Jenseits der See

Abenteuer und Kontemplatives

In seinem Roman «Jenseits der See» beschreibt der irische Schriftsteller Paul Lynch in einem kammerspiel-artigen Plot eine seelische Ausnahme-Situation menschlichen Daseins in der Ausweglosigkeit eines Schiffbruchs auf hoher See. Der vor seinem preisgekrönten Roman «Das Lied des Propheten» erschienene Band basiert auf einer wahren Begebenheit, bei der 2012 ein salvadorianischer Fischer mit seinem jüngeren Kollegen in einem Sturm in Seenot geriet. Er trieb hilflos auf dem Meer, ehe er nach 14 Monaten etwa zehntausend Kilometer entfernt allein auf der kleinen, zu den Marshall-Inseln gehörenden Insel Tile Islet an Land geschwommen war, sein Begleiter hatte nicht überlebt. Paul Lynch folgt dieser Vorlage ziemlich genau, wobei er sich thematisch auf die psychischen Aspekte dieser unglaublichen Geschichte konzentriert.

Obwohl ein Sturm droht, will der Fischer Bolivar unbedingt, trotz aller Warnungen, zum Fang aufbrechen. Er bringt einen zögernden und ängstlichen jungen Fischer, mit dem er noch nie zusammen gearbeitet hat, tatsächlich dazu, ebenfalls das Wagnis einzugehen. «Sag mir, Hector, was ist ein Sturm? Ein bisschen Wind, mehr nicht. Das Meer wird ein bisschen kabbelig. Echte Fischer sind so was gewöhnt. Mir ist noch kein Sturm begegnet, der mich unterkriegt». Außerdem bietet er ihm einen extrem hohen Lohn an, den Hector gerade gut brauchen kann, um seiner Freundin etwas bieten zu können. Sie fahren sehr weit hinaus und geraten dann auch in das angekündigte Unwetter, das den Motor und das Funkgerät zerstört und sie damit völlig von der Außenwelt abschneidet. Es beginnt ein Psychodrama, bei dem die Beiden, die sich vorher nicht kannten, heftig aneinander geraten, um sich dann aber notgedrungen gemeinsam dem Überlebenskampf zu stellen, denn Wasser und Proviant sind schnell verbraucht. Beim hilflosen Treiben auf dem Meer stoßen sie häufig auf große Müllinseln, die allerlei für sie nützliche Dinge enthalten. Sie finden Kanister, in denen sie Regenwasser sammeln, das sie mit den gefundenen Plastikbahnen auffangen. Immer wieder gelingt es ihnen auch, von Bord aus Fische zu fangen, die sie mangels Feuer roh verzehren, sogar eine Seeschildkröte ist dabei und allerlei anderes Meeresgetier. Und sie fangen auch Vögel, die auf dem Boot landen, sperren sie in einen improvisierten Käfig und verzehren sie nach und nach.

Weniger hoffnungsvoll gestaltet sich die seelische Situation der beiden Schiffbrüchigen, deren aussichtslos scheinender Lebenskampf sie psychisch immer stärker belastet. Wie schafft man es, in solch einer extremen Lage den Lebensmut nicht zu verlieren? Die Beiden sind konfrontiert mit der Sinnlosigkeit des Seins, die sich schon in der als Motiv vorangestellten Frage des Euripides findet: «Wer weiß schon, ob das Leben Tod sei oder der Tod das Leben»? In einem ständigen Wechselbad der seelischen Befindlichkeit lernen die Beiden sich durch ihre Gespräche immer besser zu verstehen, wobei Bolivar deutlich weniger verzagt ist als Hector, was ihre Situation anbelangt. Es erweist sich dabei, wie wichtig stabile Bindungen sind im Leben. Schiffbruch, das zeigt dieser an Joseph Conrads «Herz der Finsternis» erinnernde Roman jedenfalls sehr deutlich auf, ist eine geradezu ideale Leit-Metapher der Philosophie mit ihren schwierigen Sinnfragen.

Mit seinen beiden Figuren stoßen hier weltanschauliche Gegensätze aufeinander. Da ist einerseits die sinnenfrohe, an Lebensgier grenzende Diesseitigkeit Bolivars, der die schwermütige, religiös geprägte Ergebenheit in die unausweichliche Vorbestimmung entgegensteht, der sich Hector beugt und die ihn schließlich verzagen lässt. Dem abenteuerlichen Geschehen des Romans stehen bei der Lektüre narrativ die vielen, sich häufig wiederholenden psychologischen Exkurse in die menschliche Seele ambivalent gegenüber, eine Mixtur aus Abenteuer und Kontemplativem, die leider keine erzählerisch stimmige Einheit bilden!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
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Das Lied des Propheten

Ein politischer Weckruf ohnegleichen

Der irische Schriftsteller Paul Lynch hat für seinen jüngsten Roman mit dem bibelbezogenen Titel «Das Lied des Propheten» den Booker Prize des Jahres 2023 gewonnen. Inspiriert dazu sei er vom Bürgerkrieg in Syrien, von der Flüchtlingskrise sowie von den auch in Europa zu verzeichnenden Tendenzen zu anti-demokratischen Regierungs-Formen, »Dieses Buch war nicht leicht zu schreiben», hat er erklärt, inspirierend dazu sei für ihn ein Gefühl des fortschreitenden Abgleitens in totalitäre Staatsformen. Mit der genialen Idee, seinen politisch-dystopischen Roman ausgerechnet in Europa spielen zu lassen, in seiner Heimat Irland nämlich, hat er seine Leser radikal aus ihrer politischen Komfortzone heraus gescheucht. Niemand in Europa könne sicher sein, so sein Credo, totalitäre Regime seien nur ein Phänomen fernab, auf anderen Kontinenten dieser Welt.

Bei Familie Stack in Dublin klingelt es eines abends an der Haustür, und als die Protagonistin des Romans und vierfache Mutter Eilish öffnet, stehen zwei Männer von der Geheimpolizei vor ihr, die Larry Stack sprechen wollen, ihren Mann. Eine geradezu klassische Urszene in allen faschistischen Diktaturen! Und da er nicht zuhause ist, solle der Generalsekretär der Lehrer-Gewerkschaft sich baldmöglichst bei ihnen melden. Was Larry nach einigem Zögern dann auch tut, seither ist er spurlos verschwunden. Mit der Machtübernahme etabliert die «National Alliance» als rechtsradikale Partei Irlands eine politische Tyrannei, vor der niemand mehr sicher ist. fast jeder ist dem Staat verdächtig, Menschen werden willkürlich aus aberwitzigen Gründen verhaftet, und die Justiz ist per Notstands-Verordnung praktisch außer Kraft gesetzt. Es gelten strenge Ausgangssperren, Schulen werden geschlossen, Hamsterkäufe machen die Regale in den Geschäften leer. Die promovierte Molekular-Biologin Eilish wird das Opfer von Sippenhaft, sie verliert aus fadenscheinigen Gründen ihren Job, das Haus wird verwüstet, ihr Auto demoliert. Der älteste Sohn schließt sich den Rebellen an, die militärisch das Terror-Regime bekämpfen, – und auch ihn sieht sie niemals wieder. Als ihr jüngerer Sohn bei einer Detonation durch Splitter verletzt ins Krankenhaus eingelieret wird, verschwindet er dort spurlos. Bis sie ihn schließlich, nach hartnäckiger Suche, in einem Plastiksack liegend in einem militärischen Leichen-Schauhaus findet, der Körper übersäht von Folterspuren. Der Schwester von Eilish in Kanada gelingt es schließlich, sie mit ihren verbliebenen zwei jüngsten Kindern zur illegalen Ausreise zu bewegen. Ihren demente Vater muss sie notgedrungen zurücklassen, er lehnt die Emigration strikt ab.

Politischer Extremismus mit den toxischen Begleit-Erscheinungen einer polarisierten, sich unversöhnlich gegenüber stehenden und zunehmend gewalttätiger werdenden Gesellschaft bildet das narrative Gerüst für diese düstere, deprimierende Geschichte, die aufrüttelnd wirkt. Die Hoffnung der Protagonistin, Derartiges könne ja in einem EU-Land niemals passieren, erweist sich als trügerisch. Gerade heute wurde ja in Österreich ein politisch stramm Rechter mit der Regierungs-Bildung betraut, wer an die Geschichte des National-Sozialismus zurückdenkt, ahnt, wohin die Reise dort gehen könnte. Und wenn der vergleichbaren deutschen Partei eine Mitgliedschaft in der rechtsgerichteten Fraktions-Gemeinschaft des EU-Parlaments verwehrt wird, spricht ja auch das Bände!

Die erzählerische Eskalation am Ende des Romans, als die Menschen verachtende, gefährliche Flucht aus Irland geschildert wird, beleuchtet nach all den Schrecken auf eindringliche Weise dann auch noch die Flüchtlings-Problematik, man ist dafür kaum mehr aufnahmefähig. Andererseits lässt der Autor die Entstehung seiner politischen Szenerie im Dunklen, obwohl die Historie dafür ja einige Vorlagen anbietet, auch aus «diesem unseren Lande» übrigens! Dieser Roman ist über das rein Literarische hinaus ein politischer Weckruf ohnegleichen für eine unbedarfte Wählerschaft.

Fazit:   erstklassig

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Genre: Roman
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