Eine der frühesten Visionen der Macht des Internets liefert E. M. Forster mit der kurzen Erzählung »Die Maschine steht still«. Vashti und ihr Sohn Kuno leben an entgegengesetzten Enden einer fiktionalen unterirdischen Welt. Ihre Kommunikation erfolgt über interaktive Maschinen. Kuno ist ein Rebell und überredet die zögernde Vashti, ihn zu besuchen, obwohl die Menschen eigentlich keine persönlichen Beziehungen mehr zueinander aufnehmen. Er erzählt ihr von seiner Ernüchterung mit der mechanisierten, keimfreien Welt, die er bereits für kurze Zeit verlassen hat, indem er an die Erdoberfläche gelangte, wo er andere Aussteiger traf. Weiterlesen
Archiv
Die Maschine steht still
Seide
Nett. Das ist das erste, was einem einfällt, wenn man die letzte Seite dieses Buches gelesen hat. Und schön kurz. An einem entspannten Nachmittag hat man die 145 Seiten print und 534 KB digital durch.
Alessandro Baricco, italienischer Autor, Philosoph und Dozent für kreatives Schreiben, erzählt uns eine Geschichte, die Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts spielt und in welcher der französische Protagonist Hervè Joncour seinen Lebensunterhalt als Seidenhändler verdient. Eine Seuche unter den Seidenraupen (in einer Nebenrolle Louis Pasteur) zwingen ihn und die ganze Innung, ihren Seidenraupen-Import auf immer fernere Länder auszudehnen, so das Joncour als Abgesandter irgendwann im damals völlig von der Welt abgeschotteten Japan landet. Hier fasziniert ihn nicht nur die fremdartige Kultur, sondern vor allem die geheimnisumwobene Frau seines japanischen Gastgebers. Die Anziehungskraft von Land und Frau sind so stark, dass er die strapaziöse Reise wieder und wieder auf sich nimmt und seine eigene Frau monatelang alleine zurücklässt. Jahr um Jahr beschränkt sich das Verhältnis zwischen ihm und der japanischen Schönen auf ein gegenseitiges Anschmachten. Viele Blicke, manch symbolische Geste, jedoch niemals ein Wort. Bis eines Tages… Das ist dann wohl die Stelle, wo ein Rezensent abbrechen muss.
Baricco hat einen Stil gewählt – aufgrund der Vita nehmen wir mal an ganz bewusst -, der Leserin und Leser mühelos ins 19. Jahrhundert und in die französisch-japanische Kultur der damaligen Epoche mitnimmt. Die Erzählung ist weniger Roman, mehr poetisch-lyrisch, nur nicht in Versform. Sie ist bildstark und doch zurückhaltend, mit geradlinigem Handlungsstrang und doch feinsinnig und fast zartfühlend, farbenreich und doch einfach. Zur Verstärkung manchmal fast infantil-perseverierend wie die Gebrüder Grimm. Eine Erzählung wie eine in Worte gefasste naive Malerei.
Die Geschichte und das Erschaffen dieser Stimmung scheint für Baricco über alles zu gehen. Ihn interessiert nicht, welches Mann-Frau-Rollenverständnis er dabei transportiert. Männer handeln, Frauen bleiben im Hintergrund, sind scheu, duldsam, allenfalls im Geheimen aktiv und kreativ. Man nimmt hin, dass das damals einfach so war.
In Summe nette Kurzunterhaltung. Besonders geeignet für Liebhaber von Katzenbildern, Karel Gott, Hummelfiguren und Schneekugeln.
Weiberroman
Gegen eine Frau hilft nur eine andere Frau
Der «Weiberroman» von Matthias Politycki weist bereits mit seinem ironischen Untertitel «Historisch-kritische Gesamtausgabe» auf ein wissenschaftliche Texte persiflierendes Prosa-Konstrukt hin. Im Jahre 1997 als Kultroman über die 78er-Generation gefeiert, gilt der damalige Bestseller als wichtiges Werk der literarischen Postmoderne. Sein Figuren-Ensemble verkörpert die erste, ohne Krieg aufgewachsene Generation des Jahrhunderts. Als Yuppies oder Dinks sind sie einerseits karrieregeil, fühlen sich andererseits aber auch der Political Correctness verpflichtet. Und wie der freche Romantitel verkündet, geht es thematisch hier um Frauen, die ja, einer uralten Erkenntnis zufolge, einfach nicht mit Männern zusammen passen.
Genau diese These wird im «Weiberroman» am Beispiel des 1956 geborenen Gregor verifiziert, dessen Probleme mit dem anderen Geschlecht hier aus seiner Sicht geschildert werden. Das in den Jahren 1974 bis 1990 geschriebene Material zu dessen Autobiografie, bestehend aus einem Konvolut von 3481 ungeordnet zurückgelassenen Textschnipseln bis hin zu mehrseitigen Abschnitten, habe Matthias Politycki als Herausgeber «entschlüsselt, katalogisiert und entsprechenden Handlungssträngen zugeordnet», wird im Anhang in einer editorischen Notiz erklärt. Diese mühevolle Arbeit habe Schwärzungen freizügiger «Stellen» unabdingbar gemacht, und aus Verständnis-Gründen sei auch ein dreißigseitiger Anmerkungs-Apparat dringend erforderlich gewesen. Hinter dieser Herausgeber-Fiktion versteckt berichtet Matthias Politycki in den drei mit «Kristina», «Tania» und «Katarina» betitelten Abschnitten des Romans von der schwierigen Mannwerdung seines Helden.
Als Schüler in der westfälischen Stadt Lengerich hat sich Gregor in die überirdisch schöne Kristina verguckt, hinter der alle her sind. Aber ungeschickt, wie er nun mal ist, kommt er bei ihr nicht weiter, die Konkurrenz ist einfach zu groß. Nach dem Abitur beginnt er in Wien ein Germanistik-Studium und lernt die Zahnarzthelferin Tania kennen, eine kesses Vollweib aus einfachen Verhältnissen, die breiten Dialekt spricht und intellektuell so gar nicht zu ihm passt. Er findet schließlich heraus, dass sie bereits seit zwei Jahren als Model arbeitet und freizügige Bilder von ihr kursieren. Als 23Jähriger geht er dann nach Stuttgart, wo er eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter antritt. Dort trifft er auf Katarina, eine elegante Traumfrau, die bei der Lufthansa als Chefstewardess für interkontinentale Flüge arbeitet. Aber auch diese Beziehung geht in die Brüche. Gregor kann sich einfach nicht in die Psyche der Frauen hineinversetzen, die geliebt werden wollen und ständig auf noch so kleine Zeichen warten, die das immer wieder auch beweisen. Als Hintergrund zu den schwierigen Paarbeziehungen blendet Politycki ständig aktuelle politische und kulturelle Geschehnisse in die Handlung ein. Die Entwicklung in der DDR wird da ebenso angesprochen und im Anmerkungsteil näher erläutert wie die jeweils gerade angesagte Musik, sei es die berühmter Pop-Gruppen oder aber die jener Schlagersänger, deren Schnulzen, aus der Wohnung des Hausmeisters schallend, an Gregors Nerven zerren.
In Wahrheit erzählt der Studienabbrecher nur permanent von sich, die Frauen bleiben in diesem Roman letztendlich Beiwerk, immer nach dem Motto: «Gegen eine Frau hilft nur eine andere Frau». Meistens wird da von seinen ständigen Sauftouren, Feten und allerlei Schabernack berichtet, mit auffallend oft auch olfaktorischen Details. Die durchaus harsche Gesellschafts-Kritik dieses virtuos erzählten Romans wird gemildert durch den köstlichen Humor, in den das alles unterschwellig verpackt ist. Dazu tragen zuweilen eingestreute Passagen mit Wiener oder schwäbischem Dialekt einiges bei. Es empfiehlt sich übrigens, den Anhang dieses geistreich unterhaltenden Buches zuerst zu lesen, dann aber auch jeweils die Fußnoten, weil sie oft weit mehr beinhalten als reine Anmerkungen.
Fazit: lesenswert
Meine Website: http://ortaia.de
Ausgewählte Texte
Seltsam. Der Titel dieses mit reifen Erdbeeren bedruckten Buches besteht aus lediglich zwei Zeilen mit insgesamt zwölf Punkten. Und ebenso ungewöhnlich wie der geheimnisvolle Titel ist auch der Inhalt dieser Sammlung.
Mit den zur Veröffentlichung ausgewählten Texten in Lyrik und Prosa wird die Wiederentdeckung mit einem nahezu vergessenen Autor ermöglicht, dem eine Renaissance zu wünschen wäre:
Underground-Autor Richard Brautigan.
Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe
Es scheint aktuell in Mode, ein Werk mit dem Schlusspunkt zu beginnen, um es dann in Rückblenden zu erzählen. Auch Uwe Kopf bedient sich dieser Technik in seinem biographischen Roman »Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe«. Weiterlesen
Wolfsnächte
Die Winter sind unbarmherzig in Alaska. In einem dieser unerbittlichen Winter ist es so kalt, dass die Wölfe sich aus den Wäldern wagen und die Kinder aus den Dörfern holen, um ihren Hunger zu stillen. Die Stimmen der Trauernden heulen mit den Wölfen und den Winden um die Wette. Die Menschen haben keine Möglichkeit, das zurückzufordern, was die Natur grausam als ihr Recht entschieden hat. Doch haben die Wölfe auch den sechsjährigen Bailey Slone aus dem gottverlassenen Dorf Keelut auf dem Gewissen?
Baileys Mutter, Medora, bittet den Wolfs-Experten Russell Core, den Tod ihres Kindes zu rächen und ihr wenigstens die Knochen ihres Kindes zu bringen. Russell Core kennt die Wölfe wie kein anderer, er bezweifelt, dass alles so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Er folgt dem ihm unerklärlichen Ruf Medoras, warum genau, weiß er nicht. Er befindet sich an einem scheinbar aussichtslosen Punkt seines Lebens, er hat in eine Zukunft investiert, die ihn vergessen hat. Er empfindet Medoras Brief als den Ruf, auf den er schon lange gewartet hat.
Er macht sich auf und erkennt nur allzu bald, dass Alaska wahrlich “no country for old men” ist. Die Natur ist unerbittlich und die Menschen von Keelut gehen für gewöhnlich nicht gerade freundlich mit Außenstehenden um. Schon gar nicht der Kriegsheimkehrer Vernon Slone, Medoras Mann und der Vater des toten Bailey, der eine Schneise des Todes in den Schnee schlägt. Über Nacht ist Medora verschwunden. Russell Core hat das untrügliche Gefühl, dass über Keelut und seinen Wäldern ein unheilbringendes Geheimnis liegt und auch wenn er spürt, dass dessen Ergründung ihn das Leben kosten könnte – der Sog des Unerklärlichen, ja, des Bösen ist so stark, dass er sich gemeinsam mit Detective Mariam aufmacht. Sie wollen Medora finden, bevor ihr Mann es tut.
Wolfsnächte ist auf den ersten Blick ein Thriller, der von einem unerklärlichen Mord, einer dunklen Liebesgeschichte und einem geheimnisvollen Fluch erzählt. Auf den zweiten Blick ist das Buch mehr, viel mehr. Es ist eine Saga über das Zusammenspiel von Natur und Zivilisation, die von Sand und Schnee erzählt, von Tier und Mensch, angesiedelt in einer Gegend, in der das Licht nur wenige Stunden das Dunkel des Winters durchbricht. In diesem Roman ist es weniger die Handlung, die Spannung erzeugt. Eher ist es umgekehrt. Die Spannung, die es braucht, um ein Gleichgewicht zwischen den Gegensätzen zu erzeugen, trägt die Handlung.
William Giraldi erzählt in seinem zweiten Roman eine Geschichte, die nicht nur im übertragenen Sinne in der Dunkelheit spielt. Wolfsnächte ist wie eine Tragödie aus der Antike, verlegt in ein Alaska, das als wilder Ort ohne Moral gezeichnet wird. Dieses kalte und unversöhnliche Alaska ist dabei nicht nur die Kulisse. Das Land zeigt sich wie ein eigenes Lebewesen, geheimnisvoll, mit eigenen Motiven, eigenem Willen, eigener Unerbittlichkeit. Und dazu immer wieder die Wölfe, die eigentlich Tiere mit klaren Regeln des Zusammenlebens sind, würdevoll und ihres Platzes bewusst. Der Mensch hat aus ihnen Monster gemacht und sie gleichzeitig mit einem Mythos überhöht.
Doch je tiefer Core sich in das Geschehen verstrickt, je mehr er hilflos zusehen muss, wie am Rande der Zivilisation die Natur und das Böse kollidieren, desto mehr beginnt er zu glauben, dass Mythen die einzige Wahrheit sind, die der Mensch hat. Dennoch wird ihm und seinem Gefährten die Natur des unbeeindruckt tötenden Vernon Slone unergründlich bleiben. Zunächst wartet man, dass der Charakter des Kriegsheimkehrers Vernon eine Parabel ist auf das, was der Krieg mit Menschen macht. Doch man wartet vergeblich. Slone sagt ungerührt von sich, dass er nur den gesunden Schlaf des Erschöpften schläft und den Krieg allenfalls als “umherirrende Bruderschaft, die Leichen und Tage zählte” empfunden hat. Core, Mariam und auch der Leser, sie alle müssen es einfach so hinnehmen: dieser Mann ist von einer grundlegenden Andersartigkeit, die alle anderen zutiefst erschrecken lässt.
William Giraldi hat seine Charaktere angesiedelt in eine Zwischenwelt, einer Welt, in der Taten zählen, niemals Worte. So legt er auch seine eigene Sprache, die Sprache des Erzählers an. Seine Worte sind genau bemessen, an keiner Stelle ausschweifend. Kühl bringt er mit präzise geschriebene Sätze zu Papier, die den Leser unerbittlich mitreißen auf eine Reise in das Herz der Finsternis. Wie die Wölfe, die in den Bergen lauern, hat der Roman eine wilde, aber logische Entschlossenheit. Wolfsnächte ist eine düstere, außerordentlich brutale Erzählung, die in unerwarteten Wendungen von Gewalt und Entfremdung in einer unversöhnlichen Natur erzählt. Leider verliert der Roman gegen Ende etwas von seiner Spannung. Ohne Vorwarnung findet der Leser sich in einer Art “Hänsel und Gretel” Happy End wieder, die Wahrheit hinter dem beschworenen Mythos entpuppt sich als enttäuschend banal. Und leider wird der Leser wohl nie erfahren, was genau Medora Slone nun bewogen hat, Russell Core zu rufen.
Dennoch – trotz des enttäuschenden Endes ist Wolfsnächte ein außergewöhnliches Buch. Was es vor allem anderen so außergewöhnlich und lesenswert macht, ist die entschiedene Kompromißlosigkeit, mit der dieses Buch geschrieben wurde. Kompromißlos sowohl in der Sprache als auch in seiner Intention. William Giraldi thematisiert in seinem Roman vor allem “das Böse”. Dabei will er es nicht ergründen, schon gar nicht will er wissen, wie das Böse zu bekämpfen ist. Er will wissen, wie es sich anfühlt, mit dem Bösen zu leben, mehr noch es hemmungslos auszuleben. Auf viele Protagonisten schaut er nachgerade verächtlich, Vernon Slone hingegen begegnet er nicht nur mit Respekt, sondern auch mit Sympathie und Empathie. Das muss dem Leser nicht gefallen, das soll ihm auch nicht gefallen – aber das macht das Buch trotz recht überschaubarer Handlung spannend und lässt dem Leser mit morbider Faszination zurück. Es fühlt sich ganz erstaunlich fremd an. Man kennt das ja fast gar nicht mehr, diese gnadenlose Ehrlichkeit, vor lauter Bemühen um political correctness und dem allüberall um sich greifenden weichgespülten “allen wohl und keinem wehe”. Es gibt einige Gründe, warum man die Wolfsnächte lesen sollte, der wichtigste und spannendste aber ist diese harte Kompromißlosigkeit, die man so selten kennenlernen kann. Und von der man sich nach Lektüre fragt, wo sie fehlt. Wenn sie denn überhaupt fehlt.
