Die morawische Nacht

Bilanz eines verbiesterten Dichterlebens

In «Die morawische Nacht» erzählt Peter Handke von der selbstkritischen Lebensbilanz eines namenlosen Ex-Schriftstellers, in der sich zwar etliche Parallelen zum Autor zeigen, die aber kaum autobiografisch gedeutet werden können. Der Buchtitel bereits weist mit der Morava als Nebenfluss der Donau auf den Balkan hin, und so ist denn der Ort der Rahmenhandlung tatsächlich ein Hausboot, auf das jener Schriftsteller zu später Stunde sieben Freunde einlädt, um ihnen, da er ja nicht mehr schreibt, nun eben mündlich von seiner gerade erst beendeten, langen Reise durch Europa zu berichten.

Überraschend befindet sich auch eine, im allegorischen Sinn schöne Frau an Bord, die bei der Bewirtung hilft, deren Beziehung zu dem als frauenfeindlich geltenden Gastgeber aber im Dunkeln bleibt. Im Laufe der Nacht erzählt nun der «ehemalige Schriftsteller» den einzeln, an getrennte Tische platzierten Freunden, alles Männer natürlich, von seiner Reise, auf der er auch einige der Zuhörer getroffen hat. Die lösen ihn dann ihrerseits zeitweise als Erzähler ab und berichten von dem gemeinsam Erlebten. Einer der Gäste unterbricht immer wieder mal als vorlauter Zwischenrufer den Erzählfluss und stellt Fragen zu unklar gebliebenen Details. Die mit einem klapprigen, uralten Bus der österreichischen Post begonnene Reise aus der serbischen Enklave, wo das Hausboot vor Anker liegt, führt zunächst nach Belgrad. Von dort geht es weiter auf die fiktive Adriainsel Cordura, mutmaßlich Krk, wo Handke einst seinen ersten Roman geschrieben hatte. Nächste Station ist eine gottverlassene Hochebene in Spanien, wo ein Kongress über Lärm und Geräusche stattfindet. In Wien gerät der Erzähler zufällig in ein nicht minder merkwürdiges ‹Festival der Mundorgelspieler› aus der ganzen Welt, danach besucht er das Grab seines Vaters im Harz und fährt nach Kärnten, seiner als «Stammgegend» bezeichneten Heimat.

Die Rahmenhandlung dieser nicht nur von der Textmasse her üppigen Erzählung dient als Vehikel für eine großangelegte, radikale Selbstprüfung des «ehemaligen Autors» in Form einer «imaginierten Reportage». Voller Ironie werden dabei in ebenso lebendigen wie präzisen Bildern, oft phantastisch anmutend, markante Figuren gezeichnet, geheimnisvolle Orte beschrieben, wundersame Begebnisse geschildert. Mit vielen Fragezeichen durchsetzt ist diese handketypisch kleinteilige Prosa in Satzschnipsel zerhackt, üppig mäandrierend und immer wieder durch Ergänzungen, Zweifel, Klarstellungen unterbrochen, meist in Klammern gesetzt. Dieses Buch ist somit auch eine fragmentarische Erzählung über das Erzählen selbst, versinnbildlicht durch die ständigen Korrekturen des bereits Gesagten als untrennbar zum Prozess des Schreibens gehörig. Und bei diesem Prozess kann eine Frau ja nur stören. Schriftsteller zu sein und Liebhaber in einer Person, das erscheint somit völlig unmöglich. Es ist zumindest kontraproduktiv und kann im schlimmsten Fall sogar in Mord und Totschlag enden. Folglich ist die Frau im Buch nur anfangs in einer Nebenrolle sichtbar, ansonsten eher kurz mal als Vision, wie auch ganz am Ende.

Es ist müßig, abzuschätzen, inwieweit diese Selbstbefragung eines Schriftstellers wirklich nur den ‹ehemaligen› oder doch auch den nobelpreis-gekrönten Autor selbst betrifft, und wenn letzteres zutrifft, inwieweit sie ernstgemeint ist. Hier wird, oft meditativ anmutend, anhand von Erinnerungen, Reflexionen und präzisen Alltags-Beobachtungen beschrieben, wie einer mit sich selbst nicht klarkommt. Einer, der sich selbst im Wege steht, der keinen an sich heranlassen will, für den das Alleinsein höchstes Glück bedeutet, ein Misanthrop par excellence. Der am Ende seiner Reise dann auch kein Hausboot mehr vorfindet, alles ist weg. Er ist nun wunschgemäß völlig mit sich allein, seine Geschichte aber haben offensichtlich die Freunde aufgeschrieben. Als (selbstironische?) Bilanz eines verbiesterten Dichterlebens ein intensives Leseerlebnis!

Fazit: lesenswert

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Genre: Erzählung
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Der Fetzen: Roman

Als alle Charlie sein wollten

Das Leben des französischen Journalisten Philippe Lançon, der für die Tageszeitung „Libération“ und das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ schreibt, veränderte sich am 7. Januar 2015 auf fundamentale Art und Weise: Am Morgen jenes Tages verübt die Organisation „Al-Quaida im Jemen“ einen Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris. Sie töten elf Menschen und verletzen mehrere.

Philippe Lançon überlebte den Anschlag nur knapp und wurde an Händen und Armen schwer verletzt – vor allem aber im Gesicht. Sein Mund und sein kompletter Unterkiefer wurden weggeschossen, übrig blieb ein klaffendes Loch. Er muss sich 17 Operationen unterziehen. Fast das gesamte Jahr 2015 verbrachte er in der Chirurgie des Hôpital de la Pitié-Salpêtrière und zur Anschlussheilbehandlung im Hôpital des Invalides.

„Der Fetzen“ beginnt mit drei hinführenden Kapiteln („Was ihr wollt“, „Fliegender Teppich“, „Die Konferenz“) und kommt dann zur Sache selbst: eine detaillierte Beschreibung des 7. Januar 2015, der Tag des Attentats. Es war ein Jazzbuch, das Philippe das Leben gerettet hat. Philippe wollte eigentlich schon aufbrechen, doch er blieb noch zwei Minuten stehen, um dem Comiczeichner Jean Cabut – der beim Anschlag ermordet wurde – ein neues Jazzbuch zu zeigen:

„Wenn ich nicht stehengeblieben wäre, um es ihm zu zeigen, wäre ich zwei Minuten früher gegangen und, ich habe es hundertfach durchgerechnet, im Flur oder im Treppenhaus auf die beiden Mörder gestoßen. Sie hätten mir wahrscheinlich eine Kugel oder mehrere in den Kopf gejagt, und ich wäre den anderen Palinuri, meinen Gefährten, ans Ufer der grausamen Bewohner und in die einzig existierende Hölle gefolgt; die, in der man nicht mehr lebt“ (Seite 74f.).

Der Roman endet in den Novembertagen 2015, als Philippe die erste USA-Reise seit dem Anschlag unternimmt. In New York erreichen in die Berichte von den Anschlägen vom 13. November 2015 des sog. „Islamischen Staates“ (IS) in Paris, bei denen 130 Menschen getötet und mehr als 680 verletzt wurden. Seine Chirurgin Chloé, die weiß, dass Philippe gerade nicht in Frankreich weilt, schreibt ihm eine SMS um ein Uhr morgens:

„Ich bin froh, Sie weit weg zu wissen. Kommen Sie nicht so bald wieder“ (Seite 548).

Mit dieser SMS endet der Roman von Philippe Lançon.

Zum Zeitpunkt des Anschlages im Jahr 2015 war Charlie Hebdo eine Zeitschrift, die eigentlich bereits am Ende war, Philippe spricht offen vom „Niedergang“ – sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Dieser Rückblick auf die Zeit vor 2015 ist wichtig, denn der nach dem Anschlag entstehende Hype unter dem Slogan „Ich bin Charlie“ kommt nicht ganz ohne Heuchelei aus. Philippe erläutert, dass „Charlie Hebdo“ bis zur Affäre um die Mohammed-Karikaturen um Jahr 2006 eine maßgebliche Rolle in der Kulturlandschaft gespielt hat. Doch danach distanzierten sich die meisten Zeitungen von der Wochenzeitschrift, weil sie die Mohammed-Karikaturen veröffentlich hatte. Die Zeitung wurde um ihre Stammleserschaft gebracht. Entsprechend deutlich waren die Worte von Philippe:

„Abwechselnd kam man sich vor wie in einer Teestube oder in der Replik einer stalinistischen Zell. Diese fehlende Solidarität war nicht nur eine berufliche und moralische Schande. Indem sie Charlie isolierte und anprangerte, machte sie die Zeitung zu einer Zielscheibe der Islamisten“ (Seite 65).

Man kann durchaus die These vertreten: Hätte es den Anschlag nicht gegeben, es würde „Charlie Hebdo“ heute nicht mehr geben. Der Anschlag veränderte alles – auch die betriebswirtschaftliche, ökonomische Situation der Wochenzeitschrift:

„Am 7. Januar 2015 gegen 10 Uhr 30 waren in Frankreich nicht viele Leute Charlie“ (Seite 66).

Nur wenige Minuten später kam es zu einer radikalen Veränderung. Viele wollten Charlie sein.

Zwei Leben

Die fundamentale Art und Weise, auf die sich das Leben von Philippe durch den Anschlag veränderte besteht darin: der alte Philippe ist tot. Der 7. Januar 2015 war die „Stunde Null“ für Philippe. Seine alte Identität war weggefetzt worden. Sehr detailliert beschreibt er das Attentat und die unmittelbaren Minuten und Stunden danach. Es sind jene Bilder, die sich durch den Rest des Buches hindurchziehen. In seiner eigenen Blutlache liegend setzt sich der Anblick seines Kollegen und Freundes Bernard in seinen Gedanken fest, der tot auf dem Bauch lag und dessen Gehirn aus dem Schäden hervorquoll:

„Bernard ist tot, sagt mir derjenige, der ich war, und ich antwortete, ja, er ist tot, und genau hier wurden wir eins, an jenem Punkt, an dem dieses Gehirn hervorquoll, das ich am liebsten wieder in den Schädel zurückgestopft hätte und von dem ich mich nicht mehr losreißen konnte, denn seinetwegen habe ich in diesem Moment endlich gespürt und begriffen, dass etwas nicht rückgängig zu Machendes geschehen war“ (Seite 87).

Ist der neue Philippe ein Opfer? Ist er ein Held?

Ein Krankenpfleger sagt einmal zu Philippe, dass es nun in seiner Familie einen Helden gebe (Seite 196). Doch Philippe beschreibt, dass er sich nicht als Held fühlt und sich gleichzeitig schämt, die ihm von den Umständen zugewiesene Rolle nicht spielen zu können. Er gibt offen zu, dass er die typischen Schuldgefühle des Patienten habe. Er ist in allem abhängig und kann nicht einmal die Abhängigkeit kontrollieren. Eine besondere Abhängigkeit durchzieht sich im ganzen Roman zu seiner Chirurgin Chloé, die seinen neuen Unterkiefer gemacht hat. Chloé wird von Philippe idealisiert – oft stellt der Leser sich die Frage: Hat sich Philippe in Chloé verliebt? Doch diese Romantik bleibt uns Lesern dankenswerter Weise erspart.

Philippes Buch ist weder eine Heldengeschichte noch die Anklageschrift eines Opfers. Philippe ist Überlebender. Sein neuer Unterkiefer, den er ab sofort „Schnitzel“ nennt, wird mühsam aus einem seiner Wadenbeine rekonstruiert.

Bereits sieben Tage nach dem Attentat veröffentlicht Philippe einen Beitrag in „Libération“. Zum ersten Mal in seiner damals dreißigjährigen Berufstätigkeit berichtete er in einer Zeitung über sich selbst. Nicht zuletzt diese Zeilen sind eine sehr lohnenswerte Lektüre, denn sie erinnern uns an den Wert der Pressefreiheit:

„Dieses Attentat hat mir in Erinnerung gerufen, wenn nicht erst entschlossen, weshalb ich meinen Beruf bei diesen beiden Zeitungen ausübe – weil ich die Freiheit hochhalte und für sie eintreten möchte, in Form von Nachrichten oder Karikaturen, in guter Gesellschaft und in allen möglichen Formen, die, selbst wenn sie missraten sind, kein Urteil verdienen“ (Seite 215).

Philippe hat diese Freiheit mit dem Drittel seines Gesichts bezahlt.

Rekonstruktion durch Literatur: Kann Literatur wirklich Leben retten?

Das Ziel von „Der Fetzen“ ist eine Rekonstruktion in einem doppelten Sinne. Zum einen geht es für Philippe darum, dem Leser und dem „neuen Philippe“ nachzuzeichnen, wie sein Unterkiefer mühsam aus seiner Wade („Sekundärtransplantation“) rekonstruiert. wird. Zum anderen geht es für Philippe aber um eine viel tiefergehende Rekonstruktion, nämlich die bereits angedeutete, seelische und geistige Rekonstruktion als neuer Philippe.

