UTOPIA AVENUE

Was sagen Ihnen die folgenden Namen? Frank Zappa, Jackson Browne, Grateful Dead, Jefferson Airplane, Herman’s Hermits.

Stirnrunzeln? Zu schwierig? Machen wir es einfacher. Leonard Cohen, Janis Joplin.

Es schwant etwas?

Ok, nun ist es eigentlich kein Rätsel mehr: John Lennon, Mick Jagger, Jimi Hendrix, Bob Dylan.

In der Tat handelt es sich durchgehend um Bands oder Musiker, die solo oder in Musikgruppen in den späten Sechzigern, den Siebzigern oder sogar noch lange danach die weltweite Musikszene bestimmten. Kurzzeitig oder als Evergreens, wobei ein einzelner Herr in dieser Reihe mit den verbliebenen anderen rollenden Steinen bis zu einem Durchschnittsalter von circa 80 Jahren regelmäßig auf Welttournee ging. Doch das ist eine andere Geschichte.

Nach seinen diversen literarischen Welterfolgen hat sich David Mitchell in ein ganz anderes, unerwartetes Metier gewagt. Eben in diese Musikszene der „Wild Sixties“, der wilden Sechziger.

Der Plot: Ein talentierter und ehrgeiziger Produzent stellt in England – wo sonst – eine Band zusammen. Natürlich zieht man zu Beginn erfolglos über die Dörfer, aber wird schließlich – wie könnte es anders sein – zu Weltstars. Im Laufe des Karriere-Weges trifft man so ganz nebenbei alle oben angeführten Legenden der damaligen Musikwelt. „Cool“, denkt der Leser und spürt den Promi-Schauer den Rücken runterlaufen. Ach ja, ist ja nur eine Geschichte. Die Band gab es nie, sie ist rein fiktiv. Aber die anderen ja schon. Also wenigstens ein bisschen Gänsehaut darf dann doch sein.

Aber es wäre nicht ein Werk von David Mitchell, wenn es nicht doch die typischen Fantasie-Exzesse abseits des Haupt-Erzählstranges gäbe.

Jeder Protagonist der vierköpfigen Band erhält von Mitchell seinen ganz eigenen Charakter und seine ganz persönliche Story.

Da ist Dean, der Junge aus sozial schwachem Umfeld mit dem gewalttätigen Vater. Dean, der Frauenheld und der Angeklagte in einem Vaterschaftsprozess. Aber auch Dean, der begnadete Bassist, Komponist und Texter. Dean, der neben dem schon allseits selbstverständlichen Koks auch LSD-Versuchen nicht abgeneigt ist.

Jasper, der magische Gitarrist, der aber mit seiner Schizophrenie zu kämpfen hat. Jasper, der versucht, mittels Horologie und psychochirurgischer Seelentransplantation (was immer das ist), aus seinem Teufelskreis herauszukommen. An dieser Stelle erlaubt sich Mitchel ein wenig Story-Recycling. Jasper ist Niederländer und heißt mit Nachnamen De Zoet (gesprochen „de Zuut“). Klingelt was? In der Tat kommt sein Großvater bei der Analyse der Timeline aller Vorfahren kurzzeitig vor. Mitchells Buch aus dem Jahre 2014 „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“ lässt grüßen.

Da ist Elf, nicht nur die Quotenfrau der Band, sondern weibliches Rückgrat der Gruppe, aber auch der Familie, die unter dem plötzlichen Kindstod bei Elfs Schwester leidet. Irgendwann entdeckt sie im Verlauf auch noch ein eigenes unterdrücktes Geheimnis.

Am blassesten kommt Griff, der Schlagzeuger, weg, wie so viele Schlagzeuger der Welt (vielleicht abgesehen von Charlie Watts). Seine Persönlichkeit beschränkt sich auf den Tod des Bruders und ein paar Frauengeschichten. Und Schlagzeugspielen.

Die vier entwickeln sich gemeinsam weiter, werden musikalisch besser, touren durch England und die USA, geben Konzerte, schuften Tag und Nacht in Studios und lassen auch keine Party aus.

Alles in allem also alles genauso, wie man sich ein Bandleben in den späten Sechzigern so vorstellt. Ist das Buch von David Mitchell deshalb eine stereotype Flachpass-Geschichte?

Eigentlich eher nein. Denn es drängt sich der Eindruck auf, dass David Mitchell genau das wollte. In diesem Autor schlummerte ganz offensichtlich über all die Jahre genau dieses Werk, denn seine Begeisterung für den Zeitgeist der Sechziger und Siebziger mit der Hippie-Flower-Power-Anti-Vietnam-Bewegung, sein Detailwissen zu den historischen Ereignissen, weltpolitisch wie in den Straßen von San Francisco, und seine Faszination und seine Kompetenz für die Musik der damaligen Zeit sind unverkennbar. Da hat sich einer seine Leidenschaft von der Seele geschrieben. Man sieht förmlich seine strahlenden Augen und das ist manchmal ein wenig ansteckend.