William Giraldi lebt als Literaturredakteur in Boston, nach Erscheinen seines Debütromans “Busy Monsters” wurde er vielfach als die neue Stimme eines anderen, dunkleren Amerikas gefeiert. Wolfsnächte ist das erste in deutscher Übersetzung erscheinende Buch von Giraldi.
33
Eine Frau, zwei Männer, einer davon tot und noch kein Kind. Um dieses fragile Universum kreist die Erzählerin. Sie ist eine lungenkranke Frau, die dem Leser nur als K. vorgestellt wird. Gerade ist sie 33 geworden, das Alter, das im Himmel alle haben, so hat sie es jedenfalls gelernt.
Die große Liebe der K., Ferdinand, hat Selbstmord begangen, was K. aber nicht daran hindert, eifrige Schwätzchen mit dem Dahingeschiedenen zu halten. Zeit hat sie genug, sie arbeitet zwar als Lehrerin, aber in ihrem Fach, der Mathematik braucht man das Rad ja nicht täglich neu zu erfinden. Und ihr aktueller Mann, der Ire Samuel, ist in einem Endlos-Cricket-Match gefangen. Sie horcht in ihren kranken Körper und malt Horrorvisionen darüber, was in und mit diesem alles passiert. Und dann der Wunsch nach einem Kind. Kann sie das überhaupt, darf sie das überhaupt, was wird das mit ihrem Körper, ihrer Seele machen? Schon die Unsicherheit, was es mit ihr macht, wenn die Nabelschnur gekappt ist! Noch größer aber ist ihre Angst davor, das (ungezeugte) Kind in ihren Eierstöcken könne unentbunden bleiben und sie damit unerlöst. Zum Üben schafft sie sich ein Haustier an und nennt es “dasKind“. Was für ein Tier “dasKind” ist, bleibt unklar, aber es scheint in eine Plastiktüte zu passen. Vielleicht ist es aber auch gar nicht real, vielleicht aber doch. Genau wie der Albatros, den sie sieht und der ihr einfach kein klares Zeichen geben will.
K. ist eine ausgesprochen merkwürdige junge Frau und “33” ein ausgesprochen merkwürdiger Text. Mit Absicht steht hier der übergeordnete Begriff “Text” und nicht Roman. Denn ein Roman ist es nicht. Ein Roman ist qua Definition eine Erzählung und erzählt wird hier ausgesprochen wenig. Es ist eher eine Ansammlung von Satzfragmenten, schwankend zwischen Lyrik und abgegriffenen Weisheiten a la “Sentimentalität ist die Schwester der Brutalität.” Zu Beginn ist das Buch noch einigermaßen klar und begreifbar. Die Betonung liegt auf einigermaßen! Doch je weiter K. in ihrer Larmoyanz fortschreitet, desto mehr verliert sie ihren roten Faden, mäandert zwischen tatsächlichen Ereignissen, die sie aber sofort überhöht, Alb- und Wachträumen und vollkommen absurden Vorstellungen, wie der, dass sie Ferdinand in sich eingenäht habe und nun amputiert werden müsse. Intention war es wohl, Momente einzufangen, die alles verändern und der Frage nachzugehen, ob man es wagen kann, sich fallen zu lassen, wenn man nicht weiß, ob einen jemand fängt. Dies bezogen vor allem auf die Frage einer eventuellen Mutterschaft. Man kommt nicht umhin, zu denken, dass einem das Kind schon vor der Zeugung leid tut. Wer Mutterschaft schon vorher derart thematisiert und problematisiert, sollte es wirklich besser bleiben lassen.
Kjersti Annesdatter Skomsvold wird nach wie vor als große Nachwuchshoffnung der norwegischen Literatur gehandelt, auch wenn sie mittlerweile mehrere Werke veröffentlicht hat. Ihr Debütroman “je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich” war ein verstörendes, aber auch berührendes, versponnenes Märchen. “33” nun ist zwar auch noch versponnen, aber zumindest mich hat es nicht berührt. “33” ist vor allem verstörend. Wo ist die Leichtigkeit hin, mit der sie in ihrem ersten Roman erzählte? In diesem Buch gelang noch die Mischung aus Melancholie, Empathie und Witz. In “33” gelingt ihr diese Mischung nicht. Was dort bleibt, ist unterm Strich nichts als Larmoyanz. Natürlich – der Erzählerin ist viel zugestossen, sie hat es nicht leicht. Aber durchgehendes Selbstmitleid hilft nun mal nicht. Weder der K. noch einem ungeborenen Kind.
Stilistisch ist Kjersti A. Skomsvold durchaus begabt. Sie handhabt ihr Handwerk mittels Bildern und Allegorien gekonnt und die Fähigkeit, Schmerz und körperliche Empfindungen in Worte zu kleiden, ist nur wenigen Autoren derart gegeben. Wenn diese Fähigkeit aber nur dazu dient, Selbstmitleid auszukleiden, ist es nicht genug, um die ersehnten surrealistischen Sphären auch nur zu streifen. Da helfen auch die mehr oder weniger subtilen Hinweise auf Samuel Beckett nichts.
Der Roman ist krampfhaft um Exzentrik bemüht. Aber Exzentrik muss man sich erstmal leisten können. Souverän gehandhabtes Handwerk reicht dafür nicht. Um Exzentrik zu goutieren, müssen dem Leser schon mehr als exzessiv gelebtes Selbstmitleid und ausformulierte Mätzchen geboten werden. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich keinen Roman lese, sondern allenfalls Zeuge exzessiver literarischer Übungen werde.
Zwischen Menschen
Es gibt Autoren, deren Werke man unbedingt lesen möchte. David Guterson gehört dazu. Ich mochte Guterson seit “Schnee, der auf Zedern” fällt, ich liebte ihn seit “Ed King“. Nun ist mit “Zwischen Menschen” ein Band mit Kurzgeschichten erschienen, mit dem Guterson an den Beginn seines erstaunlichen literarischen Schaffens zurückgeht. Mit dem Short Stories Band “The Country ahead of us, a country behind” debütierte Guterson 1989.
Im Original heißt dieser Band “Problems with people“, es wäre ein schöner Untertitel gewesen für das durchaus treffende deutsche “Zwischen Menschen“. Guterson erzählt mit unbestechlicher Beobachtungsgabe von Menschen, die um ihre zwischenmenschlichen Beziehungen kämpfen (müssen). Die meisten der Charaktere in seinen Geschichten bekommen zwar nicht einmal Namen, aber ihnen allen ist eine beinahe schon krankhaft zu nennende Selbstbeobachtung zu eigen. Alle sind sie in gewisser Weise isoliert, körperlich oder emotional. Sie alle scheinen sich aus zwischenmenschlicher Interaktion zurückzuziehen oder sie unbeholfen anzugehen.
Dass “Zwischen Menschen” dennoch kein harter, unverdaulicher literarischer Brocken geworden ist, liegt an zwei Dingen. Zum einen an Gutersons akribischer Beobachtungsgabe, zum anderen an seinem lakonischen, aber dennoch pointierten Erzählstil, der ihm und dem Leser die nötige Distanz verschafft. Guterson beschreibt den Alltag, die Situationen und auch die Gefühle der Menschen, aber er nimmt daran nicht wirklich Anteil.
