Naturparfum – Balsam für Körper, Geist und Seele

Ademi, J: Naturparfum - Balsam für Körper, Geist und Seele

Gut verständliches, schön gestaltetes Buch mit vielen Hintergrundinfos

Autorin Josephine Ademi gibt einen leicht verständlichen und fundierten Einblick in die Herstellung von Naturparfums, angereichert mit Hintergrundwissen. Sie fängt mit der Grundlage des Riechens an, der Nase. Der Geruchssinn ist ein komplexer Sinn, der uns vor Gefahren schützt. Deshalb – und das ist das Besondere – dringen Düfte fast ungefiltert und schnell ins Gehirn vor. Gerüche erhöhen aber auch die Lebensqualität. Die Riechschleimhaut fällt dadurch auf, dass sich auf einem sehr kleinen Bereich eine sehr große Menge an spezialisierten Zellen tummeln. Auf jeder Riechzelle sitzen 15-20 Riechhärchen und auf jedem dieser Härchen ca. 350 Geruchsrezeptoren. Duftmoleküle kommen als elektrischer Impuls im limbischen System an. Dort sitzt auch das Erinnerungsvermögen. Deshalb ist Erinnertes, auch Vergessenes, durch Gerüche abrufbar.

Ätherische Öle sind quasi flüssiges Gold und werden in der Naturparfümerie und im therapeutischen Bereich genutzt. Die Herstellung von reinen ätherischen Ölen ist mit viel Aufwand verbunden. Deshalb werden einige Öle teurer gehandelt als Gold. Duftstoffe werden von den Pflanzen produziert, um Insekten anzulocken. Sie dienen aber auch der Abwehr von Keinem, Pilzen und Bakterien, als Energielieferant, Informationsträger und Schutzschild vor Fressfeinden. Sie erzeugen ein für die Pflanze perfektes Mikroklima, das sie besser vor Wettereinflüssen und Temperaturschwankungen schützt.

Den Menschen dienen ätherische Öle zur Herstellung des Wohlbefindens oder zur Gesunderhaltung/Gesundung von Körper und Seele. Im körperlichen Bereich wirken sie antibakteriell, antiviral, antimykotisch, sind krampflösend, schmerzlindernd und hustenlösend. Außerdem beeinflussen sie die Verdauung, fördern die Durchblutung, wärmen und kühlen. Im psychischen Bereich können sie beruhigend (u.a. Lavendel), anregend oder stimmungsaufhellend sein. Alle Zitrusöle z.B. haben stimmungsaufhellende Eigenschaften. Baum- und Holzdüfte stärken und fördern die innere Stabilität.

Nach den o.g. Grundlagen widmet Ademi einen Teil des Buches der Darstellung der Gewinnung der Naturöle (Wasserdampfdestillation, Kaltpressung, Enfleurage-Methode, Extraktion mit Lösungsmitteln, Kohlendioxid-Extraktion, Herstellung von Resinoiden) und der Sprache der Parfümerie (angelegt als kleines Lexikon), den Duftfamilien (z.B. blumig, holzig, aromatisch, orientalisch…) und der Duftkonzentration (z.B. Eau de Fraiche, Eau de Cologne, …).

Dann gibt sie Einblicke in die Herstellung von Naturparfüms: Was bedeuten Basisnote, Herznote, Kopfnote? Wie harmonieren diese Noten miteinander in der Parfumherstellung? Welches sind die Basisstoffe für die Herstellung von Naturparfüms? Was braucht man als Zubehör?

Damit sich Leser*innen einen Überblick über die verschiedenen Düfte verschaffen können, hat Ademi 45 Portraits von gängigen ätherischen Ölen alphabetisch geordnet. Wie das ganze Buch ist auch dieser Teil optisch sehr ansprechend gestaltet und klar gegliedert, was sowohl die Übersichtlichkeit als auch das optische Wohlbefinden fördert. Die Fotos der Pflanzen oder Pflanzenbestandteile sind in Form von Öltropfen gestaltet, die zart gehaltene Hintergrundfarbe Lila entspannt. Die wichtigsten Informationen sind als eine Art Steckbrief gestaltet. Ausführlicher behandelt werden die Beschreibungen der Öle und deren psychische Wirkung. Die Symbole am Rand weisen auf die o.g. Noten hin.

Feminin? Maskulin?

Was mir persönlich nicht so gut gefällt, ist die Aufteilung in feminine und maskuline Düfte. Das verstärkt Rollenklischees. Warum soll z.B. nur das Feminine „die Zärtlichkeit und Hingabe zum Ausdruck“ bringen (S. 74)? Ich würde mir keinen Mann wünschen, der das nicht kann! Und die Rose wird automatisch der Frau zugeschrieben: „Als klassischer Vertreter der Herznote findet Rosenöl in Naturparfums vor allem in femininen Mischungen seinen Platz.“ (S. 92) Als „Duft der Liebe“ (S. 93) ist das Öl doch für alle Geschlechter geeignet! Ich persönlich mag den Duft von Sandelholz, lese aber „In Duftkompositionen eignet es sich für holzig-warme Herrendüfte mit klassischer Eleganz.“ (S. 97) Ademis Herrenduft „Fanny Voice“ habe durch die Moschuskörner „etwas Anziehendes und Animalisches“. Sieht man sich frühere Göttinnen wie u.a. Kali oder Sachmet an, gibt es da genug „Anziehendes und Animalisches“ für Frauen! Diese göttlichen Frauen waren nämlich beileibe nicht unterwürfig, zart und anschmiegsam. Kurz gesagt: Düfte an sich sind wie Farben neutral. Deshalb würde ich hier auch in Hinblick auf Transsexualität, Genderfluid, Hermaphroditen usw. eine Unterteilung in Charaktere bevorzugen. Es wird im Alltag noch genug in nur zwei Geschlechter unterteilt und Rollenklischees zementiert, obwohl die Welt seit jeher deutlich vielgestaltiger ist. Die auch in diesem Buch ausdrücklich in den Ölen propagierte Natur bevorzugt als Überlebensprinzip Diversität – warum machen wir es ihr in unserem Weltbild bis heute nicht nach? Immerhin wird Weiblichkeit nicht nur als zart definiert: „Ihr feuriges Temperament (Tuberose) ist für mutige Duftkreationen geschaffen, die Weiblichkeit und Sinnlichkeit offenbaren.“ Hier wird der ebenfalls seit jeher existierende Mut der Frauen zumindest angesprochen. Die Autorin unterteilt folgerichtig ihre Parfumkreationen zum Nachmischen in „Naturparfums für Sie und Ihn“ (S. 111). Aber immerhin gibt es auch einige Rezepte, die mit „unisex“ betitelt sind.

Als Abschluss des Buches sind 140 ätherische Öle auf einen Blick in Form einer Tabelle dargestellt, was die schnelle Auffindbarkeit erleichtert, wenn man zu diesen wichtige Informationen sucht.

Fazit

Das Buch bietet einen prägnanten Überblick über ätherische Öle und deren Verwendung in Parfums, liefert viele interessante Hintergrundinformationen, ist gut verständlich und übersichtlich geschrieben und gibt Tipps für eigene Duftkreationen. Weniger gut finde ich die Unterteilung der Düfte in „feminin“ und „maskulin“, da sie den tatsächlichen menschlichen Gegebenheiten nicht entspricht und Rollenklischees befördert. Auch wenn diese Bezeichnungen zur Parfumherstellung gehören: Ein Umdenken und Umgestalten des Systems wäre angebracht. Schließlich ist nichts in Stein gemeißelt, sondern alles eine Erfindung des Menschen, die änderbar ist. Die Diversität der Natur macht es uns seit jeher vor!


Genre: Sachbuch ätherische Öle
Illustrated by Joy Verlag

Warum du mich verlassen hast

Weniger wäre mehr gewesen

Der Debütroman von Paul Ingendaay greift mit seinem Titel «Warum du mich verlassen hast» auf die Worte von Jesus am Kreuz zurück. Ein deutlicher Hinweis auf das Milieu, in dem dieser Internats-Roman angesiedelt ist, ein katholisches Internat nämlich. Der Autor beschreibt darin eigene Erfahrungen, wie er im Nachwort erklärt. Er habe ganze siebzehn Jahre gebraucht, bis er nach der Erstfassung und nach langen Schreibpausen dann seine auf einer wahren Begebenheit beruhende Geschichte ‹in einem Rutsch› neu geschrieben habe.

In einem niederrheinischen Knaben-Internat fühlt sich der fünfzehnjährige Bücherwurm Marko sehr alleingelassen. Zwangsläufig beschäftigte er sich viel mit Gott, in der Adoleszenz gewinnt natürlich auch die «Mädchenfrage» eine immer größere Bedeutung, seine wahre Leidenschaft aber sind die Bücher, die ihm dann auch über seine gelegentlichen Nihilismus-Anfälle hinweghelfen. Leitmotivisch zieht sich Robinson Crusoe durch die Erzählung, der ja, ebenfalls alleingelassen, ähnlich gefordert war wie Marko auf seiner einsamen Internats-Insel. Dort herrscht eine strenge Ordnung, die Zöglinge werden geschlagen und gedemütigt, die rigorose religiöse Erziehung ähnelt in ihren drastischen Methoden eher einer Gehirnwäsche als der einfühlsamen Vermittlung moralischer Werte. Neben den Büchern helfen ihm nicht nur seine Kumpels über all den Frust hinweg, vor allem auch sein Religionslehrer, Bruder Gregor, ist ihm ein Mentor und unermüdlicher, literarisch kompetenter Gesprächspartner, der so gar nicht in diese Knaben-Zuchtanstalt hineinpasst. Auch bei dem unkonventionellen Hausmeister ist Marko oft zu einem Plausch, und der lässt ihn das geheimnisvolle «Buch der Ordnungen» lesen, eine Art Internats-Almanach. Als Marko erfährt, dass seine in Köln lebenden Eltern sich getrennt haben, bricht eine Welt für ihn zusammen, auch den sicheren Hafen der Familie gibt es nun nicht mehr für ihn. Bis schließlich etwas Schreckliches passiert und Marko sich moralisch verpflichtet fühlt, die arglistig vertuschte, bittere Wahrheit ans Licht zu bringen.

