Der fremde Ferdinand

Der fremde Ferdinand war das schwarze Schaf der Familie. Er war der Faulpelz unter seinen Brüdern. Er endete als einziger seines Stammes arm und unbekannt. Und er war, zum Entsetzen seiner Verwandtschaft, auch noch schwul.

Reich, anerkannt und weltberühmt hingegen sind die Brüder Wilhelm und Jacob. Sie waren es, die sich als Brüderpaar dem Kanon anboten. Sie sind die bekannten »Brüder Grimm«.

Die »Brüder Grimm« sind ein Muss für jeden, der sich für Literatur interessiert. In gut bestückten Bibliotheken nimmt das »Deutsche Wörterbuch« in 33 schweren Bänden einen Platz mit Gebrauchsspuren ein. Die damaligen Erwerbskosten lagen, wenn ich mich richtig entsinne, weit über einem Monatsgehalt.

Inzwischen wird das Nachschlagewerk antiquarisch zu kleiner Münze gehandelt, und im Netz lässt sich längst »der digitale Grimm« gratis durchsuchen. Dabei haben Jacob und Wilhelm das Werk nicht einmal vollständig selbst diktiert, seit ihrem Tode wird das Standardwerk fortgeschrieben. Doch den Brüdern gebührt höchstes Lob für ihre gigantische Fleißarbeit, die in der Deutschen Philologie wohl einsame Spitze sein dürfte.

Als nächste Großtat stand dann die Sammlung von Nacherzählungen der Brüder Grimm unter dem Etikett »Kinder- und Hausmärchen« im Raum. Die wurden von Jacob und Wilhelm, die am liebsten daheim die Erzählungen hörten und notierten, in ursprünglichem Ausdruck und Aussage geknetet, geglättet, gebügelt und geformt, damit sie mainstreamtauglich waren.

Doch da gab es noch den unbekannten Bruder, den Pechvogel Ferdinand Grimm. Der sammelte ebenfalls Märchen. Er schrieb sie in einer ursprünglicheren, direkteren, mitunter deftigeren Art nieder und suchte seine Quellen persönlich auf. Die von ihm notierten Märchen wirken wie eine Generation dichter an der Quelle als die geglättete Version der Erstgeborenen.

Der lange als Korrektor tätige Bruder Ferdinand half den beiden Älteren beim Zusammentragen der Volksmärchen. Die unterstützen ihn dafür zeitlebens finanziell. Ferdinand Grimm stellte drei eigene Sagensammlungen zusammen und veröffentlichte sie unter den Pseudonymen Lothar, Philipp von Steinau und Friedrich Grimm.

Wer in diesen Märchen liest, wird mit einer älteren Art des Umgangs mit dem Genre Märchen und Sagen bekannt gemacht. In »Der Zauberer« beispielsweise schildert Ferdinand ebenso lapidar wie nachhaltig, wie sich in einem Städtchen die Bevölkerung langweilt: Seit Monden war keine Hexe ertränkt oder gesäckt worden, nicht einmal ein Beutelschneider gestäubt; und schon lange hatte das ganze Land einen Kriminalfall herbeigesehnt, um die tödliche Langeweile zu heben.

Da wirken Gefangennahme, Folter, Verurteilung und bevorstehende Verbrennung eines Zauberers wie ein hoher Lottogewinn. Jedenfalls hüpft die Bevölkerung bereits seit Tagen um den Holzstoß, auf dem der Zauberer ob seiner Freveltaten geröstet werden soll.

Mit dieser Ortsbeschreibung leitet Ferdinand seine packende Erzählung ein und leistet das in einer sprachlichen Qualität, die den späteren Charles Dickens vorwegnimmt. Es ist Vergnügen pur, die Karawanen der Schaulustigen vor der Stadt parken zu sehen, um sensationsgeile Touristen auszuspucken, die am Tag des großen Ereignisses die Gassen der Stadt verstopften und zu allerlei Gedränge führten.

Als dann der Pöbel aber erfährt, dass »der ungeduldige Inquisit seine Verbrennung nicht habe abwarten wollen« und mit allerlei Tricks und Kunststücken aus dem Kerker entkommen sei, entlädt sich die Volkswut und fordert, den verurteilten Zauberer sofort zu fangen und am folgenden Tag zur verschärften Verbrennung vorzubereiten. Der aber will nicht brennen und lässt die Puppen im wahrsten Wortsinn tanzen. Der Magier legt einen Tanzzauber über seine Häscher, dem letztlich der ganze Ort verfällt. – Was für eine Geschichte!

Wer literarische Märchen bevorzugt, wird vom unbekannten Bruder Ferdinand Grimm besser bedient als von den beiden Schreibtischgelehrten Jacob und Wilhelm. Die Sammlung »Der unbekannte Ferdinand« stellt sie vor, ergänzt um ein Quellenverzeichnis aus dem Nachlass des Schriftstellers. Eine umfangreiche biografische Skizze bezieht die Korrespondenz der Brüder ein.

Darin kommt auch ein Lebensabschnitt zur Sprache, in der die Brüder Grimm auf Kosten einer Tante in Kassel lebten. Diese Zeit erinnert Ferdinand, dessen Text »Tante Henriette« aus der »Mitternachtszeitung für gebildete Stände« den Band beschließt. Henriettens Kleiderschrank ist ungleich besser organisiert als ihre Bücherspinde und so wird ihr geselliges Leben und Treiben Opfer von Ferdinands genauer Beobachtungsgabe und seiner scharfen Zunge.

Jacob und Wilhelm nahmen ihm seine prallen biografischen Texte, in dem auch sie eine Rolle spielten, zeitlebens übel. Sie alimentierten ihn, gaben ihm aber keine Chance, schriftstellerisch zu reüssieren.

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Genre: Germanistik, Sagen und Fabeln
Illustrated by Die andere Bibliothek

4 Gedanken zu „Der fremde Ferdinand

  1. Wie kann man das Buch “Der fremde Ferdinand” bekommen, da es sich als vergriffen erweist.
    Ich fanke Ihnen für die Antwort

    Mariateresa Bora

    • Dankeschön, liebe Vero.

      Das Buch ist im Verlag der Anderen Bibliothek erschienen und unter ISBN 978-3-8477-2032-4 in jedem Buchladen bestellbar oder online erhältlich bei Amazon.

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