Mission Pflaumenbaum

Reise zu den Wutbürgern

«Mission Pflaumenbaum», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman von Jens Wonneberger, liefert dreißig Jahre nach der ‹Wende› eine schonungslose Bestandsaufnahme dessen, was politisch als ‹Blühende Landschaften› prognostiziert worden war. Geschildert wird in einer kammerspielartigen Inszenierung eine ganz andere Realität, die von Verlusten gekennzeichnet ist, von Entfremdung und von Hilflosigkeit. Ein Stimmungsbarometer ostdeutscher Befindlichkeiten also, hier erzählt als Wochenendbesuch eines Vaters bei seiner Tochter in einem sächsischen Dorf. Eine ländliche Idylle, in die sich die kinderlose Dreißigjährige mit ihrem in der IT-Branche beschäftigten Mann auf ihrer Stadtflucht erst vor wenigen Wochen zurückgezogen hat.

Kramer, ihr Vater, überzeugter Großstadtmensch und Bibliothekar von Beruf, ein großer Skeptiker, nicht nur was die Wiedervereinigung anbelangt, ist mit dem Bus angereist. Er wird gleich beim Weg von der Haltestelle zum Haus seiner Tochter von einem ebenso leutseligen wie verbitterten Kauz namens Rottmann angesprochen. Der macht aus seinem Herzen keine Mördergrube, redselig überschüttet er Kramer geradezu mit seinen pessimistischen Ansichten über sein Dorf und dessen Bewohner. «Es wird gemeckert und lamentiert, und jeder weiß sowieso alles besser, aber ich fürchte, irgendwann wird ihnen dieses Meckern und Motzen nicht mehr reichen, und dann wird’s hier gewaltig krachen» lautet seine düstere Vorahnung. Der zeitlich auf zwei Tage begrenzte Plot besteht im Wesentlichen aus Gesprächen, die auf Spaziergängen durchs Dorf und bei nicht immer zufälligen Begegnungen zwischen den beiden Männern geführt werden. Jeder im Dorf kennt den von niemandem wirklich ernst genommenen Schwätzer, der wie die trojanische Kassandra für die Zukunft immer nur schwarz sieht. Rottmanns grenzenloses Mitteilungsbedürfnis bekommt damit für Kramer zunehmend etwas ziemlich Beklemmendes.

Immer mehr erfährt er von den alten Zeiten, als im Dorf noch eine Gurtweberei existierte, in der fast alle Bewohner gearbeitet haben. Die aber wurde nach dem Krieg enteignet, nach der Wende von der Treuhand als unrentabel billig verscherbelt und bald darauf platt gemacht, sogar die Fabrikgebäude wurden abgerissen. Auch die ehemalige Villa des Fabrikanten wurde nach dem Krieg lange Zeit zweckentfremdet und war dann dem Verfall preisgegeben, ehe sich schließlich ein Wessi fand, der sie aus dem Dornröschenschlaf erweckt und zu seinem pompösen Landsitz ausgebaut hat. Verwaist ist auch der Dorfkrug, einst gesellschaftlicher Mittelpunkt der Gemeinde, und es gibt auch keinen Friedhof mehr. Die Toten aber seien doch, klagt Rottmann, die Seele einer dörflichen Gemeinschaft, man müsse sie besuchen können an ihren Gräbern, sonst sei das Dorf auch tot. Als örtliches Faktotum ist er ehrenamtlich für die schäbige Kirche zuständig, er scheint von allen alles zu wissen. In seiner nicht abreißenden Suada beklagt dieser unverbesserliche Wutbürger, dass schon bald «Fremde» in die verfallene Waldsiedlung einquartiert würden, Hottentotten nennt er sie, und wie zur Mahnung sieht Kramer im Vorgarten eines Hauses prompt die Reichskriegsflagge fröhlich flattern.

«Eher Sprachverdichtung, das sehr knappe Erzählen» spiele für ihn eine Rolle beim Schreiben, hat Jens Wonneberger im Interview erklärt. Und so lebt auch dieser schmale Band weitgehend von der Sprache, es passiert nichts wirklich Erzählenswertes auf dieser Reise ins rätselhafte Unterbewusstsein dauerbeleidigter, sächsischer Provinzler. Der Plot fungiert nur als Gerüst für lange Gespräche, mit denen hier en passant die schwierige Thematik ostdeutscher Lebenswirklichkeit verdeutlicht wird. Wobei diese Dialoge überzeugend und unaufgeregt beschreiben, was wirklich schwer zu begreifen ist nach dreißig Jahren. Vielleicht hilft dieser sprachlich exzellente, angenehm zu lesende, stille Roman mit seiner Reise zu den Wutbürgern ja auch, einen Autor zu entdecken, der noch wenig bekannt ist.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Müry Salzmann

Johnny Ohneland

Ein Narrativ als Selbstgespräch

Nach zehn Jahren hat Judith Zander mit «Johnny Ohneland» kürzlich ihren zweiten Roman veröffentlicht, ein Werk, das in vielerlei Hinsicht überrascht. Da ist zunächst der Vorname im Titel, der sich als angenommener Name eines Mädchens mit dem schönen Namen Joana erweist, der Nachname Ohneland spielt auf den unglücklichen Bruder von Richard Löwenherz an. Das Mädel hat schon früh ihre Weiblichkeit durch diesen Vornamen zu verdrängen versucht, für alle ist sie nur noch Johnny, es geht folglich um die Gender-Problematik als zentralem Thema. Ungewöhnlich ist neben dem, ‹was› erzählt wird, aber auch, ‹wie› erzählt wird, denn die Geschichte ist bis auf wenige Seiten am Schluss komplett in Du-Form erzählt. Johnny spricht also im Präteritum zu sich selbst, in einem endlosen inneren Monolog. An diesen zunächst irritierenden Erzählstil gewöhnt man sich allmählich als Leser, was aber nicht darüber hinweghilft, dass die auf diese Art entstehenden, komplizierten und zuweilen stilblütenverdächtigen Satzgebilde den Lesefluss oft erheblich stören. Weiter im Du-Ton:

Von früh an, schon im Kindergarten, führst du ein Außenseiter-Dasein. Du bist extrem introvertiert, zudem äußerst kontaktscheu und folglich immer allein, sieht man mal von deinem zwei Jahre jüngeren Bruder Charlie ab, mit dem du dich meistens gut verstehst. Ihr werdet oft für Zwillinge gehalten, so sehr gleicht ihr euch äußerlich, besonders seit du deine Haare jungenhaft kurz geschnitten hast und dir nur noch knabenhafte Klamotten anziehst. In diesem typischen Entwicklungsroman bist du ein unangepasstes Mädchen auf der Suche nach deinem wahren Ich, deine Lieblingsbeschäftigung ist Nachdenken, hast du erkannt. Du kommst aus einer namenlosen Kleinstadt in MeckPom, dein Vater ist Bäcker, deine Mutter arbeitet in einem Blumenladen, eine bildungsferne Herkunft mithin. Orte der Handlung sind neben der pommerschen Provinz auch Finnland, wo du in Helsinki studiert hast, außerdem Australien, dort hast du nach dem Studium deinen ersten Arbeitsplatz am Goethe-Institut von Sydney gefunden. Vom Kindergarten angefangen über Grundschule, Gymnasium und Studium ist dein Leben von den Schwierigkeiten deiner Selbstfindung bestimmt gewesen, geradezu analytisch schilderst du als Protagonistin dein Seelenleben in allen Details. Eine Zäsur stellte dabei das plötzliche Verschwinden deiner Mutter dar, die der Familie in einen Zettel auf dem Küchentisch lapidar mitgeteilt hat, dass sie ein neues Leben ohne euch begonnen habe, sie würde nie mehr zurückkommen, und ihr sollt nicht nachforschen.

Nach deiner Entjungferung, durch ein maskulines Wesen immerhin, wirst du geradezu magisch zum eigenen Geschlecht hingezogen, mehr als Herumknutschen findet dabei aber nie statt. Zwischendurch hast du dann sogar noch den einen oder anderen Lover, als One-Night-Stand, nie für länger. Bis du am Ende deines Australien-Aufenthalts schließlich doch noch mit einer Frau intim wirst, – was dich dann aber auch nicht recht überzeugen kann. Jedenfalls, wird dir da endlich klar, bist du ja tatsächlich bisexuell, du sitzt quasi zwischen den Stühlen!

Diese Geschichte, die eher einer Meditation gleicht, ist mit Intertextualität üppig angereichert, im Anhang sind fast hundert Quellen benannt. Außerdem finden sich unzählige Redensarten, Sprüche, Zitate und Songtexte, viele auf Englisch. In klugen Selbstreflexionen werden metaphernreich Johnnys Seelenleben, ihre genderspezifischen Probleme und manch anderes Ungemach in der Welt beleuchtet. Beste, aber leider einzige amüsante Episode ist ein Discobesuch, bei dem der DJ gnadenlos die Tanzfläche leer fegt, indem er plötzlich, zur Ankurbelung des Getränkekonsums, nur noch öde Schnulzen auflegt. Zweifellos ist die Sprache das erfreulichste Merkmal dieses Narrativs, ein wortmächtiger, sehr spezifischer Stil. Dabei wird allerdings selbstverliebt oft weit über das Ziel hinausgeschossen, was den Text gewaltig aufbläht, weniger wäre hier mehr gewesen!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Melancholie

Melancholie. „Nullum magnum ingenium sine mixtura dementiae (Kein großes Genie ohne eine Mischung von Irrsinn)“, wie schon der griechische Philosoph Aristoteles wusste. Ein wohl ebenso gewaltiges wie „irrsinniges“ Werk hat der 1952 in Debrecen (Ungarn) geborene Kunsttheoretiker, Literaturwissenschaftler und Essayist in den Achtzigern des 20. Jahrhunderts zur Melancholie vorgelegt.

Kulturgeschichte einer “Krankheit”

Das als Kulturgeschichte der Melancholie angelegte Werk aus dem Jahre 1984 (Original „Melankólia“) resp. 1988 bei Matthes & Seitz strotzt vor brillanten Ideen und Formulierungen sowie literarischen, ästhetischen und historischen Einsichten zur „Gemütskrankheit“ Melancholie. Denn Földényi beschreibt die Melancholie auch als Energie­ und Kreativitätsquelle, die trotz ihre schlechten Rufs auch in der Lage ist, uns in Bewegung zu setzen, wenn wir es nur zuließen. Schon in seinem Vorwort lässt der Autor klar erkennen, worin die eigentliche Melancholie besteht und dass sie uns alle betrifft: „Die Wörter, sie sagen weniger als wir durch sie auszudrücken wünschen- sie leiten uns fehl, entführen unsere Gedanken ihrem eigentlichen Ziel (…)“. Unsere Wörter drücken eben nicht nur das aus, was wir mitzuteilen wünschen und das allein genügte schon, einen denkenden und sensiblen als den wir uns wohl alle betrachten möchten, in die entsprechende Gemütslage zu bringen. Aber je stärker die Angst und der Wahnsinn beim Melancholiker überhandnehmen, umso mehr würden sich bei ihm auch Klarsicht und Urteilsvermögen verstärken. Der Melancholiker ist also auch ein: …Seher!

Das Wissen der Ausgestoßenen

Schon Hippokrates habe von den Melancholikern als aus sich selbst Heraustretende und sich in Ekstase Befindlichen gesprochen. Die Nähe zum Wahrsager und Wahnsinnigen im Griechischen weist Földényi auch etymologisch nach: „Der Wahrsager (μάντης) ist nicht nur etymologisch, sondern auch schicksalsmäßig ein Verwandter des Wahnsinngen (μανιακός), der wiederum ein Zwilling des Melancholikers (μελαγχολία) ist.“ Schon ,  Hölderlin fluchte in seinem Empedokles, dass gerade die Melancholiker ob ihres Wissens „von der Welt der Übrigen“ ausgeschlossen seien: „Oh ewiges Geheimnis! Was wir sind und suchen, können wir nicht finden; was wir finden, sind wir nicht.“ Sie seien einfach nicht fähig, zu leben wie die anderen, aber ihre Einsamkeit sei keineswegs die eines Romantikers, so Földényi. Ausgerechnet die Melancholiker seien jahrtausendelang zu Wahrsagern gemacht worden, eben weil sie über ein höheres Wissen verfügten, da sie isoliert und einsam lebten. Vor diesen Eingeweihten würde Leben und Tod nicht aufeinander folgen, sondern sich im Augenblick vereinen. (Bei Empedokles sind die zwei wichtigsten Triebfedern des Seins die Liebe und der Streit, also Vereinigung und Trennung.) Eben deswegen erzeuge das Wissen der Wahrsager, Wahnsinnigen und Philosophen Melancholie, weil es den Menschen an den Punkt “des letztendlichen Unwissens, der ihm entzogenen Geheimnisse” führe. Die unter dem Saturn (Melancholiker) geborenen könnten auch in der Nacht sehen und diese verlöre so ihren Schrecken. Die antike Nacht strahlte eben heller, während die christliche vor Dunkelheit starrte.

Melancholie: Mann der Extreme

Rotwein, Rufus von Ephesos, die vier Temperamente, Kierkegaards Verdauungsproblem des Melancholikers sind nur ein paar Tags, die sich hier hinzufügen ließen. Mehr aber noch die außerordentlich handlichen Zitate: “Der Melancholiker möchte sich selbst genügen, er möchte durch sich selbst die Vollkommenheit erreichen.” Oder: “Melancholie…das Vorrecht des Hofnarren.” Aber auch: “Der Melancholiker ist ein Mann der Extreme und wird aus allen Richtungen von Gefahren bedroht. Seine Fähigkeiten reichen bis zu den Grenzen es menschlichen Seins und wie der Planet Saturnus kann auch der Melancholiker verkünden: Nach mir folgt entweder des Nichts oder Gott.”

László F. Földényi zählt nicht nur zu den bedeutendsten ungarischen Intellektuellen und leitet als Professor den Lehrstuhl für Kunsttheorie an der Akademie für Theater und Film, Budapest. Zudem ist er Herausgeber der gesammelten Werke von Heinrich von Kleist in ungarischer Sprache und u.a. Friedrich-Gundolf-Preisträger. Seit 2009 ist er auch Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Für sein Werk „Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften“ wurde er 2020 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.

László F. Földényi

Melancholie

Übersetzung: Nora Tahy, Gerd Bergfleth

2020, 438 Seiten, Broschur

ISBN: 978-3-95757-926-3

Preis: 15,00 €

Matthes & Seitz Berlin


Genre: Abendland, Antike, Kulturgeschichte, Moderne, Philosophie

Batman: Die Rückkehr des dunklen Ritters

Batman: Die Rückkehr des dunklen Ritters. Für Sammler und Neuleser wurde die bahnbrechende und richtungsweisende Neuinterpretation des Batman-Epos von Frank Miller “Die Rückkehr des Dunklen Ritters“ als 4-Ausgaben-Edition im europäischen Alben-Format (XL-Hardcover-Format) neu aufgelegt. Die sog. Mutanten terrorisieren ein Gotham der Zukunft in der Batman schon über 50 Jahre alt ist und es dennoch noch einmal wissen will: von Mann zu Mann.

Batman mit 50

„Das sollte wehtun. Alle Muskeln sollten Schmerzen, mich an jeder Bewegung hindern. Und wäre ich älter, dann würden sie das auch… Aber ich bin wieder dreißig… Nein, zwanzig! Der Regen ist wie eine Taufe. Meine Wiedergeburt…“. Denn obwohl ihn seine ausgezeichnete Ausrüstung eigentlich schützen würde, bevorzugt der Batman des 21. Jahrhunderts den Zweikampf gegen den Anführer der Mutanten, den er mit seinem Panzer einfach plattwalzen hätte können. Aber Batman wird ja nicht umsonst „Ritter“ genannt: er hat immer noch einen Ehrenkodex, der ihm verbietet absichtlich zu töten. Die Graphik, die Frank Miller und Klaus Janson dabei anwenden ist genauso neuartig wie die Geschichte, die sie erzählen. Da gibt es großformatige Bilder mit Inserts, aber auch eine aufgereihte Panelserie, die chronologisch durchläuft und den Takt der neuen Zeit misst. Denn Batman ist kein Jungspunt mehr, sondern ein Mann der Maß nimmt. Und das genau!

Alle gegen einen

Die neue Ästhetik, die Frank Miller dem dunklen Ritter 1986 verpasste, revolutionierte das Genre und verpasste auch alten Schurken wie Joker und Two-Face einen gelungenen Neuauftritt. Aber auch der dunkle Ritter, Batman, bekommt unerwartete Unterstützung von einem weiblichen Robin (Carrie Kelley), der ihm als guten Beginn einer Freundschaft erstmal das Leben rettet. Auch die Medien spielen in Millers Batman-Version eine gewichtige Rolle, denn die sensationslüsterne Presse macht aus dem dunklen Ritter einen Vigilanten, der psychisch ebenso gestört sei, wie seine Widersacher. Dazu werden sog. Experten interviewt, die immer wieder mit ihren Kommentaren in das Geschehen eingreifen. Neben Psychologen spielt auch Ellen Yindel, die neue Commissioner von Gotham, eine wichtige Rolle, die verspricht, allen Kriminellen das Handwerk zu legen und als erste Amtshandlung einen Haftbefehl gegen den dunklen Ritter zu erlassen.

Die Teile 1-3 der Neuauflage sind bereits erschienen. Band 4 ist bereits in Vorbereitung.

Frank Miller, Klaus Janson

Batman

Die Rückkehr des Dunklen Ritters 1-4. Alben-Edition

(Storys: Batman: The Dark Knight Returns 1)

2020, Hardcover, 60 Seiten

ISBN: 9783741620430

13,00 €

Panini Verlag

 

 


Genre: Comic, Graphic Novel
Illustrated by Panini Comics

Manara: Caravaggio’s Schatten

Fast drei Jahre mussten die Milo Manara Fans auf die Fortsetzung der Werkausgabe beim Panini Verlag warten. Band 18 Caravaggio beinhaltet die beiden Geschichten „Mit  Pinsel und Schwert“ und „Gnade“, beide in Farbe und mit einem Glossar im Anhang versehen. Als Einleitung zu den beiden Stories hat Milo Manara zwei Briefe an Caravaggio verfasst, mit dem er nicht wohl nur die Initialen gemeinsam hat.

 

Manara: Huren als Heilige

Michelangelo Merisi, nach seinem Herkunftsort Caravaggio genannt, hatte schon zu Lebzeiten viele Bewunderer und auch Neider. Durch seine hohe Begabung, sein malerisches Talent, fand er aber auch immer wieder Schutz, denn er musste mehrmals in seinem Leben fliehen. „Mit Pinsel und Schwert“ beginnt im Spätsommer 1592, als Caravaggio nach Rom zieht und sich vom Hilfsmaler bald zum Malerstar hocharbeitet. Seine Modelle sucht er sich oft in den verrufenen Gegenden, etwa den Ortacci, einem abgesperrten Gebiet zwischen der Piazza del Popolo und dem Tiber wo auf Erlass Papst Pius V. die Prostitution legal war. So war das Modell für seine Maria eine Hure, keine Heilige und das grenzte damals quasi an Häresie. Aber Caravaggio trieb sich auch gerne in Wirtshäusern herum, wo es des Öfteren zu Raufhändeln kam. „Hüte dich vor der Sonne“, prophezeit ihm in einer solchen Spelunke eine Zigeunerin, „denn die Sonne wird dich töten“.

 

Ein Maler des Volkes

Caravaggio, der bekannter weise am liebsten im Dunkeln malte, sah das Licht auch hinter den Schatten, denn gerade das Schwarz war seine Kunst. Ihm blieb nichts verborgen, das wusste wohl auch Kardinal Francesco Maria Del Monte, dessen Palast Manara auf einer Piazza prächtig abbildet. Zur selben Zeit schmachtete aber Giordano Bruno als Ketzer im Kerker und ganz allgemein sollte man sich hüten, sich mit dem Heiligen Stuhl anzulegen, wie Caravaggio bald an eigener Haut erfahren muss. Der Hinrichtung Beatrice Cenci soll er persönlich beigewohnt haben, auch sie unschuldig als Ketzerin verurteilt. Aber es war nicht Caravaggios Aufgabe die Verbrechen der Katholischen Kirche zu malen, sondern die Verheißungen des Testaments. Milo Manara begleitet Caravaggio auf der Flucht nach Neapel (L’orecchio di Dionisio) und Malta und zeigt, wie der Verfolgte auch Zuflucht fand bei jenen, die er gemalt hatte. Denn er war kein Maler der Reichen und Schönen, sondern ein Maler der Wahrheit. Ein Maler des Volkes.

Im Anhang befinden sich neben einer kompletten Auflistung aller Manara Werke beim Panini Verlag auch weitere Tuschezeichnungen, die im Rahmen des Manara Caravaggio Projektes entstanden waren. Das vorliegende Comic ist gebunden, hat einen Schutzumschlag und genügt den höchsten Ansprüchen an eine Graphic Novel, die ein Leser derselben haben kann. Mit einem Wort: ein Gedicht!

 

Milo Manara Werkausgabe 18

Caravaggio

(Originaltitel: Caravaggio: La tavolozza e la spada)

2020, Hardcover, Album, 156 Seiten

ISBN: 9783741620737

30,00 €

Panini Verlag

 

 

 

 

 


Illustrated by Panini Comics

Triceratops

Beklemmende Lektüre

Mit «Triceratops» von Stephan Roiss scheint sich eine Tradition österreichischer Psychiatrie-Romane zu verstetigen, denn prompt landete heuer auch dieses Debüt auf der Longlist des Frankfurter Buchpreises, so wie im Vorjahr schon «Vater unser» von Angela Lehner. Aber damit enden auch schon alle Gemeinsamkeiten der beiden Romane, denn was wir hier zu lesen bekommen, das ist vergleichsweise schwere Kost. Er habe fünf Jahre an seinem autobiografisch inspirierten Roman geschrieben, hat der Autor erklärt, zum einen wegen der extrem komprimierten Erzählweise, andererseits aber auch wegen der schwierig durchzuhaltenden, ungewöhnlichen Wir-Perspektive, aus der heraus erzählt wird. Und es handelt sich beileibe nicht um den Pluralis Majestatis dabei, diese spezielle Erzählform verdeutlicht als Selbstschutz des Protagonisten vielmehr seine hoffnungslose Einsamkeit. Der titelgebende Dinosaurier wiederum, ein wehrhaftes Urzeit-Nashorn mit einem mächtigen Nackenschild und drei Hörnern, ist ein beredter Hinweis auf seine Sehnsucht nach Geborgenheit.

Erzählt wird die traumatische Geschichte eines namenlos bleibenden Jungen, der in einer psychisch gestörten Familie aufwächst. Die Mutter war schon fünfmal in der geschlossenen Psychiatrie, sie sei gemütskrank, seit sie ihren Vater aufgefunden habe, der sich in der Scheune erhängt hat. Die psychisch labile, ältere Schwester wiederum glaubt, ihre Verhaltensstörung von der Mutter geerbt zu haben. Gebetsmühlenartig wiederholt sie den Satz «Alles wird gut», der sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht. Dem frömmelnden, eher weichlichen Vater gelingt es trotz aller Bemühungen nicht, Normalität herzustellen in seiner Familie, auf der ein Fluch zu liegen scheint, er flüchtet sich resigniert in den Alkohol. Und der Sohn schließlich, der in solch trostloser Umgebung aufwächst und all dem nicht gewachsen ist, weicht in die Sprachlosigkeit aus. Er bleibt meist stumm und rettet sich in Traumwelten hinein. Und zu denen gehören eben auch die Dinosaurier, um deren Stärke und Unverwundbarkeit er sie beneidet, sie sind immer wieder Motive seiner kindlichen Malereien. Trotz aller psychischen Probleme jedoch gibt es auch ein ‹normales› Familienleben, zu dem die altersbedingt zeitweise demente Großmutter beiträgt.

Sprunghaft und in kleinste Abschnitte unterteilt wird mit «Triceratops» eine bedrückende Coming-of-Age-Geschichte erzählt, die in den 1980/90er Jahren angesiedelt ist. Angefangen vom achtjährigen Schulkind bis in die späte Adoleszenz hinein reiht sich da, geradezu lakonisch, ein Erinnerungssplitter an den anderen. Das reicht vom plötzlichen Versagen in der dörflichen Schule, diversen Streichen und Missgeschicken, dem Ausbrechen auch aus familiären Pflichten bis hin zur Initiation durch ein Punk-Mädchen und dem Abtauchen in den städtischen Untergrund. Zu einer Zäsur kommt es, als die seelisch gestörte Schwester ihr wenige Monate altes Baby erstickt, weil sie ihm ein Schicksal wie das ihre nicht zumuten will.

Stephan Roiss hat mit seinem Roman nicht nur eine eindringliche Darstellung der Verzweiflung geschaffen, er hat cool und emotionslos das Psychogramm einer Familie beschrieben, mit allen ihren seelischen Vorbedingungen und Abhängigkeiten. Die seltsame Wir-Perspektive, die immer wieder die Frage aufkommen lässt, von wo aus da erzählt wird, trägt mit ihrer ungewohnten Tonalität einiges bei zur düsteren Stimmung dieser Erzählung, sie wirkt geradezu beschwörend auf den Leser ein. Erst auf der letzten Seite wechselt die Perspektive, plötzlich ist von dem ‹Jungen› die Rede, der da seine Schwester in der geschlossenen Anstalt besuchen kommt. «Ich heiße Konrad. Wie heißen Sie?» lautet der letzte Satz, mit dem ein seit Jahrzehnten weg gesperrter Insasse, den er aber schon jahrelang kennt, sich ihm vorstellt. «Triceratops» ist eine gekonnt erzählte, beklemmende Lektüre, narrativ durchaus bereichernd, aber inhaltlich völlig inkonsistent, und recht unerfreulich obendrein!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Kremayr und Scheriau

Ein Tag wird kommen

Mit persönlichem Bonus

«Ein Tag wird kommen», der erste auf Deutsch erschienene Roman der jungen italienischen Schriftstellerin Giulia Caminito, ist von der eigenen Familiengeschichte inspiriert. Ihr Urgroßvater war Anarchist und liefert damit die Vorlage für einen der beiden Protagonisten dieses politisch geprägten Romans. Den religiösen Widerpart dazu bildet als ebenfalls historische Figur die aus dem Sudan verschleppte Zeinab Alif, sie hatte als Nonne den Namen Maria Giuseppina Benvenuti angenommen, das Volk nannte sie nur La Moretta. Die Erzählung mit dem neugierig machenden Titel ist in der italienischen Region ‹Marken› angesiedelt und schildert das Leben der vom Unglück verfolgten Familie des Bäckers Luigi Ceresa in der kleinen Ortschaft Serra de’ Conti. Den historischen Hintergrund bilden Anfang des 20ten Jahrhunderts Ereignisse wie der Erste Weltkrieg, die anarchistische Bewegung von Errico Malatesta und das Aufkeimen des Faschismus unter Mussolini.

Ein Roman über zwei ungleiche Männer, zum einen der kämpferische Anarchist Lupo, dem die Autorin allegorisch gleich zu Beginn den auf dem Titel abgebildeten Wolf zugesellt. Der von ihm verletzt aufgefundene und großgezogene Welpe wird, symbolisch leider deutlich überzogen, ‹Cane› genannt, künftig sein treuer Begleiter. Zweiter Protagonist ist sein schwächlicher und ängstlicher Bruder Nicola, der zum Arbeiten absolut nicht taugt. Die ungleichen Brüder lieben sich inniglich, sie bilden ein unzertrennliches Paar mit dem Kraftprotz Lupo als unermüdlichem Beschützer, der seinerseits von der Bildung des introvertierten jüngeren Bruders profitiert. Im Prolog legt Nicola das Gewehr auf Lupo an und schießt, ein gekonnt Spannung erzeugender Beginn, dem allerdings eine anfangs ziemlich verwirrende Geschichte folgt, die erst ab der zweiten Buchhälfte geläufiger lesbar wird. In getrennten Handlungsfäden wird, mit diversen Rückblenden und Vorgriffen, die Geschichte der Familie Ceresa erzählt, die in ärmlichsten Verhältnissen lebt. Nach vielen Totgeburten sind dann auch noch zwei ihrer überlebenden fünf Kinder früh gestorben, außer den beiden Söhnen gibt es nur noch die rebellische Nella, die aber als junges Mädchen ins örtliche Kloster gehen musste. Hinter all dem verbirgt sich, das wird dem Leser schon bald klar, ein düsteres Familiengeheimnis, auf das ja schon der Buchtitel hindeutet.

In dieser elegischen Geschichte der Hungerleider geht es sehr rau zu, alle fristen ihr karges Dasein in dem zutiefst ungerechten Halbpächter-System Italiens. Der Widerstand gegen dieses verhasste Relikt aus feudalen Zeiten eskaliert in der «Settimana Rossa», den Unruhen und Streiks in Ancona im Juni 1914, an denen auch Lupo in vorderster Front beteiligt ist. Sein Bruder Nicola wird als 1899-Geborener blutjung in den sinnlosen Krieg geschickt, dessen Grauen die Autorin eindrucksvoll schildert. Ebenso eindrücklich sind die Beschreibungen des Klarissinnen-Klosters, in dem die unglückliche Nella wie eine Gefangene lebt. La Moretta hat dort als Äbtissin unerbittlich ein strenges Reglement etabliert, zu dem besonders das unbedingte Schweigegelübde gehört, aber auch die ausnahmslose Klausur. Was der Krieg nicht geschafft hat, das vollendet die Spanische Grippe, die weite Teile der Bevölkerung dahinrafft und ganze Landstriche entvölkert, weitaus schlimmer als das, was wir zur Zeit mit Corona erleben.

Diese in dreizehn Kapitel sowie Prolog und Epilog gegliederte Geschichte wird in einer dem freudlosen Geschehen angepassten, schlichten Sprache erzählt, wobei die verwendeten Metaphern manchmal alles andere als überzeugend sind. Vom Plot her reizvoll ist der gut herausgearbeitete Gegensatz zwischen politischer Anarchie und naivster Religiosität. Der Roman erscheint thematisch jedoch ziemlich überfrachtet, Giulia Caminito hat sich regelrecht verzettelt mit ihrem multi-thematischen Sujet. Wer lange in den ‹Marken› gelebt hat wie ich, wird ihr das aber, als persönlicher Bonus quasi, gerne nachsehen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

LTB Kochbuch – Einfach lecker! 15 Comics und Rezepte

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London, 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts: “Die kulinarische Weltreise” – in 6 Teilen – wird für Onkel Dagobert alias Lord Dagobert D. Duckby (Besitzer des Lokals “Die goldene Gans”) und Franz Gans alias Fancois Gourmet (Pariser Koch der “Goldenen Gans”) nicht nur zu einem Abenteuer, sondern auch zu einem kulinarischen Highlight. Zu verdanken haben sie diese Weltreise der Wette mit Klaas Klever alias John K. Klever (Besitzer des Restaurants “Neue Gabel”, Konkurrenz der “Goldenen Gans”). Duckby verspricht, in einem Monat alle Kontinente zu besuchen und von dort je ein landestypisches Rezept mitzubringen. Diese sollen in Duckbys Restaurant nach Ablauf der Reise serviert werden. Werden die beiden es schaffen oder bringen die Schwierigkeiten der Reise sie zu Fall?

Ein “Umwerfender Geschmack” verursacht bei Gundel Gaukley einen Ohnmachtsanfall.

Einen “Kochkurs im Chateau Baguette” soll Mickey nach Wunsch seiner herzallerliebsten Minnie absolvieren, damit ihr Verlobter die Feinheiten der gehobenen Küche kennen und schätzen lernt. Allerdings artet der Kochkurs in detektivische Detailarbeit aus, als eine mysteriöse Gestalt des Nachts im Chateau herumschleicht.

Diese deutschen Erstveröffentlichungen und 7 weitere schon in LTBs veröffentlichte Geschichten verbinden einen spannenden und lustigen Inhalt mit einem schmackhaften Rezept. Natürlich spart auch dieses LTB nicht mit Anspielungen z.B. auf Weltliteratur wie z.B. “In 80 Tagen um die Welt” oder musikalische Größen wie die Rolling Stones. Die Anspielungen in dem LTB machen sie nicht nur für Kinder, sondern auch für erwachsene Fans spannend.

Ebenfalls interessant ist auch die letzte Geschichte des Buches “Zu gut getarnt”, in der die Panzerknacker zur Tarnung eine Straßenküche aufmachen, um die gegenüberliegende Bank auszuspionieren. Daraus entwickelt sich ein florierendes, legales Geschäft. Eine scheinbare Nebensache kann also zur Glück (und Geld) bringenden Hauptsache werden, wenn man es denn zulässt.

Aber auch “Die wichtigste Zutat” vermittelt eine Botschaft: Nicht sterile, komplizierte und hochstylische Küche ist bei den Menschen gefragt, sondern mit Liebe Gekochtes und Gebackenes, mit dem man gute Erinnerungen verknüpft.

“Mit allen Tricks” zeigt, dass gute Küche nicht zum (nachbarschaftlichen) unguten Wettkampf ausarten, sondern tatsächlich Menschen miteinander verbinden sollte.

“Am Anfang war der Mais” erzählt, wie eine Stadt dank eines Lebensmittels floriert. Das spielt auf andere Städte wie z.B. das rheinland-pfälzische Schifferstadt mit seinen Rettichen (und der dazugehörigen Rettichkönigin) an, vermittelt aber v.a. den Wert von Lebensmitteln und propagiert den ganzheitlichen Zugang zu solchen, um sie wertschätzen zu können. Sie erinnert aber auch an die alte Praxis, Nahrung (Samen u.Ä.) für schlechte Zeiten aufzubewahren, und  an die weltweit einzige Sauerteigbibliothek.

Neben all diesen genussfreudigen Geschichten hat die Redaktion aber auch gute, schmackhafte und größtenteils leicht zuzubereitende Rezepte zu den Geschichten ausgesucht, die v.a. vegetarisch sind. Süßspeisen dürfen neben all dem Gesunden aber auch sein. Mein Sohn und ich haben die meisten der Rezepte schon nachgekocht und finden sie sehr schmackhaft. Für meinen Sohn, der von jeher kein besonders guter Esser war, bedeuteten diese Rezepte aber auch, dass sie mit seinen Liebelingsfiguren verknüpft sind, was das Essen für ihn besonders interessant macht.

Damit erfüllen die Geschichten und Rezepte eine sehr wichtige Funktion: Sie führen Kinder an gesunde Nahrung heran und begeistern sie für diese – auch solche wie meinen Sohn, die für Essen normalerweise nicht viel übrig haben.

Fazit: Die gelungene Verbindung von spannenden Geschichten rund ums (v.a. gesunde) Essen und dazugehörigen schmackhaften und meist leicht nachzukochenden Rezepten liefern nicht nur Lese- sondern auch Gaumengenuss für die ganze Familie und einen schönen Zugang zum Umgang mit Lebensmitteln. Die Idee ist zwar für das LTB nicht neu, darf aber ruhig aufgrund der guten Eigenschaften zum Klassiker ausgebaut werden.

 


Genre: Comic
Illustrated by Egmont Ehapa

Aus der Zuckerfabrik

Unikat der Postmoderne

Das dritte Buch von Dorothee Elmiger mit dem Titel «Aus der Zuckerfabrik» verdeutlicht durch die fehlende Genrebezeichnung die Probleme bei der Definition der Gattung Roman. Bei Wikipedia wird dieses Buch nonchalant als ‹Roman› klassifiziert, eine literarische Form, die von Georg Lukács als «Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit» bezeichnet wurde, die Schweizer Autorin selbst hat ihr Buch als Recherchetagebuch bezeichnet. Auf potentielle Leser kommt also ein ungewöhnliches, verwirrendes Stück Prosa zu, soviel sei vorab schon mal gesagt.

Als Leitthema fungiert, dem Buchtitel entsprechend, der Zucker als Metapher für Begehren und Genuss, die Zuckerfabrik dient als Sinnbild der Gesellschaft. Ferner sind Gewalt, Kolonialismus, Ökonomie, Verteilungsgerechtigkeit, Glückssuche, Sexismus und anderes mehr markante Themen dieses konsequent abstrakt bleibenden, literarischen Sammelsuriums. Aber auch die Literatur ist, oft mit längeren Zitaten, breitgefächert vertreten. Peter Kurzeck wird genannt und Max Frisch, aber auch Joseph Roth, Marie Luise Kaschnitz oder Heinrich von Kleist. Zu den absonderlichen Geschichten, die häufig wiederkehrend im Buch thematisiert werden, gehört auch die des ersten Schweizer Lottokönigs von 1979 Werner Bruni. Der Titel seines Buches «Einmal Millionär und zurück» veranschaulicht besonders deutlich die Gedanken von Dorothee Elmiger zum Thema Geld. Mit Ellen West wiederum, berühmte Patientin des Schweizer Psychiaters Ludwig Binswanger, wird das Thema Suizid aufgegriffen, und der Russe Vaslav Nijnsky schließlich steht als begnadeter Tänzer für Ruhm, aber auch für ein tragisches Ende in geistiger Umnachtung. Die im Buch durch Karl Marx und Adam Smith vertretene Ökonomie wird, ihre Maßlosigkeit betreffend, mit einer köstlichen, filmreifen Szene beschrieben: Während einer Teestunde nimmt Adam Smith, ganz in Gedanken verloren, ein Stück Zucker nach dem anderen aus der Zuckerschale und isst es auf, bis die verstörte Gastgeberin die Schale vom Tisch nimmt und in Sicherheit bringt.

All diese vielen Textfragmente sind scheinbar ziemlich zusammenhanglos aneinandergereiht, ihr tieferer Sinn erschießt sich oftmals nicht. Die Ich-Erzählerin, in der die Autorin unschwer zu erkennen ist, gibt offen zu, sie sei nicht in der Lage, «ihr Material in eine Erzählung zu fügen». Man hat es quasi mit einem prall gefüllten Zettelkasten in Buchform zu tun. In dem sind weder Zeit noch Ort konkret fassbar. Von allen Zwängen befreit, wie die Grübeleien ihrer phantasiebegabten Schöpferin auch, werden vielmehr in wilden, unkoordinierten Sprüngen mühelos sämtliche realen Dimensionen überwunden. Was hier erzählt wird sind Schnappschüsse und Szenen aus den Gedanken und Visionen einer Schriftstellerin, die sich verzweifelt bemüht, die Gegenwart zu verstehen. Dabei landet ihre Ich-Figur erzählerisch sehr häufig in einem «Gestrüpp», Sinnbild für Weglosigkeit und Unbehaustheit.

Dieses Buch ist eine berührende Anklage gegen die himmelschreiende Ungerechtigkeit und die unvermindert anhaltenden, eklatanten Fehlentwicklungen des 21ten Jahrhunderts. Sprachlich umgesetzt wird dieses Lamento durch ein brüchiges, inkonsistent erscheinendes Narrativ mit einer ausgesprochen eigenwilligen Syntax, die durch häufige fremdsprachige Einsprengsel und Zitate noch zusätzlich sperriger wird. Allein die sechs Seiten mit Quellenangaben zeugen davon, dass von flüssigem Lesen in diesem Buch wahrlich nicht die Rede sein kann. Dass die Autorin sich dieser Schwierigkeiten bewusst ist, wird an mehreren Stellen deutlich. Während sie am Schreibtisch sitze, sagt die Ich-Figur einmal selbstreflexiv, passiere gleichzeitig um sie herum alles Mögliche, «und das muss dann natürlich alles auch erzählt werden, weil das ja die Bedingungen sind, unter denen der Text entsteht». Kaum vorstellbar, dass diese experimentelle Prosa, ein Unikat der Postmoderne, den diesjährigen Frankfurter Buchpreis gewinnt, – aber man soll ja nie Nie sagen!

Fazit: lesenswert

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Illustrated by Hanser Verlag München

Was Nina wusste

Der Whisky bringt’s

Der neue Roman «Was Nina wusste» von David Grossmann basiert auf der Lebensgeschichte der kroatischen Kommunistin Eva Panic-Nahir, die als jüdische Partisanin zusammen mit ihrem serbischen Mann gegen die Nazis gekämpft hat. Als das Tito-Regime sie später als Stalinisten verfolgte, beging ihr Mann im Gefängnis Selbstmord, sie selbst wurde zur Umerziehung auf die berüchtigte Insel Goli Otok gebracht. Im Roman ergänzt der Autor diese Fakten vor allem durch psychologische Tiefenlotungen seiner Figuren, er entwickelt in seinen fiktionalen Ergänzungen detaillierte Psychogramme von ihnen, Freudianer dürften begeistert sein.

Vera, zentrale Figur des Romans, feiert im Kibbuz ihren 90ten Geburtstag. Ihre Tochter Nina, die ihr geradezu feindlich gegenübersteht und mit der sie seit vielen Jahren kaum Kontakt hatte, kommt von einer Insel am Polarkreis angereist, auf die sie sich in ihrer Weltflucht zurückgezogen hat. Die 39jährige Enkeltochter Gili, die wie ihr Vater Rafi beim Film arbeitet, hat beschlossen, die Feier filmisch zu dokumentieren, anschließend sollen alle gemeinsam nach Kroatien reisen, zu den Stätten von Veras Geschichte. Es geht dabei um die Leerstellen in deren Vita, vieles ist rätselhaft geblieben. Denn sie hatte sich, als sie von der Geheimpolizei verhört wurde, strikt geweigert, ihren toten Mann als stalinistischen Verräter zu denunzieren, was ihr die Freiheit gebracht hätte. Man hatte ihr angedroht, dass ihre sechseinhalbjährige Tochter Nina unbetreut auf der Strasse landen würde, wenn sie nicht unterschreibt. Aber Vera blieb stur, ihr verstorbener Mann war die große Liebe ihres Lebens, ihn zu verraten wäre für sie gleichbedeutend damit, ihr eigenes Leben auszulöschen, er war nun mal ihr Ein und Alles. Nina hat diese Entscheidung niemals akzeptiert, sie wurde zu einer schwierigen Einzelgängerin, hat sich von ihrer Familie gelöst und ist entwurzelt in der Welt herumvagabundiert, jahrelang war sie unauffindbar. Auf der Feier offenbart die total verbitterte Nina plötzlich, dass sie seit einigen Monaten unheilbar an Demenz erkrankt ist. Sie bittet, die Dokumentation über Veras Leben perspektivisch in einen Film für die ‹Demente Nina› abzuändern, so als würde man alles nur der erzählen. Später könne man der Patientin immer wieder mal diese Aufnahmen vorspielen, um sie in die reale Welt zurückzuholen.

Es ist ein weites Feld, das David Grossmann da bearbeitet, mit der Liebe in den verschiedensten Intensitätsgraden als zentralem Thema vor dem Hintergrund der Verwerfungen des 20ten Jahrhunderts. Krieg, Nationalismus, Völkermord, Kommunismus, Diktatur, Verbannung, Holocaust und Zionismus sind Themen, die in den Plot hineinwirken und die Schicksale seiner Figuren bestimmen. In all dem schrecklichen Geschehen sind es die Frauen dreier Generationen aus dieser Familie, die beherzt gegen die politischen Pressionen ankämpfen, allen voran Vera. Mit viel Empathie gelingt es dem israelischen Autor, seine Protagonisten menschlich überzeugend zu beschreiben, eine beinahe vorbehaltlose Nähe des Lesers zu ihnen herzustellen. Vieles erschließt sich in dieser Geschichte aus den Dialogen, bei denen besonders Veras kroatisch/jüdisch gefärbtes Idiom ebenso zum Schmunzeln reizt wie ihre eigensinnige, manchmal verblüffende Sicht der Dinge. Was Vera im Roman nur zögernd preisgibt, ihr vermeintliches Geheimnis, ist genau das, «Was Nina wusste», wie ja schon der Titel verrät.

Es ist nicht weniger als eine zutiefst moralische Frage, die dieser Roman aufwirft. Ist Veras Entscheidung vertretbar, die Ehre ihres – ja bereits toten – Mannes höher zu bewerten als die schlimme Zukunft, die ihre alleingelassene Tochter in einem mörderischen System zu erwarten hat? Leider gelingt es dem Autor nicht, sein schwieriges Thema ohne Pathos zu behandeln, was erheblich stört beim Lesen. Und wirklich peinlich wird es, wenn am Ende das Trauma einer jahrzehntelangen Entfremdung einfach mit einer Flasche Whisky hinweg gespült wird.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Arte 2

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“Ich verstehe, was du sagst. Aber du bist anders als wir. Du bist eine Frau.” Angelo

Arte hat den Auftrag bekommen, die reiche Kurtisane Veronica zu malen. Diesen Auftrag erfüllt sie gerne, denn Veronicas Intelligenz und Liebenswürdigkeit haben sie tief beeindruckt. Aber sie merkt schnell, dass Veronicas Beruf auch Schattenseiten hat. Zum einen darf sich eine (Edel-)Kurtisane nicht verlieben, wenn sie in ihrem Beruf weiterhin erfolgreich sein will. Veronica zeigt Arte als abschreckendes Beispiel eine Kollegin, deren tiefen Fall sie einem Mann zu verdanken hatte, der ihre Liebe nicht zu schätzen wusste. Zum anderen verursacht dieses Liebesverbot nicht nur ständige Distanz zu Männern, sondern auf Seiten der Männer Leid, wenn diese sich in die Kurtisane verlieben. Und Kaltblütigkeit, denn Veronica muss diese Liebe für ihr Auskommen nutzen, solange sie nicht verblüht ist. Artes mitfühlendes Herz verkraftet diese Kaltblütigkeit nicht, weswegen sie vorerst mit Veronica bricht.

“Mann oder Frau – das interessiert mich nicht. Um Malerin zu werden, brauche ich die gleiche Ausbildung wie ihr. Vielleicht muss ich sogar mehr tun.” Arte

Stattdessen will sie erneut versuchen, Angelos Meister dazu zu überreden, dass sie seine Statuen skizzieren darf. Diesmal hat sie mit ihrer Energie und Hartnäckigkeit Erfolg. Aber der Meister scheint Unmögliches von ihr zu verlangen: Sie muss zehn schwere Säcke quer durch die Werkstatt tragen. Niemand traut ihr das zu, aber Artes Wille ist ungebrochen und sie schafft das Unmögliche. Der Meister hält sein Versprechen.

“Mädchen kosten nur Geld. Ein Junge könnte mir wenigstens zur Hand gehen.” Dacias Vater

Außerdem freundet Arte sich mit Dacia an, die zunächst nicht gut auf Arte zu sprechen ist. Die arme, aber disziplinierte Näherin kann nicht verstehen, dass Arte als Adlige freiwillig arbeitet, während sie sich mühsam ihre Aussteuer zusammensparen muss, um überhaupt eine Chance auf Heirat zu haben. Als Näherin werden sie und ihre Kolleginnen von ihrem männlichen Vorgesetzen gnadenlos ausgebeutet. Eines Tages reicht es Dacia und sie beschwert sich lautstark bei ihrem Vorgesetzen. Die anderen tun es ihr gleich. Daraufhin lässt er die Näherinnen im Stich, gibt ihnen aber noch die gut bezahlten Aufträge, um die zornigen Frauen zu besänftigen. Allerdings kann keine der Frauen lesen, sodass Arte, die Dacias Ersparnisse gefunden und ihr zurückgebracht hat, diese Aufgabe übernimmt. Die Frauen sind von nun an ihr eigener Chef.

“Lasst euch das nicht einfach gefallen!” Arte

Der Manga zeigt vielerlei. Zum einen präsentiert er mit Arte, Veronica und Dacia (willens-)starke Frauen, die in einer Zeit, in der sie keinerlei Rechte haben, noch stärker sein müssen (auch körperlich) als Männer. Er zeigt auch an diesen weiblichen Beispielen Frauen aus unterschiedlichen Schichten, die allerdings alle aufgrund ihrer Rechtlosigkeit (die eigentlich schon den Status der Sklaverei inne hat) trotzdem das gleiche Schicksal teilen.

Zum anderen scheinen in den Situationen der Frauen auch heutige Frauenschicksale durch. Man denke nur an die Frauen in Indien, deren Eltern für die Aussteuer und Hochzeit aufkommen müssen. Mittlerweile ist die Mitgifttradition zwar verboten, aber es sterben deswegen in Form einer Brautverbrennung immer noch offziell ca. 6600 Frauen pro Jahr.

In westlichen Ländern ist die Unsitte, dass Frauen v.a. bei gleicher Arbeit deutlich weniger als Männer verdienen, immer noch verbreitet. Zudem werden sogenannte Frauenberufe von vorneherein schlechter bezahlt als die traditionell männlichen Berufe. Auch wenn die Frauenbewegungen und der Feminismus viel bewirkt haben – am Ende der Fahnenstange sind wir mit der Gleichberechtigung und v.a. der Gleichwertigkeit (eingeschlossen der gesellschaftlichen und finanziellen Anerkennung der Frau) noch lange nicht!

Dacia löst das Problem der Aussteuer, indem sie nicht mehr die Heirat (und damit die Abhängigkeit) in den Fokus ihrer Anstrengungen stellt, sondern ihr bisher gespartes Geld Arte gibt, die ihr dafür das Lesen beibringen soll. Nicht nur damit helfen sich die Frauen in dem Manga selbst. Somit sind wir bei der Bildung v.a. für Mädchen, um die es in ärmeren Ländern immer noch schlecht bestellt ist. Bildung aber bedeutet neben mehr Wissen und damit weniger Manipulierbarkeit in erster Linie Unabhängigkeit durch die Chance auf einen gut bezahlten Beruf. Das hat Dacia erkannt.

“Man muss genügend Aufträge haben. Und mit ihnen Geld erwirtschaften. Später wird das auch für dich wichtig werden.” Meister Leo zu Arte

Zu diesem sehr guten Manga gibt es auch einen Anime.

Fazit: Sehr gut gestalteter Manga, der vielerlei Ungerechtigkeiten in der Beziehung der Geschlechter aufzeigt, die leider auch heute noch aktuell sind.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen Manga!

Minnie&Daisy: Spy Power – Doppeltes Dilemma

 

Minnie freut sich: Endlich ist sie, wie ihre Freundin Daisy, an der begehrten Emil-Erpel-Universität angenommen worden! Schöne Zeiten stehen bevor, denn jetzt heißt es neben Studieren auch Partys feiern und neue Freunde finden. Aber Daisy wirkt überraschend distanziert, redet mit ihr nicht mehr über sich selbst und scheint stattdessen immer mehr Geheimnisse vor Minnie zu haben. Minnie beschließt herauszufinden, was mit ihrer Freundin los ist. Und gerät mitten hinein in einen Spionagefall. Weiterlesen


Genre: Comic, Roman
Illustrated by Egmont Ehapa

Kokoschkins Reise

Solitäre lakonische Diktion

Mit «Kokoschkins Reise» hat Hans Joachim Schädlich einen Jahrhundertroman geschrieben, nicht der Bedeutung nach, sondern inhaltlich. Der in breiten Leserkreisen kaum bekannte Schriftsteller schlägt darin zeitlich einen weiten Bogen, der die politischen Umbrüche und Katastrophen des Jahrhunderts in Europa abhandelt und schließlich sogar 9/11 mit einbezieht. In Anlehnung an die reale Figur des 1918 von Bolschewisten ermordeten, der Demokratischen Partei angehörenden Ministers Kokoschkin ist dessen fiktionaler Sohn Fjodor der Protagonist dieser Geschichte. Seine historische Tour d’Horizon sei quasi ein Nebeneffekt seines narrativen Vorhabens, hat er im Interview erläutert. «Ich wollte wirklich nur eine Geschichte erzählen, in deren Mittelpunkt die Konfrontation eines Einzelnen mit den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts steht».

Dieser ‹Einzelne› ist der 95jährige Exilrusse Fjodor Kokoschkin, der sich am 8. September 2005 in Southampton auf den Luxusliner ‹Queen Mary II› einschifft. Der rüstige Pensionär, ein emeritierter Professor aus Boston, kehrt nach einer Europareise zu den Stätten seiner Kindheit und Studentenzeit nach Hause zurück. Die wechselvollen politischen Verhältnisse und materielle Nöte hatten ihn früh von seiner Mutter getrennt. Nach dem Internat ging er nach Berlin, begann ein Biologie-Studium und flüchtete dann vor den Nazis nach Prag. Glückliche Umstände verhalfen dem mittellosen jungen Studenten durch Vermittlung der dortigen Botschaft 1933 schließlich zu einem Stipendium in den USA, er durfte dorthin auswandern. In Boston schloss er sein Studium ab und gelangte als Spezialist für Gräser und Halme zu akademischen Ehren. 1968 lernte er dann bei einem ersten Europa-Besuch in Prag den deutlich jüngeren Jakub Hlaváček kennen. Dieser Freund hatte Kokoschkin nun auf auch seiner mutmaßlich letzten Europareise begleitet.

Der Roman ist, in der nur wenige Tage dauernden Erzählebene der Gegenwart, neben der Prozedur zur Einschiffung in fünf nach Tagen auf See gegliederte Kapitel unterteilt und endet mit der Ankunft in New York. In Tischgesprächen mit anderen Passagieren, Begegnungen bei den verschiedensten Veranstaltungen an Bord und so manchem Barbesuch erzählt Kokoschkin in der zweiten Erzählebene aus seiner bewegten Vergangenheit. Dabei fungieren seine verschiedenen Gesprächspartner zumeist als reine Zuhörer oder Stichwortgeber, er berichtet in langen Passagen aus seinem Leben. Diese in direkter Rede erzählten Rückblicke enthalten neben den politischen Themen einiges an Intertextualität, vor allem Iwan Bunin wird häufig genannt und in längeren Passagen auch zitiert. Wladislaw Chodassewitsch und seine Frau Nina Berberowa gehören ebenfalls mit zu den engen Freunden von Kokoschins Mutter, sie folgt ihnen schließlich sogar nach Paris. Häufig geht der Protagonist in seinen Erzählungen auf besonders schöne Bauwerke ein, bewundert Kunstwerke und genießt ganz bewusst den Luxus, den er sich als renommierter Wissenschaftler im Alter leisten kann.

Auffallend ist die große Gelassenheit, mit der Kokoschkin aus seinem durchaus nicht immer erfreulich verlaufenen Leben berichtet, ein derartiger Gleichmut den politischen Zumutungen gegenüber ist allenfalls durch die Milde des Alters zu erklären. Hans Joachim Schädlich erzählt seine Geschichte in einer für ihn typischen, hoch verdichteten Sprache, die von der schnörkellosen Verkürzung auf das Nötigste lebt, die bei allem, was sie sagt, vermeidet, es direkt auszusprechen. Der Text wirkt dadurch natürlich eher als nüchterner Bericht denn als mitreißende, angenehm unterhaltende Erzählung. Diese lakonische Diktion, im Feuilleton und in Kollegenkreisen als solitär bewundert, versteckt ihre Botschaft quasi zwischen den Zeilen. Sie erfordert damit einen stets aufmerksam mitdenkenden und sensiblen Leser.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Die Unschärfe der Welt

In ihrem vierten Roman «Die Unschärfe der Welt» erzählt die aus Siebenbürgen stammende Schriftstellerin Iris Wolff auf gerade mal zweihundert Seiten die vier Generationen umfassende Geschichte einer Familie, deren starke Bindungskräfte die Zeiten überdauern. Bereits der Buchtitel kündet ein narratives Verfahren an, das vieles nur andeutet und in ‹Unschärfe› belässt, während ‹Welt› andererseits auf ein breit gestreutes Themenspektrum verweist. Mit einer wunderbar bilderstarken Sprache gelingt dieser literarische Spagat auf beeindruckende Weise, der Autorin verleiht ihrem Text damit etwas geradezu poetisch Schwebendes. Erinnerung sei «ein Raum mit wandernden Türen», heißt es im Roman dazu.

Es beginnt gleich dramatisch. Die schwangere Frau des Pfarrers einer dörflichen Gemeinde im rumänischen Banat, die beinahe ihr Kind verliert, wird mit der Kutsche eiligst ins nächste Krankenhaus gefahren. Dort verdächtigt man sie zunächst mal, eine in Rumänien strafbare Abtreibung eingeleitet zu haben, nichts jedoch liegt ihr ferner als das. Wochen später bringt sie schließlich dann Samuel zur Welt, der auch die folgenden sechs Episoden als rätselhafte Figur lose miteinander verbindet. Samuels Großmutter gehört als Tochter aus reichem Hause zu den ewiggestrigen Monarchisten, die sich sehnlich den rumänischen König zurückwünschen, sie wird sich mit dem verhassten Sozialismus niemals abfinden können. Hannes, der glückliche Vater, als evangelischer Seelsorger dazu verdonnert, die Gastfreiheit katholischer Klöster in seinem Pfarrhaus weiterzuführen, muss sich nach der Beherbergung zweier schwuler Lehrer aus der DDR bei der verhassten Securitate verpflichten, künftig Berichte über seine jeweiligen Gäste abzuliefern. Es ist ein bunter Reigen von Figuren aus der Familie und ihrem Umfeld, über die da, vor dem Hintergrund sich wandelnder politischer Verhältnisse, von den sechziger Jahren an bis in die Umbruchjahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs berichtet wird. Die Liebe spielt dabei eine wichtige Rolle, auch die zwischen Männern, Freundschaften zerbrechen, tragische Unfälle ereignen sich. Religion, Krankheit und Tod sind ebenfalls Themen, die die Menschen permanent beschäftigen. Aber auch ein Husarenstück wie die Flucht nach Österreich in einem gestohlenen Agrarflugzeug wird erzählt.

Immer wieder sind stimmig die verschiedensten Symbole in diese Geschichte eingebaut, wird mit Metaphern verdeutlicht und komprimiert zugleich. Von der Suche nach Glück wird berichtet, welches oft in der Natur zu finden sei, aber auch im friedlichen Miteinander bescheidener, genügsamer Menschen und im unverdrossenen Neubeginn nach Enttäuschungen und Verlusten. Die ethnische Vielfalt und Vielsprachigkeit bildet dabei kein Hindernis, selbst bei Familienfeiern unterhält man sich oft wie selbstverständlich in drei verschiedenen Sprachen. Auf die Frage, wer denn in dem kleinen Dorf, in dem es «mehr Schafe als Einwohner gibt», heute noch eine einheimischer Suppe zu kochen vermag, fragt die Pfarrersfrau schnippisch zurück: «Was meinst du mit einheimisch? Schwäbisch, slowakisch, ungarisch, rumänisch, tschechisch, jüdisch oder vielleicht serbisch»? Amüsant ist auch ein Intermezzo in einer Buchhandlung, in der ein dort beschäftigter, ehemaliger Lehrer nur das Lesen von gekauften Büchern statthaft findet: «Geliehene Bücher zu lesen war wie Sex mit angelassenen Klamotten» lautete seine Erkenntnis.

Vieles wird nur angedeutet in diesem komplexen Plot, dessen Prinzip die extreme Komprimierung ist, Iris Wolff vermeidet konsequent jede Vertiefung des historischen Geschehens, Stichworte dazu müssen reichen. Ein sprachliches Kennzeichen dafür sind unter anderem die kurzen Sätze, die den Text flüssig lesbar machen und ihn zuweilen geradezu musikalisch schwingend erscheinen lassen. Bei alldem muss der Leser ständig wachsam sein, um nachvollziehen zu können, wie die einzelnen Episoden zusammenhängen, worauf das alles denn hinausläuft in diesem leisen Roman.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart