Geständnisse eines Touristen: Ein Verhör

Wer „Atlas eines ängstlichen Mannes“ gelesen hat, ist unweigerlich verloren. Verloren im Universum der Literatur-Droge namens Christoph Ransmayr. Wie es in Selbsthilfegruppen üblich ist, nennt man seinen Namen und gesteht: „Ich bin süchtig“. Weiterlesen


Genre: Erinnerungen, Erzählung, Gesellschaftsroman, Kurzgeschichten und Erzählungen, Politik und Gesellschaft, Reisen
Illustrated by Fischer Verlag

Hey Guten Morgen, wie geht es Dir?

Juno, die Erzählerin, ist Anfang Fünfzig. Sie lebt mit Jupiter, ihrem seit Jahren bettlägerigen Mann in einer kleinen Wohnung in Leipzig. Er ist Schriftsteller, sie freiberufliche Performancekünstlerin, die, nicht nur zu Coronazeiten, gerne häufiger Engagements hätte.

Sie teilt ihren Alltag mit den Leser:innen, ihre Gedanken, Vorlieben, Sorgen, Erinnerungen und ihre Moralvorstellungen, manchmal auch mit Gedichten.

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Genre: Belletristik, Erzählung, Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Nachmittage

Ein neuer von Schirach. Ab dem Erscheinungstag auf Platz 1 der Spiegelbestsellerliste. Ferdinand von Schirach ist derzeit der erfolgreichste und berühmteste Schriftsteller Deutschlands. Aber nicht nur das, seine Geschichten und Romane werden in über 40 Sprachen übersetzt und ganz viele für Leinwand und Fernseh-Serien verfilmt.

Nun sind es sechsundzwanzig Kurzgeschichten, die der Autor an unterschiedlichste Schauplätze lokalisiert (Taipeh, Tokio, Marrakesch, Zürich, Wien, New York, Oxford, Pamplona, Oslo, Paris) und die manchmal auch nur Gedanken über wenige Zeilen sind. Im Gegensatz zu „Schuld“, „Verbrechen“ und „Strafe“ handelt es sich im Wesentlichen nicht (bzw. nur in einer Story) um Kriminalfälle aus seinen Zeiten als Strafverteidiger. In Anlehnung an „Kaffee und Zigaretten“ beinhaltet sein neuestes Buch wieder eine Sammlung von Begegnungen, Beobachtungen, Momenten, Notizen.

Man kann von Schirach lieben.

Für sein unglaubliches Repertoire an Erlebnissen.

Für seinen reduzierten Schreibstil mit dem Herunterbrechen der Sprache auf Hauptsätze (laut der WELT deshalb als der deutsche Raymond Carver bezeichnet). Eine Sprache, die es einem leicht macht, in einem angenehmen Flow zu lesen, zu folgen, zu verstehen, auszumalen und in die Geschichten eigene Farben und Bilder einzubringen.

Für Geschichten, die auf den Punkt kommen und die nach einem gezielten, aber doch unmerklichen Stimmungsaufbau schleichend auf Pointen im genau richtigen Augenblick zusteuern, oft als Finale furioso mit einem Schlüsselsatz oder einem Ein-Wort-Tusch am Ende der Erzählung.

Für Gedanken, die als fast musikalisch-harmonisches Fade-out ausklingen und einen sinnierend zurücklassen.

Für die Offenheit, dass ihm „seine eigenen Bücher fremd werden, wenn er über sie sprechen muss“ oder dass er sich bei Einladungen nicht als der „Ehrengast, sondern als der Hofnarr“ fühlt.

Man kann mit von Schirach leiden.

Wenn er von seiner Jugend in einer vom Nationalsozialismus gezeichneten Familie berichtet (sein Großvater Baldur von Schirach stand als Kriegsverbrecher vor dem Nürnberger Tribunal): „Ich war nicht der Sohn aus gutem Haus, weil es kein gutes Haus mehr war.“

Wenn er – völlig untypisch für von Schirach, der sein Privatleben immer schon zum absoluten Tabu-Thema macht – , die Scheidung seiner Eltern und den Tod des Vaters im Alkoholismus erwähnt.

Wenn er  – in Analogie zum Zitat des Don Fabricio aus einem seiner Lieblingsbücher „Der Leopard“ von Giuseppe di Lampedusa – zugibt, dass es auch bei ihm im Laufe seines Lebens nur „zwei bis drei Jahre“ waren, „in denen alles stimmte“.

Wenn schemenhaft eine verflossene Liebe auftaucht, die er einmal in New York kennenlernte, die er aber irgendwann verloren hat und offenbar schmerzlich vermisst. Ganz viel Melancholie beim feinsinnigen Juristen, der als Strafverteidiger mit mehr als einem schrecklichen Verbrechen konfrontiert war, von dem man aber auch weiß, dass er in der Vergangenheit unter depressiven Episoden zu leiden hatte. Da ist Thomas Manns Zitat aus dem Zauberberg „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“ schon fast eine Affirmation.

Man kann von Schirach hassen.

Wenn er unablässig darüber klagt, wie er sich nach der Theaterpremiere todmüde ins Hotel schleppt, nach einem langen Flug völlig erschöpft ist, nach wieder einer dieser vielen Lesungen mit ach so vielen anstrengenden Fragen keine Lust mehr auf Unterhaltungen jedweder Art hat.

Wenn er seine Freundin, die erfolgreiche Konzertpianistin, doch ach so sehr beneidet, dass sie es geschafft hat, aus dieser Marketing-Maschinerie auszusteigen, die Kunst und Künstler vergewaltigt.

Was für eine elegische Klage in extrem losgelöster Position und auf extrem hohem Niveau. Was für ein divenhaftes Gezeter eines Mannes im Olymp der Literatur. Jeder Jungautor würde liebend gerne sofort mit ihm tauschen und dieses ach so schreckliche Schicksal an seiner Statt erdulden. Und es gibt einen, der dieses schreckliche Autoren-Leben sofort ändern und aus diesem Hamsterrad der Vermarktung ad hoc aussteigen kann – Ferdinand von Schirach.


Genre: Belletristik, Erinnerungen, Erzählung, Roman
Illustrated by Luchterhand

Euphoria

„Spannend… intensiv, verführerisch, erotisch…“, so überschlagen sich Literaturkritiker diverser renommierter Medien bei ihren Rezensionen zu Euphoria. Kombiniert mit dem Wortklang des Titels und dem nach einem fiktiven Pseudonym klingenden Namen der Autorin verführen spätestens Keywords aus der Inhaltsangabe wie „Dreiecksbeziehung in exotischem Setting“ zu völlig unzutreffender Kategorisierung. Also Vorsicht vor voreiligen Schnellschlüssen, denn das Buch bietet aus diesem Genre relativ wenig, aber dafür viel mehr Höherkarätiges. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Erzählung, Gesellschaftsroman, Historischer Roman, Reisen
Illustrated by C.H. Beck München

Drei fast geniale Freunde auf dem Weg zum Ende der Welt

Der schwedische Autor Jonas Jonasson gehört zu den Autoren, die aus jedem Buchtitel eine Kurzgeschichte machen. „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ war sein Erstlingswerk, das den Journalisten auf einen Schlag weltberühmt und reich machte, da es sich nicht nur millionenfach verkaufte, sondern auch in 45 Sprachen übersetzt und verfilmt wurde. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Erzählung, Roman, Romane
Illustrated by C. Bertelsmann München

Das Archiv der Gefühle

Nach der vorausgehenden Lektüre von Orhan Pamuk, Richard Powers und Jonathan Franzen kann man den Schweizer Autor Peter Stamm mit Fug und Recht als echtes Kontrastprogramm bezeichnen. Nach Büchern mit einer blumigen bis schwülstigen Sprache, bunten und detaillierten Bildern, feinsinnig gerankten bis langatmigen Familiengeschichten und teilweise aufwühlenden Emotionen ist die Umstellung zu „Das Archiv der Gefühle“, als hänge man Pieter Bruegel den Älteren neben Mondrian.

Aber – im einen wie im anderen Fall – absolut wohltuend und bereichernd. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Erzählung, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Seide

Nett. Das ist das erste, was einem einfällt, wenn man die letzte Seite dieses Buches gelesen hat. Und schön kurz. An einem entspannten Nachmittag hat man die 145 Seiten print und 534 KB digital durch.

Alessandro Baricco, italienischer Autor, Philosoph und Dozent für kreatives Schreiben, erzählt uns eine Geschichte, die Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts spielt und in welcher der französische Protagonist Hervè Joncour seinen Lebensunterhalt als Seidenhändler verdient. Eine Seuche unter den Seidenraupen (in einer Nebenrolle Louis Pasteur) zwingen ihn und die ganze Innung, ihren Seidenraupen-Import auf immer fernere Länder auszudehnen, so das Joncour als Abgesandter irgendwann im damals völlig von der Welt abgeschotteten Japan landet. Hier fasziniert ihn nicht nur die fremdartige Kultur, sondern vor allem die geheimnisumwobene Frau seines japanischen Gastgebers. Die Anziehungskraft von Land und Frau sind so stark, dass er die strapaziöse Reise wieder und wieder auf sich nimmt und seine eigene Frau monatelang alleine zurücklässt. Jahr um Jahr beschränkt sich das Verhältnis zwischen ihm und der japanischen Schönen auf ein gegenseitiges Anschmachten. Viele Blicke, manch symbolische Geste, jedoch niemals ein Wort. Bis eines Tages… Das ist dann wohl die Stelle, wo ein Rezensent abbrechen muss.

Baricco hat einen Stil gewählt – aufgrund der Vita nehmen wir mal an ganz bewusst -, der Leserin und Leser mühelos ins 19. Jahrhundert und in die französisch-japanische Kultur der damaligen Epoche mitnimmt. Die Erzählung ist weniger Roman, mehr poetisch-lyrisch, nur nicht in Versform. Sie ist bildstark und doch zurückhaltend, mit geradlinigem Handlungsstrang und doch feinsinnig und fast zartfühlend, farbenreich und doch einfach. Zur Verstärkung manchmal fast infantil-perseverierend wie die Gebrüder Grimm. Eine Erzählung wie eine in Worte gefasste naive Malerei.

Die Geschichte und das Erschaffen dieser Stimmung scheint für Baricco über alles zu gehen. Ihn interessiert nicht, welches Mann-Frau-Rollenverständnis er dabei transportiert. Männer handeln, Frauen bleiben im Hintergrund, sind scheu, duldsam, allenfalls im Geheimen aktiv und kreativ. Man nimmt hin, dass das damals einfach so war.

In Summe nette Kurzunterhaltung. Besonders geeignet für Liebhaber von Katzenbildern, Karel Gott, Hummelfiguren und Schneekugeln.


Genre: Belletristik, Erzählung, Historischer Roman, Liebesroman
Illustrated by Hoffmann und Campe

Gebrauchsanweisung für Thailand

Mit der Reihe der „Gebrauchsanweisungen“ ist dem Piper-Verlag eine echte Erfolgsgeschichte gelungen. Nach der ersten „Gebrauchsanweisung für Amerika“ von Paul Watzlawick, die bereits 1978 auf den Markt kam, sind mittlerweile etwa 120 weitere Bände erschienen und jedes Jahr kommen sechs bis acht neue hinzu, in denen namhafte Autoren ihre Eindrücke und ortskundige Geschichten aufschreiben und sich mit persönlichem Blick den Ländern, Regionen oder Städten auf ungewöhnliche und literarische Weise annähern. 

Martin Schacht hat in genau dieser Tradition seine „Gebrauchsanweisung für Thailand“ umgesetzt. Man kann vorwegnehmen, dass ihm nicht nur gelungen ist, die Philosophie dieser Buchreihe perfekt zu verinnerlichen, nein, es ist auch ein echter Schacht geworden.

Das Faktische kommt nicht zu kurz – es ist ja schliesslich eine Gebrauchsanweisung -, aber niemals geht es darum, welchen Nippel man durch welche Lasche zieht, oder im Reiseführer-Slang, welchen Tempel oder Turm man an welcher Stelle am besten fotografieren kann oder welcher menschenleere Strand auch noch zehn Jahre nach Erscheinen eines der üblichen Reiseführer immer noch ein Geheimtipp ist, an dem jährlich Millionen Menschen Ruhe und Einsamkeit finden.

Der Autor hat selbst viele Jahre lang, bevorzugt in den deutschen Wintermonaten, in Thailand gelebt und weiß, wovon er spricht. Viele Geschichten sind deshalb einfach nur unterhaltsam, ganz unabhängig, ob man nun nach Thailand reisen möchte oder nicht. Hinzu kommt, dass Schacht über zwei herausragende Talente verfügt. Er besitzt eine exzellente Beobachtungsgabe und die Gabe, all diese Wahrnehmungen auch noch mit feinsinniger Stilistik zu verbalisieren.

Er beschreibt das Naturell und die Kultur der Thailänder treffsicher und gerne mit einem Schuss Humor, immer aber mit gebührendem Respekt. Aber er macht auch vor dem typischen, so viele Klischees bestätigenden Verhalten der Touristen und Expats nicht halt. Ein Beispiel: „Bambus-Tische, Bambus-Stühle und Muschellampe, die leise im Wind klimpern – so etwas finden Thailand-Besucher ursprünglich und naturverbunden, vermutlich auch ökologisch sinnvoll wegen der nachwachsenden Rohstoffe. Der Thai hingegen findet das so prickelnd wie der durchschnittliche deutsche Großstadtbewohner Kuckucksuhren oder Wohnungseinrichtungen im Gelsenkirchener Barock, die heutzutage höchstens in Pseudohippen Cafès als ironisches Zitat existieren“. Oder: „Viele Expats sind Zyniker, die Thais für ein notwendiges Übel halten.“ Aber, so fügt er an anderer Stelle hinzu, „…das bringt viele Expats dazu, sich zu isolieren.“

Schacht scheut sich nicht, in jede Vorurteilswunde gegenüber Thailand zu fassen. Natürlich wird das non-stop laufende Sexbusiness in Bangkok oder in den strandnahen Metropolen des käuflichen Gewerbes wie zum Beispiel in Pattaya thematisiert, wobei der Hinweis auf die Ursprünge dieser speziellen Form des Tourismus in Zeiten des Vietnam-Krieges mit den über Thailand und die thailändischen Frauen herfallenden GI’s auf Urlaub nicht fehlen darf. Die vielen selbst erlebten Geschichten relativieren das ein oder andere und fokussieren vor allem auf all das, was für den Autor Thailand ausmacht und in die er seine Leser ganz spielerisch und mit spannendem Handlungsstrang gerne mitnimmt. Und dieser sich gerne mitnehmen lässt, da es so leicht ist, den farbenreichen Beschreibungen in tropischer Umgebung zu folgen und ins Träumen zu geraten.

Ohne dass er es expressis verbis formuliert, wird durch den hochwertigen und wertschätzenden Inhalt dieser Gebrauchsanweisung jedem Leser klar, dass menschengemachte Auswüchse nicht Thailand sind, sondern dass es sich zu neunundneunzig Prozent um ein wunderschönes Land mit liebenswerten Menschen handelt.


Genre: Dokumentation, Erzählung, Reiseführer, Sachbuch
Illustrated by Piper München, Zürich

Das Gleichgewicht der Welt

Auch wenn das Buch von Rohinton Mistry, einem kanadischen Autor indischer Herkunft, irgendwann zwischen 1966 und 1984 angesiedelt ist, hat seine Szenerie mit Sicherheit bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Es handelt von Zeiten, in denen Indira Gandhi (die nicht mit Mahatma Gandhi verwandt war) in Indien zwei längere Perioden als Premierministerin amtierte. Zeiten, in denen diese versuchte, dem fortwährenden politischen und humanitären Chaos des Subkontinents Herr/Frau zu werden.

In dieser Kulisse erschafft Mistry vier Protagonisten, deren teilweise schockierende Einzelschicksale sie für eine kurze, aber glückliche Zeit zusammenführen, bevor ökonomische, politische und menschliche Zwänge dazu führen, dass sich ihre Wege zum Teil wieder trennen.

Das Buch ist kein Werk für Liebhaber von Happy Ends, von rosaroten Brillen oder des „Eigentlich ist doch alles gar nicht so schlimm“-Slogans. Will man das alltägliche Leben in Indien beschreiben, ist dafür auch kein Platz. Die Realität ist Existenzkampf pur, der tägliche Kampf ums nackte Überleben. Ab Geburt das permanente Bestreben, nicht in die gnadenlose Maschinerie der politischen Willkür oder der Kasten-Fehden zu geraten. Jeder für sich unter 1,4 Milliarden anderen Indern.

Seine vier exemplarischen Lebensläufe baut Mistry gut auf und aus. Das gesellschaftliche Stimmungsbild ist hervorragend koloriert. Allerdings leidet der Gesamteindruck sehr stark unter seiner Liebe zu schier nicht enden wollenden Dialog-Passagen. Das ermüdet und lässt das Panoptikum an emotionalen Bildern gelegentlich verblassen.

Eine Frage begleitet den Leser durch das monumentale Werk. Bei all dem Elend, bei all den Schicksalsschlägen, bei all den menschlichen Katastrophen – wo ist denn nun das Gleichgewicht bei seinen Figuren oder gar auf dieser Welt?

Dazu muss man wissen, dass Rohinton Mistry der ethnischen Gruppe der Parsen angehört, die Anhänger der Lehre des Zoroastrismus sind. Der religiöse Glaube des Zoroastrismus bewertet die Schöpfung des Gottes Ahura Mazda prinzipiell erst einmal als gut. In dieser Welt ringt das Gutsein aber beständig zwischen den guten und den bösen Mächten, versucht also zwischen beidem ein Gleichgewicht zu erreichen. Beides und auch der permanente, alltägliche Kampf sind Inhalt des Lebens, das ob seines göttlichen Ursprungs genau so zu akzeptieren ist.

Neben der ein oder anderen Anspielung auf den Buchtitel im Text, legt Rohinton Mistry nur an einer Stelle einem Protagonisten eine schon eher erklärende Analogie in den Mund:“ … es sei alles Teil des Lebens, dass das Geheimnis des Überlebens darin bestehe, ein Gleichgewicht zwischen Hoffnung und Verzweiflung zu finden, sich auf Veränderungen einzulassen.“

Ein monumentales Werk, dass einen ein Stück weit in einer Stimmung der Erschütterung, der Hilflosigkeit und der Ausweglosigkeit zurücklässt. Oder kann die eine oder andere Figur im Roman Mistry’s mit ihrer existentialistischen Reduktion auf das Lebensminimum im Vergleich zu einer westlichen Gesellschaft mit ihrer permanenten Sinn- und Singularitätssuche auch Vorbildfunktion haben oder zumindest als relativierender Weckruf verstanden werden?


Genre: Belletristik, Erzählung, Kulturgeschichte, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Bring mich noch zur Ecke

Bring mich noch zur Ecke – Anneli Furmark

Bring mich noch zur Ecke. “Menschen trauern auf unterschiedliche Art“, meint der Psychotherapeut der 56-jährigen Elise und will damit ihr Verständnis für Henrik, ihren Mann, verbessern. 25 Jahre waren sie verheiratet, aber dann hat sich Elise in Dagmar verliebt. Und Dagmar in sie. Auch sie hat eine andere Partnerin und Familie.

Familiar Feeling

Ein plötzlicher Anflug von Sehnsucht durchfuhr sie, die Erinnerung an das Gefühl von etwas im Fernsehen völlig gefesselt zu sein.” Das Leben kann ganz schön kompliziert sein. Henrik und Elise haben sich etwas aufgebaut und sie lieben sich noch immer, nach einem Vierteljahrhundert Ehe. Doch Elise zieht es zu Dagmar. Als auch Henrik eine andere Partnerin findet, wird aus der Vermutung Gewissheit: Scheidung. Die Kinder sind schon alt genug es zu verdauen. Aber wird Elise es schaffen? Sie macht sich Vorwürfe. Erst recht, als Dagmar einen Rückzieher macht. Liebgewonnene Gewohnheiten abzulegen, die Vertrautheit eines Ehepaares, der Duft seines Pullovers. In seiner Abwesenheit schnuppert sie daran, sehnt sich nach dem alten Gefühl und vielleicht auch etwas nach ihrer eigenen Vergangenheit und Jugend. Elise hört gerne Musik und lebt in den Texten etwa von Joni Mitchell “A case of you” oder “Both Sides Now“, Leonhard Cohen u.a. Dagmar mag das. Aber wird sie es lieben?

Ein neue Erzählung

Elise ist zum ersten Mal in ihrem Leben wieder auf sich allein gestellt. Zumindest das erste Mal seit langem. Sie will nicht Teil der Erzählung von Dagmars Ehekrise werden. Sie will wieder zurück und doch wieder voran. Beim Packen eines Kartons liegt sie am Boden und nur ihre Katze kommt, sie zu trösten. Eine Entwicklung geht oft in kleinen Schritten und nicht in großen Sprüngen. Anneli Furmark, die sowohl Text als auch Zeichnungen verfasst hat, weiß um die Traurigkeit und Melancholie des Endes einer Beziehung und zeichnet einfühlsam den Weg Elises zu ihrer neuen Selbständigkeit nach. Gelungen ist auch die Anspielung auf “Die Absinthtrinkerin” (Edgar Degas), als Elise vor ihrem Weinglas sitzt und zunehmend verfällt. Ihre Freundinnen freuen sich aber für sie, für die “vielen Gefühle”, das muss doch schön sein, meinen sie. Aber es ist nicht nur schön. Es erfordert auch ganz schön viel Mut, alle bisherigen Sicherheiten aufzugeben und ein neues Leben zu beginnen. Mit oder ohne neuen Partner. Und bald fasst Elise wieder neue Pläne.

Anneli Furmark
Bring mich noch zur Ecke
Text und Zeichnung: Anneli Furmark
Übersetzung aus dem Schwedischen von Katharina Erben
2022, 232 Seiten, Klappenbroschur, Format 16 x 21,5 cm, vierfarbig
ISBN: 978-3-96445-066-1
avant-verlag
25,00 €


Genre: Comics, Erzählung, Frauenliteratur, Graphic Novel, Liebesroman
Illustrated by Avant Verlag

Kant. Erzählung. Krimi.

Kant. Ein knallharter Hard-boiled Krimi des deutschen Literaturgenies Fauser

Kant. “Im Auge des Tiger ist kein Platz für eine Ameise.” Das einzigartige und unglaubliche Werk Jörg Fausers zeitigte auch einige Krimis. Einer davon ist “Kant“, der als Fortsetzungsroman für die Zeitschrift Wiener geschrieben wurde und erstmals 1987 auch als Taschenbuch erschien.

Kant: Showdown im Playtime

Hezekiel Kant, Privatdetektiv, hat einen chinesischen Freund: Jimmy Chang. An dem muss auch Dr. Eduard Kopmann erst einmal vorbeikommen, bevor Kant seinen Auftrag annimmt. Es geht um seine Tochter. Tutti Kopmann. Und seine Frau. Lisa Kopmann, 41, seit 16 Jahren mit ihm verheiratet und die gemeinsame Tochter, 15. Kopmann Einkäufer für Spumex setzt Kant auf Lisa an. Denn das Vertrauen ist nach 16 Jahren Ehe zerrüttet. Der Kant folgt ihr alsbald ins Playtime und erfährt einiges über die Vergangenheit von Lisa. Bei einer Zigarre und Kaffee. Manchmal auch ein Bier. Oder ein ordentliches Quantum Whisky.

Milieustudien als Metier

Das Milieu in das Fauser seinen Protagonisten schickt dürft ihm selbst auch nicht so unbekannt gewesen sein. Seine Schilderungen des zur Schau gestelltem Pömps sprechen eine deutliche Sprache, wo der allzu früh verstorbene Schriftsteller seine Nächte verbracht hatte, bevor er zu schreiben anfing. Seinen Kant lässt er im Astra wohnen, einer billigen Absteige im Chinesenviertel von München. Für ihn hatte strategisches Denken schon lange das Krafttraining ersetzt. Denn wer im Milieu lebt, schwimmt darin wie ein Fisch im Wasser. Die Forderung nach einem Lösegeld von 500.000 Mark ist aber selbst für Kant etwas zu hoch gegriffen. Denn wie viel müsste der Kopmann dann mit der Spumex schon gemacht haben? Und Sparen gehört ja jetzt nicht unbedingt zum Metier der Kopmanns.

Charakterstudien im Yakuza-Stil

Huren machen für Geld gut, was andere für Liebe schlecht machen.” Ein gewisser Felix Esterhazy spielt aber auch eine wichtige Rolle in diesem Krimi im Münchner Künstler- und Rotlichtmilieu. Denn Max der Galerist verkauft gefälschte Klees und auch unzüchtige Fotos. “Als Lisa Kopmann den Telefonhörer auflegte, war es in dem großen Raum so still, dass Kant den Eiswürfel in seinem Whiskyglas schmelzen hörte.” Und langsam schmilzt auch das Eis in Kants Kopf, denn plötzlich kann er sich über die Clique mit der er es hier zu tun hat, ein Bild machen. Ein dezenter Hinweis auf Fausers Inspiration, den Film Yakuza (1974), befindet sich auch in der Erwähnung Robert Mitchums, denn der Autor liebte das Augenzwinkern nicht nur beim Schreiben. “Im Auge des Tiger ist kein Platz für eine Ameise.

Ein echter Fauser, der seine amerikanischen Vorbilder nicht verhöhnt, sondern offen in seinen Widersprüchen fusioniert. Flott geschrieben und unterhaltsam, zudem voller Inspiration für eigene Geschichten.

Jörg Fauser
Kant. Erzählung
Mit einem Nachwort von Helene Hegemann
2021, Hardcover Leinen, 128 Seiten
ISBN: 978-3-257-07169-6
diogenes Verlag
€ (D) 20.00 / sFr 27.00* / € (A) 20.60


Genre: Crime noir, Erzählung, Hard-boiled Krimi, Krimi, Noir
Illustrated by Diogenes Zürich

Il libraio di Venezia

Il libraio di Venezia. “Siamo tempre sul punto di mollarci, ma alla fine non ci molliamo mai. C’è qualcosa di profondo che ci lega.” Giovanni Montanaros siebter Roman spielt vor dem Hintergrund der großen Flut von 2019. Der Wasserstand in Venedig erreichte damals beinahe das bisher höchste Niveau von 1966: 187 cm. Nur mehr mehr 8 cm haben also zu einem neuen (negativen) Rekord gefehlt. Der große Unterschied: 2019 hätte das von Korruption und Skandalen seit 2003 in Bau befindliche MOSE die Stadt vor eben diesem Pegelstand schützen sollen.

MOSE + das Versagen der Politik

So erinnert der vorliegende Roman, eine Liebesgeschichte, also nicht nur an die schmerzlichen Versäumnisse der (italienischen) Politik, sondern auch an die des Protagonisten Vittorio, den Buchhändler. Denn Vittorio braucht die Fürsprache und Vermittlung der 86-jährigen Rosalba, der Erzählerin, um Sofia seine Liebe zu gestehen. Dazu sei hinzugefügt, dass der Altersunterschied zwischen beiden immerhin 20 Jahre beträgt. Aber abgesehen von diesem doch etwas obszönen und antiquierten Hindernis, ist der hier vorliegende Roman eine wunderschöne Huldigung an die Literatur und Venedig, vor allem aber an seine Bewohnerinnen und Bewohner. Ihrer “capacità di rinascere” ist es zu verdanken, dass es die einstige Hauptstadt der Welt überhaupt noch gibt. Denn ohne seine Bewohner wäre Venedig nicht mehr Venedig. Die einzigartige und wunderbarste Stadt der Welt wird heute nur mehr von 52.000 Menschen bewohnt und die Politik tut alles, um auch diese noch zu verscheuchen. Sie wollen aus jedem Haus ein Airbnb machen, um noch mehr aus der Schönheit herauszupressen. Vittorio soll plötzlich das Doppelte der Miete für sein “Moby Dick” bezahlen. Auch Rosalba schmerzt es jedesmal als ob es Krieg wäre, wenn wieder ein Geschäft einer Herberge weicht. Die Boote, die denn Müll von Venedig abholen, nennen sich tatsächlich “Le barche VERITAS“, also die “Schiffe der Wahrheit” und zeigen das nackte Elend unseres Planeten anschaulich: wir werden an unserem Müll und unserer Profitgier eingehen. Aber es gibt immer noch Nester des Widerstands. Als solche gelten auch Buchhandlungen. Denn neben der fiktiven Buchhandlung Moby Dick des Romans gibt es tatsächlich noch eine ganze Menge unabhängige Buchhandlungen in Venedig, Ulrike Zanatta, hat sie im Nachwort dankenswerterweise alle aufgelistet. “Il libraio di Venezia” ist also auch ein Buch über Literatur mit vielen Buchtips, nicht nur eine Liebesgeschichte und nicht nur ein Katastrophenroman. Und dass es am Ende ein Happy End für alle gibt, das mag man sich ebenso in der Realität wünschen. Eines Tages, wer weiß… Der Tag wird kommen!

Untergang + Auferstehung aus Acqua alta

Als Referenzwert für das Hochwasser wird seit 1897 übrigens das “medio mare” herangezogen, das sich in Punta della Salute, dem dreieckigen Bereich zwischen dem Canal Grande und dem Canale della Giudecca befindet. Je nach Sestiere resp. genauem Standpunkt, kann man durchschnittlich 80 cm vom bekannt gegebenen Pegelstand abziehen. Das bedeutet, wenn etwa 110cm (bei dem 12% Venedig unter Wasser steht) bekanntgegeben wird, steht man am Markusplatz, dem tiefsten Punkt Venedigs auf 80 Meter mit 30 cm kniehoch im Wasser. Bei 140 cm – der durchschnittliche Höchstwert – stehen dann schon 59% Venedigs unter Wasser. Das Modulo Sperimentale Elettromechanico (Mose) ist längst zu einem Symbol für “politische Gleichgültigkeit, Korruption und bürokratischen Wahnsinn” (Tagesspiegel) geworden. Zudem ist der ganze versenkte Beton inzwischen selbst zu einem Problem für die Lagune geworden, da der Boden deswegen weiter absinkt. Wenn die Katastrophe vom November 2019 eines gezeigt hat, dann, dass die Menschen immer noch zusammenstehen und sich nicht unterkriegen lassen. Das steht so auch im Eröffnungssatz dieser bescheidenen Rezension, die zeigen will, was Solidarität bewirken kann. Denn was wirklich zählt, das müssen die BewohnerInnen Venedigs nach jedem Hochwasseralarm immer wieder schmerzlich feststellen. Aber die Liebe zu Venedig ist stärker als jede Vernunft. Mai mollarare!

Giovanni Montanaro
Il libraio di Venezia
Ital. Hrsg. von Ulrike Zanatta
Niveau B1 (GER)
2022, Broschur, 165 S. 1 Abb.
ISBN: 978-3-15-014132-8
6,00 €
Reclam Verlag


Genre: Erzählung, Katstrophenroman, Liebesroman
Illustrated by Reclam Verlag

Die Tagesordnung

Desavouierendes Hohngelächter

Der französische Schriftsteller Éric Vuillard hat mit der Erzählung «Die Tagesordnung» den erzwungenen Anschluss Österreichs thematisiert, wobei er, wie schon in anderen seiner Werke, auch hier ein geschichtliches Ereignis und seine Folgen in extrem verknappter Form neu erzählt. Insoweit kann er als legitimer Nachfolger von Stefan Zweig angesehen werden, der dieses Genre mit seiner Sammlung «Sternstunden der Menschheit» äußerst erfolgreich kreiert hat. Im Unterschied zu ihm jedoch benutzt Vuillard nicht die strenge, auf ein ‹unerhörtes Ereignis› gerichtete Novellenform, er fächert seinen Stoff vielmehr deutlich weiter auf. Hier beginnend mit einem geheimen Treffen der deutschen Großindustriellen bei Göring am 20. Februar 1933 und endend bei der läppischen Entschädigungs-Zahlung Alfried Krupps an die Zwangsarbeiter 1958.

In den 16 Kapiteln der Erzählung entwickelt der Autor seine Version der historischen Ereignisse, indem er sie, fiktional ergänzt, aus einer ironischen Distanz schildert. Sein Schwerpunkt ist dabei die emotionale Ebene, die den oft lächerlich profanen Hintergrund bildet. «Die Literatur erlaubt alles», sagt Vuillard und macht sich in diesem Sinne, mit deutlich erkennbarer Wonne, gleich am Anfang über den Geldadel lustig. Vierundzwanzig Herren steigen im Treppenhaus eines pompösen Palais nach oben zu den Nazigrößen, die sie herbeigerufen haben und sie auch gleich abkassieren werden für den bevorstehenden Wahlkampf. «Demnach könnte ich sie endlos über die Penrose-Treppe schicken» macht der Autor sich über sie lustig, Geben und Nehmen liege ja dicht beieinander in Politik und Geldadel. Ähnlich spöttisch berichtet er auch über einen Besuch von Lord Halifax, entschiedener Verfechter der britischen Impeasement-Politik, bei Göring in der Schorfheide. Auch das demütigende Treffen Schuschniggs mit dem Führer auf dem Berghof wird in mehreren Kapiteln geschildert als Vorstufe zur längst beschlossenen Annektierung Österreichs. Ribbentropps Abschiedsbesuch in Downing Street ist eine ebenso amüsante Episode wie das mit ‹Blitzkrieg› überschriebene Kapitel des deutschen Einmarsches, der dann im blamablen ‹Panzerstau› am 12. März 1938 steckenblieb. Vor die Proklamation des Führers vom Balkon der Wiener Hofburg fügt der Autor noch ein Kapitel ein, in dem er das Theatralische der ‹großen Politik› durch ein riesiges Requisiten-Lager in Hollywood demonstriert, wo zeitgleich mit den Ereignissen bereits sämtliche Nazikostüme für Spielfilme verfügbar waren, Chaplin lässt grüßen! In den letzten beiden Kapiteln thematisiert er das Grauen, indem er von gleich vier Selbstmorden am Tag der Annexion berichtet. Am Ende schließlich holen den senilen Gustav Krupp die toten Zwangsarbeiter ein, die ihn in der Villa Hügel aus dem Dunkeln anklagend anstarren.

Diese 2017 mit dem Prix Goncourt prämierte Erzählung zeichnet sich durch eine irritierende Leichtigkeit aus, in der da ganz unbefangen über das mit Abstand Düsterste in der Menschheits-Geschichte berichtet wird. Sie erinnert damit entfernt auch an «Die Wohlgesinnten» von Jonathan Littel, ein aus der Täter-Perspektive erzählter französischer Holocaust-Roman, der, wen wundert’s, überaus kontrovers diskutiert wurde. Muss man nichtdeutscher Autor sein, um so unbeschwert und beiläufig über die Nazis erzählen zu können?

Wer bei Vuillard sauertöpfisch nach historischer Seriosität fragt, hat dessen Hintertreppen-Methode nicht verstanden. Es sei ihm um das Profane hinter den großen Ereignissen gegangen, um die grotesken Witzfiguren, die als historische Akteure so oft großspurig am Werke seien. Denn vieles erweist sich ja im Nachhinein tatsächlich als reine Farce, und genau das wiederholt sich auch noch ständig bis in die Gegenwart hinein, man denke nur an das Erstarken der Populisten in Europa. Insoweit ist es durchaus legitim, fragwürdige Politiker genüsslich zu desavouieren, sie also sarkastisch mit Hohn zu überschütten zur unverhohlenen Freude des Lesers.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Erzählung
Illustrated by Matthes & Seitz

Die morawische Nacht

Bilanz eines verbiesterten Dichterlebens

In «Die morawische Nacht» erzählt Peter Handke von der selbstkritischen Lebensbilanz eines namenlosen Ex-Schriftstellers, in der sich zwar etliche Parallelen zum Autor zeigen, die aber kaum autobiografisch gedeutet werden können. Der Buchtitel bereits weist mit der Morava als Nebenfluss der Donau auf den Balkan hin, und so ist denn der Ort der Rahmenhandlung tatsächlich ein Hausboot, auf das jener Schriftsteller zu später Stunde sieben Freunde einlädt, um ihnen, da er ja nicht mehr schreibt, nun eben mündlich von seiner gerade erst beendeten, langen Reise durch Europa zu berichten.

Überraschend befindet sich auch eine, im allegorischen Sinn schöne Frau an Bord, die bei der Bewirtung hilft, deren Beziehung zu dem als frauenfeindlich geltenden Gastgeber aber im Dunkeln bleibt. Im Laufe der Nacht erzählt nun der «ehemalige Schriftsteller» den einzeln, an getrennte Tische platzierten Freunden, alles Männer natürlich, von seiner Reise, auf der er auch einige der Zuhörer getroffen hat. Die lösen ihn dann ihrerseits zeitweise als Erzähler ab und berichten von dem gemeinsam Erlebten. Einer der Gäste unterbricht immer wieder mal als vorlauter Zwischenrufer den Erzählfluss und stellt Fragen zu unklar gebliebenen Details. Die mit einem klapprigen, uralten Bus der österreichischen Post begonnene Reise aus der serbischen Enklave, wo das Hausboot vor Anker liegt, führt zunächst nach Belgrad. Von dort geht es weiter auf die fiktive Adriainsel Cordura, mutmaßlich Krk, wo Handke einst seinen ersten Roman geschrieben hatte. Nächste Station ist eine gottverlassene Hochebene in Spanien, wo ein Kongress über Lärm und Geräusche stattfindet. In Wien gerät der Erzähler zufällig in ein nicht minder merkwürdiges ‹Festival der Mundorgelspieler› aus der ganzen Welt, danach besucht er das Grab seines Vaters im Harz und fährt nach Kärnten, seiner als «Stammgegend» bezeichneten Heimat.

Die Rahmenhandlung dieser nicht nur von der Textmasse her üppigen Erzählung dient als Vehikel für eine großangelegte, radikale Selbstprüfung des «ehemaligen Autors» in Form einer «imaginierten Reportage». Voller Ironie werden dabei in ebenso lebendigen wie präzisen Bildern, oft phantastisch anmutend, markante Figuren gezeichnet, geheimnisvolle Orte beschrieben, wundersame Begebnisse geschildert. Mit vielen Fragezeichen durchsetzt ist diese handketypisch kleinteilige Prosa in Satzschnipsel zerhackt, üppig mäandrierend und immer wieder durch Ergänzungen, Zweifel, Klarstellungen unterbrochen, meist in Klammern gesetzt. Dieses Buch ist somit auch eine fragmentarische Erzählung über das Erzählen selbst, versinnbildlicht durch die ständigen Korrekturen des bereits Gesagten als untrennbar zum Prozess des Schreibens gehörig. Und bei diesem Prozess kann eine Frau ja nur stören. Schriftsteller zu sein und Liebhaber in einer Person, das erscheint somit völlig unmöglich. Es ist zumindest kontraproduktiv und kann im schlimmsten Fall sogar in Mord und Totschlag enden. Folglich ist die Frau im Buch nur anfangs in einer Nebenrolle sichtbar, ansonsten eher kurz mal als Vision, wie auch ganz am Ende.

Es ist müßig, abzuschätzen, inwieweit diese Selbstbefragung eines Schriftstellers wirklich nur den ‹ehemaligen› oder doch auch den nobelpreis-gekrönten Autor selbst betrifft, und wenn letzteres zutrifft, inwieweit sie ernstgemeint ist. Hier wird, oft meditativ anmutend, anhand von Erinnerungen, Reflexionen und präzisen Alltags-Beobachtungen beschrieben, wie einer mit sich selbst nicht klarkommt. Einer, der sich selbst im Wege steht, der keinen an sich heranlassen will, für den das Alleinsein höchstes Glück bedeutet, ein Misanthrop par excellence. Der am Ende seiner Reise dann auch kein Hausboot mehr vorfindet, alles ist weg. Er ist nun wunschgemäß völlig mit sich allein, seine Geschichte aber haben offensichtlich die Freunde aufgeschrieben. Als (selbstironische?) Bilanz eines verbiesterten Dichterlebens ein intensives Leseerlebnis!

Fazit: lesenswert

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Genre: Erzählung
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