Damit die seelische und geistige Rekonstruktion als neuer Philippe gelingt, schreibt er diesen Roman. Literatur hat ihm das Leben gerettet. Um zu verstehen, wie Literatur wirklich Leben retten kann, bringen wir kurz Denis Scheck ins Spiel: In seinem „Vorwort zu einem frivolen Unternehmen“ zu seinem „Kanon“ über die „100 wichtigsten Werke der Weltliteratur“ berichtet Denis Scheck über ein Gespräch mit Stefan Raab. Raab gilt als sehr belesen, liest keine Belletristik. Raab stellte Scheck die kritische Frage, warum solle er sich denn mit Literatur aufhalten solle und nie begriffen habe, weshalb er sich für erfundene Probleme erfundener Figuren interessieren müsse. Für Scheck gibt es keinen Zweifel daran, dass wir nur lesend die Welt verstehen und uns in ihr zurechtfinden können:

„Im Spiel der Kunst, nicht zuletzt im Gedankenspiel der Literatur entwickeln wir jene Systeme der Wahrnehmung, unserer moralischen Werte und ethischen Orientierung, die es uns erlauben, uns in dieser Welt zurechtzufinden. Nur lesend verstehen wir diese Welt – und fühlen uns sogar gelegentlich von der Welt verstanden“ (Quelle: Denis Scheck 2019: Schecks Kanon. Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur von „Krieg und Frieden“ bis „Tim und Strupi“, München: Piper, Seite 8).

Weit über das Verstehen der Welt hinaus hat die Literatur das Potenzial, Leben zu retten:

„Literatur hat mir das Leben gerettet. Oft. Literatur hat mich beschützt und bewahrt, aber auch ausgesetzt und aus der Passivität ins Leben gestoßen“ (Seite 9).

Literatur und vor allem sein Dialog mit einer riesigen Werkgeschichte hat Philippe nicht das Leben gerettet. Der alte Philippe ist tot. Literatur hat das Leben des neuen Philippe gerettet. Es war eine Rettung durch Verwandlung. Dass dieser Prozess der Verwandlung in den neuen Philippe sehr schwierig war, veranschaulicht er unter anderem mit der Hilfe von Marcel Proust:

„Nichts ist schmerzlicher als dieser Gegensatz zwischen der Verwandlung der Menschen und der Starrheit der Erinnerung, wenn wir begreifen, dass das, was in unserem Gedächtnis so viel Frische bewahrt hat, im Leben keine Frische haben kann“ (Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, zitiert Seite 406).

Für Philippe war die Identitätssuche als neuer Philippe auch deshalb so schwer, weil er die Beständigkeit der Menschen nicht ertragen konnte, die ihn im Krankenhaus besuchten – unter anderem der damalige Staatspräsident François Hollande. Seine Besucher steckten  für immer in den Tagen vor dem 7. Januar 2005 fest. Doch diese Zeit gibt es für Philippe nicht mehr. Der neue Philippe lebt weder die verlorene noch die wiedergefundene Zeit; er lebt die unterbrochene Zeit.

Literatur gibt jedem nicht nur das richtige Gefühl, sondern auch die richtige Orientierung: Du bist nicht alleine. Wir sind alle Opfer. Wir sind alle Helden. Jeder führt große Armeen an. Literatur liefert Verständnis. Literatur befriedigt Bedürfnisse. Literatur macht jeden zum Erwachsenen. Jeder ist ein Dichter. Jeder erobert Königreiche. Literatur lässt den Einsamen nicht alleine. Literatur ist Flucht in die Realität. Wir sind alle Verlierer. Wir sind alle Königskinder.

„Karussell der prophetischen oder didaktischen Kommentare“

In jedem Buch gibt es die persönliche Lieblingsstelle. Meine Lieblingsstelle ist jene Passage, auf die ich gewartet habe. Jene, in der Philippe über den „Sinn“ des Anschlags nachdenkt, Genauer: Über die Frage der (moralischen) Legitimität von politisch motivierter Gewalt bzw. „Terrorismus“ – diesen Begriff verwendet Philippe sehr sparsam. Es ist die einzige Stelle im ganzen Buch, in der Philippe diese Thema anschneidet:

„Ich las praktisch keine Zeitungen, hatte immer noch kein Fernsehen abonniert, und das Radio langweilte mich wie das in den Tiefen eines Sees brummende Geräusch eines Außenbordmotors. Als ich in einer Wochenzeitschrift, die mir jemand mitgebracht hatte, das Interview mit einem französischen Intellektuellen las, der nicht nur mit der Gewalt liebäugelte, sondern von deren inspirierenden und revolutionären Potenzial sichtlich fasziniert war, bestätigte das meinen Reflex – denn man kann es weder Willen noch Überlegung nennen -, das Karussell der prophetischen oder didaktischen Kommentare zu fliehen. Das Denken hatte etwas Skrupelloses, wenn es dem Ereignis, dem es unterworfen war, einen unmittelbaren Sinn zuschrieb. Die Fliege schwang sich zum Adler auf, nur war das keine Fabel, sondern die Wirklichkeit, die triste Wirklichkeit des intellektuellen Hochmuts: Diese Leute hielten sich für Kant, der Benjamin Constant antwortet, oder für Marx, der den Staatsstreich Louis Napoleons analysiert. Sie abstrahieren vorschnell“ (S. 374).

Einfacher ausgedrückt oder auf den Punkt gebracht: Philippe ruft den Gewaltliebhabern zu: „Ich habe es an meinem eigenen Körper erlebt, ihr Schwätzer. Ihr könnt mich mal!“

Die Lieblingsstelle ist ein wohltuender Abgesang Philippes auf den intellektuellen „Diskurse“ – Intellektuelle führen ja Diskurse und nicht bloß Debatten -, die auch im Sinnlosen, Zerstörerischen, Barbarischen und schier Unglaublichen eine eigene Rationalität erkennen möchten. Natürlich gibt es keine Denkverbote und jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung. Auch die Rechtfertigung von Gewalt mag eine eigene Meinung sein. Was allerdings zum Himmel stinkt, ist der intellektuelle Hochmut zahlreicher Analysen, die den Horizont der 1970er Jahre, als über die Rote-Armee-Fraktion und das „Recht auf Gegen-Gewalt“ philosophiert wurde, nicht wirklich verlassen haben und immer noch dem revolutionären Traum der „Verdammten dieser Erde“ nachtrauern. Die gleichen Intellektuellen versuchen nun, in die Talkshows zu gelangen, wenn sie versuchen, den „neuen Terrorismus“ zu verstehen.

