsieren auch ohne viel Geld. Dieses Jahr aber wollen sie in den großen Ferien ans Meer fahren, Billie träumt immer wieder davon. Sie hat etwas Geld gewonnen, und auch wenn es für Florida nicht reicht, werden sie wenigstens ans Meer fahren mit dem fast schrottreifen Nissan der Mutter, dessen TÜV seit einem dreiviertel Jahr abgelaufen ist, – aber er fährt noch!

Die Reise-Euphorie endet abrupt, als die Großmutter aus Ungarn unangekündigt vor der Tür steht und damit alle Urlaubspläne zunichte macht. Billies Mutter hatte nie ein gutes Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter, es gab häufig Streit, und das ist auch jetzt nicht anders. Nach dem tragischen Unfalltod der Mutter fährt die 14jährige Billie beherzt alleine los mit dem Nissan, die Roadnovel beginnt. Sie hatte privaten Fahrunterricht bei ihrer Mutter, übte heimlich auf dem Supermarkt-Parkplatz, sie traut sich die Fahrt ohne Weiteres zu. Und sie hofft, mit den wenigen Informationen, die sie hat, ihren Vater zu finden. Auch die Großmutter hatte ihr nicht weitergeholfen mit Hinweisen auf den Vater, angeblich wüsste sie auch nichts über ihn. Billie, die schon immer gerne geschrieben hat, beginnt mit Aufzeichnungen, sie notiert sich eifrig äußere Erlebnisse und innere Erkenntnisse auf ihrer abenteuerlichen Reise. Dabei trifft sie meist auf freundliche Menschen, die ihr weiterhelfen bei ihrer unbeirrten Suche.

Sehr überzeugend hat die Autorin in ihrem Plot Roadnovel und Coming-of-Age als Genres miteinander verbunden, wobei sie stilistisch eine dem Alter ihrer Protagonistin angepasste, schlichte Jugendsprache mit kurzen Sätzen verwendet. Dieser Roman ist eine leicht lesbare, unterhaltsame Lektüre, die beim vorhersehbaren Ende so etwas wie Hoffnung aufscheinen lässt und manchmal leider dicht am Kitsch vorbeischrammt.

Fazit: mäßig

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Die Inkommensurablen

Intellektueller Höhenflug

«Die Inkommensurablen», der dritte Roman von Raphaela Edelbauer, die in Wien Sprachkunst und Philosophie studiert hat, weist wie die zwei vorherigen Romane einen erstaunlich kreativ angelegten Plot auf. Ihre Erzählung beginnt am 30. Juli 1914 um 6:32 Uhr und endet am nächsten Tag mit dem Ablauf des Ultimatums und der umgehend erfolgenden Kriegserklärung an Serbien, gemeinhin als der Beginn des Ersten Weltkriegs angesehen. Die Stadt liegt im Taumel, die jungen Männer melden sich scharenweise freiwillig, sie können es kaum erwarten, sich für das tödliche Attentat auf den österreichischen Kronprinzen an den Serben zu rächen. Es wimmelt von Menschen auf den Straßen Wiens. Mitten in dieses Gewimmel hinein gerät, gerade erst mit dem Nachtzug am Wiener Hauptbahnhof angekommen, der siebzehnjährige Pferdeknecht Hans aus Tirol. Auch er will sich freiwillig melden, nicht zuletzt um der unerträglichen Fron seiner harten Arbeit auf dem armseligen, heimischen Bauernhof zu entkommen.

