Weit über das Land

Sie sind verheiratet? Haben Kinder? Gehen einer regelmässigen Berufstätigkeit als Angestellter nach?

Dann stellen Sie sich Folgendes vor.

Sie kommen mit Ihrer Familie aus Ihrem zweiwöchigen Sommerurlaub an einem spanischen Strand nach Hause ins Einfamilienheim und haben schon das Gröbste aus- oder eingeräumt. Alles wie immer. Die Wäsche liegt bereits vor der Waschmaschine, die Kinder sind im Bett. Gemütlich setzen Sie sich mit Ihrer Frau auf die Terrassenbank, geniessen ein Glas Wein und lesen ein wenig in den aufgelaufenen Zeitungen. Bis dahin alles bekannt? Abwarten.

Die Frau steht auf, um nach dem rufenden Sohn zu schauen und geht danach vom Tag ermüdet direkt ins Bad und Bett. Der Mann steht ebenfalls auf und geht zum Gartentor und verlässt das Grundstück. Er hat nichts dabei außer den Kleidern, die er noch von der Fahrt am Leib trägt, ein paar simple Utensilien in der Tasche, ein wenig Bargeld und eine Kreditkarte. Er geht einfach weiter. Stunde um Stunde, die ganze Nacht, die folgenden Tage, Wochen. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Afropäisch: Eine Reise durch das schwarze Europa

AfropäischAfropäisch: Mit einem Interrailticket reist der Autor durch Europa, startet an einem 1.10. und muss genau am 31.3. zurück sein, denn er reist auf eigene Kosten, schläft dabei in Hostels, manche Einschränkungen des Komforts inbegriffen. So wird er auch Menschen begegnen, die nicht zu den Besserverdienenden gehören. Nach Plan besucht er europäische Hauptstädte und kleinere Orte im Süden Frankreichs und Spaniens: er folgt damit „seiner afropäischen Achse“. Mal reist er wie ein Flaneur, lässt sich von Zufallsbekanntschaften Geschichten erzählen, deren Informationen wird dann nachgeforscht, mal flicht er eigene Erlebnisse und Gelesenes ein. Weiterlesen


Genre: Afrikanische Geschichte, Gesellschaft, Imperialismus
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

10th – Drei Freunde, eine Liebe

Freundschaft und Liebe – passt das?

Umeko und Take sind seit ihrer Kindheit befreundet. Allerdings hat diese Freundschaft einen Haken: Umeko muss sich um den chronisch kranken Take kümmern, der sie zudem herablassend behandelt. Take ist wegen seines schlechten Gesundheitszustandes oft missgelaunt und lässt seine schlechte Laune an Umeko aus. Das ändert sich, als Matsu Interesse an den beiden zeigt. Matsu ist im Gegensatz zum mürrischen Tkae und zur stillen Umeko stets gut gelaunt und bei anderen sehr beliebt. Aber dieser Eindruck täuscht: Auch Matsu hat sein Päckchen zu tragen und versteht deswegen die Situation von Take und Umeko gut. Deshalb kann er auf die beiden eingehen und gewinnt mit seiner empathischen Art die Herzen des schüchternen Mädchens und des kranken Take. Er ist aber auch in der Lage, den beiden die Meinung zu sagen und aus einer objektiven Perspektive heraus die Situation zu beurteilen. Das beeindruckt sowohl Umeko als auch Take. Irgendwann merken die beiden, dass sie sich in Matsu verliebt haben. Die Liebe zu dem aufgeschlossenen Jungen tut beiden gut; sie ändern sich allmählich zum Positiven hin. Und sie beschließen, faire Rivalen um die Gunst von Matsu zu sein. Außerdem wollen sie ihre Freundschaft nicht gefährden. Für Umeko wird es allerdings kompliziert, denn irgendwann merkt sie, dass sie Matsu zwar sehr mag, aber romantische Gefühle für den neuen Take, der mittlerweile aufgeschlossener ist und nicht mehr so oft mit Anfällen zu kämpfen hat, hegt. Als sie Take ihre Gefühle gesteht, wird sie abgewiesen. Aber auch Take muss einen Korb hinnehmen, als er Matsu seine Gefühle offenbart. Angesichts dieser romantischen Verwirrungen kämpfen alle drei um ihre Freundschaft, denn diese ist ihnen nach wie vor wichtig.

Die drei in sich abgeschlossenen Bände sind keine seichten romantischen Mangas, sondern rücken andere Themen in den Vordergrund: Freundschaft, Toleranz, gegenseitige Akzeptanz, Entwicklung der Persönlichkeit, sensibles Eingehen auf andere und die jeweilige Situation, Selbstvertrauen und Selbstwert. Diese Themen werden schlüssig, verständlich und tiefsinnig aufbereitet den Leser*innen näher gebracht. Die Dialoge, die die Beteiligten führen, und die Weise, wie sie reagieren, sind auf der einen Seite Vorbild, bieten auf der anderen aber auch Identifikationspotential, v.a. für Pubertierende in der Phase der Identitätsfindung.

Die Verwicklungen, die sich ergeben, sorgen für den Spannungsbogen. Die Nebencharaktere spiegeln z.T. die Situation der drei Hauptcharas wider. Sie zeigen aber auch, dass man empathischer auf Situationen und andere Menschen reagieren kann, wenn man selbst Ähnliches erlebt hat. Der Erfahrungsschatz und die seelische Tiefe wächst mit den Hürden, die man überwinden muss. Auch das zeigt die Reihe.

Fazit

Empfehlebswerter Manga über die Themen der ersten Liebe, Freundschaft, Selbstfindung, Toleranz.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen / Hayabusa

She likes Gay Boys but not me! 1

Coming Out?

Der Oberschüler Jun ist schwul, verheimlicht aber seine sexuelle Neigung. Er hat eine Affäre mit einem Familienvater namens Makoto und eine ebenfalls schwule Internetbekanntschaft namens Mr. Fahrenheit. Letzterem vertraut er sein Innenleben an und freut sich, dass auch Mr. Fahrenheit sein Gefühlsleben mit ihm teilt. Denn er ist der einzige außer Juns Affäre, der von Juns Homosexualität und den Schwierigkeiten, die das mit sich bringt, weiß. Durch einen Zufall erfährt Jun von der Leidenschaft seiner Klassenkameradin Sae für BL-Manga. Er verspricht ihr, den anderen nichts davon zu sagen. Damit eröffnet sich für ihn eine neue Freundschaft, die schließlich in eine Beziehung mit Sae mündet. Jun will mit dieser Beziehung herausfinden, ob er es ähnlich machen kann wie Makoto: Nach außen hin ein normales Leben zu führen, um keine Repressalien erdulden zu müssen, aber mit einer Affäre seine sexuellen Bedürfnisse befriedigen zu können. Aber dieses Experiment ist mit weiteren Schwierigkeiten verbunden.

Der erste Band dieser Boys-Love-Serie mutet deutlich realistischer an als so viele andere, die in einer in sich abgeschlossenen Welt spielen und in denen v.a. die romantische und/oder sexuelle Beziehung hervorgehoben wird, anstatt die Schwierigkeiten zu beleuchten, mit denen Homosexuelle zu kämpfen haben. In der o.g. Reihe spielen die Probleme eine entscheidenede Rolle, denn sie bestimmen Juns Alltag und seine Entscheidungen, die nicht nur für ihn weitreichende Konsequenzen haben. Die Spannung dieses Ansatzes bezieht sich also darauf, wie Jun sich entscheidet, was sich aus diesen Entscheidungen ergibt und wie alle Beteiligten damit umgehen. Schade, dass es nicht mehr solcher Manga gibt, die einen Einblick in die Situation homosexueller Menschen gibt! Aber nicht nur dieses Thema wird angesprochen, sondern auch die Neigung der Menschen insgesamt, alles, was anders ist, mindestens misstrauisch zu beäugen, wenn nicht gar zu verteufeln. Das Cover macht den Zwiespalt deutlich, in dem Jun sich befindet.

Fazit

Lesenswerter Manga über Homosexualität und den Umgang aller Beteiligten mit dieser Art der sexuellen Neigung.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen / Hayabusa

Der Friedhof der vergessenen Bücher

Ein Buch wie eine Kathedrale

Der Ruhm des spanischen Schriftstellers Carlos Ruiz Zafon gründet sich auf den ersten Band einer Tetralogie, deren geheimnisvoller Ort «Der Friedhof der vergessenen Bücher» ist, zu dem unter gleichem Namen mit dem vorliegenden Erzählband nun posthum eine Ergänzung erschienen ist. Es handelt sich um «eine tief unter Barcelona verborgene Bibliothek, in der die Bücher darauf warten, ihre Seele an ihren Leser weiterzugeben». Die vier Romane bilden einen breitgefächerten Erzählkosmos, in dem die Bücher selbst sich ihre Leser suchen, nicht umgekehrt. Mit dem vorliegenden Band weiterführender, ergänzender Geschichten sollte dieser labyrinthische Kosmos nach dem Willen des früh verstorbenen Autors weiter wachsen.

Mit Abstand erfolgreichster Roman war der unter dem Titel «Der Schatten des Windes» erschienene, erste Teil der Tetralogie, der in 36 Sprachen übersetzt mehr als 15 Millionen Mal verkauft wurde. Einige von dessen Figuren, aber auch von den drei Folge-Romanen, finden sich hier ebenso wieder wie viele Themen und Motive der Tetralogie. Mit sieben bisher unveröffentlichten der insgesamt elf Erzählungen stellen sie ein letztes Geschenk des Autors an seine treuen Leser dar. Carlos Ruiz Zafon hat dazu erklärt: «Für mich ist der Friedhof der vergessenen Bücher so etwas wie die Verkörperung der Erinnerung, der Identität. Das geht weit über Bücher oder Literatur oder geistige Welten hinaus».

In «Blanca und der Abschied» geht es um die Liebe des angehenden Dichters David Martin , in «Namenlos» erfahren wir von dessen tragischer Geburt, die dritte Geschichte handelt von einem selbstlosen Arzt, dem es übel ergeht, und in der nächsten erzählt David Martin seinen Mitgefangenen «eine Geschichte von Büchern, Drachen und Rosen». Eine längere Erzählung handelt vom Fürst des Parnass, es folgt «Eine Weihnachts-Geschichte», wir sehen «Alicia im Morgengrauen» und erleben «Graue Männer» als Auftragskiller. Nach einer Liebesaffäre in «Die Frau aus Dunst» folgt mit «Gaudi in Manhattan» eine Hommage auf den berühmten Architekten. «Ist dir mal aufgefallen, dass die Leute immer mehr verblöden, je intelligenter die Handys werden?» fragt eine Rothaarige in Manhattan den Ich-Erzähler der kurzen, letzten Geschichte mit dem Titel «Apokalypse in zwei Minuten». Das Ende sei gekommen, aber da er «nie im Finanzsektor gearbeitet habe», gestehe sie ihm drei Wünsche zu. «Ich will wissen, was der Sinn des Lebens ist. Ich will wissen, wo es das beste Schokoladen-Eis der Welt gibt. Und ich will mich verlieben». «Die Antwort auf die beiden ersten Wünsche ist dieselbe», sagt die Rothaarige, und der Erzähler ergänzt: «Was den dritten Wunsch betraf, gab sie mir einen Kuss».

Barcelona bildet den örtlichen Ausgangspunkt fast aller Geschichten von Zafon, die er mit gedrechselten Worten in vergilbten Bildern beschreibt. Da ist von engen, labyrinthischen Gassen die Rede, von düsteren Fassaden, die in Nebelschwaden verschwinden. Fast immer fällt auch Schnee in seinen Beschreibungen, so als ob wir in Moskau sind und nicht in einer Stadt mit Mittelmeerklima, Licht und Sonnenschein passen nicht zur düsteren Welt Zafons. Ein immer wiederkehrendes Motiv sind bei ihm auch die Bücher, und meist ist ein satanischer Verleger namens Corelli in das Geschehen verwickelt, ihn mag der Autor, wie er erklärt hat, ganz besonders. Es ist diese unheimliche, geisterhafte Atmosphäre, die sein Markenzeichen darstellt und seine phantastische Erzählbühne stimmungsmäßig grundiert. Dabei gerät er mitunter deutlich in die Gefilde der Trivial-Literatur, was er durch einen Vergleich zu relativieren sucht: «Ein Roman sollte wie eine gotische Kathedrale sein, bestehend aus Worten und Geschichten und Figuren: Man geht hinein und man denkt nicht über die Mathematik oder Physik des Bauwerks nach». Und tatsächlich erzeugt er einen publikums-wirksamen Lesesog, der dafür sorgen dürfte, dass seine Bücher wohl nie auf dem «Friedhof der vergessenen Bücher» landen werden.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Fischer Verlag

Schiffbruch mit Tiger

Literarischer Schiffbruch

Der kanadische Schriftsteller Yann Martel hat mit seinem Roman «Schiffbruch mit Tiger» 2002 den Durchbruch geschafft, das Buch wurde  mit dem Booker Prize ausgezeichnet. In einer selbst-ironischen, klammerartigen Vorgeschichte erklärt er zunächst, wie er durch den Tipp eines alten Mannes zu seinem Stoff gekommen sei und den «Helden der Geschichte» dann auch leibhaftig getroffen habe. «Ich fand es nahe liegend, dass Mr Patel sie in der Ichform erzählt». Das deutsche Feuilleton war allerdings wenig begeistert und bemängelte verärgert «Spielzeugton» und «plumpe Komik», sprach gar von «literarischem Schiffbruch»! Ja wie denn nun?

Piscine Molitor Patel, genannt Pi, Sohn eines indischen Zoodirektors, überlebt als einziger den Schiffbruch des Frachters, mit dem der väterliche Zoo nach Kanada umgesiedelt werden soll. Außer ihm befinden sich ein Tiger, eine Tüpfelhyäne, ein Orang-Utan und ein Zebra auf dem einzigen Rettungsboot, das zu Wasser gelassen werden konnte. Durch einen Irrtum des Zollbeamten wurde der im Ausland gekaufte, bengalische Tiger auf den Namen ‹Richard Parker› getauft, der sechzehnjährige Pi kennt ihn schon lange. In dem sofort ausbrechenden Überlebenskampf ist das Zebra das erste Opfer, es wird von der Hyäne gefressen, anschließend wird der Orang-Utan ihre Beute. Als der unter die Persenning des Bootes gekrochene, seekranke Tiger schließlich hervorkommt, frisst er die Hyäne. Als Nächster wäre Pi an der Reihe, aber in seiner Not kommt er auf die rettende Idee, aus den vorhandenen Rettungswesten und Rudern ein Floß für sich zu bauen. Das schwimmt nun, an einem langen Tau befestigt, dem Boot hinterher und dient dabei auch noch als Schwimmanker, was bei hohem Wellengang ein Kentern des Rettungsbootes verhindern hilft, indem es dessen Bug in die Wellen dreht. Durch seine Erfahrung mit Tieren gelingt es ihm sogar, sich ‹Richard Parker› vom Leibe zu halten, indem er dessen Seekrankheit ausnutzend das Boot heftig ins Schlingern bringt und gleichzeitig in eine schrille Signalpfeife bläst. Beides verbindet sich für das Raubtier zu einer äußerst unangenehmen Erfahrung, und schon bald reagiert der Tiger nur noch auf das Pfeifen und zieht sich unter seine Persenning zurück. Durch das Markieren mit seinem Urin als eigene Reviergrenze und regelmäßiges Füttern mit selbstgefangenen Fischen gelingt es Pi, den Tiger auf Abstand zu halten.

Die immer abenteuerlicher werdende Geschichte beginnt allmählich märchenhafte Züge anzunehmen. Deren Höhepunkt bildet nach vielen Monaten auf See eine von Erdmännchen besiedelte, schwimmende Algeninsel mit fleischfressenden Bäumen, die da plötzlich auftaucht. Auf ihr bringen Süßwasserseen wundersamerweise tote Fische hervor, die den Erdmännchen als Nahrung dienen, und sie selbst wiederum sind für ‹Richard Parker› ein gefundenes Fressen. Im letzten Kapitel der dreiteiligen Geschichte schildert der Autor einen Besuch japanischer Ermittlungs-Beamter, die den nach seiner Rettung in einem mexikanischen Krankenhaus liegenden Piscine Molitor Patel über die unglaubwürdigen Umstände seiner robinson-artigen, 227tägigen Odyssee befragen. Vor allem aber interessieren sie sich für Details beim ominösen Untergang des Frachters.

Im ersten Teil des Romans wird die Vorgeschichte mit der Jugend von Pi erzählt, die neben vielen interessanten Fakten über Tiere im Allgemeinen und Zootiere im Besonderen sich intensiv der Religion widmet. Wobei Pi, eine originelle Idee von Yann Martel, neben seinem Hinduismus sich auch für den Islam begeistert, um sich dann sogar noch taufen zu lassen. Aus diesem gerade heutzutage vorbildhaften, friedlichen Nebeneinander dreier Weltreligionen leitet er verblüffende Erkenntnisse ab, denen er, leider völlig unreflektiert, die moralfreien Instinkte wilder Tiere gegenüberstellt. Verglichen beispielsweise mit «Herr der Fliegen» ist dieser Roman mit seiner plumpen Botschaft eher ein Abenteuerbuch, keinesfalls jedoch prämierwürdige Hochliteratur.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Erfüllendes Mutterglück oder kinderlose Freiheit – Mein Weg zur Entscheidung

Soviel vorneweg – auch wenn im Titel von „Mutterglück“ die Rede ist, so ist das Buch der deutschen Autorin Ellen Kuhn nicht nur an Frauen adressiert, sondern unbedingt auch etwas für Männer. Denn wie oft schlittern wir Männer in eine Familien- respektive Vater-Situation hinein, nur weil es Konvention und Tradition so vorgeben und/oder weil es für uns mal wieder einfach bequemer so ist. Dazu gehört sicher auch, dass viele Männer gerade die Kinderentscheidung nicht wirklich überdenken und sich der Tragweite für ihr eigenes Leben nicht bewusst sind. Das Scheitern ist statistisch fast schon vorprogrammiert. Selbst moderne Männer gründen heutzutage bei Misslingen des Ehe- und Kinderprojekts keine „I regret“-Gruppen, sondern wählen auch da den ganz traditionellen Weg, also Flucht, Trennung, Geliebte. Nur erfährt dieses männliche Verhalten im Gegensatz zu den Müttern bis heute keine auch nur ansatzweise ähnlich ausgeprägte Ächtung in unserer Gesellschaft.

Also tut so viel Information wie möglich im Vorfeld Not, nein, sollte sogar unabdingbare Pflicht sein. Für Frauen und (!!) Männer. Weiterlesen


Genre: Politik und Gesellschaft, Sachbuch
Illustrated by tredition

Jesus von Texas

Bissige Medien-Satire

Der unter dem Pseudonym DBC Pierre veröffentlichende, australische Schriftsteller Peter Warren Finlay hat mit seinem Roman-Erstling «Jesus von Texas» 2003 den britischen Booker Prize gewonnen. Also die begehrteste Auszeichnung im englisch-sprachigen Raum, die dort im Ansehen zuweilen sogar noch vor dem weniger publikums-wirksamen Nobelpreis steht. Der ehrt ja bekanntlich den Autor selbst, nicht das einzelne Buch, – die Buddenbrooks waren eine berühmte Ausnahme. Aber davon trennen diesen Roman wirklich Welten! Das Pseudonym steht für «Dirty But Clean Peter» und soll den Lebenswandel des Autors andeuten. Der hat es nämlich, folgt man dem Klappentext, fertig gebracht, «von seinem Nachbarn in Mexico Stadt angeschossen zu werden, Schulden in Höhe von mehreren hunderttausend Dollar anzuhäufen, drogen- und spielsüchtig zu werden und eine Reihe von Frauen zu hintergehen».

Sein Roman ist denn auch eine bissige Satire auf die Sensationsgier der amerikanischen Medien-Gesellschaft, deren Auswüchse hier genüsslich auf die Spitze getrieben werden. Ort der Handlung ist eine fiktive Kleinstadt, die den Ruf der Barbecue-Saucen-Hauptstadt von Texas hat. Der fünfzehnjährige Schüler Vernon wird der Mittäterschaft an einem Massaker in seiner Schule verdächtigt. Diesen Amoklauf hat sein bester Freund Jesus während des Physik-Unterrichts begangen, sechzehn Mitschüler sind ihm zum Opfer gefallen, der Täter hat sich anschließend selbst erschossen. Nachdem Vernon ungeschickt ein Gewehr zu verstecken sucht und ihm die Polizei auch rein gar nichts glaubt, flüchtet er nach Mexico, wird dort aber verhaftet und ausgeliefert. Durch unprofessionelle Verteidigung, widrige Umstände und die unheilvolle Mitwirkung eines Klatschreporters bereits massiv von der Bevölkerung vorverurteilt, wird Vernon in einem absurden, schauprozess-artigen Verfahren unschuldig zum Tode verurteilt. Im Todestrakt veranstaltet ein Medien-Konzern die wöchentliche Wahl des jeweils nächsten Delinquenten in Form einer live übertragenen, publikums-wirksamen Reality-Show. Als schließlich Vernon gewählt wird, gelingt es ihm scheinbar durch einige Telefonate, sich doch noch aus der Schlinge zu ziehen.

«Irgendjemand hat mal gesagt, es sei heute unmöglich, Amerika satirisch darzustellen, die Wahrheit wäre immer viel lächerlicher als alles, was man sich ausdenken könnte. Ich glaube, dass stimmt weitgehend», hat sich der Autor geäußert. Und als Beispiel nennt er den letzten Wunsch eines Todeskandidaten in Texas, der vor der Hinrichtung noch eine Zigarette rauchen wollte, was ihm «mit dem Hinweis, dass Rauchen schlecht für seine Gesundheit sei», aber verweigert wurde. In diesem Lichte besehen erscheinen die satirischen Überspitzungen des Romans literarisch ebenso angemessen wie der vulgäre, auf Dauer abstoßende Jugend-Slang, in dem der pubertierende Romanheld erzählt. In der Übersetzung ist es weitgehend gelungen, die vielen Wortspiele in ihrem Aberwitz zu erhalten, was nicht wenig beiträgt zum Amüsement des Lesers, wenn er denn eine Antenne dafür hat. Oft versteckt sich in dem unflätigen Primitiv-Jargon des jugendlichen Ich-Erzählers aber auch eine tiefe Ratlosigkeit: «Ich hab wirklich versucht, das Leben zu kapieren, manchmal kam es mir sogar großartig vor. Doch damit hat sich’s jetzt erstmal, nach allem was passiert ist. Ich meine, was soll das denn für ein Scheißleben sein?»

Grenzenlose Medienmacht, ausufernder Konsumterror und schreiende Ungerechtigkeit sind die Reiz-Themen, die der Autor in seiner temporeich erzählten Geschichte vehement anprangert, ein offensichtlich in die Irre führender American Way of Life. Und Satire ist sicherlich auch die wirksamste Form, sich mit seiner flammenden Anklage einer breiteren Leserschaft verständlich zu machen, Vernunft im Sinne von Kant ist dafür nun mal nicht geeignet. Auch wenn hier auf amüsante Weise der Finger in die Wunde gelegt wird, ist dieser Roman eine von der Sprache her verstörende, auf Dauer nervige Lektüre.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Love and Fortune 1

Liebe mit Altersunterschied

Die 31-jährige Wako macht sich keine Illusionen mehr vom Leben. Sie hat sich in einer Zone der ständigen Kompromisse eingerichtet und alle Träume abgetötet. Sie lebt mit einem Mann zusammen, den sie nicht liebt und der sie nicht zu schätzen weiß. “Weil man es so macht”, redet sie sich ein, diesen Mann bald heiraten und Kinder in die Welt setzen zu müssen. Überhaupt macht sie vieles nur noch, weil es von ihr erwartet wird. Einzig ihr Job macht ihr Spaß: Sie arbeitet in einem Kino, weil sie Filme liebt. Aber auch den will ihr Freund ihr nehmen, weil er  mehr Geld von ihr erwartet. Eines Tages kommt ein 15-jähriger Schüler in das Kino. Wako fällt er gleich ins Auge, weil sie sich genau so ihren Traumprinzen vorgestellt hat. Glück für Wako: Yumeaki verliert seinen Schülerausweis. Mit dessen Hilfe und ein paar anderen unauffälligen, aber mutigen Aktionen nähert sich Wako ihrem Traumprinzen an. Dieser ist auf schüchterne Art ebenfalls von ihr begeistert. So beginnen Wako und Yumeaki eine Affäre. Allerdings lassen die Schwierigkeiten nicht lange auf sich warten.

Ältere Frau – jüngerer Mann

Der erste Band erzählt die Annäherung zwischen zwei Menschen mit großem Altersunterschied. Dabei baut er im genau richtigen Tempo sowohl die Beziehung als auch die Spannung auf. Erstaunt ist man als Leser*in darüber, dass die unauffällige, ruhige Wako auf einmal Initiative zeigt und schrittweise versucht, ihren Traummann für sich zu gewinnen. Dabei ist sie schließlich gar nicht mehr so schüchtern, sondern nimmt im wahrsten Sinne des Wortes die Dinge selbst in die Hand. Allerdings – und das ist auffällig – macht sie sich wenig Gedanken um die Konsequenzen ihres Handelns, v.a. um die rechtlichen, denn Yumeaki ist minderjährig.

Ansonsten spricht dieser Manga aber ein Thema an, das normalerweise zu den Tabu-Themen gehört: Eine deutlich ältere Frau datet einen deutlich jüngeren Mann. Das wird in der Gesellschaft viel schärfer verurteilt und ins Lächerliche gezogen als der umgekehrte Fall des deutlich älteren Mannes, der eine junge Frau als Freundin hat. Die Frau muss sich Vorwürfe gefallen lassen, dass sie Nestraub betreibt, dass der Mann vom Alter her ihr Sohn sein könnte, dass sie kein Recht dazu hat, dass das unnatürlich ist usw. Der jüngere Mann muss sich Bezeichnungen wie “Mutterkomplex” oder “Toyboy” gefallen lassen. Dabei hat man herausgefunden, dass die Paarung ältere Frau und jüngerer Mann zumindest sexuell gut zusammenpasst: Die Libido wächst bei der Frau mit den Jahren, beim Mann dagegen lässt sie nach. Eigentlich beobachtet man auch hier, was allenthalben zu beobachtne ist: Die Frau darf aufgrund der immer noch präsenten einschränkenden Rollenklischees weniger als der Mann. Deshalb wird eine Beziehung zwischen einer älteren Frau und einem jüngeren Mann schärfer verurteilt als die umgekehrte Paarung. Dass der Manga die Beziehungskonstellation anspricht, ist also ein weiterer wichtiger Schritt zum Umdenken und mehr Gleichberechtigung in der Geselllschaft.

Der Manga ist wegen der – wenn auch nicht unbedingt sehr explizit dargestellten – sexuellen Szenen (da gibt es gerade in erotischen Mangas deutlich voyeuristischere!) erst ab 16 Jahren erhältlich.

Fazit

Der Manga spricht das Thema des großen Altersunterschiedes einer Beziehung an, und zwar das der immer noch scharf verurteilten Beziehung zwischen einer älteren Frau und eines jüngeren Mannes. Das Sichtbarmachen eines solchen Themas auch in diesem Genre hilft, Vorurteile abzubauen und mehr Gleichberechtigung zuzulassen.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen / Hayabusa

Lob der schlechten Laune

Lob der schlechten Laune. Strudlbrug, Griesgram, Brummbär,  Stinkstiefel, Grumpy Old Men, Grantscherm, Nieselprim, Schnoferlzieher, Meckerer, Misanthrop, Gewitter-Ritter, Motzkuh, Trotzkopf, Murrkopf, Malediktologe, Isegrim, … wer sich von diesen Ausdrücken angesprochen fühlt, sollte weiterlesen. Aber es geht in Gerks Sachbuch nicht um Sigmar Polkes großes Schimpftuch, das im MoMA in New York hängt, sondern um eine weit verbreitete, besonders im deutschsprachigen Süden anzutreffende Gemütshaltung, die euphemistisch auch als Parrhesia bezeichnet wird, besser bekannt als schlechte Laune, Mieselsucht, Misophonie, Melancholie, Nostalgie, Ärger, Wut, Unmut, Groll, Verdruss, Mißmut, Lebensüberdruss, Dysthymie, Acedia, Schwermut, Geseiere… Oder auch als Verben: herummosern, motschgern, nörgeln, fuxen, sudern, raunzen, meckern, mürrisch, mieselsüchtig, … . Kennen Sie das?

„Grant-Country Österreich“

Mut zur schlechten Laune könnte man diesen amüsanten Diskussionsbeitrag von der Sachbuchautorin Andrea Gerk auch nennen, denn wer sich gegen Zwangsoptimierung und Jugendwahn, die „Diktatur der Positivität“ nicht mehr zu wehren weiß, findet hier, in vorliegendem Kompendium, Trost und Zuspruch. Tatsächlich liegt in der sog. „schlechten Laune“ nämlich sehr viel kreatives Potential und das ist inzwischen sogar wissenschaftlich erwiesen, wie uns die Autorin an glaubwürdig darlegt. Ganz abgesehen vom Unterhaltungswert der Mieselsucht natürlich. Nehmen wir etwa den Wiener Grant, den der Autor Thomas Grasberger in seinem gleichnamigen Buch als Blues des Südens adelte. Gerk belegt durch zahlreiche Zitate österreichischer Autoren, dass der Grant besonders hier in seiner besten Manier ausgelegt wird. Wer über diese Art von Humor – zu unterscheiden vom Wiener Charme – nicht herzhaft lachen kann, der hat eigentlich nicht wirklich gute Laune, sondern ist auch nur ein Modelächler und Kostverächter. Aber natürlich lässt Gerk auch deutsche Kolleginnen und Kollegen wie etwa Ludwig van Beethoven (der hat allerdings auch in Wien gelebt!) zu Wort kommen und nicht zuletzt auch internationale wie etwa den Obergrantler Lou Rabinowitz aka Reed oder Dagobert Duck. Wer sich selbst ebenfalls dazu zählt, befindet sich also in bester Gesellschaft.

Launisch wie Luna: Lob und Tadel

Auch für die Gesellschaft erfüllen die hier angesprochenen Herrschaften (Grantler sind hauptsächlich Männer) eine wichtige, kathartische Funktion wie einst der Hofnarr. Im Vergleich mit den brummigen Figuren aus Literatur, Film oder Theater schneidet man selbst ja zumeist besser ab und bekommt dafür eine narzisstische Belohnung, der Glaube, besser zu sein. Die Grantler in Film und Fernsehen haben also eine Sündenbockfunktion und das führt mitunter zu kathartischen Effekten bei den Betrachtern. Nach dem Motto: „So sind wir nicht.“ Autor Wolf Haas, der seinen Ermittler Simon Brenner so manche Wuchtl schieben lässt, bezeichnet Österreich etwa eindeutig als Bewältigungskultur, wenn es um die Lebenshaltung an sich geht: „Es gibt zwei. Die eine versucht, das, was man schlecht findet, zu verändern; die andere versucht (es) zu bewältigen“. Dabei liegen launisch und launig sprachlich gar nicht so weit auseinander: sie stammen beide vom lateinischen Wort für Mond, luna, ab und haben doch eine ganz unterschiedliche Bedeutung.

Wissenschaftlich erwiesen: schlechte Laune ist gesund

Einige Wissenschaftler drücken die schlechte Laune auch als „mood repair“ aus. Wir brauchen diese negative Emotion, um „auf Nummer sicher zu gehen“. Denn wer sich so gegen die Herausforderungen der Zeit wappnet, ist allemal besser vorbereitet. Sollte einmal etwas schief gehen… Wissenschaftliche Experimente, die Gerk zitiert, haben ergeben, dass negative Gefühle die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, das Erinnerungsvermögen und die Aufmerksamkeit für Herausforderungen verbessern. Da wo Wut und Ärger offen geäußert werden dürften, könnten Kreativteams besser zusammenarbeiten. Diese Emotionen zeigen schnell und unaufwendig, dass etwas nicht stimmt, erhöhen Sorgfalt und Aufmerksamkeit, fördern die Tendenz, den Dingen auf den Grund zu gehen, formuliert die Autorin treffend. Und vielleicht ist Kommissar Maigret und andere seiner Kolleg:innen deswegen immer so miesepetrig? „Der geistreiche Grantler ist in der Regel eher kein Machtmensch, sondern ein ‚Partisan des Alltags’“, schreibt Gerk und führt viele weitere Beispiele prominenter Grantler an, darunter Franz Liszt, ein Vorläufer Pete Townshends und Gustav Metzgers A.D.A beim Instrumente oder Kunstwerke zertrümmern, Christine Rösinger (Lassie Singers, Britta), Georg Kreisler, u.v.a.m.

Nicht zuletzt sollte man noch vielleicht noch erwähnen, dass wer seinen Ärger unterdrückt, mit einer erhöhten Herzfrequenz resp. Blutdruck zu rechnen hat. Denn vorgetäuschtes Lächeln ist nicht nur anstrengend, sondern kann auf Dauer richtig krank machen. Sich also ab und zu zu erleichtern, kann durchaus das Leben verlängern. Auch Lächeln ist in Wirklichkeit nämlich eine sehr ernst Angelegenheit.

Kurzum: Pessimisten haben mehr vom Leben! Auch wenn dieses Buch ihr schlechte Laune merklich bessern wird…

 

Andrea Gerk

Lob der schlechten Laune
Sachbuch
2021, Hardcover, Format: 12,5 x 2,1 cm , 304 Seiten
ISBN: 978-3-0369-5770-8

Kein und Aber Verlag
24,70 EUR


Genre: Gesellschaft, Literatur, Ratgeber, Sachbuch
Illustrated by Kein & Aber Zürich

Stoner

„Ein großartiger Roman über das Durchschnittsleben eines Mannes“ resümiert Schauspieler Elyas M’Barek nach der Lektüre von John Williams Roman „Stoner“. Nicht dass M’Barek als der grösste Kenner und kompetenteste Literaturkritiker der Szene gilt, aber dieses Zitat bringt das Werk erstaunlich treffend auf den Punkt. Dieser Bewertung kann man sich – so viel vorweg – getrost anschliessen. Aber eine wichtige Frage bleibt unbeantwortet. Doch dazu gleich. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Gesellschaftsroman
Illustrated by dtv München

Die linke Hand der Dunkelheit

Androgynität

Der Terraner Genly Ai hat eine besondere Aufgabe: Er soll neue bewohnte Planeten für die Ökumene, ein Weltenkollektiv, erkunden und bestenfalls für eine Erschließung vorbereiten. Um die Bewohner nicht in Alarmzustand zu versetzen, schickt das Team immer nur einen Menschen zur Erforschung auf den Planeten. Die anderen Teammitglieder verbringen die Zeit in einem künstlichen Schlaf, bis Leute wie Genly für sie Entwarnung geben. Seine Arbeit ist gefährlich, denn nicht alle Regierungen sind offen dafür, einem neuen und viel größeren System angegliedert zu werden.

So geschieht es auch mit Winter, einem Planeten, dessen Name Programm ist: Die eisigen Temperaturen auf dieser Welt erschweren Leben. Aber die Menschen dort haben sich angepasst. Eine dickere Fettschicht und eine kleinere Statur bieten weniger Angriffsfläche für Kälte. Das ist aber nicht das einzig Besondere an diesem Menschenschlag. Das, was die Menschen von Winter von allen anderen unterscheidet, ist ihr Geschlecht – sie sind Neutren. Nur einmal im Monat, in der sogenannten Kemmer, bilden sie ein Geschlecht aus. Das ist je nach Situation entweder männlich oder weiblich. Den Rest des Monats haben sie keinelrei Geschlechtsmerkmale und empfinden keine sexuellen Gefühle. Menschen, die dauerhaft ein Geschlecht ausgebildet haben, sind eher selten und gelten als pervers. Damit und mit seiner außerirdischen Herkunft hat Genly den Status eines Sonderlings, und die Herrscher*innen wissen nicht so recht, wie sie mit ihm verfahren sollen. Estraven, Berater*in der König*in des Köngreichs Karhide, will dem Außsenseiter helfen, weckt aber durch undurchsichtiges Verhalten Genlys Misstrauen. Schließlich wird Estraven verbannt und Genly muss ebenfalls um sein Leben fürchten. Er flieht aus Karhide und landet im technisch hoch entwickelten Nachbarland Orgoreyn, das extrem bürokratisch organisiert und als Überwachungsstaat aufgebaut ist. Trotz anfänglicher Sympathie wird Genly schließlich in ein Arbeitslager gesteckt, in dem er sterben soll. Man befürchtet, dass das System durch Genlys Existenz ausgehebelt werden könnte. Ausgerechnet Estraven rettet ihn und beide wagen eine lebensgefährliche Wanderung über das ewige Eis. Sie wollen eine Funkstation erreichen, von der aus Genly sein Raumschiff kontaktieren kann.

Wie benennt man Neutren? Gendergerechte Sprache

Der o.g. Roman erschien erstmals 1969 und gehört zum Hainish-Zyklus der Autorin. Die Hainish waren die ursprünglichen Menschen, die z.T. genetische Experimente auf verschiedenen Welten betrieben haben. Im Roman vermutet Genly Ai, dass auch an den Menschen von Winter Experimente betrieben worden sind. Der Roman ist einer der ersten feministischen SF-Romane und wohl der bekannteste, der das Thema Androgynität behandelt. Er entfaltet sich für die Leser*innen sehr langsam. Vieles wird vorausgesetzt oder erst recht spät erklärt, sodass man erst einmal im Trüben fischt, v.a. wenn man die anderen Romane des Zyklus nicht kennt. Trotzdem schafft es die Autorin die Leser*innen bei der Stange zu halten, weil man die Fragen, die sich auftun, beantwortet haben will und sie schließlich auch beantwortet bekommt. Außerdem will man wissen, wie es mit Genly und Estraven weitergeht und ob die Welt doch noch der Ökumene beitritt.

Die Autorin entfaltet konsequent eine Welt der Neutren, die für permanent geschlechtliche Wesen nur schwer nachzuvollziehen ist. Das fängt schon mit der Benennung an: Genly Ai bleibt durchgehend bei der vermeintlich neutralen männlichen Form, weil es eine adäquate für ein Neutrum nicht gibt. Er gibt aber auch zu, dass diese männliche Benennung unzutreffend und verfälscht ist, denn durch die Benennung sieht man die Neutren irgendwann tatsächlich eher männlich. Damit ist Ursula K. Le Guin hochaktuell, denn die Diskussion, ob das vermeintlich neutrale männliche grammatische Geschlecht die Frauen, die Hermaphroditen usw. mit einschließt, besteht bis heute. Im Roman wird die Antwort gegeben: Die männliche Form ist männlich und beileibe nicht neutral (s. 132). Das empfinde ich ebenso

Mit der angeblich neutralen männlichen Form werden die Männer und Jungen herausgehoben und alle anderen unsichtbar gemacht. Ich fühle mich definitiv in der männlichen Form nicht miteingeschlossen und bin aufgelebt, als Theologe Lothar Beck in seinen Büchern durchgehend die weibliche Form als Hauptform verwendet hat. Oder wie geht es Ihnen, wenn Sie folgendes lesen: Mehrere Ärzte bemühen sich um das Leben eines Patienten, der lebensgefährlich erkrankt ist. Einer der Ärzte ist im siebten Monat schwanger, ein anderer hat gerade seine Periode. Der Patient leidet an Brustkrebs. Im Roman heißt es: “Der König war schwanger.” (s. 139) Das finden die Gethenianer aus anderen Gründen komisch als der männliche Genly Ai. Anderes Beispiel mit den Schwierigkeiten einer korrekten Benennung im Roman: “Meine Zimmerwirtin, ein überaus wortreicher Mann” (S. 71).

Um die gendergerechte Schreibweise, die vielen als umständlich und unnötig gilt, noch weiter zu untermauern: Manche Hermaphroditen sind froh für das Sternchen zwischen der männlichen und weiblichen Form, weil dieses Sternchen sie endlich sichtbar macht! Und noch ein Argument: Am Anfang stehen die Gedanken. Und aus Gedanken folgen oft Taten, sowohl positive als auch negative. Ändert man das Denken, besteht eine große Chance, Taten zu ändern. In der Schrift und im Gesprochenen werden Gedanken sichtbar gemacht. Natürlich liegt noch vieles im Argen, was die Emanzipation nicht nur der Frauen anbelangt und sollte angepackt werden. Dabei aber die Wichtigkeit des Geschriebenen und Gesprochenen zu bagatellisieren, halte ich für falsch. Der Roman konfrontiert die Leser*innen somit konsequent mit der nicht akuraten männlich gehaltenen Schriftsprache, die permanent das Gefühl einer Schieflage vermittelt, zumal die Neutren oft anders handeln als das Personen mit permanentem (und männlichem) Geschlecht gewohnt sind.

Herrschaftssysteme

Der Roman stellt unter der Voraussetzung der menschlichen Neutren zwei Herrschaftssysteme vor, die beide nicht funktionieren: Monarchie und Überwachungsstaat. Die Monarchie krankt unter der Unfähigkeit von Herrscher*innen und einer starren Tradition. Der Überwachungsstaat erinnert an frühere und heutige Diktaturen und deren Systeme. Orgoreyn überwacht seine Bevölkerung bis in die kleinsten Einheiten. Der Staat ist über alles und jede*n informiert. Dieser Überwachung entkommt niemand, denn sie ist bis ins Detail ausgetüftelt und organisiert. Passt man sich dem Staat und seinen Gepflogenheiten an, hat man keine Probleme. Tut man das nicht, gibt es die Arbeitslager, die missliebige Personen zur Zwangsarbeit heranziehen und dabei sterben lassen. Genly landet in einem dieser Lager. Die Kinder werden den Eltern schon früh weggenommen und wachsen unter staatlicher Kontrolle und Beeinflussung auf.

In Karhide regiert ein*e unzurechungsfähige*r König*in. Diese*r wird als verrückt betitelt. In den Startlöchern steht ein*e Nachfolger*in, die nur die eigenen Interessen im Kopf hat. Die starre Tradition mit ihrem komplizierten Ehrenkodex verhindert Entfaltung, Verbesserung und Individualität. Estraven hofft, mit der Eingliederung von Winter in die Ökumene eine Verbesserung der Lebensverhältnisse auf dem Planeten zu erreichen. Krieg gibt es auf Winter zwar nicht – das ist nach Genly Ai eher eine männliche Verhaltensweise – aber es gibt Folter, Blutrache, Mord, Fehden und andere unschöne Dinge.

Roman in Form von Berichten

Der Roman wird in der Ich-Form erzählt und wechselt zwischen den Berichten Genly Ais und Estravens Tagebucheintragungen ab. Bei Genlys Berichten sieht man nach und nach, dass die distanzierte Sichtweise schwindet und einer Sichtweise Platz macht, in der er sich mehr und mehr als Teil dieser Welt sieht. Das gipfelt darin, dass ihm seine eigenen Landsleute, die permanent weiblich oder männlich sind, fremd und unnatürlich vorkommen, als er sie wiedersieht. Das impliziert folgenden Gedanken: Der Mensch gewöhnt sich an alles – im Guten wie im Schlechten. Im Guten bedeutet das, dass Verbesserungen, die noch nicht als solche gesehen und bekämpft werden, irgendwann zur Gewohnheit und damit angenommen werden könnten.

Fazit

Tiefsinniger “Was wäre, wenn?”-SF-Roman von der Autorin von “Erdsee”, der sich der Frage widmet, wie eine Welt mit androgynen Menschen aussehen würde.


Genre: SciFi
Illustrated by Heyne München

Traumpfade

Wenn man sich mit den Klassikern der Reiseliteratur beschäftigt, landet man zwangsläufig früher oder später bei Bruce Chatwin, dem Autor der beiden Weltbestseller „Traumpfade“ und „Patagonien“.

Manche Leser weigern sich aus Prinzip, sich mit den Hintergründen eines Autors zu beschäftigen, um sich vom Werk selbst nicht ablenken zu lassen. Aber das Leben Chatwins ist durchaus bemerkenswert und schlägt sich zudem in seinen Büchern mit stark autobiografischer Note immer wieder nieder.

1940 in England geboren, hören sich die weiteren Meilensteine des Bruce Chatwin an, wie die Biografie eines Ernest Hemingway für Arme: permanente Ortswechsel während des Krieges, abgebrochene Studien in Architektur und Archäologie, Botenjunge bei Sotheby’s, dort aber nach vier Jahren Direktor der Abteilung für impressionistische Kunst, Anstellung bei der Sunday Times, zuerst als Kunstberater, dann als Reisejournalist (eine Position zu der er sich selbst ernannte, indem vor einer Sudan-Reise einfach ein Telegramm zur Info an die Redaktion schickte).

1983 und 1984 unternahm Chatwin zwei Reisen in das Innere Australiens, die als Grundlage des Romans „Traumpfade“ dienten, der in weiten Teilen faktisch eine modifizierte Reportage in Ich-Form ist.

Über etwa zwei Drittel des Buches schildert Chatwin das Leben und die Situation der Aborigines in der Zeit seiner Reise. Dieser Teil macht sicherlich den Ruhm des Bruce Chatwin aus, da er ein ganz hervorragendes Stimmungsbild erschafft – wer schon einmal in Australien und vor allem im Outback war, wird dies umgehend bestätigen. Der Leser sieht sofort die Kulisse mit der roten Erde, der ausgetrockneten Landschaft und den träge vor ihren Hütten und blechernen Wohnmobilen im dürftigen Schatten vor sich hindösenden Ureinwohnern. Dazu verwendet er keine farbintensiven Adjektive oder blumige Attribute, sondern er ist eher der Graphiker, der mit wenigen Kohle-Strichen treffsichere Skizzen erstellt.

In dieses Bühnenbild baut Chatwin das zentrale Thema ein – die Gründungs- und Abstammungsmythen der Aborigines, die er aus der Urbevölkerung trotz deren Verschlossenheit und Wortkargheit herauslocken und erfahren konnte, nicht zuletzt durch seine eigene Ruhe, Introvertiertheit und durch Verzicht auf bedrängende Invasivität. Einfach durch Geduld, Abwarten, Einfühlen und anscheinend unendlich viel Zeit.

Die Schöpfungsgeschichte der australischen Aborigines ist eine totemistische. In ihrer Genesis erschufen sich die Ahnen selbst aus Lehm und begannen durch das Land zu wandern. Ihren Weg erschufen sie sich durch Töne. Indem sie sangen und dadurch Schritt für Schritt und Ton bei Ton Dinge am Weg benannten, entstand ihre Welt und gleichzeitig eine Landkarte, die für jeden Clan über Jahrtausende spezifisch war und ihre eigene Identifikation erschuf. Dabei waren sie immer Teil der gesamten Natur um sie herum und diese wiederum Teil ihrer Familie, ihres Clans. Ein „Ding“ diente aber immer als Leitmarker, als Spezifikum. Das konnte ein Stein, eine Pflanze oder ein Tier sein, wie zum Beispiel das Wallaby beim Wallaby-Clan.

Diese Traumpfade oder besser „Songlines“ sind auch heute noch fester Bestandteil der Aborigines-Kultur. Und zudem Gegenstand anhaltender Dispute zwischen der australischen Regierung und der Urbevölkerung, da die Administration sich die längste Zeit weigerte, bei ihren Bau- und Umsiedelungsplänen auf die Songlines in irgendeiner Form (wie auch auf so vieles andere) Rücksicht zu nehmen. Sehr gut sind auch die Passagen in diesen ersten beiden Teilen des Buches, in den Chatwin die Parallelen zur Genesis anderer, auch westlicher Kulturen aufzeigt.

Das letzte Drittel des Romans besteht fast ausschließlich aus kurzen Notizen, Zitaten und Beobachtungen, was das Lesen eher schwierig, manchmal sogar fast unverständlich macht, da die Botschaften mitunter eher kryptisch sind. Durchgehend erkennbar ist einzig das Bekenntnis Charwins zum Nomadentum, das er als seine einzig akzeptable Lebensform definiert und bei sich auch fast schon genetisch verankert sieht, da mindestens die Hälfte der Männer in seiner Familie „horizontsüchtige Wanderer“ waren, „deren Gebeine in allen Winkeln der Welt verstreut“ liegen. Diese „Unruhe der Seele“ trieb ihn sein restliches Leben an, welches sicher extrem intensiv, aber durch den Tod an AIDS mit 49 Jahren genauso sicher viel zu kurz war.

Gerne werden Bücher über die Kulturen von Ureinwohnern zu flammenden Plädoyers für deren Interessen hochstilisiert. Manche versuchen dies auch bei Chatwins Buch Traumpfade. Wenn man jedoch seine Biographie vor Augen hat und den Tenor des Buches auf sich wirken lässt, spürt man, dass dies Mitte der 80er Jahre nur ein partielles Anliegen des Autors war. Ganz in Hemingway´scher Tradition schimmert da eher ganz oft der Reisereporter und Abenteurer durch, der in seiner ganz eigenen Gelassenheit und Wahrnehmung vor allem einem frönt – dem Entdecken neuer Kulturen durch ein bekennendes Nomaden-Leben. Aber das muss ja auch nicht schlecht sein.


Genre: Gegenwartsliteratur, Reisen
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Belle und das Biest im verlorenen Paradies 1

Was ist schön, was ist hässlich?

Belles Äußeres ist ungewöhnlich: Sie hat blasslila Haare, die sie weder von ihrem Vater noch von ihrer Mutter geerbt hat. Deshalb muss sie um die Liebe ihres Vaters kämpfen, der sie nicht akzeptieren will. Einzig ihrer Mutter ist das Mädchen wichtig. Aber diese wird ihr von einer Bestie genommen, als sie Belle davon abhalten will, in den verbotenen Wald zu gehen. Der Vater verzeiht ihr den Verlust der Mutter nicht und sperrt sie ein. Aber Belle beschließt eines Tages, ihre Mutter zu suchen und geht erneut in den verbotenen Wald. Dort begegnet sie nicht nur einer sondern zwei Bestien. Nachdem die eine Bestie sie vor der anderen gerettet hat, nimmt sie Belle mit auf ihr Schloss. Auch dort lauern Gefahren auf Belle, aber sie merkt, dass die Bestie, obwohl arrogant und vorlaut, ihr bisher immer geholfen hat. Außerdem ist das Biest die einzige Spur zu ihrer Mutter. Belle beschließt, dort zu bleiben, um mehr über ihre Mutter herauszufinden.

Der erste Band lässt sich den Genres Horror, Fantasy und Märchen zuordnen. Letzteres wegen Anklängen an “Die Schöne und das Biest”, “Rotkäppchen” und “Blaubart”. Die Geschichte ist sehr gewaltlastig und hebt auch den psychischen Schmerz hervor, den diese Gewalt verursacht. Aber sie geht auch auf den Schmerz ein, der entsteht, wenn Menschen nicht so geachtet werden, wie sie sind. Belle wird von ihrem Vater ständig als “hässlich” bezeichnet, und er scheut auch nicht davor zurück, sie ermorden zu wollen. Das Biest dagegen sieht sie als schöne Frau. Belle erkennt, dass das Äußere des Biestes nicht unbedingt das Innere widerspiegelt. Genauso verhält es sich mit süßen Wesen, die sich als mordlustig entpuppen. Auch der Vater, der als ganz normal gilt, verhält sich entgegen seines Äußeren hässlich. Einzig bei der Mutter spiegelt die äußere Schönheit die innere wider. Die Autorin spielt also mit den Bedeutungen von schön und hässlich und regt damit zum Nachdenken an.

Außerdem ergibt sich Belle nicht dauerhaft in das Schicksal, eine passive Frau zu sein, Erwartungen zu erfüllen und die Anfeindungen ihrer Umgebung zu ertragen. Dazu wird sie auch von dem Biest, wenn auch in wenig freundlicher Weise, ermuntert. Sie beweist Charakterstärke und eigenen Willen, obwohl (oder vielleicht gerade deswegen) sie auch mit Ängsten und Zweifeln kämpft.

Das Motiv des gefährlichen Waldes kommt in Märchen öfter vor. In diesem Manga wird es verbunden mit dem (blut-)roten Mantel von Rotkäppchen und dem bösen Biest (Tier). Das Ermorden der Frauen und die weibliche Neugier sind Motive aus “Blaubart”.

Das Psycholgische der Figuren herauszuarbeiten ist typisch für Shojo-Manga (Manga für Mädchen). Aber Karoi Yuki begnügt sich nicht damit, sie verbindet verschiedene Thematiken mit dieser und interpretiert sie neu. Dabei nimmt sie gern auch problemarische Themen wie z.B. Inzest in “Angel Sanctuary”. Die Verbindung mit Elementen des Horrors, der Fantasy und Mythen und Märchen sind ihre ebenfalls ureigenen Themen, z.B. in den o.g. Manga und in “Alice in Murderland”.

Fazit

Manga mit Horror-, Märchen- und Fantasyelementen, der mit den Begriffen “schön” und “hässlich” spielt und damit zum Nachdenken anregt.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen Manga!

Das Familientreffen

Wasserzeichen des Versagens

Mit ihrem Roman «Das Familientreffen» hat die irische Schriftstellerin Anne Enright den Booker Prize 2007 gewonnen. Er sei ein «starkes, unbequemes und zuweilen sogar wütendes Buch», hat die Jury ihre Wahl begründet. Die auch als ‹Poet laureate› vom irischen Staat geehrte Autorin hat sich damit außerdem den Ruf erarbeitet, es im Aufspüren psychischer Familien-Abgründe zu wahrer Meisterschaft gebracht zu haben. Vor allem aber hat sie als Tabu-Brecherin den katholisch geprägten Mythos von der Familie als unantastbarer Institution gehörig ins Wanken gebracht.

«Ich möchte niederschreiben, was im Haus meiner Großmutter geschah in dem Sommer, als ich acht oder neun war. Aber ob es wirklich geschehen ist?», beginnt diese brutal desillusionierende Familiensaga. Liam, der Lieblingsbruder von Veronica, hat sich überraschend das Leben genommen, und die zutiefst verstörte, glücklich verheiratete Frau und Mutter zweier Kinder kümmert sich nun, drei Jahrzehnte später, als eines seiner acht noch lebenden Geschwister um die Beerdigung. In die Trauer der hart getroffenen 39Jährigen mischt sich auch der Zorn, und besonders die Frage nach dem Warum wird zum alles beherrschenden Thema für sie. Emotional aufgewühlt beginnt sie eine Aufarbeitung seines Lebens und eine Spurensuche nach den äußeren Vorbedingungen, die zum Suizid geführt haben könnten. Damit wird dann natürlich auch die gesamte Familie mit einbezogen in ihre ebenso rastlose wie penible Ursachen-Forschung, und ihr eigenes Selbstverständnis gerät nun ebenfalls gehörig ins Wanken. Ein solcher Stoff birgt natürlich immer die Gefahr in sich, ins Sentimentale, Rührselige abzugleiten. Dem steht hier allerdings der Furor wirkungsvoll entgegen, mit dem die genervte Heldin ihre verzweifelte Suche betreibt. Die reicht bis in die Jugend der Mutter zurück, die als Neunzehnjährige nicht nur der Liebe ihres Lebens begegnet ist, sondern gleichzeitig auch dessen bestem Freund, ihrem künftigen Ehemann und Vater ihrer zwölf Kinder. Deren Namen hat sie später tatsächlich öfter mal durcheinander gebracht.

Mit Veronica hat die Autorin ihrer Heldin beziehungsreich den Namen jener Heiligen gegeben, die Jesus am Kalvarienberg hilfreich ihr Tuch gereicht hat, die sie hier nun ähnlich unerschrocken und selbstlos auftreten lässt. Als Liam aufgefunden wurde, waren seine Hosentaschen mit Steinen beschwert, er hatte eine fluoreszierende Jacke an und trug keine Unterhose. Das wird im Roman dahingehend gedeutet, dass er zwar unbedingt sterben, aber dann auch gefunden werden wollte, und zwar körperlich rein. Der endlose Bewusstseinsstrom der Heldin und Ich-Erzählerin streift emotional gesteuert in fragmentarischen Szenen durch ein ereignisreiches Familienleben, dabei jeden Stein umdrehend, der am Wegesrand liegt und die gesuchten Aufschlüsse geben könnte. Dieser thematische Detailreichtum und die authentisch wirkenden Reflexionen Veronicas bewirken, dass man die Geschichte emotional gut nachvollziehen kann.

Es dauert dann mehr als die Hälfte des Buches, ehe die Heldin in ihren bruchstückhaften, vagen Erinnerungen die Ursache gefunden zu haben glaubt, warum Liam den Freitod gesucht hat. Lange vorher schon hat man den Eindruck, dass es darum eigentlich gar nicht mehr geht in diesem Roman. Erzählt wird lakonisch, in einer derben Diktion und aus wechselnden Perspektiven, wobei mit der Zeit der illusionslos, rein körperlich dargestellte Sex denn doch recht nervig wird, weil er so penetrant, aber wohl leider auch verkaufsfördernd, das ansonsten breitgefächerte Tableau der Themen beherrscht. Andererseits finden sich gelungene Metaphern, so wenn zum Beispiel Veronicas Mann geschildert wird, «wie er dem Wasserzeichen des Versagens nachspürt, das sich durch sein Lebensbuch hindurch zieht». Es ist dieser gnadenlose Hass, diese Wut, die den gesamten Roman dominiert und ihn in seiner resignativen Haltung zu einer bedrückenden Lektüre macht, in der niemals Hoffung aufschimmert.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by btb München