Jede der zehn Geschichten ist eine Momentaufnahme. Das Aufeinandertreffen der Charaktere, egal ob in der Jugend ihres Lebens oder im hohen Alter, mutet immer zunächst eher banal an, die tieferen Bedeutungen erschließen sich erst später. Zärtlich, ergreifend und manchmal unerwartet erzählt er von den Bemühungen der Menschen, sich selbst und einander zu verstehen, als Individuen oder als Teil der Gesellschaft und eines historischen Moments. Er berichtet von lange zurückliegenden Tragödien wie dem Verlust eines jungen Freundes, von Eltern, die den Tod ihres Sohnes zu verstehen suchen und wirft dabei paradigmatische Fragen zu unserer Realität und unserer Zukunft auf.
Manche Geschichten nehmen auch noch den letzten Rest Hoffnung, andere wiederum spenden neue. So wie die der Hundesitterin, die von einem grantigen alten Mann engagiert wird. Trotz aller Gegensätze entwickelt sich zwischen den beiden eine tiefe Bindung, die auch noch hält, als der alte Herr ins Hospiz kommt. Mit dieser Geschichte beweist Guterson einmal mehr sein Geschick, trotz aller Tragikomik anrühren und die Überraschungen feiern zu können, die in den Dramen des Alltags lauern.
Die letzte Geschichte hingegen lässt den Leser ebenso traurig und ratlos zurück wie seinen Ich-Erzähler. Dieser reist mit seinem hoch betagten Vater nach Berlin. Dort hat der Vater seine frühe Kindheit verbracht, bevor er mit seinen Eltern noch kurz nach dem Beginn des Holocaust nach Amerika fliehen konnte. Die Beiden haben eine Holocaust-Gedenkstätten-Tour gebucht, doch nicht nur, dass der Vater sich an bestürzend wenig erinnert, auch ein Aufbrechen der alten Ressentiments scheint nicht machbar zu sein, ein Vergeben unmöglich. Dieser Unversöhnlichkeit gegenüber steht die junge deutsche, nicht jüdische Reiseleiterin, die an ihren Stellvertreter-Schuldgefühlen schwer trägt. Dennoch ist es so für sie einfacher. Der alte Mann mag die junge Frau, aber – er besteht darauf, dass sie eine “Krasawize” sein muss, eine richtige jüdische Klassefrau. Denn alles andere ist für ihn undenkbar.
Die Kurzgeschichten sind so unterschiedlich wie die bisherigen Romane Gutersons. Einige sind so elegisch wie der Schnee, der auf Zedern fällt, andere erinnern an den so verschmitzten wie dunklen Humor aus dem Ganovenstück Ed King. Und auch wenn in den Geschichten nicht viel passiert, passiert doch irgendwie alles. Denn die Frage, die Guterson stellt, ist nie so sehr die nach dem Warum, es ist die Frage nach dem Wie: Wie können wir leben, wir können wir lieben.
Diskussion dieser Rezension gerne im Blog der Literaturzeitschrift
Bettler und Hase
Kapitalismus, internationale Kriminalität, Menschenhandel sind im Allgemeinen nicht gerade die Zutaten, aus denen Märchen gestrickt sind. Sie sind aber der Nährboden, aus dem die Sehnsucht nach ihnen erwächst. Die Sehnsucht nach wundersamen Begebenheiten, nach einer klaren Trennung von Gut und Böse, nach aufrechten, gerne auf den ersten Blick schwachen Helden, die Auseinandersetzungen mit heimtückischen Kräften überstehen und zum Schluß den Triumph über das Böse feiern. Solch ein Märchen hat Tuomas Kyrö, ein in seiner Heimat Finnland renommierter und preisgekrönter Autor der jüngeren Generation, mit Bettler und Hase geschrieben.
Sein Held, der rumänische Bettler Vatanescu möchte eigentlich nichts als ein arbeitsames, auskömmliches Leben führen und einmal in seinem Leben so weit kommen, dass er seinem Sohn die ersehnten Stollenschuhe kaufen kann. Gar nicht so leicht in einer Zeit, “in der Gott die ganze Welt verlassen hat und in die nächste Galaxie umgezogen ist.” Naiv und mutig zugleich vertraut Vatanescu dem Menschenhändler Jegor und lässt sich von ihm nach Finnland schleusen. Dort muss er die durch den Transfer entstandenen Schulden bei Jegor durch organisierte Bettelei abarbeiten. Hunger und Ungerechtigkeit lassen ihn aufbegehren und er macht sich alleine auf zu einer abenteuerlichen Odyssee durch Finnland. Lange bleibt er nicht alleine. Er rettet einen Hasen, der eigentlich ein Kaninchen ist und tut in der Folge gut daran, sich von diesem leiten zu lassen. Denn Vatanescu weiß nicht immer, “was er vom Tag bekommen wird. Oder was er ihm abnehmen darf.” Dafür weiß es aber das Hasen-Kaninchen und tut in kritischen Momenten immer genau das Richtige.
Auf ihrer gemeinsamen Suche nach dem Glück begegnen sie fleißigen Vietnamesen, kriminellen Ukrainern, trinkfesten Nudisten, verlieben sich in eine Zauberkünstlerin und baden die Folgen des guten Willens überambitionierter Polit-Aktivisten aus. Immer aber begegnen sie auch Menschen, die ihnen helfen, die es gut mit ihnen meinen und so wird Vatanescu zu einer Art finnischem Forrest Gump. Einem Forrest Gump 2.0. noch dazu, denn das Internet und seine sozialen Medienwege spielen eine nicht unerhebliche Rolle bei seinem Aufstieg. Ohne sich dessen bewusst zu sein, durchlebt Vatanescu auf seinem Weg den klassischen Karriereweg des kapitalistischen Way of dream. Vom Bettler über Tellerwäscher zum Beerensammler zum Bauarbeiter zum ….. das wird hier nicht verraten. Nur soviel: den weißen Ritter gibt der finnische Ministerpräsident, der in einer eigenwilligen Mischung aus Karrieregeilheit, Berechnung und wahrhaft empfundener Menschenfreundlichkeit die Rolle des Pragmatikers im Märchen besetzt. Ein Mann, der weiß, dass man “Rückenschmerzen nicht vom Arbeiten, sondern vom Buckeln bekommt” und danach lebt.
Es ist ein modernes Märchen, ein Schelmenstück aus einem fernen Land, welches Tuomas Kyrö vorlegt. Bettler und Hase wird in der Kritik oft mit dem “Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg” verglichen. Diesen Vergleich kann man ziehen, doch er stimmt nur bedingt. Bettler und Hase reiht sich zwar ein in die mit einem Augenzwinkern geschriebenen Road-Movies von Menschen am Rande der Gesellschaft. Aber Vatanescu ist wesentlich einsamer, fatalistischer, anspruchsloser, forrest-gumpiger als der Hundertjährige. Kyrös Buch setzt weniger auf Humor denn auf satirische Gesellschaftskritik und spürbaren Sarkasmus. Den Hundertjährigen las man mit einem wohlwollenden Schmunzeln, bei Kyrö weiß man trotz des utopisch visionären Happy Ends nicht, ob man lachen oder weinen soll. Dazu trägt sicher bei, dass die Geschichte nicht durchgängig aus Vatanescus Sicht erzählt wird, sondern auch Menschenhändler Jegor eine Stimme bekommt. Für Jegor beginnt mit dem Aufstieg Vatanescus der Abstieg in seiner kriminellen Organisation und er endet schließlich im Gefängnis, wo er mit seinen Memoiren beginnt und seinem Schicksal hadert, denn “Unsereiner hat auch erfolgreich Häschen in ganz Europa verkauft – wo ist da der Unterschied?” Schließlich ist seinereiner kein Opfer, er macht welche.
