Von Kultur zur Barbarei
Mit dem Roman «Der Wolkenatlas» hatte der britische Schriftsteller David Mitchell 2004 seinen literarischen Durchbruch, er ist bis heute sein bekanntestes und erfolgreichstes Werk, das mit seiner fragmentarischen Erzählweise charakteristisch ist für diesen Autor. So gibt es hier nicht nur sechs eigenständige Erzählebenen, fünf davon sind auch noch in jeweils zwei Hälften geteilt, deren zweite sich in umgekehrter Reihenfolge an den durchgehend erzählten Mittelteil anschließt. Die Unterbrechungen erscheinen willkürlich, in einem Fall endet der erste Teil sogar mitten im Satz und setzt sich ebenso unvermittelt nach nicht weniger als 562 Seiten im zweiten Teil fort, an genau dieser Textstelle und ganz einfach mit dem nächsten Wort. Diese sechs Erzählungen sind inhaltlich auf verschiedene Art miteinander verbunden, durch ein Déjà-vu-Erlebnis zum Beispiel oder andere narrative Details. Zudem unterscheiden sie sich radikal im Duktus voneinander und sind zeitlich in ganz unterschiedlichen Epochen angesiedelt, vom 19ten Jahrhundert über die Jetztzeit bis in eine ferne, post-apokalyptische Zukunft hinein. Dass ein derart unkonventionell aufgebauter Roman umstritten ist, das liegt auf der Hand.
Es beginnt mit dem Tagebuch eines Anwalts, der zur Zeit des Goldrauschs Mitte des 19ten Jahrhunderts auf der Heimfahrt von Australien nach San Francisco die christliche Seefahrt mit all ihren Beschwernissen und Gefahren schildert. Es schließt sich der Briefzyklus eines schwulen Musikstudenten an, der sich 1931 im belgischen Städtchen Zedelgem als Assistent eines berühmten Komponisten verdingt, allerlei Irrungen und Wirrungen miterlebt und ganz nebenbei ein ultramodernes Sextett mit dem Titel «Wolkenatlas» komponiert. Die dritte Geschichte aus den 1970er Jahren ist ein furioser Krimi um eine Journalistin, die im Milieu der Atom-Mafia in den USA einem Skandal auf der Spur ist. Ein alternder Verleger schließlich hat großen Erfolg mit «Faustfutter», dem Roman eines Autors, der wegen Mordes im Gefängnis sitzt, und wird nach allerlei fiesen Machenschaften in die Psychiatrie weggesperrt. Der dystopische fünfte Teil ist eine Geschichte um Klone und Duplikanten, die in Form eines Verhörs erzählt wird und inhaltlich allenfalls für enthusiasmierte Genreleser goutierbar ist, die Mehrheit muss sich frustriert durchbeißen oder aufgeben. In noch fernerer Zukunft schließlich, nach der Apokalypse, ist im durchgehend erzählten Mittelteil die Menschheit auf eine äußerst primitive Lebensform zurückgeworfen. Diese in Ich-Form und in einem radikal vereinfachten Slang von einem Ziegenhirten auf Hawaii erzählte Geschichte berichtet vom barbarischen Ende der Zivilisation.
David Mitchell hält der Menschheit, die unbelehrbar primitivsten Ur-Instinkten folgend nach Macht giert, was dann stets Unterdrückung und Ausbeutung nach sich zieht, mit diesem deprimierenden Roman den Spiegel vor. Dabei zeigt er das permanente Unrecht nur auf, ohne es zu erklären oder gar die Moralkeule zu schwingen. Die mangelnde menschliche Einsicht verdeutlicht er durch die chronologische Abfolge seiner Geschichten, in denen sich die Missstände und Probleme der verschiedenen Gesellschaftsstufen jeweils verschärfen statt verringern.
Es gibt zahlreiche narrative Verbindungen innerhalb des Romans und auch etliche intertextuelle Bezüge. Auf die Reinkarnation als Thematik weist bereits der Romantitel hin, der als Metapher für die Kartographie der wandernden Seelen benutzt wird. Die überaus kreative Erzähltechnik ist sicherlich das wesentlichste Merkmal dieses außergewöhnlichen Romans, der narrativ alles will und es mit der Postmoderne denn doch ziemlich übertreibt. Letztendlich also L’art pour l’art, diesem virtuosen Balanceakt zwischen Kultur und Barbarei mangelt es nämlich schlicht an Substanz, um Kontemplation beim Leser anzuregen. Anders als an einer Stelle im Buch zitiert geht es in der Literatur tatsächlich doch nicht nur um das ‹Wie›, sondern auch um das ‹Was›!
Fazit: lesenswert
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