Liebe Gewaltliebhaber, lasst euch doch mal etwas Neues einfallen!

„Und die Gewalttätigen reißen es an sich“

Die Titelseite von „Charlie Hebdo“ vom 7. Januar 2015 thematisierte den am gleichen Tag erschienenen Roman „Unterwerfung“ von Michel Houellebecq. In der Redaktionskonferenz am Morgen des 7. Januar 2015 war „Unterwerfung“ dementsprechend das zentrale Streitthema. Philippe erinnert sich, wie er und sein Freund Bernard die Einzigen waren, die das Buch verteidigten: „Fast alle schwiegen oder attackierten es“ (Seite 67).

Es dauert bis zum Ende des Romans, als Philippe auf Houellebecq trifft. Philippe war seinem Gesprächsthema vom 7. Januar 2015 noch nie begegnet. Philippe beschreibt Houellebecq als „zerstörte, mineralische und mitfühlende“ Erscheinung. Als jemand, der aussieht, mit alters- und geschlechtslosem Gesicht, wie jemand, der „die Verzweiflung der Welt auf sich nahm“. Houellebecq wechselte mit Philippe ein paar unverständliche Wörter und zitierte dann die Bibel:

„Und die Gewalttätigen reißen es an sich“ (Seite 540).

Warum verwendet Houellebecq, der Mann mit alters- und geschlechtslosem Gesicht, diesen Vers aus dem Matthäus-Evangelium, wenn er Philippe Lançon, dem Mann mit unterkieferlosen Gesicht, begegnet?

Machen wir einen kleinen „theologischen Ausflug“, der auch für den Nicht-Gläubigen aufschlussreich sein könnte: Ich interpretiere diese Aussage von Houellebecq als ein großes Lob an Philippe – aber zugleich als eine versteckte, unheimliche Warnung. Um diese Interpretation zu belegen, schauen wir uns den kompletten Vers an, denn Houellebecq hat nur die zweite Hälfte des Verses zitiert:

„Von der Zeit an, als Johannes der Täufer auftrat, bis zum heutigen Tag bricht sich das Himmelreich mit Gewalt Bahn, und Menschen versuchen mit aller Gewalt, es an sich zu reißen“ (Neue Genfer Übersetzung).

Kein anderer Prophet wird von Jesus so sehr gelobt wie Johannes der Täufer: „Unter allen Menschen, die je geboren wurden, hat es keinen Größeren gegeben als Johannes der Täufer“ – so lautet es im Vers unmittelbar vor dem „Houellebecq-Vers“. Johannes der Täufer war der Vorläufer des Messias. Seine Predigten an das Volk unterschieden sich fundamental von den Predigten der Pharisäern und Schriftgelehrten. Doch das einfache Volk mochte ihn, wollte Buße tun und sich von ihm taufen lassen. Das gefiel den stolzen und hochmütigen Pharisäern und Schriftgelehrten nicht. Er wurde für seinen aufrichtigen Glauben ins Gefängnis gesteckt und hingerichtet: durch Enthauptung.

Houellebecq vergleicht damit Philippe mit dem Vorläufer des Messias. Offensichtlich ein großes Lob. Er war der Lieblingsprophet von Jesus. Doch er wurde enthauptet. Philippe wurde zwar nicht enthauptet, aber ein Drittel seines Gesichts wurde weggefetzt. Was kann also noch Schlimmeres für Philippe kommen? Hoffentlich wird Philippe nie mehr Gewalt angetan.

Fazit: schwere Kost, aber es lohnt sich

Darf man das Buch eines Mannes kritisieren, dem ein Drittel des Gesichts weggefetzt wurde?

Durch die Lektüre des Buches lernt man Philippe kennen. Und wenn man sich darauf einlässt, ihn wirklich kennenzulernen, dann kann man behaupten, dass der neue Philippe sich über diese Frage ärgern würde. Vielleicht aber auch eher über sich selbst, weil die Lektüre seines Buches den Leser emotional dazu bringt, sich diese Frage überhaupt zu stellen. Philippe ist Literaturkritiker und wahrscheinlich würde er einen Roman wie „Der Fetzen“, wenn er nicht von ihm selbst geschrieben worden wäre, heftig kritisieren. Literaturkritik kann oder sollte zwar ausreichende Sensibilität haben, sollte jedoch nicht ins Sentimentale verfallen.

In diesem Sinne wagen wir uns mutig an eine ketzerische Frage: Ist „Der Fetzen“ wirklich ein Roman?

Julia Encke bezeichnete den „Fetzen“ in einer Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.03.2019) als ein Buch „das kein Roman und doch ergreifender, dichter und literarischer ist als so viele der neuen Romane dieses Frühjahrs.“ In der Tat besteht die literarische Qualität des „Fetzens“ besteht nicht zuletzt darin, dass man Jahre brauchen würde, um die ganze Literatur und Werke aufzuarbeiten, die er in seinem Roman zitiert: Franz Kafka, Thomas Mann, Baudelaire, Marcel Proust, Honoré de Balzac usw. Vielleicht bewirkt der reiche Schatz an Literatur, der im „Fetzen“ steckt“ auch Ärger beim Leser: Wie viele der in „Der Fetzen“ zitierten Werke stehen schon lange ungelesen im eigenen Bücherregal?

An der Universität hat mal ein Dozent im Fachbereich Politikwissenschaft einen Satz geprägt, der bei mir hängen geblieben ist: „Lesen Sie Karl Marx, Max Weber und Sigmund Freud. Das reicht aus, um die nächsten 15 Jahre lang nur noch Déjà-vu-Erlebnisse zu haben.“ Und genau dieses Gefühl hatte ich bei der Lektüre von Philippes „Roman“ nicht.

Reicht das als Grund aus, ihn zur Lektüre zu empfehlen?

Die Antwort ist ein klares „Ja“.


Genre: Erzählung, Roman
Illustrated by Tropen

Die Nacht aus Glas

Es ist, wie es ist

Als vorab veröffentlichter Auszug seines unvollendeten Romans «Jeden ereilt es» erschien 1956 die Erzählung «Die Nacht aus Blei» von Hans Henny Jahnn, es war sein letzter und wohl auch meistgelesener Prosatext. Der Autor gehört zu den lebenslang heftig umstrittenen, sogar von Gewalttätigkeit bedrohten deutschen Schriftstellern, bejubelt und verrissen gleichermaßen. Als krasser literarischer Außenseiter protestiert er gegen ein Weltbild, das den Menschen als Mittelpunkt des real Existierenden darstellt. Sein Werk basiert vielmehr auf der konträren Überzeugung, dass der Mensch ein «Schöpfungsfehler» sei, er reduziert ihn auf das biologische Sein. Die Natur aber ist mitleidlos grausam, eine Versöhnung des Menschen mit ihr sei nur durch die Kunst möglich. Sie allein sei Antrieb seines Schaffens, und dabei verweigert er konsequent jede Moral, negiert zudem jedwede Möglichkeit der Sublimierung, was metaphysische Deutungen einschließt. Eine beinharte Perspektive also eines als überaus schwierig geltenden Schriftstellers!

Mit den Sätzen «Ich verlasse dich jetzt. Du musst allein weitergehen.» beginnt die kafkaeske Geschichte des 23jährigen Mathieu, der nachts von einem Engel in einer unbekannten Stadt ausgesetzt wird, er soll die Stadt erforschen. Auf der Suche nach einer Unterkunft streift er durch menschenleere Strassen mit düsteren Häusern, deren Fenster alle unbeleuchtet sind. Aus einem Hauseingang heraus spricht ihn nach einiger Zeit überraschend ein livrierter Mann an und lädt ihn ein, hereinzukommen, eine schöne Frau erwarte ihn. Ein lasziver Gnom führt ihn in ein Zimmer zu Elvira, einer stark geschminkten, attraktiven jungen Frau, die ihm köstliche Speisen und Getränke vorsetzt. Sie munden ihm aber nicht, erscheinen ihm dumpf, offenbar hat er den Geschmackssinn verloren. Elvira nötigt ihm  Geld auf und bittet ihn dann, einen Moment zu warten, sie verschwindet durch eine Nebentür. Nach einer Weile ruft sie ihn in ihr Boudoir, sie liegt schon im Bett. Als er ihr Nachtgewand öffnet, erkennt er, dass ihr Leib gänzlich schwarz ist und wie poröser Stein wirkt, völlig unbelebt unter der dicken Schminke.

Entsetzt verlässt Mathieu das Haus und trifft wenig später auf der Strasse einen hilfsbedürftig wirkenden jungen Mann, den er zum Essen einlädt. Der hungrige junge Mann stellt sich als der zehn Jahre jüngere Mathieu heraus, sein früheres Ich also, Mathieu nennt ihn deshalb Anders. Die Spelunke, die sie nach langer Suche finden, kann ihnen aber nichts anbieten, weder Essen noch Getränke seien vorhanden, sagt die Bedienung, selbst Zigaretten kann sie den Beiden nicht verkaufen. Als sie wieder auf die Strasse treten, rieselt ein seltsam grauer Schnee vom Himmel herab, es ist bitterkalt. Anders, sein nur chronologisch anderer Doppelgänger, ist nach einem Überfall schwer verletzt und führt ihn mit letzter Kraft zu seiner gruftartigen Kellerwohnung, in der am Ende auch Gari auftaucht, der dunkle Engel der Beiden.

«Auch krumme Striche wissen, dass sie gerade sein könnten, wenn sie nicht irgendein Stümper verpfuscht hätte» heißt es an einer Stelle. In einer geradezu surrealistischen Bildersprache behandelt Hans Henny Jahnn in dieser apokalyptischen Erzählung mit dem Tod eines der für ihn typischen Themen. Als Atheist stellt er ihn ungeschönt als Auflösung des Selbst dar, als die unausweichliche Vergänglichkeit, der nichts entgegen zu setzen ist. Sein Protagonist spürt ein «völliges Entsinnlichtsein, die Auflösung seines Körpergefühls». Knallhart wird hier dem Leser eine gemarterte Kreatur vorgeführt, werden – bis an die Grenze des Sagbaren gehend – schrecklichste Abgründe beleuchtet. Vermutlich muss man diese trostlose Erzählung dialektisch verstehen, könnte man als verstörter Leser denken. Jedenfalls hat es der Autor seinen Lesern nie leicht gemacht, mir auch nicht. «Es ist, wie es ist, und es ist fürchterlich» hat Hans Henny Jahnn mal lakonisch angemerkt, und damit hatte er ja wohl doch Recht!

Fazit: lesenswert

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Genre: Erzählung
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Nacht des Orakels

Paul Auster »Nacht des Orakels«

Paul Auster beschreibt in »Nacht des Orakels« einen Schriftsteller, der nach lebensbedrohender Erkrankung wieder zurück ins Schreiben finden will. Auf einem Spaziergang durch Brooklyn trifft er auf einen kleinen Papierladen, dessen prachtvoll dekorierte Auslagen ihn locken. Er betritt das Geschäft, schaut sich um und entdeckt ein dunkelblaues Notizbuch portugiesischer Provenienz, das ihn anspricht. Nach ein paar Worten mit dem Geschäftsinhaber, einem alten Chinesen, erwirbt er das Büchlein und beginnt schon bald, darin zu schreiben. Weiterlesen


Genre: Erzählung, Romane
Illustrated by Rowohlt

Die folgende Geschichte

Literarisch eine Offenbarung

Der schon lange nobelpreisverdächtige niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom hat mit seiner Erzählung «Die folgende Geschichte» ein Auftragswerk geschrieben, das als werbewirksames «Buchwochengeschenk» vom 6. bis zum 16. März 1991 jeder holländische Buchkäufer als kostenlose Zugabe erhielt, die Auflage betrug stolze 540.000 Exemplare. Die exzellente deutsche Übersetzung erschien dann im September in einer hundert Mal kleineren, bescheidenen Auflage von 5.300 Exemplaren. Kurz danach, am 10. Oktober, sagte Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett des ZDF: «Ich habe das Buch nicht ganz verstanden. Ich muss es ein zweites Mal lesen. Doch was ich von dem Buch verstanden habe, hat mich tief beeindruckt», und er wünschte sich, «es sollte ein Bestseller werden». Nach diesem hymnischen Lob wurde es zumindest in Deutschland tatsächlich ein Bestseller und markierte endgültig auch den literarischen Durchbruch des im eigenen Lande kaum beachteten Autors, ein bis dato nur wenigen literarischen Gourmets bekannter Außenseiter. Weltweit folgten positive Rezensionen, nur Peter Handke schrieb in seiner Schmähkritik: «Das ist Kitsch der äußersten Papierklasse» und nannte das Buch verächtlich «das Beispiel eines plündernden Postmodernismus». Inzwischen liegt auch eine literaturwissenschaftlich brillant kommentierte Ausgabe von Helmut Nobis zu diesem Handkeschen «Kitsch» vor, samt detaillierter Strukturskizze und intelligenten Deutungsansätzen, – soviel zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte.