Paul Ingendaay hat für seinen in den 1970er Jahren angesiedelten Roman, der ja an die Internats-Geschichten von Hesse oder Musil erinnert, eine eigene Sprache gefunden, in der er seinen rebellischen Ich-Erzähler und Protagonisten reden lässt, ein konsequent durchgehaltener Jugend-Slang, wie er ähnlich auch bei Salinger zu finden ist. Vor allem aber die oft absurd komischen Gedankengänge des Helden unterscheiden den Roman von seinen großen Vorbildern und machen ihn zu einer unterhaltsamen Lektüre. Dem stehen gleichwertig allerdings ebenso viele kontemplative Abschnitte zu philosophischen Fragen gegenüber. Die werden neben vielen Bibelzitaten auch mit Zitaten von Kierkegaard bis Seneca untermauert und in funkelnden Dialogen erörtert. Der aufgeweckte und belesene Marko erweist sich dabei nicht nur als rhetorisch gewandt, er spricht gelegentlich auch den Leser direkt an und benutzt dabei oft spöttisch einen predigtartigen Ton. Er und viele der originellen Romanfiguren wirken sympathisch, und sogar der eine oder andere bigotte Erzieher zeigt manchmal, dass er eine versteckte menschliche Seite hat. Aber das bleibt die Ausnahme! «Gewalt gehört zur katholischen Kirche wie Hostie und Weihrauch» heißt es im Roman, und das ist letztendlich auch hier die bittere Erkenntnis.

Neben einem wenig dramatischen, aber stimmig bis zum Ende anhaltenden Spannungs-Bogen überzeugt dieser Roman vor allem mit seiner anschaulich beschriebenen Internats-Atmosphäre. Zu der gehören auch die Zumutungen der «Schädelstätte», wie die Zöglinge die grottenschlechte Internatsküche in ihrem Jargon verächtlich bezeichnen. Es ist letztendlich dieser juvenile Jargon, der diesen astreinen Internats-Roman zu einer ebenso amüsanten wie bereichernden Lektüre mit einigem gedanklichen Tiefgang macht. Ein deutlicher Wehrmutstropfen ist dabei allerdings seine schiere Länge, zweihundert Seiten weniger wäre mehr gewesen!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Das verlorene Paradies

Der kleine Yusuf himmelt den großen Kaufmann an, dem seine Eltern immer ein Festmahl kredenzen, wenn er, der Onkel Aziz, erscheint. Er schenkt ihm zum Abschied auch immer ein Geldstück. An anderen Tagen gibt es nicht immer etwas zu essen, seine Mutter meint, er solle doch den Staub essen, den der Holzbock hinterlässt. Richtig unangenehm wird sie ihm, als sie ihn herzt und küsst wie ein kleines Kind, er ist doch schon zwölf Jahre alt!

Er ahnt nicht, dass dies zum Abschied ist, denn am selben Tag nimmt ihn Onkel Aziz mit und er wird seine Eltern nie wieder sehen. Er lebt dann als Gehilfe von Khahil im Laden des Kaufmanns, auf dessen Grundstück.

Er wird heimisch, neben dem Haus ist ein eingemauerter Garten, (walled garden), den er besucht, dort fühlt er sich wohl und kann träumen. Eigentlich gehört der Garten der Mistress, der Ehefrau des Kaufmanns, die er aber nie zu Gesicht bekommt. Khalil deutet an, dass er dieser gut gefalle, wie überhaupt: alle Männer und Frauen werden immer und überall Yusufs Schönheit betonen.

Es ist die Männerwelt von vor einhundertundfünfzig Jahren in Tanganjika, in der er zum Mann werden wird. Seine Vorbilder werden neben Onkel Aziz und Khalil die anderen Männer der Handelstruppe, mit der der Kaufmann das tansanische Festland bereist, um seine Geschäfte zu machen.

Bei der nächsten Reise wird er mitgenommen. Er teilt mit den Männern Freud und Leid, Tage und Nächte. Er lernt die Rangordnungen respektieren, die in der multikulturellen Truppe herrschen, auch die derben Schimpfwörter, meist mit phallischen Bezügen, mit denen die jeweils anderen tituliert werden. Dabei bleibt er immer der aufmerksame Jüngling, der die Welt noch etwas besser verstehen lernt.

Einige Jahre bleibt er in der Familie eines Kaufmanns, der erschrocken ist, dass er den Koran noch nicht gelesen hat, also besucht er eine Koranschule und lernt dazu. Bei der nächsten großen Reise in das Innere des Landes wird er, nun groß geworden, mitgenommen. Onkel Aziz ist stolz auf ihn und erzählt von der Geschichte des Handels in Ostafrika, von den Omani, den Indern und dass die neuen, die europäischen, die gefährlichsten Konkurrenten sind. Irgendwann sagt einer der Männer: „Die Europäer sind aus dem gleichen Grund hier wie wir.“ So kommt es denn auch: Diese Reise wird ein Fiasko, keines der erhofften Erlöse wird eingebracht. Lug und Betrug und viel Gewalt mit ungleichen Waffen bedrohen das Wohlleben des Kaufmanns.

Zurück im Hain der Sehnsucht, so der Titel des Kapitels, kann Yusuf die Wirklichkeit erkennen: Sein Vater musste ihn dem „Onkel Aziz“ als Pfand für Schulden überlassen, so wie auch Khalil, und dessen Schwester Amina, die die Magd der Mistress ist, Schulden ihrer Väter begleichen mussten.

Sie ist die einzige weibliche Person mit Verstand. Doch auch sie lässt der Autor sagen, dass der Kaufmann weiß, dass Frauen die Hölle sind. Yusuf träumt lieber, er möchte fliehen, gerne mit Amina. Denn in dieser harten Welt der Männerfantasien hat er sich seine Unschuld erhalten. Aber die Geschichte wendet sich: Nichts bleibt, die Deutschen kommen.

Ich habe das Buch auf Englisch gelesen, die Sprache ist so schön, dass selbst Muttersprachler neidisch werden könnten. Yusuf erzählt in herrlichen Bildern von der Natur, den Begegnungen, die sie auf der Reise machte. Es gibt treffende Dialoge, wenn Männer reden. Leider, außer bei Amina, nie, wenn Frauen reden.

Die Übersetzung ist gelungen, bei der vorliegenden Ausgabe gibt es ein Glossar für die vielen Fremdwörter in Kiswahili und Arabisch, auch einiges aus den Religionen wird erläutert. Dazu eine kurze „Editorische Notiz“, die erläutert, wie wichtig es ist, die abfälligen Bemerkungen über die jeweils anderen auch noch heute zu verwenden.

Im Englischen ist der Titel schlicht: Paradise, im Deutschen: Das verlorene Paradies. Glaubte die Übersetzerin wirklich, dass das Leben damals ein Paradies war, das nun verloren ist? Es war der doch eher der Traum von einem Paradies, und das hat der Autor treffend ausgedrückt mit einfach: “Paradise“.


Genre: Gesellschaftsroman
Illustrated by Penguin

Mit Büchern das gefrorene Meer der Zeit löchern – 222 Lesetipps, mit 11 Verrissen

Bild 1 - Ruprecht Frieling / Mit Büchern das gefrorene Meer der Zeit löchernNavigationssystem in Form von Rezis

Verleger, Autor und Journalist Ruprecht Frieling bleibt auch in diesem Buch seinem Lieblingsthema treu: den Ratgebern. Im Buch tummeln sich viele Arten von Büchern, liebevoll verpackt in Frielings angenehm zu lesende Rezensionen. Er gibt den Leser*innen sozusagen ein Rezensionsnavigationssystem an die Hand, das sie sicher durch das weite, unendliche Büchermeer leiten soll. Das hat er bei mir geschafft: Ich weiß jetzt, welche der vorgestellten Bücher ich definitiv nicht lesen will, und das ist ein großer Erfolg. Das spart mir Geld und Zeit bei Büchern, von denen ich sonst erst im Nachhinein herausgefunden hätte, dass sie für mich nichts sind. Andererseits habe ich auch Bücher entdeckt, die mich interessieren könnten. Denn eins ist sicher: Es gibt Bücher für jeden Geschmack.

Des Autors Geschmack scheint mir in Richtung gebrochener und/oder interessant-schrulliger Charaktere zu gehen, die gern einmal den Antihelden geben, sich auflehnen, im Lebenssumpf versacken oder das Leben überraschend anders sehen bzw. leben. Ein großer Teil seiner Rezensionen in den verschiedenen Genres geht in diese Richtung, deswegen unterstelle ich jetzt einmal eine Vorliebe dafür. Ich kann nicht anders, beim Lesen dieser Rezensionen hatte ich automatisch ein Gefühl von Sex, Drugs & Rock’n’Roll. Wer also mit diesen Themen schwingt, der wird bestens und – weil Frieling bei all seinen Rezensionen Wert auf ordentliche Recherche legt – fundiert bedient. Was jetzt nicht heißt, dass er diesen Lebensstil selbst pflegt, sondern nur, dass – egal, welches Sujet er unter die Lupe nimmt – er merkbar Weltwissen und Recherchearbeit an den Tag legt, um gute Rezis zu schreiben. Sein Hintergrundwissen, das er regelmäßig einfließen lässt, ist interessant und hilfreich bei der Einordung des jeweiligen Buches. Sein wie schon erwähnt angenehm zu lesender, flüssiger Schreibstil lässt die Leser*innen sanft in die Rezension gleiten. Man taucht in das Buch und in die jeweilige Kritik ein und ist überrascht, wie schnell selbst mehrseitige Rezensionen gelesen sind.

Ich persönlich kann allerdings mit Themen, die sich um Gewalt und destruktives Verhalten drehen, wenig bis nichts anfangen. Ich habe mich im Gegenteil eher an meine gehasste Schullektüre erinnert gefühlt, die ich nur wegen Notenzwangs gelesen habe. Mein ansonsten angeregtes Dasein als Bücherwurm kam bei solcher Lektüre regelmäßig ins Stocken. Ich konnte auch im Germanistik-Studium u.a. Kafka nicht leiden, weil er mich viel zu sehr an meine Alpträume erinnerte. Kafka als Mensch hingegen fand ich interessant.

Männersicht und Frauensicht

Außerdem betrachte ich diese Art der Lektüre aus der Sicht der kritischen Frau und stelle fest, dass sie v.a. aus männlicher Sicht geschrieben ist (Ausnahme z.B. Uschi Obermayers Biografie, die ebenfalls im Buch rezensiert wird). Mir behagt sowohl die Sexualisierung der Frau, die Liebe unter schlimmsten Umständen als auch der z.T. ausufernde Gewaltaspekt dieser Literatur nicht, v.a. wenn die Frauen darunter zu leiden haben und wieder einmal der Opferaspekt in vielerlei Gestalt mit dem weiblichen Geschlecht verbunden wird. Das schadet einem vielfältigen und starken Frauenbild, denn Frauen in der Realität sind alles andere als schwach, sondern durch die (leider ignorierte und wenig wertgeschätzte tagtägliche Superwoman-Mehrbelastung) Fundament und die tragenden Säulen der Gesellschaft.

Mir kommt dazu eine neulich erst geschaute Doku über Filmemacherin Alice Guy in den Sinn. Diese Frau war Pionierin in der Filmwelt – und hat bis zum Ende ihres Lebens dagegen gekämpft, dass Männer Guys überragenden Anteil an der Filmgeschichte ausradieren wollten. Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Alice_Guy-Blach%C3%A9 In einem ihrer Filme zeigt Guy Auswanderer, deren Verhaltensweisen sie in Amerika beobachtet hatte. Die Männer gehen völlig unbelastet in das neue Land, während ihre Frauen alle Lasten des Haushalts im wahrsten Sinne des Wortes am ganzen Körper schleppen müssen. Ein verärgerter Polizist drückt daraufhin den männlichen Auswanderern die Lasten der Frauen in die Arme. Diese tagtägliche nicht anerkannte Mehrbelastung ist auch heute noch traurige Realität.

Mir gefallen auch die oft und gern ausgelebten destruktiven Verhaltensweisen der vorwiegend männlichen Protagonisten nicht. Als jemand, der selbst einen Alkoholiker in der Familie hat und als Freundin und Bekannte von Frauen, die coabhängig in einem gewalttätigen Alkoholikerhaushalt aufgewachsen sind, hat das Lesen über eine süchtige, männliche Person zumindest ein deutliches Geschmäckle – um einmal vorsichtig auszudrücken, was für Gefühle da hochkommen können. Ich persönlich will auch keine „scharfe“ Braut sein. Die Konsequenzen für eine solche Einschätzung kann ich mir nicht nur lebhaft vorstellen, man sieht und merkt sie ja auch im Alltag. Ich verzichte dankend darauf.

Es ist mir bis heute ein Rätsel, weshalb solche Literatur mit ausführlich dargestellten destruktiven Verhaltensweisen in allen Formen als hochwertiger gelten soll als die oft genug verachtete und im besten Fall milde belächelte sogenannte „Frauenliteratur“, die bei näherer Betrachtung soziale Werte hochhält, ohne die eine Gesellschaft nicht bestehen kann. Auf destruktive Verhaltensweisen dagegen kann sie gut verzichten. Gut wenigstens, dass manche Bücher solchen Destruktivismus zumindest kritisch darstellen. Liebe in all ihren positiven Aspekten ist in „Frauenliteratur“ ein gern genommenes Thema, ebenso Freundschaft und die Kritik an der Stellung der Frau (z.B. in historischen Romanen). Eigentlich kann ich Männern nur raten, „Frauenliteratur“ zu lesen, wenn die Welt sozialer werden soll. Und in der „Frauenliteratur“ steht übrigens auch drin, welchen Typ Mann Frauen bevorzugen. Und das ist definitiv nicht der versiffte, Alkohol trinkende, Drogen konsumierende, sich mit gefühllosem Sex ablenkende Mann, der völlig am Boden und bindungsunfähig ist, und den die Konsequenzen seiner Süchte regelmäßig einholen. Dementsprechend wenig kann ich mit einer „grandiosen Symphonie aus Alkohol- und Drogensucht“ anfangen (S. 391). Interessant finde ich auch, dass der Autor Elsa Riegers Roman explizit als „Frauenroman“ deklariert – all die anderen aus männlicher Sicht und von männlichen Autoren geschriebenen Bücher sind dagegen leider nicht als „Männerroman“ ausgewiesen. Warum nicht? Es wäre nur konsequent. Die männliche Sicht ist also auch hier (ich denke eher unbewusst, weil man(n) in dieser Gesellschaft eher nicht darüber nachdenken muss) die „normale“, die weibliche die außenstehende und „andere“. Als weibliche Leserin befremdet es mich natürlich, nicht das „Normale“ zu sein. Aber Frieling schafft es immerhin, diese „Frauenliteratur“ auch für Männer schmackhaft zu machen, indem er auf die für männliche Leser interessanten Aspekte hinweist.

Demensprechend fehlt mir bzgl. der Rezensionen ein guter Anteil an Literatur, die aus Frauensicht geschrieben ist. Die gibt es zwar auch, aber die aus männlicher Sicht ist in der Überzahl, vielleicht auch, weil der Autor selbst ein Mann ist? Mir fehlen ebenfalls Rezis zu Kinderbüchern, von denen ich weiß, dass der Autor auch diese rezensiert. Die sind ja nicht nur für die Mütter, sondern auch für die Väter interessant. Aber zur Ehrenrettung sei gesagt, dass man ja automatisch zu der Literatur greift, mit der man sich besser identifizieren kann; mir geht es da nicht anders.

Political Correctness

Des Weiteren teile ich die Einstellung des Autors zu Political Correctness nicht, von der dieser anscheinend wenig hält (s. Rezension zu Thaddäus Troll: Sehnsucht nach Nebudistan). Als Weiße haben wir im wahrsten Sinn des Wortes gut lachen. Wir sind in der privilegierten Rolle, v.a. als weißer Mann. Auch wenn bei vielen von uns der Rassismus unbewusst passiert, sollte man sich vielleicht gerade deswegen folgendes vor Augen halten: Wir müssen uns nicht ständig mit oft auch unmittelbar gefährlichem (Alltags-)Rassismus rumschlagen und all dem, was damit historisch und gegenwärtig zusammenhängt. Ich denke, ich brauche nicht aufzuzählen, um was es da alles geht; das ist hinreichend bekannt.

Ein Experiment in diesem Zusammenhang finde ich interessant: Weiße Arbeitnehmer (männlich) sollten sich in eine vorgegebene Rolle versetzen, die sie aus einem Lostopf gezogen haben. Immer dann, wenn sie sich in dieser Rolle eine alltägliche Sache trauten, gingen sie ein Stück vor. Es ging grob um Dinge wie „Du bist ein afghanischer Flüchtling. Traust du dich nachts in einen Bus zu steigen?.“ oder „Du bist eine Deutsche mit afrikanischen Wurzeln. Immer wieder fassen Leute ungefragt in dein krauses Haar. Wie reagierst du?“ oder „Du bist ein hervorragend ausgebildeter Deutscher mit dem Aussehen eines Romas. Welche Chancen rechnest du dir auf einen Posten in der Chefetage eines bekannten Unternehmens aus?“ Die wenigen, die am weitesten Strecke machen konnten, waren in diesem Experiment diejenigen, die die Rolle des weißen, männlichen Deutschen innenhatten.

Anders ausgedrückt: Der weiße Mann hat die meisten Privilegien, über die er oft nicht nachdenkt, sondern einfach nutzt. Die meisten anderen aber (darunter natürlich auch über die Hälfte der Menschheit, sprich: die Frauen) haben diese Privilegien eben nicht. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, bevor man(n) sich über Political Correctness lustig macht. Besonders, da Sprache Welt nicht nur abbildet, sondern herausbildet. (So nebenbei erwähnt sind die indogermanischen Sprachformen voll vom Weltbild des Patriarchats.) Wenn ich mich in Anbetracht all dessen also in die Rolle eines z.B. schwarzhäutigen Menschen, v.a. einer schwarzhäutigen Frau, hineindenke, würde ich definitiv nicht als „Neger“ (gewollte Abwertung) bezeichnet werden wollen und gern „Mohrenküsse“ (automatisches Assoziieren der zahllosen Vergewaltigungen der schwarzhäutigen Sklavinnen) essen. Außerdem habe ich Menschen in meiner Familie, die wie „Zigeuner“ oder „Asiaten“ aussehen. Dumme Sprüche inklusive.

Zu diesem Thema empfehle ich übrigens wärmstens das folgende tolle kurz-prägnante Video: https://wdrmedien-a.akamaihd.net/medp/podcast/weltweit/fsk0/234/2340656/neuneinhalbdeinereporter_2021-01-16_alltagsrassismuswennworteausgrenzen_daserste.mp4

Der Verlag hat es außerdem versäumt, die vielen Tippfehler herauszuholen. Weil ich selbst schreibe, weiß ich, dass man den Wald vor lauter Bäumen bei den eigenen Texten oft nicht sieht. Dankenswerterweise bin ich auch auf dieser Seite darauf hingeweisen worden. Deshalb ist es immer gut, wenn jemand anderes Korrektur liest.

Weitere Themen

Dafür habe ich mich umso mehr über die Rezensionen im Bereich Phantastische Literatur und Science-Fiction gefreut, denn sie bieten für mich als Fan neue Leseanreize. Gern hätte ich noch mehr Rezensionen aus Frielings Feder aus diesem Bereich gelesen; also, lieber Prinz Rupi, ein klarer Leseauftrag an dich! Interessant fand ich auch die Leseanreize aus dem Bereich Sprache und Literatur, da mich die Meta-Ebene als Germanistin naturgemäß interessiert. Überhaupt deckt Frieling ein breites Spektrum an Genres ab. Sein Buch ist unterteilt in „Romane“, „Underground und Szene“, „Satire und Humor“, „Kriminalliteratur“, „Fantastische Literatur“, „New Journalism“, „Sprache und Literatur“, „Liebesromane“, „Science-Fiction“, „Biografisches“, „Erfahrungen“, „Sachbuch“, „Verrisse“.

Nicht nur nebenbei ist mir aufgefallen, dass der Autor anscheinend Schnapszahlen mag: 222 Lesetipps bietet das Buch und 11 Verrisse. Mit Humor geht alles besser, und der 11.11. ist wegen Fasching sowieso allen ein Begriff. Dementsprechend gibt es neben den Dramen in allerlei Gestalt auch Rezensionen zu (tragi)komischen Büchern.

Fazit

Der Autor präsentiert mit seinen 222 Lesetipps ein breites Spektrum an Rezensionen, die kurzweilig zu lesen sind und durch viele Hintergrundinfos abrundendes Wissen zu den vorgestellten Büchern vermitteln. Sie funktionieren sehr gut als Navigationssystem durch das endlose Büchermeer. Allerdings hätte ich mir mehr Bücher aus Frauensicht und aus der Feder von Autorinnen gewünscht, sowie ein Nachdenken über (sich in die betroffenen Personen hineinversetzende Sichtweise zum Thema) Political Correctness.


Genre: Rezensionen
Illustrated by Antheum Kultur

Der andere Ort

So what?

In Form eines Briefromans hat die kanadisch-britische Schriftstellerin Rachel Cusk mit «Der andere Ort» die Seelenpein einer alternden Frau beschrieben, die in einer Art Torschluss-Panik versucht, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben. Als Vorlage für ihre Geschichte, erfährt man in der Nachschrift, diente der unerquickliche Besuch von H. D. Laurence in der von Mabel Dodge Luhan gegründeten Künstlerkolonie in Taos, New Mexico, sie habe nur den Poeten durch einen Maler ersetzt.

Prompt heißt dieser Maler im Roman L, die Erzählerin heißt M, und der Bericht, den sie als eine Art Lebensbeichte schreibt, ist an einen gewissen Jeffers gerichtet, für den der Dichter Robinson Jeffers, ein Freund der M. D. Luhan, Pate stand. «Ich habe dir einmal erzählt, Jeffers, wie ich in einem Zug ab Paris den Teufel getroffen habe», lautet der erste Satz. Die fünfzigjährige M lebt mit ihrem zweiten Mann Tony auf einem Ufergrundstück in einer abgelegenen Küstenregion Englands. Bei einer Ausstellung in Paris hatte sie ein Gemälde von L gesehen und war fasziniert von dessen Wirkung, sie fühlte sich sehr direkt angesprochen. Erst nach mehreren Absagen folgt der berühmte Maler schließlich ihrer Einladung zu einem längeren Arbeits-Aufenthalt, die landschaftlich reizvolle Küste bietet ja reichlich Motive. Überraschend bringt L seine attraktive, junge Geliebte mit. Die Beiden werden im separaten Gästehaus untergebracht, wo L, der sich in einer Schaffenskrise befindet, ideale Bedingungen zum Malen vorfindet. Auffallend distanziert vermeidet er jedoch den Kontakt mit M, bleibt ihr gegenüber äußerst wortkarg. Auch Tony, der ausgeglichene, in sich ruhende Mann von M, ein pragmatischer Vernunftmensch, wird nicht richtig warm mit ihm. Geradezu provokant wirkt die lebenslustige Geliebte auf M, deren blühende Jugend ihr, verglichen mit ihrem eigenen, von unübersehbarem Verfall gezeichneten Alter, erschreckend bewusst wird. Das psychologisch komplexe Figuren-Ensemble wird schließlich noch mit der Ankunft der Tochter von M und deren schnöseligem Freund erweitert und stürzt die Ich-Erzählerin in zusätzliche Zweifel.

Rachel Cusk deutet die demütigende Abneigung des Malers seiner Gastgeberin gegenüber als völligen Mangel an «Moral und Pflichtgefühl», ihm fehle schlicht der Sinn dafür. «Mit dem Konzept der Verpflichtung konnte er einfach nichts anfangen. Vor allem das war es, was mich zu ihm hinzog, auch wenn mir klar war, dass er keinerlei Anziehung verspürte und das Ganze nur in einer Katastrophe enden konnte». Die Zweifel an ihrer Ehe und letztendlich auch an ihrem Leben kommen zum Ausdruck, wenn M sinniert: «Ach Tony, sagte ich in meinem Herzen, verrate mir, was wahr ist. Ist es falsch, zu wollen, was du mir nicht geben kannst? Mache ich mir etwas vor, wenn ich glaube, dass es richtig ist, mit dir zusammen zu sein, nur weil es so einfach und so schön ist?»

Das Leben sei «mehr Ringen als Tanzen» wird am Ende – fälschlich – Nietzsche mit einem Ausspruch von Marc Aurel zitiert. Und genau das wird hier auf eindrucksvolle Weise literarisch verdeutlicht durch den Kampf gegen die in M geweckten, inneren Dämonen. Mit denen ist die Protagonistin plötzlich konfrontiert, sie haben den Glauben an ihre erotische Anziehungskraft  nachhaltig zerstört und sogar existentielle Zweifel bei ihr ausgelöst. Der psychologisch dichte Roman hat im Wesentlichen diesen verzweifelten inneren Kampf seiner Heldin zum Gegenstand, und so dreht sich denn der weitgehend ereignislose Plot nur um ihre aus den Fugen geratene, feminine Selbstgewissheit. Ist der egozentrische Malerfürst, der sie grausamer Weise auch nicht malen will, also der Satan in Person? Als das «erbarmungslos intelligente Porträt des Älterwerdens» hat die Autorin selbst ihren Briefroman bezeichnet. All die toxischen Fragen, die er in vielen Varianten unentwegt aufwirft, werden mit oft ins Profane abgleitendem Gefasel wenig überzeugend beantwortet. So what? fragt man sich ziemlich frustriert als Leser!

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Der Zauberer

Porträt eines Großschriftstellers

Mit dem neuen, lang geplanten Roman «Der Zauberer» hat der irische Schriftsteller Colm Tóibín der Lichtgestalt Thomas Mann literarisch ein weiteres Denkmal gesetzt, indem er dessen Vita als Roman erzählt, also fiktional ausgeschmückt und in unterhaltsamer Form. Vieles davon dürfte dem Lesepublikum bekannt sein, die entsprechenden Veröffentlichungen jedenfalls sind Legion. Das reicht von dem prächtigen Bildband «Heller Zauber» über seine Münchner Jahre bis hin zur amüsanten Erzählung «Königsallee», in der eine Lesung des «Felix Krull» in Düsseldorf satirisch geschildert wird. Als vollständige Biografie in Romanform dürfte dieses Buch allenfalls für all jene interessant sein, die nur wenig über den Nobelpreisträger von 1929 wissen.

Früher Erfolg 1901 mit den «Buddenbrooks», Umzug aus der Heimatstadt Lübeck nach München, Hochzeit ebendort mit Katja Pringsheim, Riesenerfolg mit «Der Zauberberg», Nobelpreis, Flucht ins Exil, Übersiedlung in die USA, missglückte Rückkehr nach dem Krieg, Alterssitz am Zürichsee. Das sind die wichtigsten Eckdaten aus der Vita dieses «Großschriftstellers», wie Brecht ihn tituliert hat, denen dieser Künstler-Roman, mit nur wenigen Rückblenden, chronologisch folgt. In der ersten Hälfte schildert der Autor die Lebens-Stationen des Romanciers ziemlich nüchtern und nahe an den Fakten. Fiktional deutlich mehr ausgeschmückt und für den Leser damit auch unterhaltsamer wird es dann in der zweiten Hälfte des Romans, wo die Familie mehr in den Vordergrund gerückt ist. Und allein diese Familie mit der brasilianischen Großmutter und dem früh verstorbenen Lübecker Senator, dem sechsfachen Kindersegen der Manns und den diversen Enkeln gäbe genug Stoff her für einen Roman. Der Dauerzwist zwischen TM und seinem Bruder Heinrich, die ‹schwierigen›, unkonventionellen ältesten Kinder Klaus und Erika, allesamt ebenfalls schriftstellerisch tätig, bieten jedenfalls genügend erzählerisches Material. Das nutzt Colm Tóibín fiktional denn auch reichlich für funkelnde und oft amüsante Dialoge seiner intellektuellen Protagonisten, allen voran die aus dem Munde der lebensklugen und schlagfertigen Katja, die letztendlich alles zusammenhält.

Man könnte denken, so wie es der Roman schildert, muss es gewesen sein, derart nahtlos und scheinbar stimmig wird hier eine interessante Lebensgeschichte erzählt. Dominantes Charakteristikum des Helden ist seine schon in der Jugend erkennbare Selbstbefasstheit, die auch der Roman deutlich aufzeigt. Aber der Autor setzt darüber hinaus erzählerisch Akzente, die denn doch fragwürdig erscheinen. Dazu zählt insbesondere die latente Homosexualität von TM, die einen viel zu breiten Raum einnimmt. Demgegenüber wird die literarische Seite dieses Schriftstellers geradezu stiefmütterlich behandelt, vor allem was sein Werk anbelangt, aber auch den Austausch mit schreibenden Kollegen. Hier werden stattdessen nur ständig Äußerlichkeiten wie das geradezu sakrosankte Arbeitszimmer beschrieben. Auch die politische Seite von TM, der lange zögernd sich erst spät gegen die Nazis gestellt hat, kommt hier entschieden zu kurz.

Es ist sicher ein kühnes Unterfangen, einen so herausgehobenen deutschen Schriftsteller für eine englischsprachige Leserschaft porträtieren zu wollen, die allenfalls rudimentär vertraut ist mit den Hintergründen. Mit der hanseatischen Herkunft also, dem Bruderzwist oder den politischen Bedrängnissen, während der Nazidiktatur wie auch im geteilten Deutschland. Aber wen wundert’s, es geht deutschen Lesern ja oft nicht anders mit dem lückenhaften Verständnis-Hintergrund für typische Werke der englischen Literatur! Der Buchtitel bezieht sich auf den Spitznamen, den die Kinder ihm gegeben haben, weil er sie bei Tisch oft mit Zaubereien verblüfft hat. Dass TM auch literarisch gezaubert hat, kommt hier allerdings deutlich zu kurz. Er solle Emotionen transportieren, hat Colm Tóibín über seinen Roman gesagt, und das zumindest ist ihm denn auch gelungen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Die Lösung ist immer der beste Fehler: Typische Probleme der Kommunikation im Alltag

Das kleine Büchlein ist 2021 erschienen, zum 100. Geburtstag des Autors. Es ist eine Wiedergabe eines 1995 gehaltenen Vortrags, und schon darin besteht ein Reiz: Watzlawick nimmt Beispiele von gelungener Kommunikation auf weltpolitischer Ebene aus dieser Gegenwart: damals, als der eiserne Vorhang am Verrosten war.

Er erläutert die Theorie des Konstruktivismus mit Beispielen für Kommunikation, gerne mit nicht-gelungener. Erst einmal wird festgehalten, dass man nicht nicht kommunizieren kann; wenn zwei Menschen in einem Raum sind, ist auch das Schweigen Kommunikation.

Mich sprachen besonders die Zitate bekannter Denker an, etwa Einstein (1926): „Es ist falsch anzunehmen, dass die Theorie sich auf Beobachtungen aufbaut. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall: Die Theorie bestimmt, was wir beobachten können.“

Typische Aspekte problematischer Kommunikation werden dargestellt, etwa wenn die Firma Rolls-Royce ein Auto Silver Mist nennt und damit in deutschsprachigen Ländern aneckte, oder wenn in einem Feine Leute-Club in Südamerika die Treppe ein höheres Geländer braucht, nachdem erwachsene Männer heruntergestürzt waren: Die als richtig empfundenen Abstände beim Gespräch sind bei Südamerikanern größer als bei denen aus dem Norden des Kontinents: Sie wichen zurück und stürzten, ironisch warnt Watzlawick davor, dass für eine kulturspezifische Todessehnsucht zu halten.

Sein großer Erfahrungsschatz ist ihm in seiner Arbeit als systemischer Psychotherapeut zugewachsen, dazu gibt es Beispiele, wie in einem Beratungsgespräch Klienten verblüfft werden können.

Wir lernen, was Konfusionstechnik und was die Illusion der Alternativen ist: In der Nazizeit wurden von der Regierung große Plakate gedruckt mit: Nationalsozialismus oder Bolschewismus. Widerständler hatten sie mit Aufklebern versehen: Erdäpfel oder Kartoffeln. Und wir verstehen, warum US-Soldaten im Ersten Weltkrieg die englischen Girls für Schlampen hielten, während sie selbst bei denen als Lüstlinge galten …

Beim systemischen Denken wird die Veränderbarkeit von Ursachen im Laufe eines Prozesses beachtet und wie sich Wirkungen auf die Ursache auswirken.

Als Ergebnis von Kommunikation kommt es zu Wirklichkeitsauffassungen, „von denen wir alle naiverweise annehmen, dass sie die wahren, richtigen, objektiv ewig gültigen sind.“

Im Schlusssatz des kleinen, lesenswerten Büchleins entwickelt Watzlawick die Titelthese zu: Die Wahrheit ist nur der zweckmäßigste Irrtum. Stimmt doch, oder?


Genre: Beziehungen, Glück, Kommunikation, Psychologie
Illustrated by Carl-Auer Verlag

Batman – Krieg dem Verbrechen

Batman – Krieg dem Verbrechen. Nicht nur die XL-Maße (26 x 36 cm) dieses Xtra-vaganten Batman-Abenteuers haben es in sich. Autor Paul Dini und Zeichner Alex Ross haben eine preisgekrönte Interpretation des Dark Knight Mythos geschaffen, das sich gegen andere wie die Sixtinische Kapelle ausnimmt. Einblicke in die Straßenschlachten Gotham Citys und die Schöpfungsgeschichte des wohl umstrittensten Verbrechensbekämpfers des 20. Jahrhunderts. Eine Hommage.

Batman – Krieg dem Verbrechen mit der Aura der Angst

Bruce Wayne ist seit der Ermordung seiner Eltern dazu verdammt, zwei Leben zu führen. Einerseits das des reichsten und einflussreichsten Mannes von Gotham City und andererseits das von Batman, des dunklen Schergen, der eine Maske trägt, wie seine größten Widersacher. “Ein Wesen, das in den Schatten lebt und offenbar unmenschliche Kräfte besitzt. Fantasie und Aberglaube machten ihn zu einem Geschöpf, das man meidet.“, schreibt Paul Dini. Die “Aura der Angst” die ihn umgibt, ist auch sein Schutz, denn allzu freundlich darf er auch nicht zu jenen sein, die er eigentlich beschützt. Genauso als Bruce Wayne: auch diese seine andere Identität ist dazu verdammt, auf allzu enge soziale Beziehungen zu verzichten. Bruce Wayne benutzt öffentliche Events als Informationsquelle: “eine Arena, um Kontakte herzustellen, die mir helfen, andere Schlachten zu gewinnen“. Wenn er wirklich zu dem geworden wäre, als was andere ihn sehen? Er sich von Verführungen hätte verlocken lassen? Natürlich sehnt auch er sich nach Stabilität, Sicherheit, Familie, allein, es ihm ein anderes Schicksal beschieden.

Arena der traumatischen Identitäten

Im ehemaligen Bayside Industriegebiet von Gotham City sollen neue Wohnhäuser und Geschäfte entstehen, um die Gegend aufzuwerten. Der soziale Brennpunkt soll damit der Vergangenheit angehören und einige Multimillionäre noch reicher machen. Einer der Investoren heißt Randall Winters und wird sowohl für Bruce Wayne als auch Batman zum Gegenspieler in einem großformatigen, im frühen Zeichenstil der Batman-Geschichten gehaltenen Abenteuer. Der kleine Marcus, der Batman mit einer Waffe bedroht ist gerade in dem Alter, in dem Bruce Wayne seine Eltern verlor. Aber er hat kein Familienimperium hinter sich. Seine Welt ist die der Gangs und Verbrechen. Denn sie bieten ihm Arbeit und Schutz. Genauso wenig wie Bruce kann auch Marcus irgendjemand seine Eltern zurückbringen. Aber er kann sich entscheiden zu dem zu werden, das ihre Familien getötet hat oder zu dem, was sie schützt. “Wenn ich ein Kind zurückgewinnen kann, gibt es auch Hoffnung für andere“, resümiert Batman, denn er weiß, gegen das Verbrechen ist auch er machtlos. Aber jeder Tag ist eine neue Herausforderung und auch kleine Siege führen zum Ende des Krieges. Vorläufig.

Alex Ross/Paul Dini
Batman – Krieg dem Verbrechen
(Original Storys: Batman: War On Crime)
2021, Hardcover, 76 Seiten, Maße ca. 26 x 36 cm.
ISBN: 9783741623394
27,00 €
Panini


Genre: Batman, Biographie, Comics, Graphic Novel
Illustrated by Panini Comics

Triest für Fortgeschrittene

Triest für Fortgeschrittene. Die “südlichste Stadt des Nordens“, war und ist ein Freihafen, der immer schon Venezianer, Griechen, Slowenen, Serben, Juden, Armenier und Norddeutsche sowie allerhand “Abenteurer, Hochstapler und Parvenüs, Künstler, Dichter, Philosophen und Intellektuelle” anzog, schreiben die Autoren, wobei Bernard eher die Texte und Desrues eher die Fotos beisteuerte.

K.u.k. Freihafen Triest

Der Hafen ist auch heute noch der größte Arbeitgeber der Stadt und anscheinend sogar der größte Hafen Italiens unter den zehn bedeutendsten Europas. Der historische “Alte Hafen” wurde kürzlich wieder eröffnet und steht Radfahrern, Joggern und Touristen offen. Die dortige Hydrodynamische Zentrale, die einst die Aufzüge und Kräne antrieb, ist sogar in “giallo Austria“, also dem berühmten Schönbrunn-Gelb gehalten. Bis 1988 stand sie Tag und Nacht in Betrieb und kann heute als Beispiel für eine Ruine des Industriezeitalters besichtigt werden. Aber der Alte Hafen (“porto vecchio“) hat heute wieder eine blendende Zukunft: Museen sollen dort angesiedelt werden, die auch die Geschichte der und des Vertriebenen erzählen werden. Das kleine Wahrzeichen des Hafens, der Kran Ursus, “la nostra piccola torre Eiffel“, wurde durch die Bora sogar einmal auf’s Meer hinausgetrieben, aber wieder eingefangen. Heute steht er wieder fest im Ponton verankert als Wahrzeichen für eine prosperierende Zukunft Triests.

Triest für Fortgeschrittene

Die Bora bringt uns auch zu einem weiteren wichtigen Charakteristikum der Stadt: erstens sie liegt am Meer und zweitens es bläst ständig ein Wind. Die Bora entsteht durch die Mischung der warmen Luft des Landesinneren mit jener kalten des Meeres. Sie bläst teilweise über 100km/h und es wird geraten, sich anzuhalten. Wer etwa den Hausberg Triests besteigt, wird dankbar über die eisernen Handläufe sein, die an den dortigen Häusern angebracht sind. Aber man kann auch die Tramway nach Opicina nehmen, die einzige der Welt, die auf einen Berg und gleichzeitig in ein anderes Land führt. Wer lieber in die andere Richtung geht oder fährt, landet auf einem der Badeplätze Triests, denn genau diese Stadt ohne Sandstrand war es, die erstmals 1824 das Baden im Meer institutionalisierte, so die Autoren.

Insidertipps für Triestliebhaber

Neben Tipps für Fischrestaurants und den besten Badeplätzen, wartet der vorliegende intelligente Reiseführer auch mit eigenen Kapiteln zum Triestiner Dialekt, der Fauna und Flora, Buschenschanken und Buffets, Märkte, Kaffee, Habsburger, Museen und Übernachtungsmöglichkeiten auf. Als Appetitanreger und Einführung in das Triester Leben und seine Geschichte und Kultur empfehle ich das Kapitel “Die Blaue Tram” über die Strassenbahnlinie 2 nach Opicina. Obwohl die Tram 2016 wegen eines Unfalls eingestellt wurde, zeigt diese Erzählung alles das, was Triest den Besucherinnen und Besuchern zu bieten hat. 2022 soll sie ohnehin wiedereröffnet werden und so wird auch eine der spektakulärsten Aussichten auf Triest und das Hafenbecken wieder ermöglicht. Wer also von Triest mehr als nur die prächtige Piazza dell’ Unità d’Italia sehen will, liegt mit vorliegender Publikation, die reich und ansprechend illustriert ist, genau richtig. Insidertipps der Triest-Kenner und Slowfood-Experten inklusive.

Die Autoren

Georges Desrues, geboren 1966 in Paris, aufgewachsen in Wien, lebt als freier Autor und Fotoreporter seit fünfzehn Jahren in Italien, die letzten fünf davon in Triest. Spezialgebiete sind Reisen, Essen und Trinken sowie Landwirtschaft. Zahlreiche Publikationen im In- und Ausland, darunter in „Profil“, „Der Standard“, „Die Welt“, „Gourmet Traveler“, „Welt am Sonntag“, „Port Culinaire“, „A la Carte“ und in vielen anderen Medien.

Erich Bernard, geboren 1965, lebt als Architekt und Autor in Wien und Triest. Studium an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Zahlreiche kultur- und architekturhistorische Publikationen. Er beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit der Architektur- und Kulturgeschichte von Triest. Gründungspartner von BWM Architekten in Wien. Zu seinen gestalterischen Arbeiten zählen u.a. das Hotel Gilbert, das Gasthaus Figlmüller und das Sacher-Eck in Wien.

Georges Desrues/Erich Bernard
Triest für Fortgeschrittene
2021, Broschur, 16,8 x 24 cm; 192 Seiten
ISBN 978-3-222-13668-9
Styria Verlag
€ 28,00


Genre: Geschichte, Habsburg, Hafenstädte, Italien, Reiseführer, Tourismus
Illustrated by Styria Verlag Graz

Halbschatten

 Der Flug ist das Leben wert

Uwe Timm hat mit seinem Roman «Halbschatten» einer illustren Figur aus der Frühgeschichte der Fliegerei ein Denkmal gesetzt, der jungen Pilotin Marga von Etzdorf. Sie gehörte zu den wenigen berühmten Fliegerinnen wie Hanna Reitsch oder Elly Beinhorn, die sich in der Weimarer Republik als Kunstfliegerinnen und mit diversen Flug-Rekorden einen Namen gemacht hatten. Das kurze Leben der ehrgeizigen Marga von Etzdorf endete, als sie sich mit fünfundzwanzig Jahren nach einer Bruchlandung in Aleppo im Mai 1933 das Leben genommen hat.

Wie der Autor in einer Nachschrift erklärt, hat er sich bei der Geschichte seiner Protagonistin auf deren Buch «Kiek in die Welt» gestützt, in dem sie von ihrem Leben erzählt. Den gleichen Namen trug auch ihr knallgelb lackiertes Flugzeug, eine Junkers A50, mit dem sie 1931 zu ihrem erfolgreichen Rekordflug Berlin-Tokio gestartet ist. Auf dem Rückflug setzte nach dem Start in Bangkok der Motor aus, sie stürzte aus 80 Meter Höhe ab und wurde schwer verletzt, ihre Junkers hatte Totalschaden. Nach ihrer Genesung plante sie mit einer Klemm Kl32 einen erneuten Rekordflug Berlin Kapstadt, wobei sie finanzielle Unterstützung von den Nazis erhielt. Als Gegenleistung musste sie nicht nur eine Maschinenpistole mitnehmen, um ein Exportgeschäft vorzubereiten, sie sollte auch mit einer speziellen Kamera für die deutsche Auslands-Spionage Fotos von strategischen Zielen anfertigen. Dazu kam es aber nicht, denn ihr Flugzeug wurde bei der Landung in Aleppo beschädigt, weil sie versehentlich mit dem Wind gelandet war und über die Piste hinausgeschossen ist. Zwanzig Minuten später erschoss sie sich im Flughafen-Gebäude.

Diese Kernhandlung ist in eine zweite Erzählebene eingebettet, in der berichtet wird, wie ein Schriftsteller auf den Spuren seiner Romanheldin in Berlin den Invaliden-Friedhof besucht. Dort trifft sich der Ich-Erzähler mit einem Stadtführer, der ihm in einer Führung ‹nur für ihn allein› ans Grabmal von Marga von Elzdorf führt. «An diesem Ort» sagt der ‹Graue‹›, wie er fortan im Roman nur noch heißt, «liegt die deutsche, liegt die preußische Geschichte begraben. Jedenfalls die militärische. Scharnhorst liegt hier und andere Generäle, Admiräle, Obristen, Majore, bekannte Jagdflieger, damals die Helden der Luft, Richthofen, Udet, Mölders, und unter all diesen Männern, diesen Militärs, liegt eine Frau». Aber dort liegt eben auch Reinhard Heydrich, den Göring mit der Endlösung der Judenfrage betraut hatte, Leiter der berüchtigten Wannseekonferenz. Und diese Toten mischen sich munter in das Gespräch ein, beginnen aus den Gräbern heraus zu reden. Unter ihnen auch der Diplomat Christian von Dahlem, ein ehemaliger Kampfflieger, der Marga in Tokyo begrüßte und mit dem dort gerade gastierenden Schauspieler Anton Miller bekannt machte. Der hat dann Marga heftig, aber erfolglos umworben. Bei einem ihrer Flüge in Japan musste sie sich notgedrungen ein Privat-Zimmer mit von Dahlem teilen. Eine ganze Nacht lang haben sie sich dann, getrennt durch einen aufgespannten Vorhang, in ungewöhnlicher Freimütigkeit wechselseitig ihre jeweils spektakuläre Lebens-Geschichte erzählt.

Die etwa zwei Stunden dauernde Friedhofs-Geschichte beschwört die Schatten der Vergangenheit in einem vielstimmigen Chor herauf, angereichert mit meist kurzen, durch Anekdoten, Redensarten und Gedankensplitter ergänzte, historische Rückblicke. Abwechselnd berichtet in der Kerngeschichte um die kühne Pilotin diese selbst als Ich-Erzählerin aus ihrem Leben. Mit seiner fragmentarischen Form löst der nicht einfach zu lesende Text viele Assoziationen aus, wobei das die Toten einbeziehende Stimmengewirr nicht nur eine mystische Stimmung erzeugt, sondern auch permanent zum Weiterdenken anregt. Und so bleibt denn auch das Motiv für den Suizid ungeklärt: Scham über das fliegerische Versagen, politische Skrupel, unerwiderte Liebe? «Der Flug ist das Leben wert», steht vieldeutig auf Margas heute noch erhaltenem Grabstein!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Spider-Man. Vol. 1. 1962–1964

Spider-Man. Vol. 1. 1962–1964. In einer nummerierten Erstauflage von 5.000 und einer Collector’s Edition von 1.000 nummerierten Exemplaren erscheint in der Reihe Marvel Comics Library dieses Mammutwerk über Spiderman, den menschlichsten aller Superhelden. Stan Lee und Steve Ditko erschufen den Netzschwinger, dem nun im Hulk-Format mit seinen ersten 21 Spider-Man-Geschichten aus den Jahren 1962–64 gehuldigt wird.

Spider-Man: Seine Freunde, seine Feinde, seine Liebe

Spiderman unterscheidet sich von den anderen Superhelden nicht nur durch sein Alter: er ist Teenager. Als Markensymbol verwendet er eine Spinne, eine Gattung, die eigentlich von allen gehasst wird. Zudem ist er in seiner Identität als Peter Parker eher unsicher und hat Pech in der Liebe. Sein Chef J. Jonah Jameson, Herausgeber des Daily Bugle, schreit ihn immer wieder an. Seine Gegner sind da auch nicht viel anders: Geier, Doctor Octopus, Sandmann, Echse, Electro, Kraven der Jäger, Mysterio und der Grüne Kobold. Wirklich sorgen tut sich Peter Parker aber nur um seine Tante May, die, ebenso wie er, im uncoolen Queens wohnt. Aber als Stan Lee 1962 zum ersten Mal Spider-Man in der Reihe Amazing Fantasy, die eigentlich eingestellt werden sollte, vorstellte, ging die spektakuläre No. 15 – mit Spider-Man auf dem Cover – durch die Decke. Das todgeweihte Heft katapultierte sich durch den Teenagerhelden an die Spitze der Marvel-Bestsellerliste des Jahres und verjüngte das Heldenarsenal des Marvelverlages um eine ganze Generation. Batman und Superman waren ja bekanntlich schon drei Dekaden früher entstanden.

Sammlertraum im XXL-Format und in Farbe

Miterfinder und Zeichner Steve Ditko trug einen großen Teil zum Erfolg des Jünglings bei. Er hatte einen guten Einblick in das Leben von Teenagern und ihren Problemen und ließ Spider-Man leichtfüßig durch die Straßenschluchten von New York schwingen, ein Gefühl das damals wohl viele Jugendliche und junge Erwachsene suchten. Der vorliegende Sammlertraum im XXL-Format zeigt aber nicht nur die ersten 21 Geschichten im Großformat, sondern enthält auch ein ausführliches Essay von Marvel-Redakteur Ralph Macchio, Originalkunstwerke, seltene Fotografien und vielen anderen Kostbarkeiten und Kleinodien. In enger Zusammenarbeit mit Marvel und der Certified Guaranty Company wurden die am besten erhaltenen Comics aufgeschlagen und für die Reproduktion abfotografiert und mit modernen Retuschetechniken digital überarbeitet. MARVEL COMICS LIBRARY ist übrigens eine exklusive, langfristige Zusammenarbeit zwischen TASCHEN und Marvel, die schon die seltensten Comic-Klassiker, darunter Spider-Man, Avengers und Captain America, in ihrer ursprünglichen Schönheit in extra-großem Format akribisch reproduziert hat. Jeder Band enthält ein Essay eines Comic-Historikers sowie Hunderte von Fotos und Fundstücken, sowie seltene Original-Comiczeichnungen.

 

David Mandel, Ralph Macchio
Marvel Comics Library.
Spider-Man. Vol. 1. 1962–1964
2021, Hardcover, 28 x 39,5 cm, 4,83 kg, 698 Seiten
Ausgabe: Englisch
ISBN 978-3-8365-8233-9
TASCHEN Verlag
€ 150


Genre: Comics, Erstausgaben, Graphic Novel, Sammlereditionen, Spiderman
Illustrated by Panini Comics

Die geheimen Stunden der Nacht

Misslungener narrativer Clou

Man kann den Verleger-Roman «Die geheimen Stunden der Nacht» von Hanns-Josef Ortheil als Abgesang auf editorische Traditionen sehen, deren hehre Ziele zunehmend dem nüchternen Kalkül der Marketing-Leute zum Opfer fallen. Der Autor kennt sich jedenfalls aus in der Buchbranche und gewährt dem Leser, der über seinen Buchdeckel-Horizont hinaus an diesem kulturellen Medium interessiert ist, einen Einblick, wie es hinter den Kulissen der Branche zugeht.

Protagonist ist der älteste Sohn des 80jährigen Großverlegers Reinhard von Heuken aus Köln, dessen Vater nach zehn Jahren einen zweiten Herzinfarkt erleidet. Es steht schlecht um den Patriarchen, der seine Nachfolge nicht geregelt hat. Der 52jährige Georg von Heuken rechnet damit, dass auch sein jüngerer Bruder und die Schwester, die jeweils einen zum Konzern gehörenden Verlag in Frankfurt und in Köln leiten, eigene Ansprüche auf die Konzernleitung geltend machen werden. Beide eilen herbei, und nach einigemHin und Her erklärt die Tochter, dass sie in einem Gespräch mit dem Vater die Übernahme der Leitung für sich abgelehnt habe- Der Vater habe ihr daraufhin die Entscheidung überlassen, wer von den Brüdern die Position an der Spitze übernehmen soll. Um diesen Handlungskern herum erzählt Ortheil die Geschichte der Verleger-Familie, die in einer pompösen Villa in bester Lage Kölns residiert, vor allem aber berichtet er von den Aktivitäten, die durch das wahrscheinlich bevorstehende Ableben des Alten bei Georg ausgelöst werden. Und er muss auch gleich noch den wichtigsten Autor des Verlages empfangen, der bisher immer nur mit dem Senior persönlich verhandelt hat. Ein mimosenhafter Romancier mit Starallüren, dessen Bestseller satte Gewinne versprechen, der diesmal aber um seinen neuen Roman viel Aufhebens macht. Georg löst diese diffizile Aufgabe jedoch mit Bravour.

Insider der Branche interpretieren das Buch auch als Schlüsselroman und sehen zum Beispiel Martin Walser in der Figur des Starautors, erkennen vermutlich aber auch noch viele weitere Anspielungen aus dem Branchen-Geschehen. Neben den Verlegern trifft man als Leser vor allem auf Lektoren, aber auch auf eine toughe Literaturagentin, den smarten Journalisten, der mit der Biografie des Seniors betraut ist, oder die allmächtige Chefsekretärin, über deren Schreibtisch alles läuft im Konzern, und alle diese Figuren sind auf ihre Art komische, manchmal skurrile Typen. Für Georg völlig überraschend ist die Tatsache, dass sein Vater eine Suite im Dom-Hotel gemietet und dort offensichtlich ein nächtliches Zweitleben geführt hat. Bei dem war auch eine Dame im Spiel, die aber niemand kennt und die den mutmaßlichen Lover erstaunlicher Weise auch nicht in der Klinik besucht. Die plötzliche Zäsur bedeutet für Georg auch die Chance, endlich aus dem Schatten seines übermächtigen Vater herauszutreten. Er wächst über sich selbst hinaus, entdeckt plötzlich völlig neue Seiten an sich. Und er erkennt auch, dass er bisher wohl ziemlich am Leben vorbei gelebt hat als braver Familienvater, treuer Ehemann und karriere-orientierter Manager.

Der klug konstruierte, spannende Plot wird, kenntnisreich und mit scharfem Blick für Details, in angenehm lesbarer, konventioneller Sprache schwungvoll erzählt. Dabei ist stets Ironie im Spiel, aber auch handfeste Gesellschaftskritik ist geboten, vor allem die gehobene Gastronomie und Hotellerie wird als total überkandidelt mit Häme überzogen. Störend bei alledem ist die fehlende, psychologische Tiefe, die Figuren bleiben oberflächlich in dem, was sie tun und sagen, alles erscheint irgendwie flapsig. Auch dass es hier um eine Branche geht, die Literatur als ein wichtiges Kulturgut erzeugt, wird im Roman an keiner Stelle gewürdigt. Stattdessen gibt es reichlich Tratsch, hart an der Grenze zur Kolportage. Völlig misslungen aber ist die schon im Titel anklingende Liebesgeschichte, deren narrativen Clou sich der überkreative Autor bis zum kitschigen Happy End effektheischend aufhebt.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by btb München

Alles Dunkel dieser Welt

Alles Dunkel dieser Welt. “Sing backwards and weep” (so der amerikanische Originaltitel) ist ein beklemmendes Geständnis eines Musikers, der die Neunziger mit seiner Band “Screaming Trees” ebenso prägte wie als Solist die heutige Zeit. Seine Kollaborationen mit Kurt Cobain, Pearl Jam, Marianne Faithfull, Moby, Queens of the Stone Age, UNKLE, Greg Dulli, PJ Harvey oder Isobell Campbell sind legendär. Der aus Ellensburg, Washington stammende Musiker lebt heute in Los Angeles.

Autorisierte authentische Autobiographie

“Gott, mach einen anderen Menschen aus mir!” Die Screaming Trees war eine 1985 in Seattle gegründete Band die den sog. Grunge-Sound ebenso mitgestaltete wie prägte. Allerdings blieb die Band um Mark Lanegen und die beiden Conner-Brüder (später kam noch Josh Homme dazu) kommerziell stets unter den Erwartungen zurück. Einzig das in einem mediokren Film über die Seattle-Grunge-Szneen (“Singles“) verwendete “Nearly Lost you” wurde zu ihrem Hit. Aber auch der wurde zum zweischneidigen Schwert: zwar brachte er ihnen Bekanntheit, aber statt ihrem zur selben Zeit erscheinenden AlbumA verkaufte er den Soundtrack des Films. Aber das ist nur eine von vielen Niederlagen, die Mark Lanegan in seinem Leben einstecken musste, wie er selbst entwaffnend und ehrlich wie seine Autobiografie geschrieben ist, zugibt. Als Sohn einer Alkoholikerin, die ihm stets nur Vorhaltungen machte, statt ihn zu lieben, schlitterte er selbst bald in die Drogenszene von Ellensburg. “Mit zwölf war ich ein notorischer Zucker, Jungalkoholiker, Dieb und Pornofan.” Vorerst blieb es zwar bei Gras und Alkohol, aber alsbald landete er bei Heroin und Crack. Ersteres konsumierte er laut eigenen Aussagen aber vor allem, um vom Alkohol loszukommen, denn sein Konsum machte einem gewissen Jim Morrison alle Ehre.

Mit dem Segen von Cash

Aber anders als letzterer, hatte Lanegan stets Geldsorgen und musste sich als Kleinkrimineller betätigen, um seine Süchte finanzieren zu können. Sein Repertoire reichte von einfachem Diebstahl bis hin zu Versicherungsbetrug und Einbruch. Und das alles schon als Minderjähriger. Als Erwachsener betätigte er sich dann lieber als Dealer, damit etwas von dem Stoff auch für ihn abfiel. Nebenbei belieferte er übrigens auch seinen Grunge-Kumpan Kurt Cobain oder sein großes musikalisches Vorbild Jeffrey Lee Pierce von Gunclub, aber auch mal Nick Cave und andere Musikgrößen. Die Erzählungen seiner Drogenkarriere sind schier unglaublich und oft frägt man sich, wie so ein Wrack überhaupt noch auftreten und singen konnte. Aber anders als viele seiner Kollegen der damaligen Ära überlebte Mark Lanegan wider Erwarten und steht heute als einer der gefragtesten Musiker ganz oben auf der Liste internationaler Booking-Agenturen. Denn seine Stimme hat einen Bass und ein Timbre, was selbst einem Johnny Cash Respekt abrollte: “Tut mir leid, dass ich deinen Namen nicht mehr weiß, mein Junge“, sagte Cash einige Zeit nach ihrer ersten Begegnung zu ihm, “aber an deine Stimme erinnere ich mich. Du hast mich fast in den Schatten gestellt bei unseren paar Auftritten“.

Vom Saulus zum Paulus

“Whitey Ford”, “Lucky”, “Old Scratch”, “Red” waren noch einige seiner schmeichelhaftesten Spitznamen mit denen der Rothaarige mit der rauen Stimme von seinen Mit-Junkies bezeichnet wurde. Denn neben seiner Suchtmentalität hatte Mark auch zeitlebens ein Gewaltproblem, das häufig dann auftrat, wenn er keinen Stoff auftreiben konnte. Eine Episode seiner Drogenbeschaffungskriminalität, die in Amsterdam stattfindet, liest sich wie ein Noir aus den Vierzigern, der einem die Gänsehaut aufsteigen lässt. Aber auch sein Verhältnis zum schwachen Geschlecht wird natürlich ausführlich thematisiert. Denn abgesehen davon, dass Lanegen nichts anbrennen ließ, handelte er sich auch allerhand Geschlechtskrankheiten ein. Aber es gab natürlich auch die Liebe in seinem Leben. Abgesehen von Deborah oder Shadow und Maria gab es auch eine gewissen Pattstellung zwischen Selene und Anna, seiner Langzeitbeziehung. Aber auch seine problematische Beziehung zu seiner Mutter, die ausgerechnet eine Dozentin für Elementarpädagogik war, und seiner Schwester wird von Lanegan aufgearbeitet. In seiner Erzählung zum Showdown bei Weihnachtsfest, erinnert Lanegan fast etwas an Raskolnikow, den Protagonisten aus Dostojewskijs “Schuld und Sühne“. Auch Rodion Romanowitsch Raskolnikow wollte die Heirat seiner Schwester verhindern. Wahrscheinlich ist es nur der Musik zu verdanken, dass Lanegan nicht zu einem amerikanischen Raskolnikow wurde. Aber vielleicht trifft das auch auf viele andere Künstler zu.

Ein beeindruckendes Werk, das einem gerade trotz und wegen des ganzen Macho-Shits einen selten empfundenen Eindruck von Authentizität vermittelt. Und vielleicht ist ihm sein in einer Nervenheilanstalt in größter Verzweiflung geäußerte Wunsch in Erfüllung gegangen. “Gott, mach einen anderen Menschen aus mir!” Sein umfangreiches Repertoire seit dem Ende der Screaming Trees im Jahre 2000 und seine vielseitigen Kollaborationen legen ein beeindruckendes Zeugnis davon ab, dass die Wandlung vom Saulus zum Paulus durchaus gelingen kann.

 

Mark Lanegan
Alles Dunkel dieser Welt. Eine Autobiografie
Aus dem Amerikanischen von Nicolai von Schweder-Schreiner
Originaltitel: Sing backwards and weep
Originalverlag: Orion
Hardcover, Pappband, 448 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-453-27344-3
€ 24,00 [D] € 24,70 [A]

Heyne Hardcore


Genre: Autobiographie, Grunge, Heroin, Neunziger, Seattle
Illustrated by Heyne Hardcore

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Murakami versus Ishiguro

Ich bin schon lange ein begeisterter Leser der Bücher vom Haruki Murakami. „Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt“ oder “Die Ermordung des Commendatore“ habe ich geradezu verschlungen. So lernte ich seinen Stil des fantastischen Realismus schätzen. Auf der anderen Seite ist mir nach der Verleihung des Literaturnobelpreises an Kazuo Ishiguro im Jahr 2017 die hervorragende Verfilmung seines Romans „Alles, was wir geben mussten“ aus dem Jahre 2010 in den Sinn gekommen. Ishiguro bedient sich dabei eines dystopischen Genres, also einer eher düsteren Utopie.

Es war reiner Zufall, dass die beiden Bücher von Murakami und Ishiguro gleichzeitig auf dem Stapel noch zu lesender Bücher lagen. „Südlich der Grenze, westlich der Sonne“ befand sich dort, weil ich unbedingt die „Gefährliche Geliebte“ in der neuen Übersetzung von Ursula Gräfe lesen wollte. Von Ishiguro hatte ich bis dato noch nichts gelesen, so entschied ich mich für „Klara und die Sonne“, das ich mir dann auch zuerst vorgenommen habe und auch eine Kurzrezension schrieb (Rezension).

Im Nachhinein stellte sich heraus, dass sich die beiden Bücher der japanisch stämmigen Autoren ganz gut vergleichen ließen, weil Murakamis fantastischer Realismus nahezu nicht vorhanden ist und Ishiguros Utopie durch den starken menschlichen Aspekt seiner Hauptperson stark in den Hintergrund rückte.

In Murakamis Roman geht es um die Liebe des Schülers Hajime zu seiner Schulkameradin Shimamoto im zarten Alter von zwölf Jahren, von der er letztlich nie mehr loskommt. Das Wiedersehen mit Shimamoto nach mehr als zwanzig Jahren ist genauso mysteriös wie ihr Verschwinden nach einer heißen Liebesnacht. Dazwischen wird die Geschichte eines jungen, erfolgreichen Japaners erzählt. Dabei erhält man einen tiefer gehenden Einblick in das gesellschaftliche Leben des heutigen Japan.

In „Klara und die Sonne“ wird die Künstliche Intelligenz thematisiert, die aber sehr menschlich daherkommt: Klara, die sogenannte künstliche Freundin, die die alleinerziehende Mutter für ihre schwerkranke Tochter Josie als Gefährtin angeschafft hat. Äußerst subtil werden die Grenzen der Künstlichen Intelligenz angesprochen, oder wie weit kann KI spezifische menschliche Züge entwickeln bis hin zu Glauben, Aberglauben oder gar Wahnsinn.

Insgesamt kann ich sagen: Beides sind sehr lesenswerte Bücher. Aber einen aus meiner Sicht wesentlichen Unterschied musste ich doch feststellen: Ich bin der Meinung, bezüglich der sprachlichen Brillanz kann Ishiguro Murakami nicht das Wasser reichen. Unter diesem Aspekt hätte Murakami den Literaturnobelpreis wohl eher verdient.


Illustrated by btb München

Herscht 07769

Inverse Heiligen-Legende

Der ungarische Schriftsteller László Krasnahorkai hat mit «Herscht 07769» einen hochaktuellen deutschen Gegenwartsroman geschrieben, und das in einem einzigen Satz, der Punkt kommt erst nach mehr als 400 Seiten. «Angela Merkel, Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Willy-Brand-Straße 1, 10557 Berlin» schreibt Florian, der titelgebende Held, ins Adressfeld, und als Absender «Herscht 07769». Das reicht völlig, in der thüringischen Kleinstadt Kana nahe Jena, kennt ihn ja jeder. Und was er der Physikerin Merkel brieflich mitzuteilen hat, ist der wissenschaftliche Beweis der unmittelbar bevorstehenden Apokalypse, das endgültige Verschwinden aller Materie.

Ein nur ‹Boss› genannter Gebäudereiniger und Neonazi hat den gutmütigen und von allen geliebten, bärenstarken, aber einfältigen Florian als billige Hilfskraft aus einem Heim geholt. Es gibt viel zu tun für sie beide, denn immer öfter werden in ihrer Gegend Graffitis mit einem Wolfskopf und verschiedenen Parolen auf Wände gesprüht, die sie dann als Spezialisten mühsam entfernen müssen. Alle haben die Neonazis in Verdacht, die sich in letzter Zeit zahlreich in Kana angesiedelt haben. Deren wütender Boss setzt schließlich seine ihm treu ergebene ‹Einheit› aus gescheiterten Existenzen und schrägen Vögeln darauf an, den wahren Täter nachts auf frischer Tat zu ertappen. weil die Polizei offensichtlich unfähig ist. Die Unruhe in der Bevölkerung steigt ins Maßlose, als ein Ehepaar beim Picknick von einem Wolf angegriffen und schwer verletzt wird.

Florians Geschichte, eine Art inverse Heiligen-Legende, wird bildstark und spannend erzählt, wobei ein stimmig beschriebenes Figuren-Ensemble dem Geschehen einen authentischen Anstrich verleiht. Ausgerechnet der zwielichtige, brutale ‹Boss› ist ein begeisterter Bach-Anhänger, der die ‹Kanaer Symphoniker› gegründet hat, die er zur Konzert-Reife führen will. Seine Bach-Euphorie steckt auch Florian an, der in dem Komponisten das Gute in Reinform verkörpert sieht. In der Volkshochschule führt ein ehemaliger Physiklehrer den inselbegabten Florian in die Quanten-Physik ein, und der setzt sich immer wieder hin und schreibt an Angela Merkel, um ihr die Dramatik der Situation nahe zu bringen, – eine Anspielung auf das dramatische Geschehen im Ort, bei dem der Wolfsangriff als Allegorie auf das Böse im Menschen fungiert. Die örtliche Tankstelle samt Imbiss, beliebter Treffpunkt im Ort, wird in die Luft gesprengt, das ausländische Pächterpaar kommt dabei um. Bald darauf werden der ‹Boss› und anschließend alle Mitglieder der Neonazi-Gruppe brutal ermordet, und wieder tappt die Polizei im Dunkeln. Im Ort herrscht heillose Panik, man traut sich kaum noch auf die Strasse, es gibt Selbstmorde, einige werden verrückt, andere wie Florian sind plötzlich verschwunden, keiner weiß, wohin.

Dieser Roman in einem Satz entwickelt nicht zuletzt aus seinem unkonventionellen Schreibstil heraus einen starken Lesesog, wobei sich erstaunlicher Weise zeigt, dass man schon nach wenigen Seiten die Trennung durch Punkte nicht mehr vermisst. Das oft aus Sicht seines einfältigen Helden beschriebene, absurde Geschehen wird so geschildert, wie es sich als Gedankenstrom in seinem Kopf abspielen könnte, und auch die Bewohner des Ortes werden auf diese Art stimmig charakterisiert in ihrer provinziellen Lebens- und Denkweise. «Dieses Buch enthält hunderte Monologe», hat der Autor zu seinem eigenwilligen Stil angemerkt. Geradezu parodistisch wird es, wenn die ständigen Flüche des leicht erregbaren Bosses fast ohne Vokale auskommen müssen, was der Verständlichkeit aber keinerlei Abbruch tut, Schße oder gttvrdmmmich versteht man auch so. Am Ende kommt eine «Krawattenversion der Nazis» sogar in den Stadtrat von Kana, ein mystischer Steinadler wird Florians wehrhafter Verteidiger, und aus Berlin trifft ein Brief mit dem Absender Angela Merkel ein, wird aber als unzustellbar behandelt, denn wo Florian abgeblieben ist, weiß ja keiner, auch die Post nicht.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main