Literarisch ist „Utopia Avenue“ allerdings nicht Mitchells bestes Werk und zum Beispiel mit „Wolkenatlas“ nicht vergleichbar. Stellenweise hat man fast das Gefühl, er hat bestimmte Passagen einem Ghostwriter oder aufstrebenden Jungautor übergeben. Geradezu plump wirkt sein(?) Stil, wenn er krampfhaft versucht, längere Dialoge aufzulockern. Ein Beispiel:

„Würde das nicht alles ändern?“

Ein Müllwagen rumpelt vorbei.

„Dein Leben wartet, Jasper!“

Der Auflockerungs-Müllwagen taucht immer mal wieder auf. Ebenso der zwitschernde Vogel oder das schreiende Kind auf der Straße vor dem Haus. Zwanghafte Bildeinschübe in einem einzigen Satz, die man in dieser Form nicht mal mehr in den Volkshochschulkursen für kreatives Schreiben in Wanne-Eickel oder Bad Ischl durchgehen lassen würde.

Dennoch ist David Mitchell in Summe ein durchaus unterhaltsames Buch gelungen. Die einleitend abgefragten Grundkenntnisse sind hilfreich, aber keine Conditio sine qua non.


Genre: Erzählung, Gesellschaftsroman, Historischer Roman, Roman
Illustrated by Rowohlt

Der Wolkenatlas

Von Kultur zur Barbarei

Mit dem Roman «Der Wolkenatlas» hatte der britische Schriftsteller David Mitchell 2004 seinen literarischen Durchbruch, er ist bis heute sein bekanntestes und erfolgreichstes Werk, das mit seiner fragmentarischen Erzählweise charakteristisch ist für diesen Autor. So gibt es hier nicht nur sechs eigenständige Erzählebenen, fünf davon sind auch noch in jeweils zwei Hälften geteilt, deren zweite sich in umgekehrter Reihenfolge an den durchgehend erzählten Mittelteil anschließt. Die Unterbrechungen erscheinen willkürlich, in einem Fall endet der erste Teil sogar mitten im Satz und setzt sich ebenso unvermittelt nach nicht weniger als 562 Seiten im zweiten Teil fort, an genau dieser Textstelle und ganz einfach mit dem nächsten Wort. Diese sechs Erzählungen sind inhaltlich auf verschiedene Art miteinander verbunden, durch ein Déjà-vu-Erlebnis zum Beispiel oder andere narrative Details. Zudem unterscheiden sie sich radikal im Duktus voneinander und sind zeitlich in ganz unterschiedlichen Epochen angesiedelt, vom 19ten Jahrhundert über die Jetztzeit bis in eine ferne, post-apokalyptische Zukunft hinein. Dass ein derart unkonventionell aufgebauter Roman umstritten ist, das liegt auf der Hand.

Es beginnt mit dem Tagebuch eines Anwalts, der zur Zeit des Goldrauschs Mitte des 19ten Jahrhunderts auf der Heimfahrt von Australien nach San Francisco die christliche Seefahrt mit all ihren Beschwernissen und Gefahren schildert. Es schließt sich der Briefzyklus eines schwulen Musikstudenten an, der sich 1931 im belgischen Städtchen Zedelgem als Assistent eines berühmten Komponisten verdingt, allerlei Irrungen und Wirrungen miterlebt und ganz nebenbei ein ultramodernes Sextett mit dem Titel «Wolkenatlas» komponiert. Die dritte Geschichte aus den 1970er Jahren ist ein furioser Krimi um eine Journalistin, die im Milieu der Atom-Mafia in den USA einem Skandal auf der Spur ist. Ein alternder Verleger schließlich hat großen Erfolg mit «Faustfutter», dem Roman eines Autors, der wegen Mordes im Gefängnis sitzt, und wird nach allerlei fiesen Machenschaften in die Psychiatrie weggesperrt. Der dystopische fünfte Teil ist eine Geschichte um Klone und Duplikanten, die in Form eines Verhörs erzählt wird und inhaltlich allenfalls für enthusiasmierte Genreleser goutierbar ist, die Mehrheit muss sich frustriert durchbeißen oder aufgeben. In noch fernerer Zukunft schließlich, nach der Apokalypse, ist im durchgehend erzählten Mittelteil die Menschheit auf eine äußerst primitive Lebensform zurückgeworfen. Diese in Ich-Form und in einem radikal vereinfachten Slang von einem Ziegenhirten auf Hawaii erzählte Geschichte berichtet vom barbarischen Ende der Zivilisation.

David Mitchell hält der Menschheit, die unbelehrbar primitivsten Ur-Instinkten folgend nach Macht giert, was dann stets Unterdrückung und Ausbeutung nach sich zieht, mit diesem deprimierenden Roman den Spiegel vor. Dabei zeigt er das permanente Unrecht nur auf, ohne es zu erklären oder gar die Moralkeule zu schwingen. Die mangelnde menschliche Einsicht verdeutlicht er durch die chronologische Abfolge seiner Geschichten, in denen sich die Missstände und Probleme der verschiedenen Gesellschaftsstufen jeweils verschärfen statt verringern.

Es gibt zahlreiche narrative Verbindungen innerhalb des Romans und auch etliche intertextuelle Bezüge. Auf die Reinkarnation als Thematik weist bereits der Romantitel hin, der als Metapher für die Kartographie der wandernden Seelen benutzt wird. Die überaus kreative Erzähltechnik ist sicherlich das wesentlichste Merkmal dieses außergewöhnlichen Romans, der narrativ alles will und es mit der Postmoderne denn doch ziemlich übertreibt. Letztendlich also L’art pour l’art, diesem virtuosen Balanceakt zwischen Kultur und Barbarei mangelt es nämlich schlicht an Substanz, um Kontemplation beim Leser anzuregen. Anders als an einer Stelle im Buch zitiert geht es in der Literatur tatsächlich doch nicht nur um das ‹Wie›, sondern auch um das ‹Was›!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Der Wolkenatlas

Am Anfang war die Verwirrung: Das sollte ein Roman sein? Kaum hatte man sich in die Geschichte eingelesen, begann schon eine neue und noch eine und noch eine … Ein fesselnder Roman war versprochen worden, und nun dieses: ein Band abrupt abbrechender Erzählungen ohne inneren Zusammenhang!? Immerhin war die Sprache brillant und die Handlung durchaus spannend … wenn sie nur nicht dauernd abbrechen würde!

Es beginnt mit dem Pazifiktagebuch eines amerikanischen Notars, der Mitte des 19. Jahrhunderts in einer Erbschaftsangelegenheit auf Reisen ist und dabei an die Grenzen seiner moralischen und körperlichen Kraft stößt.

Sodann findet ein junger englischer Komponist auf der Flucht vor seinen Gläubigern Unterschlupf und Inspiration bei einem einstmals genialen Berufskollegen in Belgien, der durch Alter und Syphillis alle Lebens- und Schaffenslust verloren hat und nach anfänglicher Wiederbelebung mitansehen muss, wie der hilfsbedürftige Assistent sich selbst zum Meister mausert.

Eine junge amerikanische Journalistin ist einem Atomskandal auf der Spur, ein abgehalfterter Verleger landet irrtümlich in einem geschlossenen Altenheim, eine geklonte Koreanerin der Zukunft will ein richtiger Mensch werden, und ein vom Schicksal gebeutelter alter Mann erzählt in hinterwäldlerischstem Jargon aus seiner dramatischen Kindheit, die in ferner Zukunft „nach dem Untergang“ verlief, als man die letzten Reste von Zivilisation zu bewahren suchte.

Erst lange nach der Hälfte des Buches bekommen die Geschichten des Anfangs ihre Fortsetzung und ihr Ende, und immer deutlicher verknüpfen sich die einzelnen Handlungsstränge. Immer steht der Mensch im Mittelpunkt, der Mensch in seinem zu allen Zeiten egoistischen Streben nach Macht, Geld und Einfluss im Großen wie im Kleinen. Dieses Streben bringt ihn vorwärts und richtet dabei grässliches Unheil an. Jene Menschen, die andere Ideale verfolgen und / oder aufs Gemeinwohl bedacht sind, müssen aus dem Weg geräumt werden – Wurzel fast allen Übels dieser Welt und genug Stoff für Romane von gestern, heute und morgen. Stoff auch für einen so vielschichtigen und bei aller Dramatik witzigen Roman wie den „Wolkenatlas“, den der anfangs skeptische Leser am Ende doch gefesselt und daher höchst ungern aus der Hand legt. Wie gern würde er zum Finale das so plastisch beschriebene Wolkenatlas-Sextett hören, das der junge Assistent des alten Künstlergenies komponiert hat und das fast verlorengegangen wäre …

David Mitchell präsentiert einen aus verschiedenartigsten Materialien gewebten, eigenwilligen und raffinierten Roman, der bei rororo unlängst als Taschenbuch erschienen ist, sodass sich experimentierfreudige Leser kostengünstig auf ihn einlassen können. Bibliophile werden sich an solchen Bonmots wie dem folgenden erfreuen: „Bücher bieten keine wirkliche Rettung an, aber sie können den Geist davon abhalten, sich wund zu kratzen.“

Ebenfalls bei rororo zu haben und unbedingt empfehlenswert ist ein weiterer Roman des britischen Autors: „Der dreizehnte Monat“, ein literarisches und psychologisches Meisterwerk, das von den Gemeinheiten und Wonnen des Erwachsenwerdens und Menschseins berichtet.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt