50 Jahre Der Pate

50 Jahre Der Pate. 14. März 1972: Weltpremiere “Der Pate“. Der Pate auch als The Godfather im deutschen Sprachraum bekannt wird 50. Gemeint ist weder die Figur des Vito “Don” Corleone” noch die Romanvorlage, sondern der Film von Francis Ford Coppola, der 1972 veröffentlicht wurde. Der Roman selbst kam wenige Jahre vorher, 1969, auf den Markt. Ein guter Grund für eine Re-Lektüre. “Jeder kennt den grandiosen Film. Nur wenige wissen: Der Film ist so gut, weil die Romanvorlage genial ist. Jetzt zum Wiederentdecken!” So wirbt der Verlag für seine schöne Ausgabe in scharlachrotem Cover. Mit Blutstropfen am Revere.

Geschichte eines Aufstiegs in Amerika

Als ich als Jugendlicher den Roman vor beinahe ebenfalls 50 Jahren das erste Mal las, blieben mir vor allem zwei Szenen in Erinnerung: Der abgeschnittene Pferdekopf im Ehebett und die Verengungsoperation einer gewissen Signora. Was mir auch in Erinnerung blieb ist die Tatsache, dass viele Sizilianer ihre Insel für besetzt hielten und sich deswegen zu einer Mafia zusammenschlossen, die nur Einheimischen offen stand. Damals hatte ich allerdings noch keinen Begriff von der Mafia und ihren Geschäftszweigen und machte mir kein Kopfzerbrechen über Corleones Ablehnung mit Drogen zu handeln. Der Anschlag auf sein Leben wird nämlich dadurch verursacht. Seine Söhne Michael und Sonny rächen zwar ihren Vater, können die Entwicklung, die das organisierte Verbrechen nach der Aufhebung der Prohibition aber auch nicht aufhalten. Haben sie also eine andere Wahl?

50 Jahre Der Pate

Don Vito Corleone war noch ein Mafiaboss der alten Schule: Er setzte sich für Hilfsbedürftige ein und kämpfte für Gerechtigkeit für die Seinen. Aber natürlich sind seine Einnahmequellen nicht mit dem katholischen Glaubensbekenntnis vereinbar: Don Vito Corleone verdient sein Geld mit Glücksspiel, Bestechung, Erpressung, Schmuggel und Alkoholhandel. Er hatte nach seiner Flucht aus Sizilien ein Imperium aufgebaut und nun sollen es seine Söhne übernehmen. Aber nicht um jeden Preis.

Lieblingszitate aus dem Paten für den Alltagsgebrauch

Der Pate wurde zu einem internationalen Bestseller mit mehreren Millionen verkauften Exemplaren. Die Verfilmungen von Francis Ford Coppola, für die Mario Puzo mit ihm die Drehbücher schrieb, wurden weltweit sogar von über eine Milliarde Zuschauer gesehen. Gerne werden immer wieder Zitate aus dem Buch und den Filmen im Alltag verwendet. Und es gibt längst mehrere Best of Listen der beliebtesten Zitate aus dem Paten. Wir halten uns hier an die Originalsprache. Das bekannteste ist wohl: “Some Day, And That Day May Never Come, I Will Call Upon You To Do A Service For Me.” Wer einen Gefallen verlangt, der muss auch damit einverstanden sein, dass er eines Tages zurückgefordert wird. Der Satz klingt wie eine Drohung, ist aber ein offenes Versprechen, denn der Tag kommt ja vielleicht doch nicht. “Revenge Is A Dish Best Served Cold.” Ein Zitat das auch Tarantino in “Kill Bill” verwendete mag zwar nicht vom Paten erfunden worden sein, aber er machte es mit Sicherheit populär.

I Believe In America.

Zuletzt vielleicht sei noch das kürzeste Zitat aus dem Paten erwähnt: “I Believe In America.” Die Worte in dessen Zusammenhang dieser Satz fällt sind voll beißender Ironie und Zynismus, denn Amerika, das Land der Verheißung, kann für manche auch das genaue Gegenteil bedeuten. Und für die Rache für das Geschehene ist es dann wohl doch gut, einen Vito Corleone zu haben. Wer macht sich schon gerne selbst die Hände schmutzig?

Mario Puzo hat mit seinem Roman ein Werk geschaffen, von dem man wohl noch in 100 Jahren sprechen wird. Wer dann noch mitreden möchte, sollte so bald wie möglich das Buch lesen.

 

MARIO PUZO
Der Pate. Roman
(Originaltitel: The Godfather)
Aus dem amerikanischen Englisch von Gisela Stege
Mit einem Vorwort von Francis Ford Coppola
640 Seiten | Gebunden mit Farbschnitt | Großformat 12,5 x 20,5 cm
€ (D) 24,90 | sFr 34,– | € (A) 25,60
ISBN 978 3 311 12510
Kampa Verlag


Genre: Amerika, Aufstieg, Krimi, Literaturverfilmung, Mafia, Roman
Illustrated by Kampa

Katzen und der Sinn des Lebens

Katzen und der Sinn des Lebens. Natürlich ist allein die Frage nach dem Sinn des Lebens gerade in Tagen wie diesen purer Luxus. Ebenso lapidar fällt denn auch die Antwort aus: leben. Das ist auch die Antwort die Katzen geben würden. Denn es ist genau das, was sie tun: leben.

Das Glück der struppigen Vierbeiner

Feline Philosophy” lautet der vorliegende Text im englischen Original, wo das Buch erstmals 2020, im Pandemiejahr, erschien. “Katzen ist ein Glück angeboren, das Menschen oft nicht erreichen”, heißt es darin etwa, weil der Mensch unablässig danach strebe etwas zu sein, was er nicht ist, während die Katzen einfach sie selbst sind. Ausgehende von der Phänomenologie Platons bestreitet Gray diese, indem er behauptet, dass jede einzelne Katze einzigartig ist und sogar mehr Individuum als so mancher Mensch. Anhand mehrerer Beispiele aus der Literaturgeschichte oder einfachen Erzählungen, weist Gray in Folge dann nach, was an dieser Einzigartigkeit der Katzen dran ist. Natürlich stets mit philosophischem Augenzwinkern und dem Ernst des Themas angemessen. Die sog. Selbstbewusstheit des Menschen habe die immerwährende Unruhe geweckt, von der uns die Philosophie vergeblich zu kurieren suche, schreibt Gray.

Vorbildhafte Katzen in der Menschengeschichte

Nicht erst seit Michel de Montaigne, dem Begründer des modernen Humanismus und Katzenliebhabers, wissen wir, dass vielmehr die Katzen mit uns spielen als wir mit ihnen. In der Geschichte “Mèos Reise“, dem ersten Beispiel von John Grays Katzenapotheose, wird die innige Beziehung eines GIs zu seiner vietnamesischen Katze, Mèo, beschrieben, die der amerikanische Soldat vor dem Massaker von Hué errettete. Und obwohl das Schicksal dieser einen Katze im Verhältnis zu 58.000 US-Soldaten und zwei Millionen vietnamesischen Zivilisten obszön ist, vermochte es die Katze doch zumindest ein Menschenleben zu verschonen: das des Erzählers, dem GI. Auch andere Katzen aus fernöstlichen und anderen Kulturen werden von John Gray um ihre Bedeutung für den Menschen festzuhalten erwähnt: Colette’s Saha, Highsmith’s Ming, Jun’ichiro’s Lily, Gaitskill’s Gattino, Berdjajew’s Murris, etc.

Katzen und der Sinn des Lebens

Katzen bringen keine Asphaltiere oder Anführer hervor, sie leben lieber alleine als im Rudel und kooperieren doch, wenn es draufkommt. Sie ordnen sich nie unter und gehorchen oder huldigen nicht, wenn sie gehen wollen, gehen sie, wenn sie bleiben wollen, bleiben sie aus ihrem eigenen Wunsch. Sie sind so ehrlich wie kein Mensch es vermöchte zu sein. “Während Glück bei Menschen ein künstlicher Zustand ist, ist es bei Katzen die Verfassung, die ihrer Natur entspricht.” Wir lieben Katzen, weil sie so anders sind als wir selbst und vielleicht auch, weil sie uns an unseren eigenen Tod gemahnen. John Gray zitiert Ernest Becker, wenn es um die Grausamkeiten des Menschen gegen den Menschen geht, ihre Lebenslügen und Ideen für die sie zu sterben vorgeben. Schon Wittgenstein aber wusste, dass nur jene ewig leben, die in der Gegenwart leben (“Unzeitlichkeit”) und genau das tun unsere Katzen: sie sind sterbliche Unsterbliche, leben ihrer Natur entsprechend und sind das, was sie am besten können. Sie selbst.

Ganz nebenbei lernen wir mit vorliegender unterhaltsam geschriebener Lektüre auch viel über andere Philosophen wie etwa Epikur, Lukrez, Seneca, Pascal, Spinoza, Comte und vor allem über den Sinn des Lebens: zu leben. Eine gute Einführung zu John Grays philosophischen Betrachtungen geben auch die vom Verlag auch online (im Buch im Anhang am Ende) zugänglich gemachten “10 Tipps von Katzen an Menschen” über den Sinn des Lebens. Hier abrufbar!

John Gray
Katzen und der Sinn des Lebens
Philosophische Betrachtungen
Übersetzer:in: Jens Hagestedt
2022, Hardcover, 159 Seiten
ISBN: 978-3-351-03923-3
Aufbau Verlag
22€

 


Genre: Abendland, Katzen, Lebenskunst, Philosophie, Ratgeber
Illustrated by Aufbau Berlin

Kant. Erzählung. Krimi.

Kant. Ein knallharter Hard-boiled Krimi des deutschen Literaturgenies Fauser

Kant. “Im Auge des Tiger ist kein Platz für eine Ameise.” Das einzigartige und unglaubliche Werk Jörg Fausers zeitigte auch einige Krimis. Einer davon ist “Kant“, der als Fortsetzungsroman für die Zeitschrift Wiener geschrieben wurde und erstmals 1987 auch als Taschenbuch erschien.

Kant: Showdown im Playtime

Hezekiel Kant, Privatdetektiv, hat einen chinesischen Freund: Jimmy Chang. An dem muss auch Dr. Eduard Kopmann erst einmal vorbeikommen, bevor Kant seinen Auftrag annimmt. Es geht um seine Tochter. Tutti Kopmann. Und seine Frau. Lisa Kopmann, 41, seit 16 Jahren mit ihm verheiratet und die gemeinsame Tochter, 15. Kopmann Einkäufer für Spumex setzt Kant auf Lisa an. Denn das Vertrauen ist nach 16 Jahren Ehe zerrüttet. Der Kant folgt ihr alsbald ins Playtime und erfährt einiges über die Vergangenheit von Lisa. Bei einer Zigarre und Kaffee. Manchmal auch ein Bier. Oder ein ordentliches Quantum Whisky.

Milieustudien als Metier

Das Milieu in das Fauser seinen Protagonisten schickt dürft ihm selbst auch nicht so unbekannt gewesen sein. Seine Schilderungen des zur Schau gestelltem Pömps sprechen eine deutliche Sprache, wo der allzu früh verstorbene Schriftsteller seine Nächte verbracht hatte, bevor er zu schreiben anfing. Seinen Kant lässt er im Astra wohnen, einer billigen Absteige im Chinesenviertel von München. Für ihn hatte strategisches Denken schon lange das Krafttraining ersetzt. Denn wer im Milieu lebt, schwimmt darin wie ein Fisch im Wasser. Die Forderung nach einem Lösegeld von 500.000 Mark ist aber selbst für Kant etwas zu hoch gegriffen. Denn wie viel müsste der Kopmann dann mit der Spumex schon gemacht haben? Und Sparen gehört ja jetzt nicht unbedingt zum Metier der Kopmanns.

Charakterstudien im Yakuza-Stil

Huren machen für Geld gut, was andere für Liebe schlecht machen.” Ein gewisser Felix Esterhazy spielt aber auch eine wichtige Rolle in diesem Krimi im Münchner Künstler- und Rotlichtmilieu. Denn Max der Galerist verkauft gefälschte Klees und auch unzüchtige Fotos. “Als Lisa Kopmann den Telefonhörer auflegte, war es in dem großen Raum so still, dass Kant den Eiswürfel in seinem Whiskyglas schmelzen hörte.” Und langsam schmilzt auch das Eis in Kants Kopf, denn plötzlich kann er sich über die Clique mit der er es hier zu tun hat, ein Bild machen. Ein dezenter Hinweis auf Fausers Inspiration, den Film Yakuza (1974), befindet sich auch in der Erwähnung Robert Mitchums, denn der Autor liebte das Augenzwinkern nicht nur beim Schreiben. “Im Auge des Tiger ist kein Platz für eine Ameise.

Ein echter Fauser, der seine amerikanischen Vorbilder nicht verhöhnt, sondern offen in seinen Widersprüchen fusioniert. Flott geschrieben und unterhaltsam, zudem voller Inspiration für eigene Geschichten.

Jörg Fauser
Kant. Erzählung
Mit einem Nachwort von Helene Hegemann
2021, Hardcover Leinen, 128 Seiten
ISBN: 978-3-257-07169-6
diogenes Verlag
€ (D) 20.00 / sFr 27.00* / € (A) 20.60


Genre: Crime noir, Erzählung, Hard-boiled Krimi, Krimi, Noir
Illustrated by Diogenes Zürich

Verführungen. Fotobuch.

Fotobuch der Stuttgarter Fotografin und Sängerin

Verführungen. Der erste Bildband der bekannten Fotografin Tina Trumpp zeigt die hohe Kunst der Aktfotografie aus weiblicher Sicht. Eine Ode an die Sinnlichkeit und zugleich eine Hommage an eine Ära: Burlesque, Glamour, Vaudeville.

Verführungen: Hommage an die Jazz Ära und eine Lebensstil

Auch wenn der Großteil der Fotografien der Fotografin Tina Trumpp zwischen 2017 und 2021 entstanden sind, zeigen sie doch eine längst vergangene Zeit. Beim Betrachten der Bilder denkt man Brokatvorhänge, Marmordekor, Federboas und Ledersofas. Ein Touch von SM durchweht die Bilder, aber auch ein Hauch von der Sinnlichkeit einer vergangenen Ära. Tina Trumpps Femmes Fatales präsentieren sich in opulenten Barock-Gärten mit Marmorstatuen oder sittsam gestylten Schlafzimmern. Stets ist das Licht etwas verhüllend, verdunkelnd, ganz so, als würde ein Geheimnis hinter dem direkten Blick in die Kamera stecken. Selbst wenn die Augen manchmal leicht geschlossen sind, ist dieser Blick zu spüren, ein Blick der mehr als tausend Worte sagt und doch nicht schweigt. Die Titel, die Tina Trumpp ihren verführerischen Fotografien gegeben hat, wirken wie ein Versprechen auf den Betrachter: The Muse of Brahms, You’re My Thrill, Sentimental Journey, J’attendrai Ton Retour, The Apple, Fairy Tail, Wild is the Wind. Viele der Bilder sind in Stuttgart entstanden, einige auch in Paris, aber der Ort spielt eigentlich keine Rolle, denn die Intimität, die durch die Fotos hergestellt wird, würde selbst den Mars zu einem bewohnbaren Planeten machen.

Aktfotografie mit Frau hinter und vor Objektiv

Tina Trumpp ist wohl mehr als eine Fotografin. Viel eher eine Fotokünstlerin, denn sie kreiert mit natürlichem Licht und weichen Zeichnungen eine eigene erotisches Weiblichkeit. Vielleicht am ehesten als auf sinnliche Weise inszenierte Tableaux Vivants, also wie Malerei einer vergangenen Epoche zu beschreiben. Eine ganz eigene Welt zu erschaffen, die mit nichts zu vergleichen ist und dennoch an so manche exotische Tagträume eines vergangenen Paradieses erinnert. Mit einer Einzelausstellung mit dem Titel „Shades of Sensuality“ machte die Stuttgarter Fotografin erstmals 2016 auf sich aufmerksam. Seitdem gehört sie in dem leider doch nur von Männern dominierten Genre zu den besten ihres Berufsstandes. Vor dem letzten Lockdown war in der Leica Galerie Stuttgart zudem ihre Ausstellung „Verführungen“ zu sehen. Einige dieser Bilder werden nun im vorliegenden Fotoband im Großformat 27,5 x 34 cm erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Außerdem wurde sie mit dem 14th Annual Black & White Spider Award 2019 (Serie ‘Room With A View’) in der Kategorie Nude ausgezeichnet und erhielt den Silver Award in The Moscow International Foto Awards 2019 mit ‚Love Me Like A River Does‘, Kategorie Fine Art Nudes. Ihre Bilder wurden in internationalen Galerien unter anderem in München, Zürich, Salzburg und Paris ausgestellt. Übrigens: Tina Trumpp (Jahrgang 1974) singt auch, passend zu ihren Bildern: Jazz.

Tina Trumpp
Verführungen. Fotobuch.
2021, Hardcover, 208 Seiten, 111 Farb- und Schwarz-Weiss-Fotografien
ISBN: 978-3-96171-353-0
teNeues Verlag
€ 50,00


Genre: Foto, Fotografie, Frauen, Jazz
Illustrated by teNeues

Wandern. 100 Seiten

Gipfelgefühlt und Wundermittel: Wandern

Wandern. 100 Seiten. In der Reihe 100 Seiten des Reclam Verlages ist von der Journalistin und passionierten Wandrerin Nina Ayerle vorliegende Einführung zum Wandern erschienen. Ein Überblick von der Entstehung der internationalen Wanderbewegung bis hin zu den Auswüchsen der Wanderpredigten im Hochgebirge oder Gebirgstheatern.

Runner’s High und Gipfelgefühl

Je höher man steigt, desto einsamer wird es um einen herum. Man ist nur noch mit sich, vielleicht noch mit seiner Wandergruppe und den Bergen“, schreibt die Autorin. Ja, das war einmal… Wandern liegt (leider) im Trend. Aus diesem Grund gibt es auch Empfehlungen über das richtige Verhalten im Hochgebirge. Denn so einfach es scheint, viele haben es immer noch nicht begriffen, dass der Müll den man hinaufträgt von niemandem wieder runtergetragen wird. Er bleibt oben. Siehe Mount Everest mit den unzähligen Sauerstoffflaschen. Also: wer Orangen- oder Bananenschalen liegen lässt, wird sie beim nächsten Gipfelsturm wieder vorfinden. Deswegen gilt immer alles was rauf geht auch wieder mit runternehmen. Aber abgesehen von diesen Auswüchsen des Massentourismus ist Wandern nach wie vor der beste Sport. Denn erstens ist die frische Luft gratis und zweitens braucht man außer gutem Schuhwerk (fast nichts) zu dessen richtiger Ausübung. Als Wandern gilt alles über 6 km/h und über der Durchschnittslänge von 2,29h. Also nicht jedes Spazieren ist gleich Wandern. Erfunden habe es der italienische Dichter Francesco Petrarca (1304-1374) mit seinem Bruder Gherardo. Sie wollten ganz einfach einmal die Welt von oben sehen. In Renaissance und Romantik folgten ihnen einige, aber richtig durchsetzen konnte es sich erst im 19. Jahrhundert, als die Freizeitgesellschaft entstand. Denn lange Zeit war Wandern nur den Reichen vorbehalten, die Armen musste ja bis zu 14h/Tag arbeiten. 1895 gründeten die Sozialdemokraten die Naturfreunde, aber auch die deutschen Wandervögel unter Herman Hoffmann-Fölkersamb (1875-1955) folgten alsbald dem Ruf der Berge. Die Wandervögel waren auch eine Art Protestbewegung: weg von Eltern, Kaiser und Stadt und rein in die Natur. Leider wurde das Wandern durch den sog. Turnvater Jahn und in Folge den Nazis für das völkische Turnen mißbraucht. Aber nach dem Kriege kam es schnell wieder zu einer Renaissance.

Wandern: Ein wahres Wundermittel!

Der Wanderer ist in vielen Hinsichten ein primitiver Mensch, so wie ein Nomade primitiver ist als der Bauer. Die Überwindung der Sesshaftigkeit aber und die Verachtung der Grenzen machen Leute meines Schlages trotzdem zu Wegweisern der Zukunft.“, wusste schon Hermann Hesse (1877-1962). Die Autorin macht auch ein paar Exkurse zum historischen Nomadentum und den sog. Zigeunern, aber auch Flanieren, Pilgern und Wallfahrten gehören für sie ins Spektrum des Wandern. “Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen“, dichtete schon Goethe und für den Zeit-Schreiberling Tobias Hürter ist Gehen gar “das perfekte Tempo für Körper, Geist und Seele. Ein wahres Wundermittel!“. Am besten drückte es aber wohl Jan Gehl aus: “Beim Gehen geht es um viel mehr als nur Bewegung. Es ermöglicht die Begegnung von Mensch zu Mensch.” Auch in Japan ist das Wandern in Mode gekommen. Dort nennt man es Shinrin Yoku: Waldbaden. Denn die ätherischen Öle die ein Wald absondert wirken wie eine Aromatherapie für Geist und Seele. Wozu also ins Fitnessstudio gehen? Das ist doch nur noch ein Termin! Im Anhang befinden sich weitere Lektüretips zum Thema sowie Abbildungen und Infografiken den Fließtext auflockern. Auch auf praktische Tips zu Kleidung und Ernährung beim Wandern hat Nina Ayerle nicht vergessen.

Ayerle, Nina
Wandern. 100 Seiten
2022, Broschiert. Format 11,4 x 17 cm
100 S. 13 Abb. und Infografiken
ISBN: 978-3-15-020588-4
Reclam Verlag
10,00 €


Genre: Geschichte, Literatur, Monographie, Ratgeber, Reiseführer, Wandern
Illustrated by Reclam Verlag

Schreib ohne Furcht und viel

Camus – Casarès: Schreib ohne Furcht und viel. Ein Briefwechsel

Schreib ohne Furcht und viel. Was für ein Imperativ! Was für eine Liebesgeschichte! Sagenhafte 1568 Seiten umfasst dieser Briefwechsel – bei Rowohlt erstmals in Buchform – zwischen Albert Camus (1913-1960) und der Schauspielerin Maria Casarès. Eineinhalb Jahrzehnte dauerte ihre Liebesgeschichte, die vielleicht nur durch Camus’ tragischem Unfalltod am 4. Januar 1960 für immer ihr Ende fand. Aber als Zeugnis der Intensität ihrer unvergleichlichen Liebe wird nun der Briefwechsel zwischen den beiden mehr als 60 Jahre später öffentlich zugänglich.

Schreib ohne Furcht und viel

In Frankreich erschien dieser Briefwechsel schon 2017 und wurde geradezu zu einer literarischen Sensation. Ein Vorwort des Schriftstellers Uwe Timm, der in den 1970er Jahren seine Doktorarbeit über Albert Camus schrieb, eröffnet die erstmalige deutschsprachige Ausgabe beim Rowohlt Verlag. Er schreibt auch von dem 1967 zu trauriger Berühmtheit gelangten Studenten Benno Ohnesorg, der ebenfalls ein Camus-Fan war und sogar nach Nordafrika getrampt war, um dort “genau die Landschaft zu erleben, die der Autor so hymnisch in Hochzeit des Lichts beschrieben hat“. Camus und Casarès hatten sich im Frühjahr 1944 im besetzten Paris kennen und lieben gelernt. Er war damals 30, sie immerhin 21. “Ich brauche dich, um mehr als ich selbst zu sein“, schreibt er ihr liebestoll. Er selbst war im Alter von ihr bitter enttäuscht worden, als ihn sein erste Frau betrogen hatte. Außerdem war er als Kind von seiner Großmutter mit einem Ochsenziemer gedemütigt worden.

Solitaire und solidaire

Eine Zeit wird kommen, in der wir trotz aller Schmerzen leicht, fröhlich und aufrichtig sind“, schreibt Camus ihr hoffnungsvoll im Februar 1950. Tatsächlich hatten sich die beiden zwischen 1944 und 1948 wieder trennen müssen, da Camus’ Frau, Francine Faure, zu ihm stieß (sie waren durch den Krieg getrennt worden). Eigentlich begann die Beziehung erst richtig am 6. Juni 1948 als sie sich zufällig am Boulevard Saint-Germain wiedersahen. Wieder ein 6. Juni wie schon 1944 und wieder ein Zufall. Aber auch in den zwölf Jahren ihrer Beziehung waren sie oft getrennt, allerdings nur geographisch. Denn ihre Briefe schmiedeten ein unsichtbares Band, das Zeugnis gibt, wie intensiv eine Liebe auch in Abwesenheit des Geliebten empfunden werden kann. Vielleicht gerade in Abwesenheit des anderen. “Was jeder von uns in seiner Arbeit, seinem Leben etc. Tut, tut er nicht allein Eine Anwesenheit, die nur er spürt, begleitet ihn“, schreibt Camus ihr im selben Brief vom Februar 1950 aus dem auch seine Tochter, Catherine Camus, die ebenfalls ein Vorwort schrieb, zitiert.

“Aye!Que cara de tonta tienes hoy!”

Wenn man sensibel ist, neigt man dazu, Hellsichtigkeit zu nennen, was einen enttäuscht, und Wahrheit alles, was einem schadet. Aber diese Hellsichtigkeit ist genauso blind wie anderes.“, schreibt er ihr 1944 und spricht darin von “dieser Welle, die mich seit gestern trägt” und beschreibt es mit “mein Herz ist voll von Dir“. Dennoch weiß Camus natürlich auch, dass er sich in Geduld üben muss. Schließlich herrscht Krieg und zudem ist er ja noch verheiratet. Sie antwortet ihm: “ich warte darauf, zu existieren, bin nur Verheißung”. Ihre Seligkeit beim Erhalten eines Briefes von Camus lässt ihren Vater ob ihres Anblickes ausrufen: “Aye!Que cara de tonta tienes hoy!” (Oh! Was machst du heute für ein dummes Gesicht!) Eine Seligkeit, die an Schwachsinn grenzt, meint sie. Aber wer kennt das nicht, wenn er/sie verliebt ist?

Liebe in kleinen Dosen

“Ich bin jedes Mal hingerissen, wenn Du mir Deine Liebe schreibst. Ich zittere, und zugleich bricht alles zusammen“, antwortet Camus ihr und zeigt damit, dass es ihm ähnlich geht. Über ihren letzten Brief meint er: “ich lebe, auf seinem Grund, wie ein glückliches Wrack“. Kann man das überhaupt “leben” nennen, ohne den Geliebten zu sein? Jeder, der schon einmal eine Fernbeziehung hatte, weiß, dass gerade durch die Trennung, die Gefühle sich intensivieren. Und vielleicht (er)lebt man sich gerade dadurch selbst mehr. Man wird kühner und dankbarer und wagt Dinge zu sagen, die ansonsten des Alkohols oder anderer Substanzen bedürfte. Hemingway (sie liest ihn gerade) nennt Camus einen Trickser und für die Liebe die sie ihm bereitet bedankt er sich aus tiefsten Herzen. Aber an manchen Tagen weint das Herz dann wieder stundenlang, “trotz den Hoffnungen und Freuden, die ihm versprochen” worden sein mögen. Und an solchen Tagen schreibt man seinem Geliebten oder seiner Geliebten am besten Briefe. Voller Sehnsucht und Leidenschaft. Keine E-Mails.

Albert Camus, Maria Casarès
Schreib ohne Furcht und viel.
Eine Liebesgeschichte in Briefen 1944-1959
Übersetzt von: Claudia Steinitz, Andrea Spingler, Tobias Scheffel
2021, Hardcover, 1568 Seiten
ISBN: 978-3-498-00131-5
Rowohlt


Genre: Biographie, Briefe, Exil, Fernbeziehung, Frankreich, Krieg, Liebesgeschichte
Illustrated by Rowohlt

Djamila

Djamila. Djamila stammt von dem kirgisischen Autor Tschingis Aitmatow. Die beliebte Illustratorin Kat Menschik hat Djamila mit ihren Zeichnungen veredelt und der Galiani Verlag beides in einem schmucken Büchlein herausgegeben. Eine Synthese aus gleich mehreren Dingen also, möchte man meinen, zumal Louis Aragon die Geschichte als eine der schönsten Liebesgeschichten pries. Jetzt eben noch schöner mit Illustrationen von Kat Menschik. Auch Aragon hätte das gefreut.

Djamila und Danijar

Die “Kraft und Wucht der Liebe” hat Kat Menschik schon als Kind in der Erzählung Djamila begeistert. So bedingungslos muss die Liebe sein, schreibt sie im Nachwort. “Man wünscht sich auch einmal so etwas erleben zu dürfen”. Vielleicht mache gerade das den Zauber der Erzählung aus. “Djamila” erzählt allerdings von einer vorerst unmöglichen Liebe. Denn sie selbst ist verheiratet und ihr Geliebter Kriegsinvalide. Djamilas Ehemann ist in den Großen Krieg gezogen, kurz nach der Hochzeit. Aber er hatte ohnehin kein Interesse an Djamila. Und so beginnt sie, völlig unabsichtlich, sich zuerst in die Lieder von Danijar zu verlieben. In seinen Liedern offenbaren sich tiefe Sehnsucht, Schmerz und die Liebe zur Welt. Eine sommerliche Augustnacht in den Bergen Kirgisiens verstärkt den Zauber der verbotenen Liebe und bald liegen sich die beiden in den Armen.

Liebe ohne Bedingungen

Said, der 15-jährige Schwager und ständigen Begleiter Djamilas ist der Erzähler der Geschichte. Denn er beobachtet schon seit längerem, was sich zwischen den beiden anbahnt. Er sieht die verbotene Liebe erwachsen, bewahrt aber das Geheimnis für sich. Er erzählt es niemandem, denn es würde gegen die strengen moralischen Sitten der Kirgisen verstoßen. Auch Said ist durch Danijars Gesang inspiriert und findet dadurch Zugang zu seiner künstlerischen Natur als Maler. Seinen Leinwänden kann er sein Geheimnis anvertrauen und so malt er ein Bild, das die beiden jung verliebten zeigt. Er verfolgt staunend mit, wie die Verliebten den von allen anderen für unüberwindbar gehaltenen Gesetzen der Tradition entgegentreten und tut sein bestes ihnen zu helfen. Doch ls Djamilas Ehemann zurückkehrt, muss das Liebespaar aus dem Dorf fliehen. Als sein Bild entdeckt wird, ist auch für den jungen Said der Moment des Abschieds und Aufbruchs in die Welt gekommen.

Die Illustrationen im zwölften Band von Kat Menschiks Reihe ihrer Lieblingsbücher sind zauberhaft, sehnsüchtig und sonnendurchtränkt wie ein Hochsommertag in der kirgisischen Landschaft. Im August. Louis Aragon (1897-1982) entdeckte die Erzählung und übersetzte sie ins Französische. Mit seiner Übersetzung machte er aber auch den kirgisischen Autor und seine Djamila weltberühmt. Für SchülerInnen in der DDR war „Djamila“ übrigens Pflichtlektüre.

Tschingis Aitmatow/Kat Menschik
Djamila
Illustrierte Lieblingsbücher, Band 12
Übersetzt von: Gisela Drohla
2022, Hardcover, illustriert, 112 Seiten
ISBN: 978-3-86971-253-6
Galiani-Berlin


Genre: Illustrationen, Kirgisien, Liebesgeschichte, Märchen
Illustrated by Galiani

Il libraio di Venezia

Il libraio di Venezia. “Siamo tempre sul punto di mollarci, ma alla fine non ci molliamo mai. C’è qualcosa di profondo che ci lega.” Giovanni Montanaros siebter Roman spielt vor dem Hintergrund der großen Flut von 2019. Der Wasserstand in Venedig erreichte damals beinahe das bisher höchste Niveau von 1966: 187 cm. Nur mehr mehr 8 cm haben also zu einem neuen (negativen) Rekord gefehlt. Der große Unterschied: 2019 hätte das von Korruption und Skandalen seit 2003 in Bau befindliche MOSE die Stadt vor eben diesem Pegelstand schützen sollen.

MOSE + das Versagen der Politik

So erinnert der vorliegende Roman, eine Liebesgeschichte, also nicht nur an die schmerzlichen Versäumnisse der (italienischen) Politik, sondern auch an die des Protagonisten Vittorio, den Buchhändler. Denn Vittorio braucht die Fürsprache und Vermittlung der 86-jährigen Rosalba, der Erzählerin, um Sofia seine Liebe zu gestehen. Dazu sei hinzugefügt, dass der Altersunterschied zwischen beiden immerhin 20 Jahre beträgt. Aber abgesehen von diesem doch etwas obszönen und antiquierten Hindernis, ist der hier vorliegende Roman eine wunderschöne Huldigung an die Literatur und Venedig, vor allem aber an seine Bewohnerinnen und Bewohner. Ihrer “capacità di rinascere” ist es zu verdanken, dass es die einstige Hauptstadt der Welt überhaupt noch gibt. Denn ohne seine Bewohner wäre Venedig nicht mehr Venedig. Die einzigartige und wunderbarste Stadt der Welt wird heute nur mehr von 52.000 Menschen bewohnt und die Politik tut alles, um auch diese noch zu verscheuchen. Sie wollen aus jedem Haus ein Airbnb machen, um noch mehr aus der Schönheit herauszupressen. Vittorio soll plötzlich das Doppelte der Miete für sein “Moby Dick” bezahlen. Auch Rosalba schmerzt es jedesmal als ob es Krieg wäre, wenn wieder ein Geschäft einer Herberge weicht. Die Boote, die denn Müll von Venedig abholen, nennen sich tatsächlich “Le barche VERITAS“, also die “Schiffe der Wahrheit” und zeigen das nackte Elend unseres Planeten anschaulich: wir werden an unserem Müll und unserer Profitgier eingehen. Aber es gibt immer noch Nester des Widerstands. Als solche gelten auch Buchhandlungen. Denn neben der fiktiven Buchhandlung Moby Dick des Romans gibt es tatsächlich noch eine ganze Menge unabhängige Buchhandlungen in Venedig, Ulrike Zanatta, hat sie im Nachwort dankenswerterweise alle aufgelistet. “Il libraio di Venezia” ist also auch ein Buch über Literatur mit vielen Buchtips, nicht nur eine Liebesgeschichte und nicht nur ein Katastrophenroman. Und dass es am Ende ein Happy End für alle gibt, das mag man sich ebenso in der Realität wünschen. Eines Tages, wer weiß… Der Tag wird kommen!

Untergang + Auferstehung aus Acqua alta

Als Referenzwert für das Hochwasser wird seit 1897 übrigens das “medio mare” herangezogen, das sich in Punta della Salute, dem dreieckigen Bereich zwischen dem Canal Grande und dem Canale della Giudecca befindet. Je nach Sestiere resp. genauem Standpunkt, kann man durchschnittlich 80 cm vom bekannt gegebenen Pegelstand abziehen. Das bedeutet, wenn etwa 110cm (bei dem 12% Venedig unter Wasser steht) bekanntgegeben wird, steht man am Markusplatz, dem tiefsten Punkt Venedigs auf 80 Meter mit 30 cm kniehoch im Wasser. Bei 140 cm – der durchschnittliche Höchstwert – stehen dann schon 59% Venedigs unter Wasser. Das Modulo Sperimentale Elettromechanico (Mose) ist längst zu einem Symbol für “politische Gleichgültigkeit, Korruption und bürokratischen Wahnsinn” (Tagesspiegel) geworden. Zudem ist der ganze versenkte Beton inzwischen selbst zu einem Problem für die Lagune geworden, da der Boden deswegen weiter absinkt. Wenn die Katastrophe vom November 2019 eines gezeigt hat, dann, dass die Menschen immer noch zusammenstehen und sich nicht unterkriegen lassen. Das steht so auch im Eröffnungssatz dieser bescheidenen Rezension, die zeigen will, was Solidarität bewirken kann. Denn was wirklich zählt, das müssen die BewohnerInnen Venedigs nach jedem Hochwasseralarm immer wieder schmerzlich feststellen. Aber die Liebe zu Venedig ist stärker als jede Vernunft. Mai mollarare!

Giovanni Montanaro
Il libraio di Venezia
Ital. Hrsg. von Ulrike Zanatta
Niveau B1 (GER)
2022, Broschur, 165 S. 1 Abb.
ISBN: 978-3-15-014132-8
6,00 €
Reclam Verlag


Genre: Erzählung, Katstrophenroman, Liebesroman
Illustrated by Reclam Verlag

Chinese Propaganda Posters

Chinese Propaganda Posters by  Stefan R. Landsberger (Hg.)

Die Olympischen Spiele in China sind in aller Munde: Willkommen in der kommunistischen Utopie! Die vorliegende Publikation des Kölner TASCHEN Verlages zeigt im XL-Format chinesische Propagandaposter aus der Zeit des kommunistischen Aufbruchs. Die vorliegenden Bilder, entstanden zwischen der Gründung der Volksrepublik 1949 und den frühen Achtzigerjahren. Sie zeigen die utopischen Träume Rotchinas sowie seiner Kampagnen, um die Hirne und Herzen der Bevölkerung zu gewinnen. Weiterlesen


Genre: Comics, Grafikdesign, Politik
Illustrated by Taschen Köln

Leben mit dem Stern

Leben mit dem Stern. “Gestern wurde ich 53 Jahre alt, denn ich bin so alt wie dieses seltsame Jahrhundert“, schrieb Weil 1953 an einen Freund. Diesen Satz liest man mit Freude, denn so weiß man sogleich, dass der Autor sowohl die nationalsozialistische als auch die stalinistische Katastrophe “dieses seltsamen Jahrhunderts” überlebt hat. Für bedeutende tschechoslowakische Schriftsteller wie Josef Škvorecký, Ladislav Fuks, Ivan Klíma oder Jiří Kolář ist Jiří Weil heute ein großes Vorbild. Allerdings galt er in der ehemaligen Tschechoslowakei, seit der Veröffentlichung seines hier vorliegenden Romans 1949 bis zu seinem Tod 1959, als Unperson, ja sogar als “Schädling“.

Zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus

Wer diesen Roman “Leben mit dem Stern” liest, wird alsbald verstehen warum. Die totalitäre Katastrophe, die er in seinem Roman beschreibt, könnte sowohl eine kommunistische als auch eine faschistische Diktatur meinen. Tatsächlich saß der Autor schon in den Dreißiger Jahren in der Sowjetunion im Gulag, später dann als Jude im “Protektorat Böhmen und Mähren” ebenso in der Falle, wenn auch nicht im Lager, dem er sich zu entziehen wusste. 1933, vom Kommunismus begeistert, ging er nach Moskau, um dort als Journalist und Übersetzer marxistischer Literatur zu arbeiten. Nach dem Ausschluss aus der Partei und der Deportation nach Mittelasien im Zuge der ersten stalinistischen Säuberungen kehrte Weil 1935 dann aber doch wieder nach Prag zurück. “Leben mit dem Stern” beschreibt minutiös den Zeitraum der Umsiedlung bis zur Flucht in den Untergrund des Protagonisten Josef Roubíček. Dabei geht es aber vor allem um den Bewußtwerdungsprozess, ob er sich – so wie die anderen – in sein Schicksal fügen soll oder doch dagegen aufstehen soll. Hätte Jiří Weil es dann nicht getan, könnten wir dieses unglaubliche Zeugnis der wohl größten Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts heute nicht mehr lesen. Wie sich dann der Protagonist Josef Roubíček entscheidet, erfahren Sie auf den letzten Seiten des Romans. Jiri Weil gelang es durch einen vorgetäuschten Selbstmord.

Erschütternd authentisch über den Alltag des Holocaust

Philip Roth nannte “Zivot s hvezdou“, so der tschechische Originaltitel, “einen der herausragendsten Romane über das Schicksal der Juden unter den Nazis. Ich kenne keinen vergleichbaren“. Weils Roman ist nämlich nicht nur ein sprachlich exzellent geschriebener Roman, sondern auch ein großes Stück Literatur mit seltenem Tiefgang. Josef Roubíček, ein ehemaliger Bankangestellter, darf aufgrund der Rassengesetze im besetzten Prag nicht mehr arbeiten. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich sein Essen zum Überleben selbst zu organisieren. Da es ein kalter Winter ist, verheizt er nach und nach alle Möbel seiner kleinen Mansarde am Stadtrand. Zigaretten dreht er sich aus gefundenen Kippenresten und getrocknetem Laub, als Angehörige hat er nur noch einen Onkel und eine Tante, die im Prager Zentrum leben. Tagsüber ist er mit der Essensbeschaffung beschäftigt, abends füttert er einen ihm zugelaufenen Kater und träumt von Růžena. Sie kann nicht bei ihm sein, da sie verheiratet ist. Es wird aber nie ganz klar, ob sie nicht nur ein Tagtraum ist. Auch wenn sie es ist, die ihm stets rät zu fliehen. Rührend ist die Geschichte von seinem Kater, den er den (ungläubigen) Thomas nennt. Denn ebenso ungläubig und absurd ist das, was Josi (so nennt ihn Růžena) jeden Tag passiert. Auf allem liegt ein feiner Hauch von (absurdem) Humor und das, obwohl Jiří Weil das Schrecklichste beschreibt, was Menschen anderen Menschen je angetan haben. Angesichts des unglaublichen Leids, das ihm und anderen Verfolgten widerfahren ist, staunt man über die feine Feder dieses Schriftstellers, der beschreibt ohne anzuklagen, ohne Wut oder Hass, aber mit sehr viel Liebe und Verständnis für die Seinigen.

Gemeint: Totalitarismus von links und rechts

Die Sprache in der Jiří Weil den Weg in den Untergang des jüdischen Volkes schildert ist sehr schön und steht in krassem Widerspruch zur Handlung. Denn die Dystopie, die er beschreibt ist präzise beobachtet und könnte  in jedem Jahrhundert in jedem Land der Welt spielen. Natürlich ist das Protektorat und die deutsche Besetzung der Tschechoslowakei gemeint, aber stets vermeidet es Weil, die Deutschen direkt anzusprechen. Selbst wenn er von “ihrer Sprache” spricht, nennt er “sie” nie beim Namen. Dieser dramaturgische Kniff macht seine schreckliche Gegenwart zu einer noch erschreckenderen Zukunftsvision als etwa “1984” oder “Fahrenheit 451”. Der Totalitarismus und die Verfolgung einer Minderheit, im vorliegenden Fall die Juden, ist austauschbar und könnte überall passieren: Es kann jeden treffen. In der Absurdität der Anordnungen der Behörden liegt der eigentliche Terror und Schrecken. Die Besetzer behandeln die Bewohner der besetzten Gebiete wie Tiere, ihr Interesse und ihre Gier gilt allein ihren “Dingen”. Sie sehen keine Menschen, sondern nur Mittel zur Bereicherung und wen sie daran beteiligen, der wird mitkorrumpiert. “Teile und herrsche” wird zu einem Schreckensszenario des Alltags und schuld daran ist nur die “Hoffnung“. Und das perfideste daran ist, dass jene, die Widerstand leisten, zu den eigentlichen Schuldigen erklärt werden. So funktioniert eine totalitäre Gesellschaft.

Jiří Weil arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg am Jüdischen Museum in Prag. Als Redakteur und Autor, war er in seiner schriftstellerischen Tätigkeit durch ein siebenjähriges Publikationsverbot stark eingeschränkt. Erst 1956 wurde er rehabilitiert, starb aber leider schon drei Jahre später an Leukämie. Aber seine Stimme ist immer noch zu hören: in seinen Büchern. Seit 2020 wird an einer ersten Gesamtausgabe seines Werkes in Prag gearbeitet. Im Wagenbach Verlag ist auch sein Buch “Mendelsohn auf dem Dach” erschienen und hoffentlich bald auch seine anderen Werke, wie etwa “Moskau – Die Grenze” (1937) u.a. Ein großes Werk, das mehr Beachtung verdient.

Jiří Weil
Leben mit dem Stern
Aus dem Tschechischen von Gustav Just
2020, Broschur, 256 Seiten
ISBN 978-3-8031-2825-6
Wagenbach Verlag
14,– €


Genre: Holocaust, Nationalsozialismus, Protektorat, Roman, Stalinismus, Tschechoslowakei
Illustrated by Wagenbach

Das schwarze Königreich

Das schwarze Königreich von Szczepan Twardoch

Das 2019 ebenfalls bei Rowohlt erschienene Werk „Der Boxer“ zeigte Twardochs Protagonisten, Jakub Shapiro, am Höhepunkt seines Lebens und Wirkens. In „Das schwarze Königreich“, der Fortsetzung,  ist er nur mehr ein Schatten seiner selbst und auf fremde Hilfe angewiesen.

Das schwarze Königreich des Jakub Shapiro

Aus Zorn und Hass ist mein Lebenswille gewebt, Zorn und Hass sind schwer und nicht leicht zu tragen, doch mitnehmen muss man sie, denn ohne sie endet man vorzeitig dort, wo ohnehin alle enden.“ Der einstige „König der Warschauer Unterwelt“ muss zusehen wie nicht nur sein Reich zerfällt, sondern auch das Warschau, das er kannte. Die deutsche Besatzung Polens 1939, die Warschauer Aufstände, das Ghetto sind die Echokammern eines Romans, der nicht nur intelligent gebaut ist, sondern auch den Leser in einen Strudel hinabreißt, aus dem es kein Entrinnen gibt. Twardoch erzählt den vorliegenden 2020 erstmals bei Rowohlt auf Deutsch erschienen Roman aus zwei Perspektiven, die er immer wieder wechselt. Der halbwüchsige Sohn David, der sich nach der Trennung seiner Mutter Emilia von seinem Vater Jakub um seinen Bruder Daniel und seine Mutter kümmert ist die eine Stimme des Romans. Die andere Stimme des Romans ist Ryfka, die einst ein Bordell leitete, wo Jakub in seinen besseren Zeiten Stammgast war. Sie liebt ihn so sehr, dass sie sich auch um den kranken Mann kümmert, der er jetzt geworden ist.  Ihr Zorn und ihr Hass sind es, die das gemeinsame Überleben sichern.

Überleben als Rache und Sühne

“Der Boxer” erschienen bei Rowohlt 2019

Auffallend am Stil dieses Romans ist aber auch die Konzeption. Die Tempuswechsel in der Erzählung von Ryfka Kij, die stets zwischen Präsens und Präteritum wechselt, charakterisieren die Brisanz ihres Narrativs.  Denn sie ist noch am Leben und nur deswegen kann sie all die Schrecken und den Terror des Krieges uns Nachgeborenen schildern. Sie war dabei und hat überlebt. An der Seite eines „bösen Mannes“, der nicht nur seine Frau und die Zwillinge enttäuschte. „Auf diese Art kann ich ihn bestrafen, indem ich ihn am Leben halte, so kann ich mich selbst strafen, und nur so kann ich auch weiter lieben. Die Liebe zu diesem bösen Mann ist alles, was mir geblieben ist.“ Szczepan Twardoch, Jahrgang 1979,  erzählt von Juden, Polen, Deutschen, von Tätern und Opfern, Kollaboration und Terror und macht auch vor den Sowjets nicht halt. Denn von diesen von Hitlers Wehrmacht befreit zu werden ist wahrlich kein einfaches Schicksal. Twardoch erzählt nämlich auch vom Holodomor, der Hungerkatastrophe, die durch Stalins Zwangskollektivierung Millionen Opfer nicht nur in der Ukraine forderte. „Der Krieg wird irgendwann zu Ende sein, und die Deutschen werden ihn verlieren, dann wird es gut sein, ans Licht zu kommen und wieder Mensch zu sein.“

Ein erschütternder und auch trauriger Roman, der dennoch Hoffnung macht, weil er zeigt, dass man trotz der vielen Opfer überleben kann und muss. Um diese und andere Geschichten zu erzählen und Sühne zu verlangen.

Szczepan Twardoch

Das schwarze Königreich

Übersetzt von: Olaf Kühl

2020, Hardcover, 416 Seiten

ISBN: 978-3-7371-0073-1

24,00 €

Verlag: Rowohlt Berlin


Genre: Deutsche, Juden, Noir, Polen, Warschauer Ghetto, Weltkrieg
Illustrated by Rowohlt

Venedig. Wintertage in der Serenissima


Venedig. Wintertage in der Serenissima.
Venedig Connaisseur und Liebhaber Wolfgang Salomon lädt wieder zu einer Reise in die Lagune ein, dieses Mal im Winter. Er bietet dem/r geneigten Leser/in einen “Slowtravel” mit Tonspur an, denn zusätzlich zu den zumeist selbst geschossenen anmutenden Bildern und Texten, ergänzt er seine Ausführungen mit Empfehlungen aus seinem ganz persönlichen Venedig Soundtrack.

Venedig für Liebhaber

Salomon beginnt seinen Lagunenreigen mit einem Inselhüpfen und landet als erstes auf der Friedhofsinsel San Michele, die 2019 einmalig mit einer Pontonbrücke mit Venedig verbunden wurde. Das Wahlgeschenk des Bürgermeisters kam aber schlecht an und wurde sogleich wieder abgeschafft. Aber dafür gibt es ja die beiden anderen traditionellen Pontonbrücken im Juli und November an anderen Stellen in Venedig. San Michele jedenfalls steht bei Salomon nicht für Thomas Manns Novelle “Tod in Venedig”, sondern für Baron Corvo auch bekannt als Frederick Rolfe, der offener und skandalöser über Homosexualität schrieb, als der deutsche Schriftsteller es sich je zu träumen gewagt hätte. Das teils autobiographische Werk des Engländers Rolfe “The Desiree and Pursuit of the Whole” (1909) schildert die Liebe zu einem hermaphroditen Gondoliere. Der Autor selbst blieb bis zum bitteren Ende ein Bewohner Venedigs, schlief am Strand von Lido oder auf seiner privaten Gondola. Dafür wurde er aber in Hugo Pratt’s Corto Maltese (Favola di Venezia) als Baron Corvo verewigt und zumindest so unsterblich. Selbst der große Cantautore Paolo Conto verneigt sich in seinem Song “Sirat Al Bunduqiyyah” vor Rolfe und Pratt, was Salomon einen eigenen Tonspur-Tipp wert ist.

Venedig. Wintertage in der Serenissima.

Orte zum Aufwärmen” nennt Salomon seine Hinweise für kalte Wintertage, an denen man zwischen ausgedehnten Spaziergängen auch einmal ein “Bedürfnis” verspürt. Dem kann zum Beispiel im kürzlich neu eröffneten Sisi-Trakt des Museo Correr nachgegangen werden, oder aber in der Area Forte Marghera, das mit dem Pendelzug vom Bahnhof Santa Lucia bis Mestre und dann mit dem Bus 15 vom Bahnhof Mestre aus erreichbar ist. Dort haben schon länger einige kreative Köpfe ihren Platz gefunden, mittlerweile aber auch die Kunstbiennale einige Pavillons bespielt. Erinnerungen an Edgar Allen Poe’s Erzählung “Das Fass Amontillado“, in der der Erzähler seinen Erzfeind zur Zeit des venezianischen Karnevals in einen Keller lockt, werden beim Autor wach, als er sich in die Krypta der Chiesa die Santi Simeone e Giuda verirrt. Die Kirche, die vis a vis vom Bahnhof Santa Lucia steht, kennt jeder Tourist vom Warten auf seinen Zug, aber wenige die wenigsten haben sie wohl je betreten. Wer sich lieber in einem Café oder einer Bar aufwärmt den führt Wolfgang Salomon zu den Klängen von Angelo Badalamenti, dem Soundtrack zur Novelle “The Comfort of Strangers” von Ian McEwans Verfilmung durch Paul Schrader zur besten Pizzeria Venedigs. Pizzeria Aciugheta (Campo Santi Filippo e Giacomo) befindet sich in der Nähe des Ristorante Albiubagiò (Fondamente Nove 5039) in einer weniger touristischen Gegend Venedigs. Wer lieber Süßes mag, dem empfiehlt Salomon etwa die Pasticceria Tonolo, die die einzigartigen Martinsfritelle erfunden hat. Mit Rosinen, Zabaione-Creme oder Chantilly. Aber nur im November, wenn der Hl. Martin Geburtstag hat. So wie es auch die Castradina nur zum zur selben Zeit stattfindenden Salute Fest gibt. Im Grandhotel Palazzo dei Dogi gibt es noch ein Unikum, den letzten Eiskeller Venedigs, die Grottin del Giasso. Für die ganz Mutigen hier ein letzter Tipp: Venice Kayak, auf der gleichnamigen Homepage gibt es Bootstouren im Angebot, es sei denn die Kanäle sind mal wieder zugefroren. Zuletzt passierte das 1929, wovon man sich im Netz unter “Laguna Ghiacciata” überzeugen kann. Aber viele weitere brauchbare Tipps finden sich ohnehin in vorliegendem Reiseführer der besonderen Art.

Auch wenn Venedig seinen dekadenten Höhepunkt im 18. Jahrhundert hatte und damals Feste gefeiert wurden von denen man heute nur mehr träumen kann, spielt die Stadt doch auch bei den Celebrities des 21. Jahrhunderts immer noch eine Rolle, weiß Salomon. So heiratete etwa George Clooney seine Frau im Palazzo Papadopoli oder Cole Porter sorgte mit einem Auftritt von Josephine Baker für einen Skandal. “Wintertage in Venedig” bietet aber auch einen Livebericht vom 12.11.2019 als 90% der Stadt unter Wasser standen: Salomon war vor Ort! Weiters: Einkaufstipps wie Dogen-Schlapfen aus Radgummireifen bei Piedàterre Rialto, Antiche Drogerie Màscari, WEnice, etc.

Wolfgang Salomon
Venedig. Wintertage in der Serenissima.
2021, Broschur, 16,8 x 24 cm; 176 Seiten
ISBN 978-3-222-13664-1
Styria Verlag
€ 28,00

 


Genre: Kulinarik, Lagune, off the beaten track, Reiseführer, Sightseeing, Venedig
Illustrated by Styria Verlag Graz

Robinson Crusoe. Neu übersetzt und ungekürzt.

Robinson Crusoe, der Roman in Neuübersetzung. “To be born is to be wrecked on an island“, schrieb James Matthew Barrie und meinte damit vielleicht nicht unbedingt Robinson Crusoe alleine, wiewohl er bestimmt schon von ihm gehört hatte. Denn jede/r kennt Robinson Crusoe. Aber die wenigsten kennen ihn im Original oder ungekürzt, was die hier vorliegende Prachtausgabe in Leinen des mare Verlages nun erstmals auch deutschen Leser/innnen ermöglicht.

300 Jahre Robinson Crusoe

Der Roman (Erstveröffentlichung 1719), der vor rund 300 Jahren von Daniel Defoe (1660-1731) geschrieben wurde, wird zumeist der Abenteuer- oder Jugendliteratur zugerechnet. Jedoch wurde sowohl dem Autor als auch dem Werk damit großes Unrecht zugefügt. Schließlich war Defoe schon 59 Jahre alt als er Robinson Crusoe verfasste und hatte durchaus auch ein reales Vorbild in der Person von Alexander Selkirk, den der Journalist in der Bahia Cumberland kennenlernte, gefunden. Zudem war Defoe ja schon zuvor, also vor Robinson Crusoe, als Journalist und Autor in Erscheinung getreten. Dennoch gilt sein Spätwerk als der “erste Abenteuerroman” der europäischen Literaturgeschichte. Dies ist vor allem den zumeist gekürzten und vereinfachten Versionen, die in deutschsprachigen Ländern in Umlauf sind, verschuldet. Wer sich dem “Klassiker der Meeresliteratur” in seiner ganzen epischen Breite widmet, wird feststellen, dass zwischen seinen Buchdeckeln auch sehr viel Weisheit liegt und nicht nur die Sprache, sondern auch das Denken, das darin enthalten ist, sehr modern ist. Natürlich ist eine deutsche Übersetzung immer noch kein Original, aber dem hält Günther Wessel im lesenswerten Nachwort entgegen, dass die englische Sprache sich – in den letzten 300 Jahren – sehr viel weniger verändert habe als die deutsche. Gerade das habe aber eine Neuübersetzung des zuletzt 1973 (!) ins Deutsche übersetzten Textes zwingend erforderlich gemacht. Und so können wir in der Version von Rudolf Mast endlich einen Text in Händen halten, der so nahe wie möglich am Original ist und so vielleicht für weniger Missverständnisse sorgt wie bisher. Denn auch der Defoe angekreidete “Kolonialismus eines Konquistadors” (Crusoe “benennt” Freitag und sich “Herr”) kann dadurch relativiert werden, dass Defoe sich Zeit seines Lebens gegen die damals und heute durchaus übliche Ausländerfeindlichkeit einsetzte in seinem Gedicht “The true-born Englishman” diesen Ausdruck als “a contradiction in terms, in speech an irony, in fact fiction” bezeichnete. Das klingt doch sehr modern für 17. Jahrhundert. Eine klare Absage an Rassismus und Rassenlehre also.

Neuübersetzung nahe am Original

Daniel Defoe hat aber nicht nur eine literarische Gattung begründet, sondern sie zugleich auch lust- und absichtsvoll zerstört, wie ich Günther Wessel beipflichten möchte. Denn nicht nur dass eigentlich sehr wenig Abenteuer im Abenteuerroman schlechthin enthalten ist (genau genommen nämlich nur am Anfang und am Ende), sondern vielmehr noch steckt in Robinson Crusoe, dem Roman, die Sehnsucht nach der Ferne, zugleich aber auch die Weltflucht und Kontemplation, die vielleicht einige Jahrhunderte später genau jene Revolution auslöste, die die Herrschaft der Könige und Kaiser beendete. Denn die 28 Jahre, die Robinson Crusoe, der Mensch, auf der Insel verbrachte hatten ihm vielleicht genau jene Einsicht eingebracht, die vielen von uns auch heute noch fehlt: schau nicht auf das, was dir fehlt, sondern auf das, was du hast. Und so gesehen sind wir alle Glückliche, egal auf welcher Seite des Lebens wir stehen, denn leben selbst ist das größte Geschenk, das uns nur einmal (im Leben) gereicht wird. Wenn wir auch nicht alle das (Un-)Glück haben, auf einer einsamen Insel zu stranden, um uns der wesentlichen Dinge des Lebens bewusst zu werden, ist Robinson Crusoe, der Roman, doch eine gute Gelegenheit eben dorthin zu entfliehen. Zumal die Ausgabe des mare Verlages nicht nur ungekürzt und so nahe am Original wie möglich ist, sondern auch noch in einer wunderbaren bibliophilen Ausgabe gedruckt wurde und im Schmuckschuber auch Reisen schadlos überstehen kann.

Daniel Defoe
Robinson Crusoe
Roman
(Originaltitel: The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe)
Aus dem Englischen von Rudolf Mast
2019, Leineneinband im Schuber, 416 Seiten
ISBN: 978-3-86648-291-3
Mare Verlag
42,00 €

 

 

 

 

 

 


Genre: Abenteuerroman, Jugendliteratur, Neuübersetzung
Illustrated by Marebuchverlag Hamburg

Batman – Krieg dem Verbrechen

Batman – Krieg dem Verbrechen. Nicht nur die XL-Maße (26 x 36 cm) dieses Xtra-vaganten Batman-Abenteuers haben es in sich. Autor Paul Dini und Zeichner Alex Ross haben eine preisgekrönte Interpretation des Dark Knight Mythos geschaffen, das sich gegen andere wie die Sixtinische Kapelle ausnimmt. Einblicke in die Straßenschlachten Gotham Citys und die Schöpfungsgeschichte des wohl umstrittensten Verbrechensbekämpfers des 20. Jahrhunderts. Eine Hommage.

Batman – Krieg dem Verbrechen mit der Aura der Angst

Bruce Wayne ist seit der Ermordung seiner Eltern dazu verdammt, zwei Leben zu führen. Einerseits das des reichsten und einflussreichsten Mannes von Gotham City und andererseits das von Batman, des dunklen Schergen, der eine Maske trägt, wie seine größten Widersacher. “Ein Wesen, das in den Schatten lebt und offenbar unmenschliche Kräfte besitzt. Fantasie und Aberglaube machten ihn zu einem Geschöpf, das man meidet.“, schreibt Paul Dini. Die “Aura der Angst” die ihn umgibt, ist auch sein Schutz, denn allzu freundlich darf er auch nicht zu jenen sein, die er eigentlich beschützt. Genauso als Bruce Wayne: auch diese seine andere Identität ist dazu verdammt, auf allzu enge soziale Beziehungen zu verzichten. Bruce Wayne benutzt öffentliche Events als Informationsquelle: “eine Arena, um Kontakte herzustellen, die mir helfen, andere Schlachten zu gewinnen“. Wenn er wirklich zu dem geworden wäre, als was andere ihn sehen? Er sich von Verführungen hätte verlocken lassen? Natürlich sehnt auch er sich nach Stabilität, Sicherheit, Familie, allein, es ihm ein anderes Schicksal beschieden.

Arena der traumatischen Identitäten

Im ehemaligen Bayside Industriegebiet von Gotham City sollen neue Wohnhäuser und Geschäfte entstehen, um die Gegend aufzuwerten. Der soziale Brennpunkt soll damit der Vergangenheit angehören und einige Multimillionäre noch reicher machen. Einer der Investoren heißt Randall Winters und wird sowohl für Bruce Wayne als auch Batman zum Gegenspieler in einem großformatigen, im frühen Zeichenstil der Batman-Geschichten gehaltenen Abenteuer. Der kleine Marcus, der Batman mit einer Waffe bedroht ist gerade in dem Alter, in dem Bruce Wayne seine Eltern verlor. Aber er hat kein Familienimperium hinter sich. Seine Welt ist die der Gangs und Verbrechen. Denn sie bieten ihm Arbeit und Schutz. Genauso wenig wie Bruce kann auch Marcus irgendjemand seine Eltern zurückbringen. Aber er kann sich entscheiden zu dem zu werden, das ihre Familien getötet hat oder zu dem, was sie schützt. “Wenn ich ein Kind zurückgewinnen kann, gibt es auch Hoffnung für andere“, resümiert Batman, denn er weiß, gegen das Verbrechen ist auch er machtlos. Aber jeder Tag ist eine neue Herausforderung und auch kleine Siege führen zum Ende des Krieges. Vorläufig.

Alex Ross/Paul Dini
Batman – Krieg dem Verbrechen
(Original Storys: Batman: War On Crime)
2021, Hardcover, 76 Seiten, Maße ca. 26 x 36 cm.
ISBN: 9783741623394
27,00 €
Panini


Genre: Batman, Biographie, Comics, Graphic Novel
Illustrated by Panini Comics

Triest für Fortgeschrittene

Triest für Fortgeschrittene. Die “südlichste Stadt des Nordens“, war und ist ein Freihafen, der immer schon Venezianer, Griechen, Slowenen, Serben, Juden, Armenier und Norddeutsche sowie allerhand “Abenteurer, Hochstapler und Parvenüs, Künstler, Dichter, Philosophen und Intellektuelle” anzog, schreiben die Autoren, wobei Bernard eher die Texte und Desrues eher die Fotos beisteuerte.

K.u.k. Freihafen Triest

Der Hafen ist auch heute noch der größte Arbeitgeber der Stadt und anscheinend sogar der größte Hafen Italiens unter den zehn bedeutendsten Europas. Der historische “Alte Hafen” wurde kürzlich wieder eröffnet und steht Radfahrern, Joggern und Touristen offen. Die dortige Hydrodynamische Zentrale, die einst die Aufzüge und Kräne antrieb, ist sogar in “giallo Austria“, also dem berühmten Schönbrunn-Gelb gehalten. Bis 1988 stand sie Tag und Nacht in Betrieb und kann heute als Beispiel für eine Ruine des Industriezeitalters besichtigt werden. Aber der Alte Hafen (“porto vecchio“) hat heute wieder eine blendende Zukunft: Museen sollen dort angesiedelt werden, die auch die Geschichte der und des Vertriebenen erzählen werden. Das kleine Wahrzeichen des Hafens, der Kran Ursus, “la nostra piccola torre Eiffel“, wurde durch die Bora sogar einmal auf’s Meer hinausgetrieben, aber wieder eingefangen. Heute steht er wieder fest im Ponton verankert als Wahrzeichen für eine prosperierende Zukunft Triests.

Triest für Fortgeschrittene

Die Bora bringt uns auch zu einem weiteren wichtigen Charakteristikum der Stadt: erstens sie liegt am Meer und zweitens es bläst ständig ein Wind. Die Bora entsteht durch die Mischung der warmen Luft des Landesinneren mit jener kalten des Meeres. Sie bläst teilweise über 100km/h und es wird geraten, sich anzuhalten. Wer etwa den Hausberg Triests besteigt, wird dankbar über die eisernen Handläufe sein, die an den dortigen Häusern angebracht sind. Aber man kann auch die Tramway nach Opicina nehmen, die einzige der Welt, die auf einen Berg und gleichzeitig in ein anderes Land führt. Wer lieber in die andere Richtung geht oder fährt, landet auf einem der Badeplätze Triests, denn genau diese Stadt ohne Sandstrand war es, die erstmals 1824 das Baden im Meer institutionalisierte, so die Autoren.

Insidertipps für Triestliebhaber

Neben Tipps für Fischrestaurants und den besten Badeplätzen, wartet der vorliegende intelligente Reiseführer auch mit eigenen Kapiteln zum Triestiner Dialekt, der Fauna und Flora, Buschenschanken und Buffets, Märkte, Kaffee, Habsburger, Museen und Übernachtungsmöglichkeiten auf. Als Appetitanreger und Einführung in das Triester Leben und seine Geschichte und Kultur empfehle ich das Kapitel “Die Blaue Tram” über die Strassenbahnlinie 2 nach Opicina. Obwohl die Tram 2016 wegen eines Unfalls eingestellt wurde, zeigt diese Erzählung alles das, was Triest den Besucherinnen und Besuchern zu bieten hat. 2022 soll sie ohnehin wiedereröffnet werden und so wird auch eine der spektakulärsten Aussichten auf Triest und das Hafenbecken wieder ermöglicht. Wer also von Triest mehr als nur die prächtige Piazza dell’ Unità d’Italia sehen will, liegt mit vorliegender Publikation, die reich und ansprechend illustriert ist, genau richtig. Insidertipps der Triest-Kenner und Slowfood-Experten inklusive.

Die Autoren

Georges Desrues, geboren 1966 in Paris, aufgewachsen in Wien, lebt als freier Autor und Fotoreporter seit fünfzehn Jahren in Italien, die letzten fünf davon in Triest. Spezialgebiete sind Reisen, Essen und Trinken sowie Landwirtschaft. Zahlreiche Publikationen im In- und Ausland, darunter in „Profil“, „Der Standard“, „Die Welt“, „Gourmet Traveler“, „Welt am Sonntag“, „Port Culinaire“, „A la Carte“ und in vielen anderen Medien.

Erich Bernard, geboren 1965, lebt als Architekt und Autor in Wien und Triest. Studium an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Zahlreiche kultur- und architekturhistorische Publikationen. Er beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit der Architektur- und Kulturgeschichte von Triest. Gründungspartner von BWM Architekten in Wien. Zu seinen gestalterischen Arbeiten zählen u.a. das Hotel Gilbert, das Gasthaus Figlmüller und das Sacher-Eck in Wien.

Georges Desrues/Erich Bernard
Triest für Fortgeschrittene
2021, Broschur, 16,8 x 24 cm; 192 Seiten
ISBN 978-3-222-13668-9
Styria Verlag
€ 28,00


Genre: Geschichte, Habsburg, Hafenstädte, Italien, Reiseführer, Tourismus
Illustrated by Styria Verlag Graz