Der ehemalige Lehrer für alte Sprachen, unter dem Synonym Dr. Strabo nun widerwillig als Verfasser von Reiseberichten tätig, wacht in einem Hotelzimmer in Lissabon auf, obwohl er sich doch am Vorabend in Amsterdam ins Bett gelegt hat. Herman Mussert kennt das Zimmer, hier hatte er vor zwanzig Jahren mal mit seiner Kollegin, der Frau des Turnlehrers, einige Tage verbracht. Sie wollte sich durch dieses Liebesabenteuer mit «Sokrates», wie der engagierte Altphilologe von seinen Schülern liebevoll genannt wurde, an ihrem untreuen Ehemann rächen. Denn der hat ein Verhältnis mit Lisa d’India, einer hochbegabten, charismatischen Schülerin. «Sie ist die Freude meiner alten Tage» sagt Mussert, der sie begeistert «Kriton» nennt nach dem Schüler des Sokrates. Aber wer ist er nun eigentlich, das «Ich» in Amsterdam oder das «Ich» in Lissabon? Ist das «Ich» in Amsterdam schon tot? Wer sich erinnert, lebt, soviel ist sicher! Er beginnt seine «Erinnerungsarbeit» und streift sinnierend durch Lissabon.

Im zweiten Teil der Erzählung befindet er sich plötzlich mit einer seltsamen Reisegruppe auf einem Schiff, das vom Stadtteil Belém zum brasilianischen Belém unterwegs ist und dann in den Amazonas hinein fährt, der hier jedoch der Acheron ist. Nach Art des Dekamerons erzählen die Passagiere nacheinander ihre Geschichten, es sind die Geschichten ihres Todes. Als Mussert dran ist zu erzählen, merkt er, «dass die Frau, die da sitzt und auf mich wartet, das Gesicht meiner allerliebsten Kriton hat, des Mädchens, das meine Schülerin war, so jung, dass man mit ihr über die Unsterblichkeit sprechen konnte. Und dann erzählte ich ihr, und dann erzählte ich dir ‹Die folgende Geschichte›.» Mit diesen Worten endet die Erzählung.

Der überwiegende Teil der 540.000 stolzen Buchbesitzer in Holland dürfte ihr Geschenk schon nach wenigen Seiten ratlos zur Seite gelegt und einer Endlagerung im Bücherregal zugeführt haben! Es handelt sich nämlich um ein narrativ hochkomplexes, anspielungsreiches, extrem anspruchsvolles, ergo schwierig zu lesendes Werk. Der Autor lässt seiner metaphysischen Intention freien Lauf, und herausgekommen ist ein modernes Glasperlenspiel, in einer intellektuellen Variante allerdings. Für den aufnahmebereiten, aufmerksamen, idealerweise auch hinreichend humanistisch vorgeprägten Leser ist diese Erzählung ohne Frage eine auf höchstem Niveau angesiedelte, literarische Offenbarung.

Fazit: erstklassig

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Genre: Erzählung
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Der blaue Siphon

Biografie in zwei konträren Zeitreisen

Im vielseitigen Œuvre des Schweizer Schriftstellers Urs Widmer ist die 1992 erschienene Erzählung «Der blaue Siphon» seine poetologisch bedeutendste Prosa, als Märchen für Erwachsene ist in ihr seine Lust am Fabulieren besonders gekonnt ausgeprägt. Denn eine Zeitreise zurück in die Vergangenheit wird hier an einer Zeitreise aus eben dieser Vergangenheit in die Zukunft gespiegelt, dem 53jährigen Ich-Erzähler steht also in persona der 3jährige gegenüber, – gewisse autobiografische Bezüge sind dabei unverkennbar.

Die Geschichte wird in zwei Kapiteln erzählt, die den beiden, fünfzig Jahre auseinander liegenden Zeitebenen entsprechen. Auslöser für die Zeitreisen ist jeweils ein Kinobesuch, der namenlos bleibende Ich-Erzähler ist fünfzig Jahre in seine Kindheit zurück versetzt, als er aus dem Kino kommt. Als 3jähriger Knirps besucht er nun sein Elternhaus in Basel, direkt an der deutschen Grenze gelegen und seiner exponierten Lage wegen von im Dachgeschoss einquartierten Soldaten als Beobachtungsposten genutzt, man traut den Nazis nämlich nicht während des Zweiten Weltkriegs. Außer seiner Familie trifft er sein Kindermädchen wieder und den geliebten Hund. Im Wohnzimmer steht der blaue Siphon, der ihn immer fasziniert hat, der ihn wegen der unter Druck stehenden Kohlensäure-Ampullen aber auch an explodierende Bomben erinnert, an Little Boy zum Beispiel, die Hiroshima-Atombombe. Nur er selbst fehlt, der 3Jährige ist nach einem Kinobesuch spurlos verschwunden, die Polizei sucht nach ihm, zwei Polizisten sitzen im Wohnzimmer der verzweifelten Eltern. Ebenfalls nach einem Kinobesuch steht gleichzeitig der dreijährige Ich-Erzähler staunend vor dem modernen Haus in Zürich, in dem er in fünfzig Jahren wohnen wird. Dort trifft er seine Frau, der er schon als Dreijähriger versprochen hatte, dass er sie heiraten würde, und seine spätere Tochter, – und sogar sein Hund Jimmy begrüßt ihn schwanzwedelnd.

In dem kunstvoll konstruierten, wegen der ineinander verschränkten Zeitebenen recht komplizierten Plot bildet das Kino ein wichtiges Leitmotiv. Handlungsort der Spielfilme, die der kindliche und der 53jährige Erzähler jeweils zu Beginn ihrer parallelen Zeitreisen sehen, ist vermutlich Indien, – so genau weiß er das nicht mehr. Und auch in diesen Filmen geht es um Krieg und Tod, wird ein Unabhängigkeitskampf thematisiert, auch hier gibt es eine Zeitreise des Filmhelden, der einen Mord auf dem Gewissen hat und im zweiten Film schließlich in England eine grandiose Karriere als Schriftsteller macht. Als ständig wiederkehrendes Motiv wird der Krieg, der immer wieder mal in kurzen Sequenzen thematisiert wird, der hinreißend beschriebenen Idylle der Schweizer Heimat des Erzählers gegenüber gestellt und damit brutal konterkariert.

Geschrieben sind die gerade mal hundert Seiten dieser märchenhaften Geschichte in einer stimmig dem Geschehen angepassten, leicht lesbaren Sprache. Verblüffend dabei ist der Zauber, den Urs Widmer durch den narrativen Kniff mit den Zeitreisen zu erzeugen vermag, mit deren trickreicher imaginärer Spiegelung vor allem. Seine ausgefallene Erzählung mit ihren phantastischen Elementen strahlt bei allem thematisch gebotenen Ernst eine wunderbare Leichtigkeit aus. Die Fülle der kuriosen Einfälle des Autors, seine originellen Motivverkettungen, die Verzahnung von Realität und filmischer Fiktion sind in aller Kürze geradezu protokollartig erzählt. Ausschweifende Reflexionen vermeidend werden seine vielfältigen Themen also ohne emotionalen Ballast nur leicht angetippt, – für den Leser entsteht dadurch reichlich Gelegenheit zu eigenen Interpretationen. Diese Erzählung ist rational nicht zu fassen, es ist einfach nur eine schöne, poetische Lektüre für diejenigen Leser, die sich sinnlich darauf einzulassen vermögen. Als Biografie in Form zweier konträrer Zeitreisen stellt sie literarisch eine kreative Rarität dar im deutschen Sprachraum!

Fazit: erstklassig

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Genre: Erzählung
Illustrated by Diogenes

Der kleine Prinz

Wenn lesen glücklich macht

Der Erfolg der 1943 veröffentlichten Erzählung «Der kleine Prinz» hat dem französischen Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry einen immensen literarischen Ruhm eingetragen. Keines seiner anderen Werke war auch nur annähernd so erfolgreich, er hat damit einen zeitlosen Weltbestseller geschrieben. Die gesamte Auflage des in mehr als 270 Sprachen übersetzten Buches liegt bei etwa hundert Millionen, die Zahl der Ehrungen und künstlerischen Umsetzungen des Stoffes ist Legion, es gibt allein zwei Opern, diverse Bühnenfassungen und musikalische Adaptionen, es gibt Verfilmungen, Hörspiele und Comics, in Japan ist dieser zauberhaften Geschichte sogar ein eigenes Museum gewidmet. Nach Auslaufen der Urheberrechte sind diverse Verlage als Trittbrettfahrer mit wenig überzeugenden Neuübersetzungen des Büchleins auf diesen weltweiten Erfolgszug aufgesprungen. Was ist denn nun die Ursache dieser schon mehr als sieben Jahrzehnte andauernden Euphorie?

Eins vorweg, «Der kleine Prinz» ist kein Märchenbuch für Kinder, auch wenn sein Protagonist ein kleiner Bub ist, der ganz allein auf einem winzigen Asteroiden lebt, «Der Planet seiner Herkunft war kaum größer als ein Haus», heißt es im Buch. Um der Einsamkeit dort zu entfliehen, andere Menschen kennen zu lernen, hat er ihn verlassen. Auf sechs nahe gelegenen anderen kleinen Planeten trifft er zuerst einen König, der ihn als seinen Untertanen betrachtet, dann einen Eitlen, den er bewundern soll, einen Säufer, der säuft, um zu vergessen, dass er säuft, einen Unternehmer, dem angeblich alle Sterne gehören, einen Laternenanzünder, der seine Pflicht allzu ernst nimmt, und einen Geografen, der dicke Bücher schreibt, in denen nichts von den wichtigen Dingen des Lebens geschrieben steht. Der Geograf rät ihm, den Planeten Erde zu besuchen, «er hat einen guten Ruf». Ich-Erzähler dieser Geschichte ist ein Pilot, der wegen Motorschadens in der Wüste notlanden musste, beide sind sie quasi vom Himmel gefallen, wie sie lachend feststellen. Sie freunden sich schnell an, und der Prinz erzählt von seinem Planeten, seiner Reise auf die Erde und von seinen Erlebnissen.

Als ungewöhnlich filigran gezeichnete Parabel angelegt, enthält diese berührende Geschichte auch Elemente der Fabel, die Pflanzen und Tiere können selbstverständlich sprechen. Eine Rose, ein Fuchs und eine Schlange gehören somit zu den handelnden Figuren, letztere sogar mit tödlichem Auftrag. Mit dem Besuch der sechs Planeten verweist Saint-Exupéry auf menschlich allzumenschliche Schwächen, er legt behutsam moralisch Fragwürdiges bloß, indem er die unverdorbene Perspektive des Kindes benutzt. «Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar» ist eines der Schlüsselzitate des kleinen Prinzen. Damit will der Autor Mut machen für die Dinge des Lebens, die wirklich wichtig sind, für die es sich lohnt zu leben, ein flammendes Plädoyer für die Menschlichkeit also. Es gibt einige autobiografische Bezüge in diesem Text, die empfindliche Rose mit den vier Dornen kann als Hinweis auf den Ehekonflikt des Autors angesehen werden. Seine Einsamkeit in New York, wo er das Buch im Exil geschrieben hat, fließt ebenso ein wie die Bruchlandungen, von denen er selbst so einige hingelegt hat als Pilot, eine Notlandung in der Sahara (sic!) eingeschlossen. Die Fliegerei sei eigentlich eine Flucht vor den irdischen Sorgen, hat er seine Passion mal zu erklären versucht.

Was ist denn nun «Der kleine Prinz», ein philosophisch verklausuliertes Märchen? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, wie schön es ist, dieses Buch zu lesen! «Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es dir sein, als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache. Du allein wirst Sterne haben, die lachen können!» tröstet der Prinz den Piloten beim Abschied. «Wenn du dieses Buch gelesen hast, wirst du froh sein, es getan zu haben», möchte ich schamlos plagiierend jedem potentiellen Leser zurufen!

Fazit: erstklassig

 

Nachwort

Ich wohnte einst in einem durch Eingemeindungen zur Großstadt mutierten netten Städtle im Badischen. Einer der drei Dezernenten in der SPD-geführten Stadtverwaltung war ein streitbarer CDU-Bürgermeister, dem die damals noch junge Partei «Die Grünen» als Opposition politisch heftige Grabenkämpfe geliefert hat, auch ich als Bürger habe mich über diesen ehrgeizigen Querkopf oft sehr geärgert.

Eines Tage konnte man in der Zeitung lesen, er sei an Krebs erkrankt, wenige Monate später starb er daran. Unter den vielen Traueranzeigen war auch eine von der Partei «Die Grünen», der folgendes Zitat vorangestellt war: «Und wenn du dich getröstet hast, wirst du froh sein, mich gekannt zu haben», als Quelle wurde «Der kleine Prinz» von Antoine de Saint-Exupéry genannt.

Das hat mich damals tief getroffen, weil damit ein Grat an Menschlichkeit zum Ausdruck kam, eine Bereitschaft zur Versöhnung, die den rauen politischen Diskurs plötzlich verstummen lies und all das unerbittliche Gezänk schlagartig relativiert hat. Mir ging dieses Zitat dann nie mehr aus dem Kopf bis zum heutigen Tage.

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Genre: Erzählung
Illustrated by Karl Rauch Verlag Düsseldorf

Hippie

Paulo Coelho: Hippie

Mit seiner Erzählung »Hippie« setzt Paulo Coelho den vor einem halben Jahrhundert um die Welt reisenden Blumenkindern ein literarisches Denkmal. Gleichzeitig schildert der brasilianische Bestsellerautor in einer bewegenden Liebesgeschichte seine Erlebnisse als junger Mann, der um die Welt zog. Weiterlesen


Genre: Autobiografie, Erzählung, Roadtrip
Illustrated by Diogenes

Die dreifache Maria

haertling-2Peregrina

Der kürzlich verstorbene Peter Härtling hinterlässt ein breit gefächertes literarisches Werk aus Lyrik und Prosa, in dem er sich thematisch der Aufarbeitung der Geschichte widmet, auch der eigenen. Wobei die Romantik einen Schwerpunkt bildet in seinem Œuvre, eine ganze Reihe von Roman-Biografien über Musiker und Dichter dieser Epoche künden davon, und ebenfalls dazu gehört das 1982 veröffentlichte Büchlein «Die dreifache Maria». Eng eingebunden in viele seiner Werke ist außerdem die Heimat, bei ihm das als seine Wahlheimat geltende Württemberg, dessen Mundart sich immer wieder findet in seiner Geschichte von der folgenreichen Begegnung Eduard Mörikes mit der ebenso schönen wie geheimnisvollen Maria Meyer.

Als er in einem Ludwigsburger Gasthaus, wo sie als Bedienung arbeitet, 1823 auf Maria trifft, verliebt sich der junge Dichter heftig in das ungewöhnlich attraktive Mädchen. «Eine junge, tollkühne Person», beschreibt Härtling sie, «die aus erprobter Freiheit auf keine Regel achtet, die sich, immerfort lügend, Wahrheiten zutraut, die ihre Begierden und Hoffnungen nicht unterdrückt, sondern unverhohlen auslebt, die, wenn sie liebt, nicht auf Anstand und Absprache achtet, sondern sich preisgibt, die weiß, dass sie für die Gesellschaft, in die sie geriet und die sie ohne Gewissensbisse ausnützt, ein rätselhaftes Wesen darstellen soll, die schöne Fremde, die romantische Vagantin, die herausbekommen hat, wie sie in die Zeit passt, als Hilflose, Verlorene oder als tanzende Zigeunerin, die nichts besitzt als ihren Mut, ihre Leidenschaft, ihre Kenntnisse, ihre Schläue». Die authentische Figur der Maria Meyer aus Schaffhausen ist ähnlich von Mythen umrankt wie Johann Georg Faust aus Knittlingen. Sie gehörte zum Gefolge der Schriftstellerin Juliane von Krüdener, die als Galionsfigur eines prophetisch-ekstatischen Pietismus gilt, eine Sektenstifterin mit großem Einfluss, die immerhin den russischen Zaren auf dem Wiener Kongress vertreten hat.

In fünf Kapiteln beschreibt Härtling das Leben des 1804 geborenen Eduard Mörike, beginnend mit dem Kapitel «Flucht», in dem die Adoleszenz des kränkenden Schülers beschrieben wird, er behandelt ferner in «Die Kinderbraut» die erste Liebe des angehenden Poeten. Die titelgebenden drei Kapitel schließlich erzählen zunächst unter «Maria Meyer» von der aufwühlenden Begegnung der fortan unsterblich Verliebten, unter «Peregrina» von der späteren, natürlich lyrischen Umsetzung dieser großen Liebe in dem gleichnamigen Gedicht-Zyklus, und sie enden schließlich mit einem letzten Blick der inzwischen verheirateten «Maria Kohler» auf ihren Eduard, der dann spät, erst 1851 heiratet. Die stürmische Schwärmerei des Jünglings zu der Unperson Maria hat ihn seelisch zwar noch auf Jahre hinaus beschäftigt, ging aber über eine von ihm schon bald abgebrochene Korrespondenz nicht hinaus. Schließlich brach der Kontakt nach einem von ihm brüsk verweigerten Wiedersehen ein Jahr später völlig ab. Zu übermächtig war wohl der empörte, ablehnende Einfluss seiner frömmelnden Familie auf den zögernden, wankelmütigen Mörike. Immerhin aber verdankt die lesende Nachwelt dieser Begegnung jenen berühmten Gedichtzyklus, mit dem er seine Jugendliebe als Pegrina zumindest literarisch unsterblich gemacht hat, ein weiteres Denkmal hat er ihr in dem Roman «Maler Nolten» gesetzt.

In wohlgesetzten Worten berichtet Härtling von den Geschehnisse so gekonnt, dass man gut nachvollziehen kann, welche seelischen Kämpfe der Protagonist mit sich auszufechten hat. Wenn schlussendlich der Pietist in ihm siegt, so schimmert bei aller Wohlanständigkeit doch stets auch eine gewisse Ungeduld über die eigene, lustfeindliche Spießigkeit mit durch, ja es nagt an ihm als innerster Zweifel sogar die Angst vor einem womöglich total verfehlten Leben. Was sprachlich altväterlich erscheint, ist trickreich der Epoche angepasst. Eine bereichernde Lektüre, die zudem amüsant ist, weil gelegentlich auch ganz köstlich geschwäbelt wird.

Fazit: erfreulich

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Genre: Erzählung
Illustrated by dtv München