Vorher aber will er sich noch bei der bekannten Wiener Psychoanalytikerin Helen Cheresch vorstellen, er hat für den gleichen Tag einen Termin in ihrer Praxis vereinbart. In acht Kapiteln erzählt die Autorin chronologisch von den Erlebnissen ihres Protagonisten Hans in diesen turbulenten eineinhalb Tagen. Er hat sich schon als kleiner Junge, der nicht in die Schule gehen durfte und als Arbeitsknecht gnadenlos ausgebeutet wurde, heimlich das Lesen und Schreiben beigebracht und bildungshungrig jede Möglichkeit ergriffen, um seinen geistigen Horizont zu erweitern. Vor der Praxis trifft er auf Klara, die mit der berühmten Psycho-Analytikerin befreundet ist und sich als eine hochintelligente Mathematik-Studentin erweist. Sie ist denn auch eine der ersten Frauen in Österreich, die in ihrem Fach promovieren will, – am folgenden Tag schon ist der Termin für ihr Rigorosum. Und während Hans und Klara sich sofort in einem für beide fruchtbaren, ersten Gespräch anfreunden, stößt auch noch Adam, ein musisch begabter, aristokratischer Sohn aus reichem Hause, zu ihnen und erweitert das diskussions-freudige Duo zum Trio.

Dieser wortwörtlich am Vorabend des Ersten Weltkriegs angesiedelte Roman wird von Beginn an in einer wohltuend klaren, sachlichen Sprache erzählt. Er spiegelt damit die Geschichte des zu Höherem strebenden Pferdeknechts Hans vor dem Panorama eines gerade endgültig aus den Fugen geratenden, spät-habsburgischen Österreichs. Das genialische Hochbegabten-Trio versinkt in endlosen Diskussionen, denen zu folgen zusehends schwerer wird. Da wird zum Beispiel versucht, das Wesen der «Inkommensurablen» anhand eines Vergleichs mit den irrationalen Zahlen zu erklären. Aber als ebenso inkommensurabel, als unvergleichbar mithin, erweist sich dieses intellektuelle Trio selbst. Und dass in den mit der Musik beschäftigen Diskursen Arnold Schönberg als Komponist im Mittelpunkt steht, verwundert dann kaum noch. Allmählich aber entwickelt sich die Erzählung von den drei ebenso hyper-begabten wie inkommensurablen Figuren zu einer Art Traumnovelle, die zusehends ins Irreale steuert mit von Drogen befeuerten Trugbildern. Intellektueller Höhepunkt ist am Ende des Romans ein längerer Vortrag Klaras mit ihrer schriftlich verfassten Einleitung zum Rigorosum, dem allenfalls studierte Mathematiker wirklich folgen können.

Intellektuell also auf sehr hohem Niveau angesiedelt, ist der detail-versessene Erzählstoff nicht immer ganz frei von Anachronismen, trotzdem aber liest man die mathematischen, musik-wissenschaftlichen und psycho-analytischen Exkurse der österreichischen Autorin mit Gewinn. Sachlich beruhigend sind dabei die im Anhang aufgelisteten Quellen für ihre hochgestochenen Diskurse, die manchen Kommentatoren als zu gestelzt, aber auch als zu konstruiert erscheinen. Dabei wird übersehen, dass doch etliche, gerade in den intellektuellen Höhenflügen zweifellos vorhandene, satirische Elemente all das hochgestochen Erscheinende wohltuend relativieren.

Fazit:  erfreulich


Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Der große Wunsch

Innere Befreiung im islamistischen Getto

In «Der große Wunsch» des in Ostberlin geborenen Schriftstellers Sherko Fatah bestimmen die irakisch-kurdischen Wurzeln seines Vaters, durch die er selbst auch einen besonderen Zugang zu dieser nahöstlichen Krisenregion hat, die spezielle Thematik seines neuen Romans. Protagonist der Geschichte ist der in Berlin lebende Murat, dessen Name «Der große Wunsch» bedeutet, – damit auch das schon mal geklärt ist! Seine volljährige Tochter Naima ist spurlos verschwunden, sie hat auch seiner geschiedenen Frau keinerlei Nachricht hinterlassen. Seine Nachforschungen ergeben, dass sie wohl mit einem Gotteskrieger französischer Herkunft, den sie im Internet kennen gelernt hat, nach Syrien aufgebrochen ist, um dort zu heiraten. Murat macht sich Vorwürfe, ihr viel zu wenig von seinem krisen-geschüttelten Herkunftsgebiet erzählt zu haben, in dem verschiedene politische Kräfte und diverse Terrorgruppen in völlig undurchschaubare Kämpfe verwickelt sind und Grenzen nur auf dem Papier existieren.

Als Murat die Ungewissheit nicht mehr aushält, borgt er sich von verschiedenen Freunden Geld, hebt als Teilhaber einer kleinen Firma auch noch alle Bankguthaben ab und reist über die Türkei in das vom Islamischen Staat beherrschte Gebiet, in dem er seine Tochter vermutet. Er will sie nach Hause holen, eine gefährliche Reise, wie er schon bald merkt. Denn die Schleuser, zu denen er über das Internet Kontakt aufgenommen hat, erweisen sich als unzuverlässig und geldgierig, sie vertrösten ihn immer wieder, liefern aber nichts Konkretes, das Schicksal seiner Tochter bleibt ungewiss. Nur in kleinsten Häppchen bekommt er von seinem einheimischen Fahrer und anderen dubiosen Mittelsmännern dann nach und nach Informationen über Naima. Man habe sie in einer Kolonie von IS-Kämpfern mit Frauen aus westlichen Ländern ausfindig gemacht, die im Neubaugebiet der Stadt Rakka zusammen wohnen. Murat bekommt immer wieder mal Fotos, auf denen er aber nichts erkennen kann, weil die junge Frau, die da fotografiert wurde, voll verschleiert ist, man sieht nur ihre Augen. Später liefern die Schleuser ihm dann auch Kassetten mit Aufnahmen aus einem Audio-Tagebuch, auf denen eine Frauenstimme zu hören ist, die Murat jedoch ebenso wenig als die seiner Tochter Naima identifizieren kann. Sie könnte es sein, aber es gibt keine eindeutigen Hinweise, zum Beispiel typische Redewendungen oder irgendwelche Bemerkungen, die auf ihre Vita hindeuten.

Im Wesentlichen aber handelt der Roman vom Warten, denn Murat kann selbständig nichts tun, und die Schleuser lassen ihn zappeln, liefern nichts Konkretes, versichern aber mit wachsender Zuversicht, dass die Frau, die sie im Visier haben, die gesuchte Tochter ist. Diese zeitliche Leere, die der phlegmatische Murat in einer wüstenähnlichen Landschaft verbringt, verleitet ihn zu endlosen Reflexionen, insbesondere über die konkreten Flucht-Ursachen seiner Tochter. Vor allem aber sinniert er über sein Versäumnis, Naima nicht abhalten zu können von ihrem radikalen Schritt, der wohl als innere Befreiung gedacht war. Der dann aber tatsächlich in einem frauen-feindlichen, islamistischen Getto endet, was sich auch Naima so sicherlich nicht hatte vorstellen können.

Obwohl also so gut wie nichts passiert in diesem Roman, ist er doch prall gefüllt mit Gedanken, Beobachtungen, Spekulationen, Mutmaßungen, zudem mit schier endlosen Beschreibungen der unwirtlichen, kargen Landschaft. Gefüllt mit literarischen Arabesken also, die sehr schnell langweilig werden, weil sie rein gar nichts zum eigentlichen Thema beisteuern. Gerade weil nichts passiert, wird man als Leser regelrecht auf die Folter gespannt, erwartet man jeden Moment eine erlösende Wendung der verzwickten Situation in diesem ‹lethargischen› Plot, auch und gerade dann, wenn man irgendwann nur noch zehn, nur noch fünf, nur noch zwei Seiten zu lesen hat. Uff! Und buchstäblich alles, was hier thematisch angerissen wurde, bleibt offen. Antworten auf die aufgeworfenen Fragen gibt es also nicht, die muss der Leser selber finden!

Fazit: lesenswert

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand