Kazimira

Baltisches Epos

Der neue Roman von Svenja Leiber weist mit dem slawischen Frauennamen «Kazimira» als Titel auf eine starke Frau als Protagonistin hin. Auf dem Umschlag ist Bernstein abgebildet, ein einst beliebter Schmuckstein, in dessen Abbaugebiet an der Kurischen Nehrung die Handlung räumlich angesiedelt ist. Der zeitliche Rahmen der Geschichte reicht von der Reichsgründung 1871 über beide Weltkriege bis 1945, und ergänzend ist dann auch noch ein Handlungsstrang im Jahre 2012 mit eingebaut.

Die mit einem Bernstein-Schnitzer verheiratete Titelheldin hat eine geniale Idee. Man könnte doch, erklärt sie ihrem Mann, das mühsame und verlustreiche Säubern der landeinwärts geförderten, aber stark verschmutzten Steine mit Hilfe einer künstlich erzeugten Brandung erledigen. In der würden sie dann automatisch ebenso sauber gewaschen werden wie die Zufallsfunde am Strand ja auch. Der jüdische Unternehmer Hirschberg greift diese Idee gerne auf und begründet damit in Weststrand, dem heutigen russischen Jantarny, eine lukrative Bernstein-Förderung im großen Stil, die ihm und auch seinen Arbeitern einigen Wohlstand bescheren. Neben diesem primären Handlungsstrang erzählt die Autorin im Rahmen einer breit angelegten Familiengeschichte über vier Generationen hinweg auch vom Ringen ihrer Heldin um Anerkennung und ein frei bestimmtes Leben. Sie will partout «kein Kindchen» und bekommt doch eins. Auch eine lesbische Episode wird erzählt, in der Kazimira die in ihr schlummernden, männlichen Anlagen entdeckt und mit einer Freundin auslebt. Als sie sich aber die Haare kurz schneidet und Hosen trägt, löst das einen Skandal aus, sie wird fortan von allen geächtet. Und auch der zunehmende Antisemitismus in Ostpreußen wird thematisiert. Die Unternehmer-Familie wird immer öfter angefeindet, verkauft schließlich den Betrieb und flieht in das vermeintlich weltoffenere Berlin, – bis die Nazis an die Macht kommen.

Es gibt als Binnenhandlungen etliche weitere Geschichten, von denen am meisten bedrückend die von Kazimiras Urenkelin mit Down-Syndrom ist. Eines Tages wird das Kind unter falschen Versprechungen zu einem Heimaufenthalt abgeholt. Sie kommt nie wieder, denn in Wahrheit fällt sie für die Nazis in die Kategorie «lebensunwertes Leben». Auch ein SS-Massaker kurz vor Kriegsende wird thematisiert, die greise Kazimira ist hilflose Zeugin des Mordens. Und die nachrückenden Russen bringen bald wieder neues Unheil. Ein weiterer Handlungs-Strang im Jahre 2012 berichtet von einem plötzlichen Boom für Bernstein. Nachdem dieser Anfang des Jahrhunderts völlig aus der Mode gekommen war und die Förderung eingestellt wurde, entstand durch die hohe Nachfrage aus China ein neuer Markt mit hohen Profiten. An denen wollen auch Kazimiras Ururenkelin und ihr Mann beteiligt sein, sie werden dabei aber in kriminelle Machenschaften hinein gezogen.

Das Leben in diesem abgelegenen Landstrich Ostpreußens wird sehr anschaulich, detailliert und teilweise in geradezu poetischen Sätzen beschrieben, man fühlt sich mittendrin im Geschehen. Allerdings ist es ein gewagtes Unterfangen, eine Familiengeschichte über mehr als ein Jahrhundert in all den gravierenden historischen Umbrüchen zu spiegeln. Zumal eine kaum noch überschaubare Anzahl von Figuren in immer neuen Episoden und unterschiedlichen Handlungs-Strängen auftritt. Die werden für sich genommen alle einfühlsam erzählt und sind zudem bereichernd, in Summe aber ist der Plot dadurch deutlich überfrachtet. Nicht zuletzt stören auch die vielen Zeitsprünge, sie tragen nicht gerade zu einem angenehmen Lesefluss bei und erfordern immer wieder ein lästiges gedankliches Umschalten. Svenja Leiber erzählt in weiten räumlichen und zeitlichen Bögen eine Geschichte, die in Teilen von Grausamkeiten berichtet und dann wieder, fast schon lyrisch, eine scheinbar heile, ländliche Welt beschreibt, die in eine raue Natur eingebettet ist. Leider ist es ihr nicht gelungen, ihre überbordende Stofffülle  zu einem stimmigen Ganzen zu fügen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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