Trotzdem ist das Buch angenehm zu lesen, Kyrös Schreibstil ist ein entspannter. Gelegentlich überspitzt er, in Summe bleibt er aber charmant, was den Kontrast zu den geschilderten Mißständen nur umso deutlicher hervorhebt. Seine Sicht auf die Menschen bleibt warm und humorvoll. Ab und an schießt er damit übers Ziel hinaus, vor allem, wenn er auf sich selbst als den “allwissenden Erzähler” verweist. Das hätte er sich ruhig sparen können, an diesen Stellen entsteht der Eindruck eines eher halbherzigen Versuchs, das Ganze zusätzlich noch auf die derzeit so beliebte Meta-Ebene zu hieven. Hätte Kyrö, hätte das Buch nicht nötig gehabt. Unterm Strich ist Bettler und Hase ein ebenso scharfsinniges wie schräges Buch, eben ein modernes Märchen, welches seinen Auftrag durchaus erfüllt. Denn wie sagt es der weiße Ritter im Buch: “Die Verbindung von Weinen und Lachen gibt den Menschen Glauben und Hoffnung. Daraus besteht das Leben. Aus Träumen, Glauben, Hoffen.”
Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift
Verteidigung der Missionarsstellung
Benjamin Lee Baumgartner ist ein netter Kerl. Dennoch –er hat es nicht leicht in diesem Leben: “Als ich mich das erste Mal verliebte, war ich in England. und da ist die Rinderseuche ausgebrochen. Als ich mich dsa zweite Mal verliebte, war ich in China, und da ist die Vogelgrippe ausgebrochen. Und drei Jahre später war ich das erste registrierte Opfer der Schweinegrippe. Sollte ich je wieder Symptome von Verliebtheit zeigen, musst Du sofort die Gesundheitspolizei verständigen. Versprich mir das.”
Der solchermaßen innig gebetene Freund verspricht es ihm, alleine es hilft nichts. Baumgartner wird nicht klug, er verliebt sich immer wieder. Er leidet daran, aber irgendwie liebt er das Leiden auch. Mindestens so sehr wie sein Leben. Ein Leben voller unerwarteter Wendungen, die ihn selbst am meisten überraschen und ihm am Schluss des Romans eine nicht vorhergesehene Pointe bescheren. Aber es ist nicht die Geschichte über das Leben des Benjamin Lee Baumgartner, Sohn einer der letzten Hippiemädchen des Landes und eines geheimnisvollen Indianers oder auch nicht, welche diesen Roman so besonders macht. Sondern der Wortwitz des Autors, das Spiel mit der Sprache und die Liebe zu dieser.
Der Freund, den Baumgartner so innig bittet, ist wohl auch nur bedingt geeignet, den Mann vor den Fallstricken der Liebe zu bewahren. War schon dessen Streitschrift zur “Verteidigung der Missionarsstellung” kein Erfolg beschieden. Dieser Freund, er ist kein Geringerer als der Ich-Erzähler, der Autor, Wolf Haas selbst Er erzählt die Buch-im-Buch- Geschichte, die Geschichte von der Entstehung des Romans, eine zweite Leidensgeschichte gewissermaßen. Schliesslich wäre es ja viel einfacher, sich in Fiktion zu retten, als so eine unglaubwürdige Geschichte aus der Realität zu romantisieren.
Entstanden ist so das wohl mit Abstand coolste und unbekümmerteste Buch des Jahres, unglaublicherweise zugleich das am sorgfältigsten konstruierte Buch des Jahres. Ein Hinweis vorab, so leid es mir tut. Wer sich dieses Buch vornimmt, er sei gewarnt: Es hilft alles nichts, durch das erste Kapitel muss man durch. Das erste Kapitel – ich fand es grottenschlecht. Zäh, langweilig, es weckte nicht für 10 Cent mein Interesse. Es passiert mir wirklich selten, dass ich ernsthaft überlege, ein Buch schon nach wenigen Seiten auf Nimmerwiederlesen zuzuklappen. Doch für die zweite Chance, die ich dem Buch gab, wurde ich belohnt. Schon beim zweiten Kapitel zog ich zum ersten Mal meinen Hut, musste grinsen, danach war ich verloren. Chapeau, was für ein Parforceritt.
Benjamin Lees Flower Power Mutter gab ihrem Kind den ungewöhnlichen Namen zu Ehren des Sprachforschers Benjamin Lee Whorf. Dieser Whorf vertrat die These, dass Sprache das Bewusstsein formt. Haas spielt mit dieser These, benutzt und verwirft sie. Auf der einen Seite verblüfft er mit Sätzen zum Niederknien, auf der anderen ist er kein Autor, der Lust hat, sich lange mit Beschreibungen aufzuhalten. Will er eine bestimmte Atmosphäre erzeugen, gibt es eine in eckige Klammern gesetzte Notiz an sich selbst , so etwa “London-Atmosphäre, Blick from the bridge” Fertig. Weiß jeder, was gemeint ist. Wolf Haas geht aber noch weiter und entwickelt diese These dahingehend, dass es nicht nur die Sprache, sondern auch das Schriftbild ist, welches das Bewusstsein und das Verständnis seiner Leser formt. Sagt ein Protagonist einmal “nichts“,dann steht da eben auch nur “Nichts” und koste es eine ganze Buchseite. Berichtet eine Romanfigur, er habe etwas quergelesen, dann wird es eben quergeschrieben. Konsequenterweise ist die dichteste Stelle im Buch so verdichtet, dass man sie nur mit der Lupe lesen kann. Und so weiter und so fort. Ich werde hier nicht jeden skurrilen Einfall verraten, ist ja schließlich der halbe Spaß.
Neulich sah ich den Autor im Fernsehen. Auf dem blauen Sofa von Wolfgang Herles. Sinngemäß sagte er in diesem Interview, dass er es als Lob empfinden würde, wenn seine Leser während der Lektüre gelacht hätten. Ja, Herr Haas, ich kann Sie beruhigen. Ich habe gelacht. Vor Freude, über gelungene Pointen, anerkennend für Ihre Chuzpe.
In diesem Zusammenhang: Herr Herles, reizenden Dank für Ihre Bemerkung, dass man mit diesem Buch nicht unter Niveau lacht. Da bin ich ja beruhigt.
Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.
Sydney Bridge Upside Down
Es ist Sommer in Neuseeland. Der 13jährige Harry und seine Freunde im kleinen Dorfe Calliope Bay am Rande der Welt vertreiben sich die Zeit mit vielerlei Unsinnigkeiten. Sie rauchen heimlich in einer Höhle, treiben sich in der Ruine einer Fleischfabrik herum und warten in der Hauptsache darauf, dass etwas passiert. Egal was. Die erhoffte Zerstreuung naht in Person von Harrys Cousine Caroline, die schnell die Aufmerksamkeit und Begehrlichkeit aller männlicher Personen in dem isolierten Dorf auf sich zieht.
Was sich wie eine leichte Erzählung über unschuldige Sommertage anlässt, wie eine der üblichen Coming-of-Age Geschichten, schlägt schon bald um in eine schauerliche, Grauen erregende Geschichte und wird dabei zu einem Märchen ohne Erlösung und Vergebung. Es passieren schreckliche Dinge in Calliope Bay. Die Ruine der Fleischfabrik bleibt nicht länger nur ein Denkmal längst vergangener, glorreicher Zeiten. Sie wird zu einem Ort, an dem Unfälle passieren. Einem Ort, an dem Menschen sterben.
Sydney Bridge Upside Down ist der sperrige Name eines sperrigen Pferdes. Ein alter Klepper, der einem ebenso sperrigen alten Mann gehört. Beide – das Pferd und der alte Mann stehen für den Niedergang des Ortes, aber auch für eine ganz besondere Aufmerksamkeit und Beharrlichkeit. Am Ende werden es wohl diese beiden sein, die wissen, was in jenem Sommer passiert ist. So es denn überhaupt jemand jemals wissen wird.
Sydney Bridge Upside Down ist ein ebenso faszinierendes wie grauenerregendes Buch. Es begeistert an keiner Stelle, dafür ist der Stoff einfach zu hart. Dafür entwickelt der Kontrast zwischen der Beschwörung eines einsamen, auf sich selbst zurückgeworfenen Ortes an der Küste und dem allmählich zum Vorschein tretenden Grauen einen Sog, dem man sich als Leser nur schwer entziehen kann. Dabei ist in der Erzählung weniger das vordergründige Geschehen maßgeblich, sondern kleine eingestreute Hinweise hier und da. Die Grausamkeit liegt unter der Oberfläche, sie enthüllt sich erst nach und nach.
Holden Caulfield war ein Musterknabe gegen Harry Baird. Glaube ich. Denn der Kunstgriff Ballantynes ist so schlicht wie genial: Er erzählt die Geschichte aus der Sicht des 13-jährigen. Harry erzählt detailliert, aber bewusst saumselig und schleppend. Er lässt große Lücken, die er – vielleicht – später füllt, er verweigert sich jeder Norm einer realistischen Erzählung. Schnell ist klar, Harrys Blick auf die Welt ist zwar der eines Kindes, aber er blickt verheerend und destruktiv. Harry selbst kann man getrost als dysfunktional und auf eine beklemmende Art gefühllos bezeichnen. Ihm, dem die Küste und das Meer soviel bedeuten, fehlt jeder moralische Kompass.
Zum beklemmenden Ende wird zwar klar, es wird für keinen der Protagonisten eine Erlösung geben, aber es gibt auch keine Auflösung für den Zwiespalt, in den der Roman den Leser stürzt. Der atmosphärisch dichte Roman erzeugt beim Leser schleichend ein ungutes, beklemmdes Gefühl. Konsequent bis zum Schluss verweigert er sich dem Mainstreaum und lässt Interpretationen weiten Raum.
Sydney Bridge Upside Down erschien 1968. Der Roman lässt nur in Ansätzen die malerischen Qualitäten Neuseelands erahnen und zeigt eine düstere, dunkle Seite der Insel. Mit seiner Entzauberung der vielbeschworenen Siedlerromantik brachte David Ballantyne die Neuseeländer gegen sich auf, ein Erfolg wurde der Roman erst später. Mittlerweile zählt er zu den Klassikern der neuseeländischen Literatur und man darf vermuten, dass sich wohl ganze Generationen an Interpretationsversuchen abgearbeitet haben. Neuseeland war in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. Zu diesem Anlass wurde der Roman erstmals in einer deutschen Übersetzung veröffentlicht.
Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.
BE
BE. Das ist der Titel von Katja Eichingers Biographie über ihren verstorbenen Ehemann. Damit ist schon viel gesagt. BE. Wie Bernd Eichinger. BE aber auch wie “sein”. To BE or not to BE. Hamlets Königssatz war tatsächlich ein Motto, das Bernd Eichinger gerne auf sich bezog, an dem er sich aber auch ein Leben lang abarbeitete.
Gerne genommen auch Let it BE – so bekräftigt er seinen Heiratsantrag an Katja, let it be –das Lied sang er auf ihrer Hochzeit. Man mag das großkotzig finden, nach Lektüre der Biographie weiß man aber – das entspricht ihm, so war er: Obsessiv, exzessiv, kompromisslos. Ein Organisationsgenie, ein Überzeugungstäter, wie Tom Tykwer seinen Freund nennt. Ein Mann, der für und mit dem Film lebte. Für den Film sein Schutz war vor der Realität und der Banalität des Alltags. Ein Mann, dessen Leben sich so aufregend gestaltete wie ein ganz großer Film, der schließlich so starb wie er lebte.”Im Leben wie im Tod ist er seiner alten Rockn’Roll Maxime geblieben: Rehearsals are for whimps.” (Proben sind für Feiglinge)
Dies alles erfährt man also von seiner Witwe. Es gab Zweifel im Vorfeld, ob es gut gehen kann, wenn die Witwe die längst überfällige Biographie dieses schillernden Mannes schreibt. Das Fazit vorab: ja, es geht gut. Bernd Eichinger selbst hatte seine Frau noch zu Lebzeiten darum gebeten, er wusste wohl, warum. Katja Eichinger ist gelernte Filmjournalistin, auf dieses Rüstzeug greift sie nun zurück. Sie findet einen einsichtigen, aber auch kritischen Zugang zum Leben ihres Mannes. Vieles hat sie, deren Ehe nur wenige Jahre dauern durfte, nicht selbst miterlebt, vieles also hat sie klassisch recherchiert. Sie lässt verschiedene Perspektiven auf ihren Mann zu, spricht mit Weggefährten und greift auf alte Korrespondenz zurück.
Dazu kommt – ganz wichtig, aber heutzutage leider nicht selbstverständlich – :Katja Eichinger ist ein Mensch, der weiß, was das Wort Respekt bedeutet. Respekt vor dem Schaffen und Wirken anderer, Respekt aber auch vor Privatsphäre. Sie berichtet en Detail, erliegt aber nie der Gefahr des verklärenden Blicks. Sie spricht ihren Mann nicht heilig, trotzdem ist aus jeder Zeile das tiefe Verständnis lesbar, das enge Band, welches die beiden verband. Respekt wahrt sie auch stets, wenn sie über Weggefährten schreibt. Über die, die zur Eichinger Familie gehörten, aber auch über die, mit denen B.E. Kämpfe ausgefochten hat. Sie lässt auch seine früheren Beziehungen und Affären nicht aus, nebenbei erfährt man einiges über die legendären Nächte im Schumanns, der Hofhaltung im Romagna Antica, (Vorbild für das Rossini im gleichnamigen Film). Nächte, die gerne mal rauschend in Bordellen oder der Unterwelt endeten. Nie tritt sie aber dabei jemandem zu nahe, vorgeführt wird keiner in diesem Buch.
Richtig spannend sind die Entstehungsgeschichten der großen Filme. Bei der Lektüre wird einem erst klar, in welchem Ausmaß Bernd Eichinger nicht nur die deutsche Filmlandschaft geprägt hat. Spät erfuhr Eichinger ja die Würdigung, die ihm zustand. Filme wie der Baader Meinhof Komplex, das Parfum oder der Untergang fanden weltweit Beachtung. Dass Eichinger aber auch schon der Mann hinter Produktionen wie Christiane F., Last exit to Brooklyn und vielen anderen war, das ist im kollektiven Bewusstsein kaum verankert. Eichinger war einer der wenigen deutschen Filmschaffenden, die fürs Publikum produzierten und dabei im Niveau durchaus flexibel war. Zu seiner Bandbreite gehörten der Zementgarten ebenso wie Werner–beinhart. Das Feuilleton hat ihn dafür gerne verrissen, das Publikum aber hat es ihm gedankt. Insofern war eine umfassende Biographie Eichingers längst überfällig. Dass und wie Katja Eichinger dies getan hat, ist ein letzter Liebesdienst für ihren Mann. Es ist eine würdige Biographie geworden, stil – und niveauvoll, die sich wohltuend abhebt von dem, was derzeit in den Gazetten so als Biographie angepriesen wird.
Was bleibt nach der Lektüre, ist der Wunsch, sich einige der Filme noch einmal anzusehen. Mit Fuchur noch einmal durch die unendlichen Weiten Phantasiens zu reisen, Meryl Streep im Geisterhaus zu besuchen, aber auch den Weg des Mädchens Rosemarie noch einmal mitzugehen. Was bleibt ist der Dank des Publikums an Bernd Eichinger und der Dank an Katja Eichinger, die zur rechten Zeit gezeigt hat, wie eine Biographie auszusehen hat. Bernd Eichinger hätte es sicher gefallen, vielleicht hätte er gesagt: So it should BE.
Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift
Im Winter Dein Herz
Robert, ein junger Mann, der in seinem Leben schon manches schlucken musste und nun keinen Bissen mehr herunterbekommt, begibt sich für eine Zeit der Komtemplation in das Haus Waldesruh, eine Klinik für psychosomatische Erkrankungen. In die Zeit seines Aufenthaltes fällt der jährliche Winterschlaf, den die Menschen seit einigen Jahren den Tieren gleich halten. Eine jährlich wiederkehrende Zeit, in der “nichts, rein gar nichts zu tun war. Keine Grenzen zu passieren, keine Himmel abzusuchen”.
Früher empfand Robert diese Zeit als schön und wohltuend, doch in diesem Jahr ist alles anders. Es gibt Dinge, die zu tun, zu klären sind und die sich nicht aufschieben lassen. So verweigert er den Schlaf des Winters und begibt sich auf eine Reise quer durch ein schlafendes Deutschland. Gemeinsam mit seinem Mit-Patienten Kudowski, einem Mann von undefinierbarer Kraft und der jungen Kellnerin Annina, die Kudowski und er am Resopaltisch der nahegelegen Raststätte kennengelernt haben, werfen sie in einer befreienden Handlung die Tabletten der Winterschlaf-Medikation hinter sich, steigen in einen schwarzen Jeep namens Ritchie Blackmore und begeben sich auf eine Reise durch ein frostiges Land. Ein Land, in dem nur eine Minimalversorgung aufrechterhalten wird, welches ansonsten im Schlaf dahintaumelt und die wirklich wichtigen Fragen des Lebens aufschiebt. Mit dem I-Phone und der Winter-App verorten sie sich in der Zeit, ist diese Reise doch nicht nur eine zweckgebundene, sondern vor allem auch eine Reise zu sich selbst. Zu ihrer eigenen Persönlichkeit, die “sie dem Leben abringen müssen”, die sie wieder befähigt, “einem Montagmorgen ins Gesicht zu schauen”.
Ich hatte mir Unvoreingenommenheit vorgenommen, als ich mit “Im Winter Dein Herz” begann. Was war nicht alles über Benjamin Lebert in den letzten 15 Jahren geschrieben worden. Nach seinem umjubelten Erstling “Crazy” wurde er zum neuen Salinger hochgejazzt, zum Wunderkind des Literaturbetriebes. Schnell danach fanden Feuilletonisten oft harsche Worte für seine nachfolgenden Werke. Harsche Worte, die so schien es mir – ohne zugegebenermaßen die Bücher gelesen zu haben – aus überzogenen Erwartungen resultierten. Mir war der ganze Rummel suspekt, ich machte einen Bogen um Lebert, schob die Lektüre auf. Nun erreichte mich mitten im Hochsommer sein neues Buch über eine Reise im Winter. So objektiv wie möglich wollte ich sein. Objektiv und gerecht. Ging nicht. Vom ersten Moment an hatte ich eine subjektive, persönliche Meinung zu diesem Buch mit dem schönen Titel und ich änderte sie nicht mehr. Ich mochte das Buch vom ersten Satz an, ich fand es herzensklug, wahrhaftig, schmerzhaft ehrlich und bei aller beschriebenen Kälte wärmend.
Lebert ist kein Autor, der sich oder seine Leser schont. Bereitwillig teilt er seine Gedanken, seine Leiden, aber auch seine Erkenntnisse. “Im Winter Dein Herz” ist ein Stück weit autobiographisch, es ist aus jeder Zeile ersichtlich, dass der Autor Eiseskälte selbst erfahren und durchlitten hat. In fünf Heften und zwischengeschalteten Momentaufnahmen, in denen die drei Protagoisten sich wärmend an Momente der Geborgenheit erinnern, fängt Lebert den Leser ein. Dieser kann die Kälte der Zeit und des Landes jederzeit mitempfinden, kühl ist der Roman dennoch an keiner Stelle. Lebert ist von Zärtlichkeit und Liebe für seine Protagonisten getragen. Sanft, aber eindringlich, melancholisch, doch nie resignierend geleitet er sie durch hastigen Schneefall und kaltes klares Licht.
Dieses Buch so geschrieben zu haben, war mutig. Es so geschrieben zu haben, dass es den Leser berührt, ihn hoffnungsvoll zurücklässt und ihm den funkelnden Sternen auf dem See gleich Bilder mitgibt, die tragen – das ist durchaus Kunst. Ich werde nun die Lektüre der vorhergehenden Werke nachholen. Objektiv und unvoreingenommen. Vielleicht. Falls ich die Idee mit dem Winterschlaf nicht aufgreife….
Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift
Love is the cure
Oha! Der als egomanischer Paradiesvogel verrufene Elton John hat ein Buch geschrieben. Da mag sich mancher die Hände reiben und Schillerndes aus der Regenbogenwelt erwarten. Klatsch und Tratsch, Glamour, Federn, Diademe, Orgien – die ganze Popstar-Palette eben. Doch weit gefehlt. Der Untertitel: Über das Leben, den Verlust und wie wir Aids besiegen können sagt es schon. “Love ist the cure ” ist weniger eine Autobiographie denn ein Sachbuch.
Es gibt zwar Einblicke in das Leben des Elton John, einige liebevolle Geschichten über einstige und heutige Weggefährten sowie ein paar schicke Fotos obendrauf – doch das Thema dieses Buches ist mit vier Buchstaben beschrieben. AIDS. Vier kleine Buchstaben, die die Menschheit bestürzten, ängstigten und in der westlichen Welt heute viel von ihrem Schrecken verloren haben. Eine Krankheit, mit der man bei entsprechender Medikation einigermaßen leben kann und die heute nur noch ein Randthema ist. In der westlichen Welt wohlgemerkt. In anderen Welten nach wie vor eine schreckliche Geißel, die hierzulande aber kaum mehr zur Kenntnis genommen wird und für die sich in Zeiten globaler Finanzgrippen nur noch wenige engagieren.
In den 1980er Jahren sah Elton John einen Freund, einen geliebten Menschen nach dem anderen an AIDS sterben. Er beobachtete Ächtung, Stigmatisierung und unsägliches Leid. Sein eigenes Leben war zu dieser Zeit ein Chaos im Drogensumpf. Den Ausschlag, an diesem Leben etwas zu ändern und sich mithilfe philanthropischer Aktivitäten selbst aus diesem Sumpf zu ziehen, gab das inspirierende Leben und verheerende Sterben eines kleinen Jungen –Ryan White – mit dessen Familie sich Elton John angefreundet hatte. Er unterzog sich einer Entziehungskur, lernte dort viel über sich und über Methoden der Hilfe zur Selbsthilfe und setzte all dies schließlich um in die Gründung der heute weltweit erfolgreich tätigen EJAF, der Elton John Aids Foundation. So ist das Buch im Wesentlichen eine Biographie der EJAF, es berichtet über deren Arbeit, über die ungezählten Treffen mit Politikern aus verschiedenen Epochen, Regierungen und Ländern. Aber es vermittelt eben auch die Erkenntnisse, die Elton John während dieser Jahre gewonnen hat und es zeigt Mittel und Wege, wie AIDS eingedämmt und besiegt werden kann. Elton John geht dabei hart mit Politikern, Pharmaunternehmen und auch kirchlichen Institutionen ins Gericht, bleibt aber gleichwohl fair. Das Buch ist in einer recht simplen leicht verständlichen Sprache geschrieben. Gerade so, als würde der Sänger neben einem sitzen und sein Anliegen erklären. Dennoch ist deutlich zu spüren, dass Elton John weiß, wovon er redet. Logisch führt er aus, wie sehr gerade Stigmatisierung, Macht- und Gewinnstreben verhindern, dass Aids weltweit besiegt wird. Er rechnet vor, dass die tatsächlichen Kosten für eine Ausrottung der Geißel “nur ein Tropfen wären im riesigen Ozean weltweiter Regierungsausgaben” und das man das Geld nicht einmal vermissen würde.
“Egal, ob man der reichste Mensch der Welt ist oder absolut gar nichts hat, jeder hat das Recht, mit Respekt und Mitgefühl behandelt zu werden.” Dies ist die Erkenntnis, welche die Basis der Stiftungsarbeit darstellt. Elton John endet tatsächlich mit der titelgebenden Erkenntnis, Liebe ( zu den Mitmenschen ) ist das Heilmittel. Die Kernbotschaft des Buches ist somit simpel gestrickt, aber in ihrer naiven und einfachen Logik auch einleuchtend.
Fazit: Love ist the cure ist streckenweise unterhaltsam und regt zum Nachdenken an. Seinem Motiv, einen mit vielen Fakten untermauerten längst überfälligen Gedankenanstoß zu geben, dürfte Elton John mit diesem Buch voll und ganz gerecht geworden sein.
Elton John
Love is the cure, 209 Seiten
Hoffmann und Campe 2012
ISBN 978-3-455-50274-9
Seelenfeuer
Bis zu ihrem 19. Lebensjahr führte die junge Hebamme Luzia Gassner ein beschauliches Leben in einem kleinen Weiler am Bodensee. Eigentlich ist sie damit zufrieden, doch als eine Berufung aus der großen Stadt kommt, beugt sie sich und wird im Jahre des Herrn 1483 die neue Hebamme der Stadt Ravensburg.
Wie viele weise Frauen ihrer Zeit, die das Wissen um die Kräfte der Natur und ihrer Gaben bewahren, verlässt sich auch Luzia bei ihrer Arbeit nicht alleine auf Gebete und erregt so das Missfallen der Kirche. Als ein verheerendes Unwetter die Stadt heimsucht und auch noch die Pest ihre schwarzen Klauen ausfährt, holt der Kaplan der Stadt den gefürchteten Großinquisitor Heinrich Institoris. Es beginnt ein Hexensabbat, in dessen Folge sich alle Bewohner der Stadt von der vormals verehrten Hebamme abwenden. Einzig ihr Onkel, der geachtete Apotheker und ihr Verlobter, Medicus Johannes von der Wehr verteidigen sie vehement. Doch es kommt, wie es kommen muss. Luzia wird der Hexerei angeklagt und in den Kerker geworfen. Dem unerschrockenen Johannes bleiben nur wenige Tage, um Luzia zu retten.
Das Thema ist nicht neu. In Buch und Film hatten wir schon mehr als eine Hebamme, die als Geburtshelferin für einen Mittelalter-Roman zu fungieren die Ehre hatte. Dies war wohl auch der Autorin klar. Sie setzte das Ganze in einen stark regional bezogenen Kontext und thematisierte vordergründig die zu jener Zeit aufkommende Hexenjagd. Dank aufwändiger Recherchen wahrte sie so ihre Chance, kenntnisreich und mit viel Liebe zum Detail mit einem bereits ergiebig verwursteten Thema zu punkten. Die Gegend um den Bodensee war zum Ende des 15 Jahrhunderts eins der Zentren des Hexenwahns und der daraus entstandenen Hexenverfolgung in Europa. Es ist historisch belegt, dass Heinrich (Institoris) Kramer , der Verfasser des Malleus Maleficarum ( Hexenhammer) in Ravensburg, Konstanz und anderen Orten der Umgebung an die fünfzig Schauprozesse abhielt, die auf dem Scheiterhaufen endeten. Der Hexenhammer ist in engem Zusammenhang mit der päpstlichen Hexenbulle zu sehen, beides pseudowissenschaftliche Legitimationsschriften für den Wahn jener Tage. Cornelia Haller hat sicher ausgesprochen genau recherchiert, nach der Lektüre ist man umfassend und nachvollziehbar über damalige Gedanken – und Gefühlswelten informiert. Doch gelegentlich sind ihre detailverliebten Schilderungen zu überbordend und überfordern die Geduld des Lesers, der auf den Fortgang der Geschichte hin fiebert.
Die Autorin wurde gefördert und empfohlen vom ebenfalls in der Bodensee-Region ansässigen Martin Walser. Walser ließ die Gelegenheit, sich bei der Buchvorstellung mit aufs Podium zu setzen, nicht verstreichen und lobte die Genauigkeitsleistung der Autorin. Zwar ein Kompliment mit ungesagt mitschwingender Wertung, aber in Ravensburg reichte es für Begeisterung und Vorschußlorbeeren.
Cornelia Haller selbst sagte in einem Interview, das Formulieren sei für sie das Handwerk. Um Gerechtigkeit walten zu lassen, hat sie es dafür sehr gut gemacht. Ihr Stil ist flüssig und stockt selten. Manchen Dingen merkt man jedoch das mangelnde Vertrauen in ihre Formulierkunst an. So musste die Hebamme natürlich Luzia (von Luzifer) heissen und rotes Wallehaaar ihr Eigen nennen, damit auch der Letzte versteht, welche Projektionsfläche die Hebamme bot. Die Detailverliebtheit der Autorin führt dazu, dass sie sich manchmal im Fabulieren verliert, aber es gelingen ihr auch Sätze von allgemeiner Gültigkeit, die nachhallen und berühren. So wenn sie die Hebamme Luzia über die Mysterien der Geburt nachdenken lässt. “Erst wenn sie (die Frau) dem Tod als Unterpfand ein kleines Stück ihrer Seele überlässt, darf sie die heilige Flamme des Lebens weiterreichen. So lautet der Handel. Das ist der Preis”. Ein Wort, welches gerade Frauen, die schon geboren haben, tief ins Herz trifft und das viele bestätigen werden. Für ein Kind ist die Geburt der Eintritt in die Welt, für die Mutter aber auch der Eintritt in den Kreis der Frauen, die ein uraltes Wissen in sich tragen.
Was mir überhaupt nicht gefallen und die Freude am Buch deutlich geschmälert hat, waren die äußerst ergiebigen Folterszenen. Hexengemetzel aus der fixen Meisterklasse de luxe. Mir war es wirklich mehr als nur den berühmten Tick too much. Denn spätestens nach zwei Seiten Folterei hat man es kapiert. Ja, sie wurde gefoltert. Ja, es war grausam. Spätestens nach vier Seiten genüsslicher Folterei wünschte man sich eine ebenso detaillierte Schilderung darüber, wie man solches Gemetzel überleben kann. Um sich nach glücklicher Rettung auch noch romantischer Gefühle zu erfreuen.
Dafür hat sich Cornelia Haller um einen wichtigen Nebeneffekt verdient gemacht: Das Thema der Inquisition wieder auf den Schild zu heben. Schliesslich leben wir in einer Zeit, in der mit Herrn Ratzinger ein Mann die roten Pantöffelchen trägt, welcher noch vor wenigen Jahren Inquisition als Fortschritt im Rechtsbewusstsein bezeichnete.
Fazit: Trotz einiger Längen und Übertreibungen sind einem am Ende des Buches die Figuren ans Herz gewachsen und man wüsste schon gerne, wie es vor allem mit Luzia und Johannes weitergeht. Das Seelenfeuer, es lodert nicht heiß und ungezähmt, aber als wärmende, gut gemachte Unterhaltung taugt es durchaus.
Seelenfeuer ist das Debüt der Autorin. Die ausgebildete Heilpraktikerin lebt mit Mann und zwei Töchtern am Bodensee.
Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift